18
Kaum saß ich im Auto, fragte mich Sunny auch schon: „Was ist passiert?“
„Frag lieber nicht.“
Sie betrachtete mich aufmerksam. Ich wusste, dass ich blass war. Meine Augen waren wegen des ständigen Schlafmangels blutunterlaufen, und ich näselte so sehr, dass sich meine Stimme anhörte wie eine Geigensaite. Sunny war aber trotzdem so nett, nichts von alledem zu erwähnen.
„Später müssen wir unbedingt reden, Luna!“, sagte sie. „Wohin jetzt?“
„Zum 24.“, antwortete ich. McAllister wusste also, dass Roenberg mich gefeuert hatte, und musste sich jetzt wohl oder übel von mir trennen.
Ich presste meine Lippen aufeinander und versuchte den Schmerz dieser Erkenntnis zu verdrängen.
Sunny parkte vor dem Revier und öffnete die Tür auf ihrer Seite.
„Du brauchst nicht mitzukommen“, sagte ich schnell.
„Und wenn ich aber will?“ Sie schlug die Tür zu und schloss den Wagen per Knopfdruck, sodass das Cabrio einen Piepston von sich gab.
„Ganz, wie du willst.“ Es war gerade Schichtwechsel, und die Kollegen der dritten Schicht erschienen langsam in kleinen Grüppchen oder allein im Revier. Bryson war noch nicht aufgetaucht. Wenn man bedenkt, wie mein Tag bis dato verlaufen war, konnte man das als einen glücklichen Umstand ansehen, denn wenn er mir jetzt über den Weg lief, würde ich ihm wahrscheinlich erst einen Tritt in die Weichteile verpassen und dann einen Guten Tag wünschen.
„Hi, Luna, Sunny!“, rief uns Rick freudig entgegen, als wir in die Empfangshalle kamen. Er hatte ein breites Grinsen auf dem Gesicht und schien einen leicht roten Kopf zu bekommen.
„Hi, Rick“, antwortete Sunny mit ebenfalls plötzlich ziemlich viel Farbe im Gesicht.
„Ich lass euch zwei mal allein“, sagte ich und ging durch den Metalldetektor.
Das Büro war erfüllt mit dieser typischen Siebzehn-Uhr-Luft -die schweigsame Betriebsamkeit der Tagschicht, die schnell nach Hause wollte, traf um diese Uhrzeit auf die phlegmatischen Drückeberger unserer Nachtschicht, die jetzt den Laden für die dunklen Stunden übernehmen mussten.
Mein Schreibtisch war noch genauso wie ich ihn verlassen hatte. Lediglich die Akten über die vermissten Frauen, die ich auf Verbindungen zu meinem Fall hin quergelesen hatte, waren verschwunden. „Wo, zum Teufel, sind meine Akten?“, fragte ich ins Büro hinein.
„Meinst du diese hier?“, erkundigte sich Bryson grinsend hinter der Deckung seines Schreibtischs und wedelte mit einem Stapel abgegriffener Aktenmappen in meine Richtung.
Ich ging auf seinen Tisch zu. „Das sind meine.“
„Falsch, Süße“, erwiderte er. „Jetzt sind es meine. Captain Roenberg persönlich hat sie mir heute Morgen gegeben. Hab gehört, du warst auch am Tatort in dieser Tittenbar. Musst ihm ja mächtig auf die Nüsse gegangen sein, dass er dich gleich gefeuert hat, was?“
Ich streckte meine Hand aus. „Gib mir die Fallakten zurück, David, bevor ich etwas tue, das ich bereuen könnte.“ Eigentlich hätte es eine Warnung für ihn sein sollen, dass ich nicht auf seine Anpissversuche einging, aber Bryson war so grobschlächtig, dass ihm derartige Nuancen im Verhalten seines Gesprächspartners regelmäßig entgingen.
„Wilder, dein Problem ist ganz einfach, dass man es dir nicht anständig besorgt. Sonst würdest du nämlich zu Hause in einem süßen, kleinen Schürzchen um deinen Mann herumwedeln, anstatt hier wie Bitchzilla durch das Revier zu trampeln, um Duncan junior was anzuhängen. Netter Junge übrigens, dieser Stephen.“
Ich spürte, wie die Wölfin in meinem Kopf ihre Augen öffnete und ihre Nase neugierig in die Luft streckte. Sie witterte sofort die Wut, die sich in mir aufbaute, und reckte ihren Kopf, um sich die Sache genauer anzusehen. „Du bemühst dich ja nicht sonderlich, mit deiner positiven Meinung von Stephen Duncan hinterm Berg zu halten“, flüsterte ich.
Meine Hände zitterten. Dann begann auch der Rest meines Körpers zu beben. Das Blut rauschte in meinem Kopf, und die Wölfin trat noch ein paar Schritte weiter nach vorn, um den winzigen Käfig zu verlassen, in dem sie für achtundzwanzig Tage im Monat schlief.
Bryson zuckte die Schultern. „Das mit Stephen war alles nur Theater. Ein richtiger Cop hätte das sofort erkannt, Wilder.“ Er warf die Akten beiseite, lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Dann sah er mich mit diesem breiten, selbstgefälligen Grinsen an, das ich in meinen zwei Dienstjahren auf dem 24. Revier so sehr zu hassen gelernt hatte. „Ich erklär dir mal, was dein Problem ist. Da ist der Duncan-Junge, ein smarter, gut aussehender Typ, der aber so eine wie dich nicht mal mit der Kneifzange anfassen würde, selbst wenn du nackt vor ihm auf die Knie fällst und ihn darum anflehst. Und deshalb ziehst du dir deine Bitch-Boots an, schnappst dir deine Marke und versuchst, ihn fertigzumachen, damit du dich besser fühlst.“ Er schüttelte seinen Kopf und drehte mir den Rücken zu. „Traurig, Wilder. Wirklich traurig.“
Mir den Rücken zuzudrehen war ein Fehler – es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und den ich nicht ignorieren konnte.
Ich stieß ein Grollen aus. Es war kein ärgerliches Schnauben. Es war auch nicht dieses Knurren, zu dem meine Stimme hin und wieder mutiert, wenn ich meinen Gesprächspartner einschüchtern will. Es war das Grollen einer Werwölfin, durch und durch tierisch, das sich aus den Tiefen meines Zwerchfells seinen Weg nach oben gebahnt hatte und nun das Großraumbüro erzittern ließ. Dmitri wäre mit Recht stolz auf mich gewesen.
Bryson wollte gerade zu einer neuen Verbalattacke ansetzen, um in seinem beschränkten Hirn als der Gewinner dieser Auseinandersetzung dazustehen, als ich ruckartig seinen Stuhl herumriss und ihn mit der Rückenlehne gegen den Schreibtisch knallte. Meine Arme schnellten links und rechts nach vorn zur Tischkante, sodass er in der Falle saß. Ich war nun so nah an seinem Körper, dass ich das teure Rasierwasser riechen konnte, das den Geruch seines eher billigen Shampoos überdeckte, und starrte ihm direkt in die Augen.
„Bryson“, sagte ich. „Ich bin stolz, sagen zu können, dass ich mich sehr gut beherrschen kann. Ich weiß, dass ich deine pubertären Provokationen mit Leichtigkeit ignorieren kann.“
Er versuchte nicht, mich von sich zu stoßen, sondern blickte mich nur fassungslos mit untertassengroßen Augen an und verströmte einen Geruch der Angst, der modrig und doch verführerisch auf mich wirkte und seine anderen Körpergerüche komplett übertünchte. Als ich diesen Geruch einsog, verspürte ich wieder das unmissverständliche Stechen in meinem Körper. Meine Augen verfärbten sich also langsam, aber sicher von ihrer dunklen menschlichen Farbe in das tiefe, glühende Gold der Wölfin. Als Bryson diesen Wandel wahrnahm, quiekte er vor Entsetzen wie Professor Hoskins.
„Solltest du allerdings jemals wieder auch nur einen anzüglichen Blick in meine Richtung werfen, auf meinen Busen oder meinen Hintern starren oder sie irgendwie kommentieren oder mir sagen, warum und wie oft man es mir besorgen müsse -wenn du dich also weiter so aufführst wie der Bryson, den ich kenne –, dann reißt mir der Geduldsfaden.“ Die letzten Worte presste ich mit einem tiefen Knurren zwischen meinen gefletschten Zähnen hervor, sodass ich förmlich sehen konnte, wie sich die Haare in seinem Nacken aufstellten.
„Grundgütiger!“, stammelte er und grapschte nach den Akten. Seine Hände zitterten so sehr, dass eine Mappe nach der anderen auf den Boden plumpste. Den Rest hielt er mir entgegen. „Hier. Nimm sie, du verrücktes Miststück, und komm mir bloß nicht zu nahe!“
„Danke“, sagte ich mit einem süßen Lächeln und schnappte mir mit einer schnellen Bewegung die Akten. Anscheinend waren meine Eckzähne doch etwas weiter hervorgetreten, als ich dachte, da Bryson mit einem weiteren Quieken aus seinem Stuhl aufsprang und in Richtung Herrentoilette davonstürmte.
Mein Triumph war aber nur von kurzer Dauer, da sich im nächsten Moment McAllisters Bürotür öffnete. Er winkte mich zu sich, und noch im Gehen fragte er mich: „Habe ich da eben Bryson gehört?“
„Denke nicht. Ich hab ihn jedenfalls noch nicht gesehen“, erwiderte ich.
„Wir haben Probleme“, verkündete Mac und schloss die Tür hinter mir. „Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie zum Tatort fahren sollen, um dort zu ermitteln. Und ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich gesagt hätte: Fahren Sie hin, brechen Sie einen Streit vom Zaun, und beschimpfen Sie Roenberg als inkompetent.“ Er fingerte in einer Schublade seines Schreibtischs herum und holte eine Zigarette heraus, die er sich dann zwischen die Lippen steckte, aber nicht anzündete. „Luna, Sie sind wahrscheinlich einer der besten Cops, die jemals für mich gearbeitet haben, aber manchmal muss ich tief Luft holen und mich fragen, was da eigentlich in Ihrem Kopf schiefläuft.“
„Mac, Roenberg deckt Stephen Duncan, um den Ruf des Bezirksstaatsanwalts zu schützen, und Sie wissen das. Der Captain hatte weder Gerichtsmediziner noch Spurensicherung am Tatort, nur einen riesengroßen Besen, um die ganze Geschichte unter den Teppich zu kehren.“ Einfach weiterreden … vielleicht vergaß Mac dabei das mit der Entlassung.
„Luna, ich weiß, dass die Sache mit Wilbur zum Himmel stinkt, aber Sie werden es nicht beweisen, indem Sie all die Leute anpissen, die Ihnen bei dem Fall Steine in den Weg legen können.“
Ich wollte auf etwas einschlagen, drosch dann aber meine Faust doch bloß in die hohle Hand. „Das ist mir egal, Mac. Dann schmeißen Sie mich eben raus. Ich habe den ermordeten Frauen versprochen, den Typen zu schnappen.“
„Sie haben es ihnen versprochen?“, wollte Mac wissen. „Oh mein Gott. Sie wissen doch, dass Sie einen professionellen Abstand wahren müssen, Luna. Das wissen Sie verdammt gut. In einem Leichensack neben den Opfern werden Sie den Fall schon gar nicht lösen können.“
Wie sollte ich ihm nur erklären, dass es für mich viel mehr als ein einfacher Fall war, der nummeriert und in braunen Ordnern weggeheftet werden konnte? Lilia war eine Werwölfin gewesen. Eine der meinen. Marina war ein armes, naives und vertrauensseliges Mädchen gewesen, das einfach nur den Mann ihrer Träume gesucht hatte. Alle drei waren sie verwundbar gewesen – und nun tot, weil ich den Killer noch immer nicht gefasst hatte. Allein der Gedanke daran drehte mir den Magen um.
„Es führt kein Weg dran vorbei, Luna“, sagte Mac schließlich, als er merkte, dass ich nicht antworten würde. „Ich muss Sie zwangsbeurlauben. Roenberg hat schon das Verfahren zu Ihrer Entlassung in Gang gesetzt.“
„Gut“, sagte ich leise und griff an meinen Gürtel, um meine Marke abzunehmen. Mac nahm das golden funkelnde Metallstück entgegen und ließ es dann in seiner Schreibtischlade neben den platt gedrückten Zigaretten verschwinden. Als Nächstes zog ich meine Glock aus dem Holster, überprüfte, dass sich keine Kugel mehr im Lauf befand und händigte sie ihm zusammen mit den zwei Ersatzmagazinen aus. „Die sollten Sie besser auch an sich nehmen.“
Mac schaute mich mit einem besorgten Gesichtsausdruck an.
„Es geht nicht darum, was ich mir selbst antun könnte“, sagte ich und öffnete dabei die Bürotür, um zu gehen. „Sondern darum, was ich mit Stephen Duncan und dem Bluthexer, der ihn lenkt, machen werde, wenn ich sie schnappe.“
Mac nahm meinen Kommentar verhältnismäßig locker auf und sagte nur: „Passen Sie auf, dass Sie wegen diesem Mistkäfer nicht im Knast landen.“
Ich lächelte, obwohl ich eigentlich am liebsten geschrien hätte, aber was hätte das gebracht? „Habe ich denn eine Wahl?“, fragte ich Mac.
„Sie stehen auf der guten Seite, Luna, aber Sie jagen Leuten wie Roenberg Angst ein. Die wollen Ihre Hilfe nicht.“
Ich ließ die Schultern hängen. Macs Worte trafen mich wie ein Schlag in den Magen. „Und wie stehen Sie zu der Sache?“, fragte ich.
Max knipste sein Feuerzeug an und atmete im nächsten Moment schon den blauen Zigarettenrauch aus. „Ich? Die ganze Geschichte reißt mich innerlich in Stücke, Luna. Verdammt, Sie sind wie eine Schwester für mich.“
„Ja. Ein toller Bruder ist aus Ihnen geworden …“
„Lassen Sie Ihre Wut jetzt nicht an mir aus“, entgegnete Mac. „Und auch nicht an sich selbst. Sie haben einen aufrechten Kampf gekämpft, Detective, aber jetzt ist es an der Zeit, dass Sie nach Hause gehen und Ihr Leben wieder in den Griff kriegen. Ich weiß, dass Sie mit den Morden recht haben, aber diesen Fall können Sie nicht erfolgreich abschließen. Roenberg hat den Club schon säubern lassen, sodass alle Spuren längst getilgt sind. Duncan hat gewonnen.“
„Ich muss los“, flüsterte ich, damit er nicht hören konnte, wie ich mühsam die Tränen unterdrückte.
Mac stand auf und trat zu mir. „Wohin, Luna?“
„Das geht Sie nichts an. Warum kümmert es Sie überhaupt, wo jemand wie ich hingeht?“
„Auf mich sollten Sie jetzt am allerwenigsten wütend sein“, sagte er noch einmal.
„Im Moment kommen Sie mir aber ganz gelegen“, knurrte ich zurück. „Auf Wiedersehen.“
Ich knallte die Tür zu, sodass sein verletzter Gesichtsausdruck mit einem Schlag verschwand. Auf meinem Weg hinaus ballte ich mit aller Macht die Fäuste, um meine Tränen zu unterdrücken, wobei ich mir die Fingernägel so stark in die Handflächen bohrte, dass es schmerzte.
Ich zerrte Sunny vom Empfangstresen weg und beendete damit ihre dahingestammelte Unterhaltung mit Rick. Sie protestierte zwar, als ich sie hinaus zum Auto führte, aber nicht vehement genug, als dass sie mich hätte aufhalten können.
„Zum Stadtarchiv“, sagte ich, als wir im Auto saßen.
„Du hast wieder diesen Blick, Luna. Was ist passiert?“
„Zum Archiv. Sofort!“
Sunny hob entnervt die Hände. „Na, großartig! Du willst also nicht mit mir reden. Auch gut. Dann zieh ruhig die Mauer noch ein paar Meter höher, die du da um dich gebaut hast.“ Sie ließ das Auto an und stürzte sich in den Verkehr.
„Tut mir leid“, murmelte ich, nachdem wir ein paar Minuten schweigend gefahren waren.
Sie blickte mich zornig an. „Vergiss es.“
„Na, großartig“, äffte ich sie nach. „Du willst also nicht, dass es mir leidtut, was?“
„Was willst du bei den Stadtarchiven?“ Sie wechselte zwar das Thema, behielt aber den eisigen Ton bei.
„Die Akten von Fällen, die vor 1980 abgeschlossen wurden, liegen da“, erklärte ich. „Ich muss einen Blick in die Cedar-Hill-Unterlagen werfen.“
„Warum?“, fragte Sunny mit einem misstrauischen Unterton.
„Um herauszufinden, ob die Jungs von Apollo 11 wirklich auf dem Mond gelandet sind. Sunny, was denkst du denn? Ich will natürlich wissen, wer Stephen Duncan kontrolliert.“
„Bei dir kann man nie wissen. Hast du denn eine Theorie, wer die Bluthexe sein könnte?“
„Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung.“
„Wir befinden uns also im totalen Blindflug und suchen jemanden, der zu seinem Vergnügen Frauen zu Tode quält, korrekt? Freut mich, dass du mich an diesem Spaß teilhaben lässt, Cousinchen!“
„Warum gehst du bei mir immer automatisch vom schrecklichsten Szenario aus, das man sich vorstellen kann?“, blaffte ich zurück.
Sunny schaute mich düster an. „Jahrelange Erfahrung.“
„Sehr witzig. Schau lieber auf die Straße.“ Ich war froh, dass sie anscheinend unseren Streit begraben hatte. Als wir noch Kinder waren, hatten wir uns oft gezankt. Damals hatte es mir Spaß gemacht, sie ständig zu ärgern und zu peinigen. Heute war Sunny trotz ihrer Eigenheiten als Hexe weitaus vernünftiger, als ich es jemals sein würde. Und darüber war ich mehr als froh.
„Wirst du mir jetzt meine Frage von vorhin beantworten?“
„Hab ich doch schon!“, antwortete ich verärgert. „Ich suche nach allem, was mir irgendwie dabei weiterhilft herauszufinden, mit wem wir es hier zu tun haben. Fotos, Mordwaffen, Autopsieberichte … Sind bestimmt ziemlich blutige Bilder, sodass du dir die Augen zuhalten musst.“
„Ich meinte eigentlich meine Frage, was auf dem Revier passiert ist“, sagte sie.
„Das werd ich dir nicht erzählen“, meinte ich zugeknöpft. Sunny konnte schmoren, bis sie schwarz wurde – ich würde niemandem auf die Nase binden, dass ich gerade rausgeflogen war. Ich gestand es mir ja noch nicht mal selbst ein. Wenn ich kein Detective mehr war, was war ich denn dann noch? Der von zu Hause ausgerissene Möchtegern-Drogen-Teenie, der mit dem Schnellbus in Nocturne City gelandet war? Die Pommes-Queen vom ChickenHut, die dann Nachtwächterin und schlussendlich Cocktailkellnerin geworden war, und ständig zu tief ins Glas geschaut hatte, weil ihr Leben ja ach so schlecht war? Ohne den Job war ich nichts weiter als ein Stück Seetang, das haltlos im dreckigen Wasser der Siren Bay trieb und durch die Strömungen hin und her geworfen wurde.
„Da sind wir“, sagte Sunny und hielt an einer Parkuhr vor einem glänzenden Komplex aus Stahl und Glas – dem Stadtarchiv. Als sie mir eine Münze für die Parkuhr reichte, wollte ich ihr gerade sagen, dass niemand ein Knöllchen an das Auto der Cousine eines Detectives heften würde, aber in diesem Moment fühlte ich das fehlende Gewicht in meinem Holster und die leere Stelle an meinem Gürtel, sodass ich wortlos den Vierteldollar in die Parkuhr steckte, bevor wir in das Gebäude gingen.
Das Beweismittellager bestand aus endlos langen Metallregalen, die mit einer Unmenge Pappkartons vollgestopft waren. In diesen Pappkartons wiederum befanden sich nicht nur die Beweismittel – beziehungsweise die Gegenstände, die welche sein sollten – für die zu den Akten gelegten Fälle, sondern auch die der ungelösten und mittlerweile einfach vergessenen Fälle. Wenn man etwas hier einlagerte, konnte man es genauso gut in ein schwarzes Loch werfen und gute Reise wünschen – das Archiv war die Endstation.
Ein Schild an der Wand neben der Anmeldung wies darauf hin, dass nicht ordnungsgemäß autorisierte Personen keinen Zutritt hatten.
Die Anmeldung hatte Ähnlichkeit mit einer Kinokasse und verfügte auch über einen ähnlich großen Schlitz unter der Scheibe, um Gegenstände und Dokumente auszutauschen. Dahinter saß ein Mann, den man ohne seine Bürokleidung leicht für einen Bergtroll hätte halten können und der unter seinem Baumwollhemd gut versteckt ein Gürtelholster trug. Auf seinem Namensschild stand gut lesbar BRENT.
„Ja?“, fragte er und verschränkte dabei seine Arme vor einem Oberkörper, der im Mittelalter auch gut und gern als Rammbock hätte dienen können.
„Detective Wilder“, stellte ich mich in einem Ton vor, der nur so vor Dienstbeflissenheit und Pflichteifer strotzte. „Ich muss einen Blick in die Beweismittel der Cedar-Hill-Morde werfen.“ Nachdem ich die Fallnummer heruntergerattert hatte, fixierte ich den King Kong hinter der Plastikscheibe mit einem Blick, der in der Kategorie „ungeduldiges Miststück“ alle Preise abgeräumt hätte.
„Ich muss Ihren Ausweis sehen“, polterte er.
Das konnte nur ein schlechter Scherz sein. Ein Angestellter im Beweismittellager, der sich an die Vorschriften hielt? Was würde als Nächstes kommen – ein Werwolf, der Vegetarier war?
„Meine Dienstnummer ist …“
„Die Nummer nützt Ihnen gar nichts ohne die Marke, Missy“, erlärte er. Das Missy machte mich unglaublich wütend. Anscheinend wollte King Kong unbedingt, dass ich heute noch mit seinem Schädel Fußball spielte.
„Passen Sie mal auf, Brad, geben Sie mir doch einfach die Kiste, und dann können Sie wieder in aller Ruhe Gewichte stemmen, ihre Gesäßmuskeln trainieren oder das machen, was Typen Ihrer Größe halt so tun, um die Zeit totzuschlagen.“
„Mein Name ist Brent“, sagte er. „Ohne Ausweis keine Kiste.“
„Sie machen Ihrem Berufsstand wirklich alle Ehre“, erwiderte ich zynisch.
„Danke für die Blumen, Miss. Versuchen Sie es ruhig noch mal, wenn Sie sich etwas Charme zugelegt haben.“
King Kong hatte ein unsagbares Glück, dass ich meine sowohl unglaublich schöne als auch unglaublich teure Yves-Saint-Laurent-Bluse trug, andernfalls hätte ich ihn mir schon zur Brust genommen.
Ich gab mich fürs Erste geschlagen und stapfte durch den Flur zurück zum Ausgang. Als ich auf den breiten Stufen vor dem Archiv stand, konnte ich Sunny sehen, wie sie in ihrem Cabrio saß und am Radio herumfingerte. Ich hätte Brent treten, schlagen und sogar anschreien können, was wohl eine therapeutische Wirkung gehabt hätte, aber nicht sonderlich produktiv gewesen wäre. Vielleicht musste ich aber auch einfach nur tief einatmen und mir eine neue Strategie überlegen, statt schon wieder der Raserei der Wölfin nachzugeben. Aber selbst wenn das funktionieren sollte, war die Hoffnung darauf, die Wölfin in mir in den Griff zu bekommen und zukünftig rationaler zu handeln, genauso illusorisch wie die Vorstellung, dass eines Tages eine Bluthexe auf einem fliegenden Besen ein paar Runden über der Stadt drehen würde.
Ich sprang die Stufen hinunter und klopfte ans Autofenster. „Sunny!“
Wie vom Blitz getroffen, schreckte sie auf und blinzelte mich alarmiert an. „Du hast mich zu Tode erschreckt“, sagte sie, während sie das Fenster runterfuhr.
„Ich brauche mal deine Fähigkeiten.“
Sunny starrte mich für eine Sekunde schweigend an und warf mir dann ein relativ vorhersehbares „Wie bitte?“ an den Kopf.
„Du musst irgendeine Art Szene machen, um dieses Monster an der Tür abzulenken, sodass ich mich reinschleichen und die Cedar-Hill-Kiste holen kann.“
„Und warum sagst du ihm nicht einfach, dass er dir die Kiste geben soll?“, fragte Sunny. „Schließlich bist du eine Polizeibeamtin. Er muss dir die Kiste holen, wenn du es verlangst.“
„Darüber wollte ich noch mit dir reden …“, meinte ich und schaute dabei auf die schwarzen Lacklederspitzen meiner Schuhe.
Sunny schloss die Augen. „Oh nein. Nicht schon wieder.“
„Diesmal ist es keine Suspendierung“, sagte ich ruhig. „Roenberg hat mich gefeuert.“
Ich wartete jetzt eigentlich darauf, dass Sunny diesen schrecklich enttäuschten Blick aufsetzte, den sie immer hervorzauberte, wenn ich etwas Dummes getan hatte, und den ich so sehr hasste, weil sie dadurch aussah wie unsere Großmutter. Stattdessen stellte sie das Radio aus und stieg aus dem Auto. „Das ist nicht fair.“
„Wem sagst du das“, murmelte ich. „Aber hey, wer braucht schon einen Job bei der Stadt mit erstklassiger Krankenversicherung und garantiertem Rentenanspruch? Ich schätze mal, dass ChickenHut mich mit Kusshand wieder einstellen wird.“
Sunny begann die Treppen zum Eingang des Stadtarchivs hochzugehen.
„Sunny?“
„Komm schon“, rief sie über die Schulter. „Wir verschwenden hier nur unsere Zeit.“
Ich raste die Treppe hinauf und musste zwei Stufen auf einmal nehmen, um sie einzuholen. „Wo willst du hin?“
Sie ging durch die Eingangstür, bog nach links ab und blieb dann ungefähr fünf Meter vor dem Plastikfenster von King Kong stehen. Ich zog mich gerade noch rechtzeitig wieder in die Eingangshalle zurück, bevor er mich sehen konnte. „Sunny!“, zischte ich. „Komm zurück.“
„Du wolltest doch eine Szene.“
Sunny öffnete ihren Mund zu einem großen O und begann zu schreien. Es war ein schriller, panischer Schrei, der meinen Kopf vibrieren ließ. Brent sprang in seinem Kabuff auf, als hätte ihn ein Frettchen in den Hintern gebissen, aber Sunny blieb weiter wie angewurzelt stehen – Mund offen, Augen aufgerissen – und zog ihren sirenenartigen Schrei so in die Länge, dass sie vor Anstrengung rot anlief.
Brent stieß die Tür seines Verschlags auf und rannte auf Sunny zu. „Was? Was ist los?“
Sunny holte tief Luft und brüllte dann mit voller Lautstärke: „Ratten!“
„Ratten?“ Brent schaute sie verwirrt an, wodurch sich auf seinem Gesicht ein Ausdruck abzeichnete, der seinem Wesen voll und ganz zu entsprechen schien. „Was für Ratten?“
„Hier in der Lobby!“, quiekte Sunny. „Zwei dieser widerlichen Biester sind mir gerade über die Füße gelaufen!“ Sie packte Brents Arm und zerrte ihn mit aller Kraft vom Eingangsbereich des Archivs weg, sodass ich hinter seinem Rücken hindurchschlüpfen und zur Tür schleichen konnte.
„Lady, in diesem Gebäude gibt es keine Ratten“, sagte Brent. „Ich glaube, Sie bilden sich da was ein.“
„Das tue ich beileibe nicht!“, schimpfte Sunny. „Und außerdem finde ich Ihren Ton völlig inakzeptabel!“ Sie ergriff das Kinn von King Kong. „Schauen Sie mich gefälligst an, wenn ich mit Ihnen rede, Sie, Sie … Sie Staatsdiener!“
Als sich ihre Blicke trafen, sagte Sunny in ruhigem Ton: „Mein Wille wird zu deinem, und dein Wille wird zu meinem.“ Dann ließ sie sein Kinn los. Brent starrte sie nun mit glasigen Augen an und sah weiß der Kuckuck was. Sunny hatte ihn mit ihrem Blick in eine Trance versetzt, quasi hypnotisiert. Das wirkte wie das Dominieren unter Wölfen, nur dass Sunnys Opfer zusätzlich tolle bunte Halluzinationen erlebte. Seit ich mit Cassandra zusammengetroffen war, kannte ich diesen Zustand, der sich wie ein warmes Bad anfühlte und in dem sich Mr King Kong gerade suhlte, nur allzu gut.
„Er wird für ein paar Minuten außer Gefecht sein“, flüsterte sie und bedeutete mir mit einer Geste, dass ich mich beeilen solle.
„Bravo, Sunny. Du entwickelst langsam eine positive Bösartigkeit“, lobte ich.
„Ja, Herr Ober, ich hätte wirklich nichts gegen ein weiteres Stückchen von dem Zitronenkuchen einzuwenden“, stammelte Brent benommen.
Die zur Hälfte aus Plastik bestehende Tür schien nicht wirklich oft benutzt zu werden, da sie beim Öffnen ziemlich stark knarrte. Als ich drinnen war, zog ich sofort die Fenstervorhänge zu, um nicht beobachtet zu werden.
Zu meiner Linken standen große Aktenschränke, in denen sich nach Fallnummern geordnete Beweismittelverzeichnisse befanden. Auf einem Übersichtsblatt wurden dort der Name des Opfers, die Art der Straftat und der Standort der Kiste samt Reihe, Regalfach und Kistennummer mit den dazugehörigen Beweismitteln erfasst.
CEDAR HILL fand ich zwischen CAESARO, PETER und CENTER DRIVE ALL-NIGHT DINER -es war eine braune Mappe, auf der oben mit krakeliger Schrift die Fallnummer und der Name vermerkt waren. Die Mappe selbst war leer.
Die Tür zu den Fällen 1975-80/LGF war verschlossen. Natürlich. Ich holte meine Brieftasche aus der Jackentasche und fingerte meine American Express Gold Card heraus. So oft wie ich das arme Ding im Internet für sinnlose Einkäufe missbrauchte, schien mir diese Zweckentfremdung absolut legitim.
Ich hatte schon vor meinem Polizeidienst gewusst, wie man ein Schloss öffnet, aber in den zurückliegenden sieben Dienstjahren hatte ich meine Technik noch einmal beträchtlich verfeinern können. In weniger als dreißig Sekunden hatte ich den Riegel in sein Gehäuse gedrückt, was auch allerhöchste Eisenbahn war, da langsam, aber sicher Schritte und Männerstimmen näher kamen. Ich huschte schnell in den dunklen Raum und schloss die Tür bis auf einen kleinen Spalt, um den Flur überblicken zu können.
Zwei Schatten gingen vorbei. Ich hielt die Luft an und presste meinen Kopf gegen die kühle Plastiktür.
„Hast du das Zeug schon zum Ofen gebracht, Leo?“, sagte eine der Stimmen.
„Ich arbeite dran“, grunzte Leo zurück.
„Verdammt noch mal! Wofür bezahle ich dich eigentlich, du Riesenrindviech?“, wollte die bossige Fistelstimme wissen, gegen die sich Leo eher wie ein verärgerter Hafenarbeiter anhörte.
„Ich sagte doch, dass ich daran arbeite.“
„Keine Ausreden“, beharrte der Boss. „Zu entsorgende Beweismittel wandern in den Verbrennungsofen. Und zwar sofort.“
Den Geräuschen nach zu urteilen, ging einer der Männer weg. Leo murmelte nur: „Armleuchter“, und schlurfte dann auch grunzend von dannen.
Ich öffnete die Tür und sah mich um. Der Flur war menschenleer. Das heißt, fast menschenleer. Am Ende des Gangs schob ein Typ in Muskelshirt und kakifarbenen Arbeitshosen eine Art Einkaufswagen vor sich her, in dem sich Beweismittelkisten türmten, die durch eine rote Aufschrift zur Entsorgung gekennzeichnet waren.
Als Diebin wäre ich absolut unbrauchbar gewesen – nicht nur, dass mein Herz wie wild hämmerte, auch der Türgriff war durch meine schweißnassen Hände feucht geworden.
Mit meiner Ministiftlampe bewaffnet, suchte ich die Regalreihen ab, in denen sich die Kisten bis unter die Decke stapelten. Als der aufgewirbelte Staub bereits in meiner Nase kitzelte, fand ich endlich die richtige Reihe und das Regal, in dem die Cedar-Hill-Kiste stehen sollte.
Ich war nicht wirklich überrascht, als meine Hand auf dem Regal ins Leere griff. Meine Schultern sackten nach vorn, als in diesem Moment die Spannung der Jagd in mir verpuffte. Eine neue Sackgasse … wieder war mir die Bluthexe mit ihrem anscheinend allgegenwärtigen Einfluss zuvorgekommen.
Noch bevor ich wieder in den Flur hinaustrat, griff ich mein Handy und rief Sunny an. „Ich bin hier fertig. Lass schon mal das Auto an.“
„Cousinchen, du eröffnest mir immer wieder neue Welten … bei allen Jobs auf diesem Planeten hätte ich eigentlich nicht gedacht, dass ich mal als Fluchtfahrerin ende.“
Ich verdrehte nur meine Augen und legte auf. Auf dem Flur schien die Luft rein zu sein, aber als ich mich gerade auf den Weg machen wollte, hörte ich plötzlich Leo zurückkommen und zog rasch die Tür wieder ran.
Er blieb stehen und schaute in meine Richtung – quasi direkt in meine Augen. Komm nicht zur Tür, betete ich, geh einfach weiter, bitte!
Leo schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete, schob er den leeren Wagen weiter in Richtung des Hauptbüros im Eingangsbereich.
„Ich hab hier noch mehr Kisten für den Ofen, Leo!“, schrie sein Boss den Flur entlang. „Du musst also noch ein paarmal gehen.“
„Ich steck dich gleich in den Ofen“, grummelte Leo.
Vor der glühenden Tür des Verbrennungsofens am Ende des langen Flurs stapelten sich Unmengen von Kisten bis unter die Decke, und als ich näher schlich, konnte ich schon in einiger Entfernung die ungeheure Hitze spüren, die von ihm ausging.
„Großartig“, brummte ich. Das würde Stunden dauern.
Ich stürzte mich direkt in die zur Entsorgung bestimmten Beweismittel und schob bei der Suche nach meiner ganz persönlichen Bundeslade jede Menge Akten und Beweisbeutel beiseite. Unter einem Stapel von Faxdokumenten eines lang vergessenen Börsenspekulationsbetrugs entdeckte ich schließlich eine einfache, mit einem Deckel verschlossene Kiste, auf deren Seite mit Handschrift die Cedar-Hill-Fallnummer geschrieben stand. Ich griff nach der Box, zog aber meine Hand sofort mit einem Schrei zurück, da mich ein zischender Schmerz durchzuckte.
Ich ging das Risiko ein und machte das Licht an. Dann sah ich den Grund für meinen Schmerz: Die Cedar-Hill-Box war an allen sechs Seiten mit Wächtern versehen worden. Wenn jemand anders als die Bluthexe, die diese Wächterzeichen auf die Box gemalt hat, versuchen würde, sich an ihr zu schaffen zu machen, würde derjenige eine äußerst böse Überraschung erleben.
Ich trat gegen den Stapel alter Beweisstücke und fluchte. Keine Ahnung, was mich in diesem Moment wütender machte – mir nach all den Anstrengungen die Akte nicht ansehen zu können oder einmal mehr von der namenlosen Bluthexe ausgetrickst worden zu sein.
Von meinem Ziel besessen, zog ich die Jacke aus und wickelte sie um meine Hände. Vielleicht konnte ich die Kiste ankippen, um zu sehen, was sich darin befand …
„Wer, zum Teufel, sind Sie?“
Mit der Box in den Händen drehte ich mich um und sah Leo mit seinem Einkaufswagen in der Tür stehen. Zu meiner Überraschung lag auf seinem Gesicht tatsächlich der leicht dämliche Ausdruck eines verwunderten Rinds.
„Na ja …“, stammelte ich eine meiner weniger eloquenten Ausreden.
Leo schob den Wagen beiseite und stürmte auf mich zu. „Es war ein großer Fehler von Ihnen hierherzukommen, Lady.“
„Ich brauchte bloß die Kiste hier. Wollte sowieso gerade gehen!“, piepste ich und hielt die Box zwischen mich und den heraneilenden Leo. Die Wächter stießen laute Zischgeräusche aus und sengten an den Stellen, wo ich die Box festhielt, handgroße Löcher durch die Jacke. Mist, dabei hatte ich gerade diese Jacke wirklich gerngehabt.
Leo ließ seine Schultern kreisen und baute sich in seiner ganzen Angst einflößenden Größe vor mir auf, um mir den Weg zur Tür zu versperren. „Dinge aus dem Lager zu stehlen ist eine Straftat, und ich bin hier, damit das nicht geschieht. Glauben Sie mir, Lady, ich habe heute schon einen richtigen Kacktag hinter mir und kann Sie nur dazu beglückwünschen, dass jetzt auch Sie richtig tief in der Scheiße sitzen.“ Er deutete auf den Boden. „Weg mit der Kiste und Hände hoch.“
Der Geruch der verbrannten Luxuslederjacke wurde immer stärker, sodass ich wohl oder übel tun musste, was Leo verlangte. Ich rammte die Kiste mit aller Kraft in seinen Bauch und schlüpfte an ihm vorbei zur Tür.
Leo schrie, als sich die Wächter unter Knistergeräuschen in sein ungeschütztes Fleisch brannten. Im nächsten Moment schössen blaue Flammen an seinen Armen empor, sodass er die Box von sich schleuderte und in einen Stapel Beweismittel stürzte, die dann einzeln auf seinen Kopf herabregneten.
Die von Leo weggeschleuderte Box rutschte über den Boden und kam wenige Zentimeter vor meinen Füßen zum Stehen. Die Wächter schlugen zwar noch zornige Funken, verschwanden aber nach und nach. Anscheinend hatte sich die Hexe nicht die notwendige Zeit beim Anbringen der Wächter genommen, denn ihre Kraft schien bereits zu erlöschen.
Ich hob die Box auf und zuckte kurz zusammen, da ihre Hitze meine Handflächen verbrannte. „Spiel doch das nächste Mal mit jemandem von deiner Größe – einem Yeti vielleicht!“
Leo stieß einen unverständlichen Fluch hervor und stand im nächsten Moment aber schon wieder auf wackeligen Beinen. Mit aller Kraft schlug ich ihm die Tür vor der Nase zu und rannte den Flur entlang, von dem ich nicht wusste, wohin er eigentlich führte.
„Hey, Sie!“
Verdammt!
Brent und der Leiter des Lagers kamen vom anderen Ende des schmalen Flurs auf mich zu. „Sie sind nicht berechtigt, in diesem Gebäude zu sein!“ Leos Boss schnipste und zeigte dann mit seinem kleinen, feindseligen Finger in meine Richtung.
„Stellen Sie die Kiste auf den Boden“, sagte Brent und zielte dabei mit dem metallischen Inhalt seines Holsters auf mich.
Mein Überlebensinstinkt flüsterte Kämpf oder flieh!, aber da ich mich schon mit Leo beharkt hatte, zog ich jetzt den Schwanz ein und rannte wie der Teufel den Flur hinunter zu einem Schild, das in rot leuchtenden Buchstaben EXIT versprach.
Hinter mir schlug eine Kugel in die Wand. Brent war die Sache also sehr ernst, aber allem Anschein nach war er auch ein mieser Schütze.
„Mach gefälligst deine Arbeit und halt sie auf!“, brüllte ihn sein Boss an.
Das EXIT-Schild führte mich in ein kleines Treppenhaus, das allerdings mit Brettern vernagelt war. Davor hingen eine Kette und ein Schildchen mit der Aufschrift KEIN ZUTRITT. Erst EXIT, dann KEIN ZUTRITT – über diesen Witz konnte ich nicht lachen.
Glücklicherweise gab es aber noch eine Tür in diesem Treppenhaus, die zwar nach draußen zu führen schien, aber mit Kanthölzern und einem kleinen Schloss gesichert war. Ich rammte meine Schulter mit all der Kraft einer Wölfin gegen die Tür und spürte, dass Brent jeden Augenblick auftauchen musste.
Die Tür öffnete sich nur einen Spalt. Ich fluchte lautstark und rannte erneut gegen sie an. Unmöglich, dass ich so weit gekommen sein sollte, nur um in diesem schäbigen Treppenhaus von einem schlecht bezahlten Volltrottel namens Brent umgebracht zu werden.
Als ich mich zum dritten Mal gegen die Tür warf, gab das Holz mit einem ächzenden Geräusch nach.
Der Ausgang führte mich zu einem Ladedock, das über eine kleine Gasse mit der Straße vor dem Archiv verbunden war. Ich kann mir nur zu gut vorstellen, dass meine Flucht einen ziemlich lächerlichen Eindruck gemacht haben muss: Ich, um mein Leben rennend, schleppte einen verkohlten und qualmenden Pappkarton unter dem Arm und wurde von einem Typen verfolgt, der in jedem Steven-Seagal-Film als Komparse durchgegangen wäre.
„Bleiben Sie stehen, Lady, oder ich schieße!“
Sogar die Dialoge wirkten lächerlich.
Statt stehen zu bleiben, legte ich noch einen Zahn zu, da ich hinter mir schon meinen Verfolger hecheln hörte. Einige Augenblicke später war ich an der Straße angekommen und schlängelte mich durch die verdutzt blickenden Fußgänger in Richtung Auto. Zu meinem Glück tuckerte Sunnys Cabrio schon im Leerlauf vor dem Archiv.
Im Laufen versuchte ich, mich durch Schreien bemerkbar zu machen. „Sunny!“
Sie warf den Kopf herum, und als sie Brent erblickte, der mit seiner Pistole auf dem Gehweg hinter mir herstürzte, fielen ihr beinahe die Augen aus dem Kopf.
„Sunny, mach die Tür auf!“ Eine Sekunde später sprang ich auf den Beifahrersitz, warf die qualmende Box nach hinten und starrte meine Cousine an. „Worauf wartest du, verdammt? Fahr los!“
Statt loszubrausen, glotzte Sunny fassungslos in Richtung des heranstürmenden Brent. „Ist das wirklich ein Angestellter des Stadtarchivs? Die sind doch normalerweise weniger schwer bewaffnet, oder?“
Brent landete mit einem heftigen Knall auf dem Kofferraum des Cabrios und presste seine Pistole gegen die Rückscheibe. „Wenn Sie nicht sofort aussteigen, verteile ich Ihre Hirnmasse über diese Tussenschaukel!“
„Sunny, ich will nicht sterben.“
„Okay, okay!“, quiekte sie. „Hex noch mal! Ich konnte doch nicht wissen, dass der tatsächlich auf uns schießen würde!“
„In der realen Welt fuchteln Leute mit Knarren rum, um genau das zu tun, Sunny!“
„Jetzt komm mir nicht auf die blöde Tour! Ich fahr ja schon!“
Im nächsten Moment versenkte sie mit ihrem Fuß das Gaspedal im Bodenblech, sodass Brent vom Auto geschleudert wurde und eine satte Bauchlandung in der Dreißig-Minuten-Parklücke vor dem Stadtarchiv hinlegte. Sunnys blutleere Hände klammerten sich um das Lenkrad. Mit weit aufgerissenen Augen fuhr sie mich an: „In was, zum Teufel, hast du mich da reingeritten, Luna Wilder?“
Ich lehnte mich zurück, atmete tief durch und versuchte so, den Gestank der brennenden Wächter in meiner Nase gegen kühle, frische Luft auszutauschen. „Das frage ich mich auch ziemlich oft, Sunny.“
„Das ist nicht lustig“, sagte sie leise.
„Ich weiß“, murmelte ich. Sunny bog etwas zu früh auf die Heron ab und musste sich kurz auf den Spurwechsel konzentrieren, bevor sie weiterreden konnte.
„Die Sache fängt langsam an, gefährlich zu werden.“
„Wann war ich denn jemals nicht in Gefahr, Sunny? Als Insoli auf der Straße rumzulaufen, ist in etwa so, als würde ich mir ein großes Schild um den Hals hängen, auf dem steht: HALLO, ICH BIN EINE MINDERWERTIGE LEBENSFORM UND FREUE MICH ÜBER EINE ORDENTLICHE TRACHT PRÜGEL.“
„Ich meine nicht dich“, erwiderte sie im Flüsterton. „Ich meine eher den Rest von uns.“
Ich seufzte. „Tut mir leid.“
„Was wirst du dagegen unternehmen?“
Ich zeigte mit dem Daumen auf die Rückbank. „Erst mal einen ruhigen Platz suchen, wo ich mir die Akte anschauen kann, um hoffentlich ein paar Antworten zu finden.“
Sunny nickte und setzte den Blinker. „Ich kenne da ein Plätzchen.“