Blood on the tracks (September 1976)
Vahlen schaltete das Autoradio aus. Mitten auf der Straße sah er eine dunkle, scheinbar unbewegliche Gestalt. Seine Scheinwerfer durchdrangen die Dunkelheit nicht ganz. Das Ding war zu groß für ein Reh. Ein Wildschwein? Er blendete ab, vorsichtshalber. Nur keinen Ärger, dachte er, noch wenige Kilometer durch den Wald, dann war er zu Hause. Es musste vier, halb fünf am Morgen sein. Er war erschöpft, hatte getrunken, und wie so oft verstand er nicht mehr, warum er überhaupt gemeint hatte, wegfahren zu müssen.
Das letzte Mal, als er frühmorgens aus Frankfurt zurückgekommen war, hatte Hella am Bett der Kleinen gesessen. Erste Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster. Sie trug ein halb aufgeknöpftes Leinenhemd, in dem sie ihm auf fast unberührbare Weise schön erschien. Judith plapperte etwas von ihrer Puppe.
»Schlaft ihr nicht mehr?«
Hella sah ihn kaum an. »Es ist spät.«
»Willst du wissen, wo ich war?«
»Es ist mir egal, wo du warst.«
»Hör auf, Hella. Das gehört eben auch dazu.«
»Es gehört zu deiner Arbeit, mit anderen Frauen nächtelang unterwegs zu sein?«
»Du möchtest ja nicht wissen, wo ich war. Also stell auch keine Vermutungen auf. Ich gehe jetzt schlafen. Es war eine anstrengende Nacht. Legst du dich zu mir?«
»Ich will mit Judith in den Garten.« Sie nahm das Kind auf den Arm, drückte es an sich, so dass er nur im Vorbeigehen die kleine Hand berühren konnte.
Er hatte sich auf das Bett fallen lassen, hatte die Schuhe abgestreift und lange die Decke angestarrt, bevor er schließlich eingeschlafen war.
Vahlen wusste nicht, was ihn mehr ermüdete, Hellas Vorwürfe, ihr überhebliches Getue an den trüben Tagen danach oder seine Ausreden und Rechtfertigungen. Und obwohl er sich klar darüber war, dass es nichts ändern würde an seiner Schlaflosigkeit, an seinen Zweifeln und seiner Unfähigkeit zu schreiben, dauerte es nie lange, und er fuhr wieder weg. Seine Unruhe begann meistens am frühen Abend. Judith weinte oft – und jedes Mal glaubte Vahlen, sie müsse Schmerzen haben. Hella tat, als wäre das Schreien normal. Er hörte sie mit ruhigen Schritten in der Küche umhergehen und das Essen zubereiten. Dann genügte oft ein Anruf von einem alten Bekannten, und Vahlen stieg in den Wagen.
Wenn er in Frankfurt auf Gellmann und die anderen traf, im Eckstein oder in der Roten Quelle, stellte er sich keine Fragen mehr, eins führte zum anderen – das Bier, der Klare, eine Runde Tischfußball, die Gespräche über die Lage der Welt. Irgendwann kamen meistens ein paar Frauen dazu, und man beeilte sich, eine abzubekommen.
Wahrscheinlich lag da nur ein Strohballen, den ein Traktor am Abend verloren hatte. Es sah nicht aus wie ein Auto, trotzdem war es möglich, dass es sich um einen Unfall handelte. Je langsamer der Wagen wurde, desto undurchdringlicher und geradezu unheimlich wirkte auf ihn das Dunkel der Waldstraße.
Erst gestern war er ganz in der Nähe umhergelaufen. Das rotbraune Laub hatte zwischen den grünlichen Baumstämmen hervorgeleuchtet, so dass weiter weg alles zu einem fleckigen Lila verschwamm. Tropfen hingen an den Ästen. Bei jedem Windstoß fielen sie wie träger Regen herab. Die Wege waren mit einer glitschigen Schicht bedeckt. Mehrmals war er hingefallen, hatte sich mit den Händen abstützen müssen. Das Geräusch seiner Schritte sog der Waldboden vollständig auf. Aber von unten im Tal war der Bach deutlich zu hören gewesen.
Er konnte den Zeitpunkt nicht ausmachen, wann die Gegend aufgehört hatte, für ihn das gewohnte Terrain der Kindheit zu sein. Die Brüder und er hatten jeden Tag in diesem Wald gespielt, rund um das Sehlscheider Freibad herum, im Nonnenley und weiter weg an der Hünnericher Mühle. In größeren Runden erzählte er gerne die Geschichte von seinem Klassenkameraden Günter. Kurz nach dem Krieg hatte Vahlen als kleiner Junge in einem der Gräben einen glitzernden Stein gefunden. Noch bevor er ihn einstecken konnte, hatte Günter ihm den Stein zu entreißen versucht. Seine Brüder, die hinzugekommen waren, hatten Vahlen zuerst in Schutz genommen. Aber als Günter, der allein mit seiner Mutter aus dem Osten gekommen war, zu heulen begann, drängten sie Vahlen, nachzugeben. »Was willst du mit dem Stein?«, fragten sie. »Etwa eine Mineraliensammlung anfangen?« Sie lachten, und schließlich hatte Vahlen dem Jungen den Stein vor die Füße geworfen und war über den Umweg durch die Teufelsstiege nach Hause gerannt.
Am nächsten Tag erfuhren sie, dass Günter mit schweren Phosphorverbrennungen im Arlicher Krankenhaus lag. Der Stein hatte sich beim Trocknen in seiner Hosentasche entzündet und sich bis auf den Knochen in sein Bein gebrannt. Wochenlang kämpfte Günter um sein Leben. Bald darauf war er mit seiner Mutter wieder aus Sehlscheid weggegangen. Aber Vahlen erinnerte sich noch immer mit dem gleichen angenehmen Schaudern an das Gefühl, dem Unglück knapp entronnen zu sein.
Hella behauptete jedes Mal, sie verstünde nicht, wie er sein Glück an Günters Leiden messen konnte. Als glaube er, der Junge wäre vom Schicksal für seine Gier bestraft worden, sagte sie. Außerdem könne niemand wissen, wo im Wald überall noch Phosphorbomben und Blindgänger herumlagen.
Viel später, da wohnten sie schon in ihrem Haus im Aulbachtal, war Vahlen einmal lange um eine ihm unbekannte Schlucht herumgeirrt. Zunehmend erschöpft hatte er schon befürchtet, die Nacht im Wald verbringen zu müssen. Doch dann war er durch Zufall auf einen Pfad gestoßen, der ihn noch in der Dämmerung nach Hause brachte. Auch als Kind hatte Vahlen sich manchmal verlaufen. Und vielleicht, dachte er jetzt, hatte Hella recht. Vielleicht war ihm der Wald nie wirklich vertraut gewesen.
Er war nun auf knapp hundert Meter herangekommen. Noch immer bewegte sich das Ding nicht, wirkte aus der Ferne aber dennoch lebendig. Ein Pferd? Eine Kuh? Plötzlich musste Vahlen lachen: Was für ein Bild: Eine kniende Kuh, mitten auf der Straße. Ihr Hinterteil ragte in einer geradezu grotesken Pose auf. Eine heilige Kuh. Vahlen konnte sich schon am nächsten Morgen davon erzählen hören. Hella hatte seine Tiergeschichten immer geliebt.
Als das Licht der Scheinwerfer sie traf, warf die Kuh ihren Kopf herum. Erst jetzt begriff Vahlen, dass sie nicht anders konnte als zu knien. Er sah den panischen Blick in den großen, dunklen Augen, die gebrochenen Vorderbeine abgeknickt auf der mit Flecken und Schlieren beschmutzten Fahrbahn. Mit heftigem Halsrucken versuchte das Tier vergeblich, den schweren Leib zu bewegen.
Weiter weg am Waldrand sah Vahlen den Transporter liegen. Tiefe Furchen waren in die Böschung gerissen. Mehr Vieh lag am Boden. Die Räder des Lastwagens hingen in der Luft. Stroh und Mist und unkenntliche schwarze Masse verteilten sich über die aufgeworfene Grasnarbe.
Vahlen bremste und legte den Rückwärtsgang ein.
Sehlscheider Polka (Mai 1930)
In Marthas Kopf drehte und drehte es sich. Noch als die Polka längst begonnen hatte, schien der Dreitakt des Walzers in ihren Ohren nachzuhallen. Sie schaute am flatternden Stoff ihres Kleides herab und musste gleich wieder zu Nesselhahn hochblicken, sonst wäre ihr übel geworden. Sein Atem roch nach Zigarre.
»Geht es dir gut?«, fragte er.
Martha nickte und wandte den Blick ab. Sie hatte schon viele Hochzeiten im Brinkschen Tanzsaal erlebt. Aber dass sie heute selbst die Braut sein sollte, die schönste von allen, konnte sie kaum glauben.
Es war ihr immer recht gewesen, dass die Männer aus Sehlscheid ihre Nähe gemieden hatten. Seit ihrem Unglück galt sie als hochmütig, bestenfalls als verbittert. Mehr als einmal hatten sich Kurgäste um sie bemüht. Aber erst als niemand im Dorf mehr daran glaubte, dass sie einen von ihnen erhören würde, war Richard von Nesselhahn gekommen.
Der junge Doktor der Philologie hatte das verlängerte Pfingstwochenende mit zwei Studienkollegen in Sehlscheid verbracht. Tagsüber waren die Freunde den Völkerwiesenbach entlang gewandert, bis hinunter ins Aulbachtal, und am Nachmittag spielten sie Tennis auf den Plätzen am Hahn. Schon am zweiten Abend luden sie Martha zu einem gemischten Doppel ein. Die Wahl zwischen den jungen Herren fiel ihr nicht schwer.
Von all den Sommergästen aus Hamburg und München, der Schweiz, England und sogar Amerika hatte Martha sich ausgerechnet einen Sohn des bekannten Koblenzer Chemiefabrikanten Nesselhahn ausgesucht. Und auch wenn der junge von Nesselhahn mit Salpeter und Kunstfaser seines Vaters nichts zu tun haben wollte, erinnerte die Verbindung die Dorfbewohner unweigerlich an die Geschichte der alten Irma Vahlen.
Kein halbes Jahr später wurde in Koblenz die Verlobung gefeiert. Für das Hochzeitsfest aber hatte Martha sich den Saal des prächtigen Brinkschen Kurgasthofs gewünscht, für den sie selbst jahrelang die Küche geführt hatte.
Sie suchte Hagis, sah aber nur Kläre und Irma am Rand der Tanzfläche stehen. Neben den feinen Herrschaften, die aus Koblenz, Arlich und Köln angereist waren, wirkten die Witwen von der Hüh wie traurige Schwestern. Martha hatte ihnen Krefelder-Samt geschickt, aus dem Kläre zwei Kleider genäht hatte. An Brust und Taille eng geschnitten, fielen sie glockenartig bis zu den Fesseln. Aber während Irma darin ungewohnt hager aussah mit ihrem langen, gekrümmten Rücken, wirkte die so viel jüngere Kläre dicklich und alt.
Marthas eigenes Kleid aus silberweißer Seide hatte für Aufruhr gesorgt, als das Brautpaar morgens vor den Gästen und Schaulustigen aus der Kirche getreten war. Es schmiegte sich locker um ihre Hüften, reichte kaum bis zu den Waden und war tief ausgeschnitten. Martha hatte das Gefühl, sich noch niemals, nicht einmal in ihrer frühesten Kindheit so frei gefühlt zu haben.
Jetzt entdeckte sie Hagis. Er lehnte an der Rückwand des Saales, die Hände in den Taschen, das Haar zurückgekämmt. Mit seinen dunklen Augen schien er jede ihrer Bewegungen zu beobachten, ohne sie direkt anzusehen. Oder blickte er zum Bräutigam? Hagis hatte Nesselhahn immer mit übertriebener Höflichkeit behandelt, hinter der sich unübersehbar Eifersucht versteckte. Martha ahnte, was er an ihrem Verlobten nicht mochte, sein weltmännisches Auftreten, seine Ausdrucksweise, an der man sofort die feine Herkunft erkannte. Sie war nur erstaunt darüber, wie wichtig Hagis diese Dinge nahm.
Wann immer sie ihn ansah, sein vertrautes Gesicht mit den hohen Wangenknochen, den leicht abstehenden Ohren, der geraden Nase, spürte sie, wie seine Lippen ihren Mund berührten. Dabei war es schon ein Jahr her, dass er sie geküsst hatte.
Hagis war nach der Schule häufig zu ihr in die Küche gekommen und hatte ihr Gesellschaft geleistet, während sie für die Gäste im Hotel das Abendessen zubereitete. Er lachte mit ihr über die Jungen im Dorf, denen er Streiche spielte, über die Mädchen, die dümmlich kicherten, wenn er mit ihnen zu sprechen versuchte, und über die Großmutter Irma mit ihrem Geschimpfe, das kaum noch jemand verstand. Martha genoss seine Geschichten. Auch wenn Hagis’ scharfer Verstand und der Humor, mit dem er die Eigenarten der Dorfbewohner kommentierte, sie vor allem daran erinnerten, dass die Sehlscheider ihm – wie auch ihr selbst – mit unabänderlichem Misstrauen begegneten.
Im vorigen Frühjahr hatte Hagis sich plötzlich verändert. Mitten im Gespräch blickte er sie unverwandt an, so dass Martha erschauerte. Zuerst dachte sie, er habe etwas über seine wahre Herkunft herausgefunden, von der ihm niemand in der Familie je erzählt hatte. Dann glaubte sie, es wäre ihre Nähe zu ihm, das enge Verhältnis, das sich manchmal zu einer unerträglichen Spannung steigerte. Aber schließlich sagte sie sich, dass Hagis ein Heranwachsender war, und sie selbst erinnerte sich noch gut an die Unsicherheit und den Kummer, die sie in diesem Alter begleitet hatten.
»Ich war heute bei Ilse«, hatte er an jenem Ostermontag vor über einem Jahr gesagt. Und Martha hatte gleich gemerkt, dass Hagis das nicht ohne Grund erzählte. Mehrmals hatte er ihr schon von seinen Versuchen berichtet, das Mädchen zu küssen. Ilse Kleinmann wirkte ein wenig wild, aber sie war hübsch und auch nicht dumm. Sie lebte bei ihrem Großvater, dem Kolonialwarenhändler Kehl und dessen Sohn.
Der junge Kehl, der nach dem Abzug der Amerikaner für den Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund Jugendwanderungen organisiert hatte, führte nun unter wechselndem Banner seine eigenen Gruppen durch den Wald. Und wer den Jungbauern oder dem Sportverein angehörte, statt Kehls Werwolf, dem Jungstahlhelm oder schließlich der Hitlerjugend beizutreten, achtete darauf, ihm und seinen Hunden nicht im Dunkeln zu begegnen. Mehrfach hatte Martha beobachtet, wie Kehl seine Nichte an den Zöpfen nach Hause zerrte, wenn er sie mit den Mädchen auf dem Burplatz erwischte.
»Du musst aufpassen. Der junge Kehl wird dich windelweich schlagen, wenn er dich mit Ilse sieht.«
»Er hat mich schon gesehen. Gar nichts hat er mir getan. Ilse ist ihm egal. Er ist ja nur der Onkel.«
»Und ich bin nur die Tante. Trotzdem sage ich dir, du solltest aufpassen. Du bist viel zu jung zum Küssen. Oder zu alt, um es einfach so zu tun. Das kann böse Folgen haben.«
»Ach, ja? Welche denn, Tantchen?« Er grinste sie an.
Martha wurde rot. Sie mochte es nicht, wenn Hagis sie so nannte.
»Weißt du, was der junge Kehl heute zu mir gesagt hat?«, fragte er weiter, und beobachtete sie dabei genau.
»›Deine Tante-Rühr-mich-nicht-an findet wohl auch nicht mehr unter die Haube, was Heinrich‹, hat er gesagt. Er nennt mich Heinrich.«
»Das ist der Name, auf den du getauft bist.«
»Niemand nennt mich so. Außer Kehl.«
»Hör nicht auf ihn.«
»Und?«
»Was und?«
»Bist du eine Tante-Rühr-mich-nicht-an? Hat Kehl es mal versucht bei dir?«
»Ich sag doch, hör nicht auf ihn. Kehl ist ein Hund. Außer den Kötern will ihm niemand zu nahe kommen. Das weißt du doch.«
»Er tat so.«
»Er tat was?«
»Er tat so, als habe er um deine Hand angehalten.«
Martha presste die Lippen zusammen. »Ganz bestimmt nicht.«
»Warum hast du denn nie geheiratet?«
»Wen sollte ich hier heiraten, deiner Meinung nach? Ich komme sehr gut allein zurecht.«
Hagis war ihr näher gekommen. »Ich bin also zu jung zum Küssen? Und gleichzeitig zu alt?«
Warm und feucht streifte sein Atem ihr Gesicht. Hagis legte die Arme um ihren Hals. Sie wollte sich losmachen.
»Du hast recht, du bist viel zu schön. Niemand hier könnte dein Mann werden.«
»Hagis!«
Er blickte sie wieder so merkwürdig an und kam noch näher. Gleich würden ihre Köpfe sich berühren. Sie schloss die Augen, wollte sich wehren, hielt aber doch still. Dann spürte sie seinen Mund auf ihrem, fühlte die weichen, kindlichen Lippen. Die Arme weiterhin um ihren Hals geschlungen, lehnte Hagis sich zurück, sah Martha an und begann laut zu lachen. Mit rotem Kopf machte sie sich frei, und Hagis stürmte, noch immer lachend, aus der Küche.
In der folgenden Nacht lag Martha wach. Wie so oft dachte sie darüber nach, wie ihr Leben in Sehlscheid verlaufen war und wie es hätte verlaufen können. Aber zum ersten Mal seit langem überlegte sie auch, was aus ihr werden könnte. Und als sie am Morgen ihre Kammer verließ, hatte sie den Entschluss gefasst zu heiraten.
Bei ihrer nächsten Umdrehung wollte Martha wieder zu Hagis herüberschauen, doch er war verschwunden. Sie spürte Nesselhahns Hand an ihrer Hüfte und kicherte beim Gedanken daran, wie er sie gestern sein »Westerwälder Himmelsschlüssel« genannt hatte. Nesselhahn war kein schöner Mann. Seine Nase wirkte etwas zu klein in dem ovalen Gesicht, und obwohl er erst dreißig war, hatte er bereits einen Bauch. Es war seine Zuversicht, die selbstsichere Art, die Martha überzeugt hatte, dass er der Mann sei, der sie aus Sehlscheid fortbringen würde.
Sie tanzte und wollte nie wieder aufhören. Die Gesichter der Gäste verschwammen vor ihren Augen. Nesselhahns Schwung riss sie mit sich fort. Die vom Zigarrenrauch bräunlich gewordenen Wände des Brinkschen Tanzsaals schienen sich aufzulösen, und mit ihnen eine Welt, die Martha zu lange verschlossen geblieben war, um ihr jetzt noch wichtig zu sein.
Erst als sie Hagis erneut bemerkte, seine dunkle Gestalt am Rand der Tanzfläche, überkam sie das Gefühl, innehalten zu müssen. Der Gesichtsausdruck ihres Neffen hatte sich verändert. Sein Blick traf den ihren. Starr und hasserfüllt sah er aus. Und er hielt etwas Großes, Langes in den Händen, das Martha nicht gleich erkennen konnte. Aber dann begriff sie, dass es ein Jagdgewehr war. Ein schweres, hölzernes Gerät, wie es in Sehlscheid jeder Bauernsohn besaß. Hagis hatte sie damit noch nie gesehen. Entsetzen ergriff sie. Der Lauf des Gewehrs war auf sie gerichtet – nein, auf Nesselhahn.
Inzwischen musste auch Nesselhahn Hagis gesehen haben, denn er blieb in der Drehung stehen. Die Musik des Orchesters verstummte. Durch den Saal ging ein Raunen. Einige der Paare standen verwirrt herum, andere hatten sich bereits von der Tanzfläche geflüchtet.
»Hagis«, rief Martha. Sie machte sich aus Nesselhahns Umarmung los und drehte sich zu ihrem Neffen. Sofort spürte sie die Hand ihres Mannes von neuem auf ihrer Schulter.
»Mach keinen Fehler, Junge«, rief Nesselhahn.
»Bist du verrückt geworden«, schrie jetzt auch Kläre.
Hagis rührte sich nicht. Mit schiefgelegtem Kopf, das Gewehr auf der Schulter in ihre Richtung zielend, schien er selbst nicht mehr weiter zu wissen.
Einen Moment lang geschah nichts. Dann begannen die Gäste sich untereinander Zeichen zu geben und zu flüstern. Man hörte Nesselhahns Trauzeugen Gues einen Witz machen. Hagis wurde sichtlich nervös. Martha sah, wie Hermann sich von hinten an ihn heranschlich. Einer der Männer am Ausschank stieß eine Flasche um, und Hagis riss das Gewehr ruckartig herum. Sofort wollte er es wieder auf Nesselhahn richten, aber da lief Hermann von der Seite mit zwei schnellen Schritten auf ihn zu, schlug ihm das Gewehr aus der Hand und gleich darauf die Faust gegen das Kinn. Hagis’ Gesicht drückte Erstaunen aus, als er mit einem Seufzer zusammensackte.
Martha wollte zu ihm laufen, wollte ihren Neffen anschreien, was er sich dabei gedacht hatte. Er ist ja noch ein Kind, hätte sie am liebsten gerufen. Sie wollte ihn in die Arme nehmen, ihn einen dummen Jungen schimpfen, ihn beruhigen, ihn küssen, wie sie ihn früher geküsst hatte, als sie beide noch Kinder waren. Aber Nesselhahn hielt seine Braut mit festem Griff und drehte sie zu sich herum. Sein Gesicht war hart.
»Alles in Ordnung?«
Martha nickte.
»Dann wollen wir uns nicht länger das schöne Fest verderben lassen.«
Hermanns Sohn Johann und der junge Bauer Gehrke führten Hagis aus dem Saal. Zu viel Alkohol, meinten die Frauen, die von außerhalb gekommen waren, dabei ist er noch so jung. Wildgewordener Bauernrüpel, schimpften die Männer, die von Hagis’ Auftritt dennoch beeindruckt waren. Sichtlich freuten sie sich darauf, in der Stadt von ihrem Erlebnis zu erzählen.
Für die wenigen Bewohner von Sehlscheid aber, die zu Marthas Hochzeit eingeladen worden waren, für den Gastwirt selbst, für die Bauern Brink und Gehrke, für den Pastor Heller und den Oberförster Ranke hatte das Fest jede Leichtigkeit verloren. Denn wie so oft hatte Hagis’ Anblick sie an Marthas Unglück erinnert und an die vielfache Demütigung des Dorfes durch die amerikanische Siegermacht.
Als vor zehn Jahren der schwarze Soldat in Marthas Kammer eingestiegen war, hatte man in Sehlscheid erst begriffen, was der schlechte Frieden wirklich bedeutete. Der Täter wurde nie gefunden. Einige vermuteten sogar, es habe sich gar nicht um einen schwarzen Mann gehandelt. Die Besatzer hätten es nur so aussehen lassen, um die Kriegsverlierer zu erniedrigen. Und als die Frauen von der Hüh wegen des Vorfalls keine Ruhe gaben, steckten ihnen die fremden Soldaten eines Nachts auch noch den Hof in Brand.
Hagis teilte sich zu dieser Zeit die Schlafkammer mit Kläre Vahlens Enkel. Wie durch ein Wunder hatte nach dem bösen Feuer ausgerechnet das fremde Hungermaul in Kläres Armen wieder zu husten begonnen, während sein Ziehbruder, der kleine Heinrich Vahlen, im Rauch erstickt war.
Die Witwen weinten tagelang um Heinrich, obwohl er als Unglückskind galt. Der Pastor hatte ihn als »infans spurius« ins Kirchenbuch eingetragen, als unehelich geboren und elternlos. Er hatte weder sprechen noch laufen gelernt. Trotzdem ging es in aller Augen zu weit, dass die Amerikaner sich nun auch noch an Haus und Hof und wehrlosen Kindern vergingen. Im Gasthaus wurden die Stimmen laut, die einen Gegenschlag forderten. Einige der Bäuerinnen wagten es, den bei ihnen untergebrachten Soldaten die Verpflegung zu verweigern. Eine Zeitlang fürchtete man in Sehlscheid sogar einen Aufstand.
So waren alle froh gewesen über Hermann Vahlens Vorschlag, die Witwen sollten an Heinrichs Stelle das Hungermaul bei sich behalten. In den Grabstein des toten Jungen ließ man kurzerhand den Namen »Hans Gisbert« meißeln, denn niemand wusste, wie das Hungermaul wirklich hieß. Den Totenschein schickte man mit Stempel und Unterschrift des amerikanischen Offiziers an das zuständige Waisenhaus in Koblenz, wo die Akte des unbekannten Jungen geschlossen wurde. Und auf ausdrückliche Bitte Hermann Vahlens taufte Pastor Heller schließlich denjenigen, den man im Dorf weiterhin Hagis nannte, auf den Namen Heinrich.
In den Köpfen der Leute hatten sich die Ereignisse mit den Jahren jedoch vermischt und die Abfolgen verändert. Niemand verspürte noch die Erleichterung, die geherrscht hatte, nachdem die für alle gütliche Einigung gefunden worden war. Marthas vielgefürchtetes Mohren-Kind wurde nie geboren. Stattdessen hatte sich in Folge ihres Unglücks, so sah es im Nachhinein aus, ein anderes Kuckuckskind im Dorf eingenistet: Hagis mit seinen tiefliegenden Augen und den dunklen Haaren. Dieser auf bald schon unheimliche Weise schlaue, aufsässige Junge ohne Namen, war nicht im Westerwald geboren und würde auch nie dort hingehören, das hatte er am heutigen Abend aufs Neue unter Beweis gestellt.
Duisburg II: Hindernisse (Juni 2007)
»Suchen Sie etwas?«
Kittel zog seine Hand vom Regal zurück. Tatsächlich war er dabei, das Manuskript zu suchen, wühlte in den Papierstapeln und Ordnern der Doktoranden herum. Er dachte, er sei allein im Institut und hatte Caroline Schweizer nicht hereinkommen gehört. Natürlich wusste er genau, dass er als Professor im Aufenthaltsraum der Hilfskräfte nichts verloren hatte. »Frau Schweizer! Ich hatte gehofft, hier Andreas Wielands Arbeitsmaterial zu finden.«
Am Morgen hatte Wieland endlich angerufen. Kittel hatte dem Doktoranden keine Vorwürfe gemacht, denn er wirkte völlig durcheinander, geradezu misstrauisch. Vergeblich versuchte der Professor ihn zu überreden, das Manuskript an den Lehrstuhl zu bringen. Erst hinterher war ihm die Idee gekommen, dass es sich womöglich längst im Institut befand.
»Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen«, sagte Caroline Schweizer. »Wie Sie sehen, bewahrt hier jeder seine Sachen so auf, wie er es für richtig hält. Es ist auch Privates dabei.« Das war ein eindeutiger Hinweis, dass Kittel kein Recht hatte, hier zu sein. Caroline Schweizers Sinn für Ordnung grenzte an Unhöflichkeit, dachte er. Er hatte keine große Lust, sie in seine Überlegungen einzubeziehen.
»Wieland müsste doch längst zurück sein aus dem Westerwald«, sagte sie.
»Ich habe ihn seit Wochen nicht gesehen.«
»Rufen Sie ihn doch an.«
»Ja, das wird das Beste sein«, sagte Kittel und tat absichtlich zerstreut. »Irgendwo muss ich seine Nummer haben.«
Er riskierte einen letzten Blick über das Regal und wollte sich schon abwenden, da entdeckte er aus dem Augenwinkel einen ganz neuen Dokumentenkarton. Mit großen Buchstaben stand darauf »Wieland« geschrieben, und darunter in Klammern »persönlich«.
Kittel blickte sich zu Caroline Schweizer um. Sie stand wartend in der Tür. Offenbar hatte sie nicht gesehen, was er gesehen hatte. Er würde wiederkommen.
Im Zimmer seiner Tochter waren die Rollläden heruntergezogen, und auch an den anderen Fenstern seines Bungalows konnte Kittel von draußen nicht erkennen, ob jemand zu Hause war. Als er eintrat, regte sich nichts. Neben dem Flurtelefon sah er das Lämpchen des Internetanschlusses flackern.
»Hans Ullrich? Bist du das?« Die Stimme seiner Frau kam gedämpft von oben.
»Ich will nur was essen. Bin gleich wieder weg«, rief er und ging weiter in die Küche.
Kittel wusste, dass seine Frau ein Verhältnis hatte. Seit langem schien sie auf eine Gelegenheit zu warten, ihn zu verlassen.
»Was tust du da, Papa?«
Kittels Tochter stand neben ihm in der Küchentür. Er hatte sich ein Rührei zubereiten wollen und war gedankenverloren vor dem geöffneten Kühlschrank stehen geblieben.
»Ich überlege«, sagte er.
Jana lachte. »Willst du nicht wenigstens den Kühlschrank zumachen? Dann könntest du auch den Mantel ausziehen.« Da war er wieder, dieser mitleidige Blick. Seine Tochter wurde ihrer Mutter immer ähnlicher.
Jana hatte ihn mit Villa Westerwald bekannt gemacht. Sie hatte ihren Eltern die erste Staffel vor zwei Jahren zum Hochzeitstag geschenkt. »Was für Mama, die abends gerne die Beine hochlegt«, hatte sie gesagt. »Und was für Papa, denn es ist nach einer literarischen Vorlage gemacht.« Sie hatte mit den Augen gezwinkert. »Damit könnt ihr es euch mal wieder zusammen gemütlich machen.«
Ab der zweiten Staffel hatte Kittel sich alle Folgen alleine angesehen. Nicht, dass Sybille die Serie nicht gemocht hätte. Aber ihre ständigen Nachfragen, warum denn »die Tochter« nun dieses oder jenes getan habe, was »die Alte« denn geantwortet oder wen der Philosophische Gärtner zitiert habe, raubten ihm den letzten Nerv. Ständig musste er die DVD anhalten, damit sie auf Toilette gehen konnte.
Kittel liebte Villa Westerwald von Anfang an. Die Serie ließ ihn das eigene Leben, die eigenen Sorgen, aber nie den eigenen Anspruch auf Glück vergessen. Schon lange träumte er davon, noch einmal alle Folgen ganz in Ruhe und an einem Stück zu sehen.
Als der Professor kurz darauf seinen Wagen vor dem Institut parkte, war es bereits dunkel. Während er auf dem Weg durch das Gebäude eine feuersichere Tür nach der anderen öffnete und hinter sich wieder schloss, dachte Kittel, dass er zum ersten Mal in seinem Leben etwas Verwerfliches tat.
Im Aufenthaltsraum zog er den Karton aus dem Regal und klappte den Deckel auf. Kreuz und quer bekritzelte Blätter flogen ihm entgegen. Es sah eher nach Wielands Handschrift aus als nach der des Romanciers. Aber dann stieß er tatsächlich auf Notizbücher, auf Schuhkartons mit Fotos und Originaldokumenten, schließlich in einer Mappe ein Stapel engbeschriebener Seiten – Peter Vahlens Manuskript.
Kittel drehte sich um. Die Tür des Aufenthaltsraums war geschlossen. Aber er meinte, im Flur etwas gehört zu haben. Wenn nur der Dekan nicht wieder über die Gänge schlich. Im Zwischenstock war alles still. Den Karton vor sich hertragend ging Kittel an den Kaffeeautomaten und schwarzen Brettern der Studenten vorbei in Richtung seines Büros. Er glaubte, es endlich geschafft zu haben.
Der Konstruktionsfehler (September 1976)
Vahlen zog den Schlüssel ab. Mit dem Motor gingen auch die Scheinwerfer aus, die Musik verstummte. Er versuchte sich zu konzentrieren, seine Gedanken zu sammeln. Das Bild der knienden Kuh, die geschundenen Leiber auf der Waldstraße gingen ihm nicht aus dem Kopf. Er wehrte sich gegen die Vorstellung, der Unfall hätte irgendeine Bedeutung. Und doch ließ sie ihn nicht los. Wieder einmal meinte er, dass etwas passieren müsste, jetzt und nicht nur mit ihm.
Der Dioxinunfall von Seveso, die Toten von Tangschan, der Sturm auf die Flugzeugentführer von Entebbe – täglich lieferten die Nachrichten den Beweis für die Störanfälligkeit des Systems. Überall verschwand das Leben, wie man es früher gekannt hatte, ganze Landstriche wurden reformiert, zusammengelegt und vergiftet. Aber kaum jemand wehrte sich noch.
Es kam Vahlen vor wie ein geerbter Kummer, ein alter Fluch, der unerwartet hochkocht, zu einem späteren Zeitpunkt, an einem anderen Ort. Er wusste nicht, ob der Fehler in seiner Arbeit lag, ob er das Land betraf, die Welt oder Hella und ihn allein. Manchmal schien es, als hätten sie kein Recht auf ein friedliches Glück. Es war nur ein Gefühl, sagte er sich. Aber alle seine Versuche, es zu vergessen, erschienen ihm wie ein Spiel, mit dem er sich selbst überlisten wollte.
Lange hatte er geglaubt, die Stadt wäre an allem schuld. Menschen, umgeben von Beton, die jeden Tag schneller, produktiver, kompromissbereiter sein mussten. Vahlen wollte sich für eine bessere Gesellschaft einsetzen. Aber neben den Demonstrationen und vielen Festen, die mit einem solchen Engagement zusammenhingen, fand er kaum noch die Kraft zum Schreiben. Dann war der Brief des Notars gekommen.
Die Erbschaft im Aulbachtal war keine gute Nachricht gewesen. Hellas Schmerz, ihre Verlorenheit nach dem Selbstmord ihrer Mutter war ihnen lange Zeit unabänderlich erschienen. Hellas Vater, der große Verleger Richard von Nesselhahn, der die Familie wie die Geschäfte aus der Ferne geleitet hatte, spukte – obwohl schon vor Jahren gestorben – wie ein Geist um sie herum. Ursprünglich hatte Hella vorgehabt, nur die Papiere und Hinterlassenschaften in Ordnung zu bringen, als ginge die Geschichte selbst sie gar nichts an. Sie wollte das Haus leerräumen und so schnell wie möglich verkaufen. Obwohl Vahlen derjenige von beiden war, der in Sehlscheid aufgewachsen war, und obwohl er meinte, dort noch immer den essigsauren Atem der Nachkriegszeit zu riechen, hatte er als erster begonnen, von ihrem neuen Leben auf dem Land zu träumen.
Das Dorf hatte sich Ende der sechziger Jahre vom Krieg weitgehend erholt. Die Sommergäste kamen wieder zahlreich. Eine letzte Verwandte, Hermanns Schwiegertochter Hilde, erweiterte schon zum zweiten Mal den Gasthof im Gebück. Für ein modernes Kurzentrum, das in seinen ganzen Ausmaßen wohl nie fertiggestellt werden würde, hatten die Sehlscheider Honoratioren die Gemeinde auf Jahrzehnte unter Schuldenbergen begraben. Und doch hatte Vahlen sie gleich wiedererkannt, die unversöhnliche Einteilung der Welt seiner Kindheit in Brauchbar und Unbrauchbar, den neidischen Blick auf die Kirschen des Nachbarn. Er sagte sich, dass Sehlscheid nie brauner gewesen war als irgendein anderer Ort. Aber noch immer hörte er das sperrige Wort aus dem Mund seiner Mutter – Hermann Vahlen habe ihren Onkel Kehl »denunziert«. Und es beruhigte ihn kaum, dass der inzwischen uralte Förster Ranke, der ihn nach seiner Rückkehr in den Westerwald als einziger im Gasthaus an den Tisch gewinkt hatte, ihm auf seine Fragen hin sagte, dass auch Albert Kehl nie ein Gegner der Nazis gewesen war.
Zum ersten Mal verstand Vahlen damals, warum die genauen Umstände niemanden zu interessieren schienen. In den Erinnerungen und Erzählungen der Dorfbewohner verdrehten und verflochten sich die Hergänge und Schuldigkeiten. Auch in Vahlens Kopf verschwamm alles, je mehr er darüber wusste. Trotzdem hätte er sich gerne weiterhin empört, gefiel ihm diese Vermischung nicht. Denn die Fortschrittswut der Alten, die kaltblütige Abschaffung ganzer Lebenswelten, war für Vahlen eine direkte Folge ihres Willens, die Nazi-Zeit vergessen zu machen.
Nach und nach war das düstere Haus mit dem rostigen Wintergarten und dem Marmor der Eingangshalle doch zu ihrem geworden. Hella konnte als Vertretung in den Arztpraxen der Umgebung arbeiten. Und Vahlen lernte mit den früheren Nachbarn zu sprechen, nicht als einer von ihnen, sondern als der Fremde, der er für sie geworden war. Zwischen den Stipendien und seiner Gastprofessur an einer amerikanischen Universität hatten sie sich bald eingerichtet im Westerwald. Der Traum vom Leben auf dem Land war Realität geworden, auch wenn diese manchmal einer Resignation glich.
Oft kam Vahlen alles zu einfach vor. Hellas außergewöhnliche Schönheit, sein Erfolg, das Haus – ihr Leben wirkte zu stimmig, zu rund. Was er am Anfang ihrer Beziehung noch für ein glückliches Zusammentreffen der Umstände gehalten hatte – ihre Vertrautheit, die vielen Gemeinsamkeiten – erschien ihm, zurück in Sehlscheid, wo ihrer beider Eltern einmal gelebt hatten, zunehmend wie eine unfruchtbare Gleichförmigkeit.
Es hatte ihn nie besonders gestört, dass Hella so etwas wie seine Cousine war. Hagis’ Adoption war in der Familie nie ein Geheimnis gewesen. Sie hatten Spaß. Es war schön mit Hella. Und lange Zeit war das alles gewesen, was zählte.
Beide hatten sie versucht, schnell wieder zu vergessen, was wie ein schlechtes Omen am Tag ihrer ersten Begegnung passiert war. Und auch das Gerede im Dorf hatte Vahlen nie ernstgenommen – über Hellas Mutter, die Richard von Nesselhahn betrogen habe, und über seinen Vater, der in Martha verliebt gewesen sei. Er hatte nicht einmal etwas dabei gefunden, Hagis von seiner Beziehung zu Marthas Tochter zu erzählen. Schon immer hatte er seinem Vater viel anvertraut, vielleicht, weil er hoffte, Hagis würde ihm etwas anvertrauen. Vielleicht wollte er ihn auch nur verletzen, denn Vahlen hielt seine eigenen Gefühle für echter und intensiver als alles, was Hagis noch zu empfinden vermochte.
Vahlen und seine Brüder hatten nach dem frühen Tod ihrer Mutter die letzten Schuljahre beim Vater in Chicago verbracht. Hagis war inzwischen ein berühmter Architekt, zu dem sich viele Frauen hingezogen fühlten. Und schon damals hatte Vahlen gespürt, dass die zahlreichen eleganten Damen, die in dem großen Haus am Lake Michigan ein- und ausgingen, dem Vater kaum mehr bedeuteten als seine Mutter Ilse.
Vahlen hatte ihn in einem Café in Frankfurt getroffen, wohin Hagis für einen Vortrag über die Statik von Wolkenkratzern eingeladen worden war. Hagis schien zunächst überrascht zu sein und dann belustigt über Vahlens Verbindung mit Marthas jüngster Tochter.
»Sie war ja nicht meine richtige Tante«, sagte er mit seinem schiefen Grinsen, wie immer, als ginge es nur um ihn.
Vahlen wusste nicht, was er erwartet hatte. Aber das Lachen seines Vaters empfand er als schäbig.
Ob es etwas Ernstes sei, wollte Hagis von seinem Sohn noch wissen. »Wohl eher nicht«, hatte Vahlen geantwortet. Dabei teilte er sich damals bereits eine Wohnung mit Hella.
Er erzählte ihr nie von dem Treffen. Er wusste auch gar nicht, was genau er hätte sagen sollen. Dass er nach Hagis’ unnötigem Beharren auf der Tatsache, dass er mit Martha nicht blutsverwandt war, fürchtete, sein Vater könne tatsächlich ein Verhältnis mit Hellas Mutter gehabt haben? Dass zum ersten Mal Angst in ihm aufgekommen war, ein Zweifel, oder war es die Gewissheit, einen Fehler begangen zu haben?
Seine Mutter hatte er nie gefragt, wie viel Wahrheit in den alten Geschichten steckte. Damals kannte er Hella noch nicht. Und vielleicht hätte Ilse auch gar nicht gewusst, ob Hagis mit Martha eine Affäre gehabt hatte. Nie hatte sie schlecht über ihren ersten Mann gesprochen, obwohl er sie mit den Kindern in Sehlscheid alleingelassen hatte. Hagis habe immer getan, was er wollte, mehr sagte Ilse nicht über ihn. Vielleicht, weil sie selbst im Dorf als untreu galt, denn sie hatte noch vor Kriegsende ein zweites Mal geheiratet. Aber vielleicht schwieg sie auch nur deshalb, weil alle anderen redeten.
Als Hella ihm eines Tages sagte, dass sie schwanger war, schien es Vahlen, als habe sie ihn in eine Falle gelockt. Er brüllte sie an. Er hasste sie dafür, dass sie so dumm gewesen war, die Pille abzusetzen. Eine Freundin habe ihr dazu geraten, eine Pause zu machen von den starken Hormonen, hatte sie gesagt. Das sei so üblich. Dann solle sie die Freundin doch gleich nach der Adresse fragen, wo sie das Kind wieder loswerden könne, hatte Vahlen entgegnet. Hella bestand darauf, das Baby zu behalten. Sie wollte in jedem Fall Kinder haben. Am liebsten mehrere. Warum eigentlich nicht? Ja, warum eigentlich nicht.
Nie würde er vergessen, wie Hella in seinen Armen gelegen hatte, weinend, noch immer blutend. Sie hatte das Kind verloren, das in ihrem Kopf gerade erst zu existieren begonnen hatte. Sie verstand es nicht, wollte es nicht verstehen, fragte immer wieder, warum, als müsste es eine Ursache geben, einen Schuldigen für ihren Schmerz. Vahlen sah sie an und fühlte sich schuldig.
Er konnte nicht aussprechen, was er dachte. Der Arzt hatte ja schon alles gesagt. Sie sollten es noch einmal versuchen, beim ersten Mal würde eine Fehlgeburt »noch nichts heißen«. Was würde sie beim zweiten oder beim dritten Mal heißen, hatte Vahlen sich gefragt. Aber der Arzt redete immer weiter, ein junger Mann, mit langen, unfrisierten Haaren, ein ahnungsloser Trottel, wie Vahlen selbst. Wahrscheinlich habe sie das Baby eben nicht wirklich gewollt, hatte der Mann gesagt. Hella war außer sich gewesen.
Als dann doch noch ein Kind kommen sollte, schien plötzlich wieder alles möglich. Für Hella war ihr runder Bauch wie ein Wunder. Und auch Vahlen, der damals inmitten der Arbeit an Westerwald steckte, hatte sich wirklich gefreut.
Schließlich lag das kleine Mädchen in ihren Armen und schaute sie mit großen Augen an, die kaum mehr als Licht und Schatten wahrnahmen. Hella wirkte so vollständig erfüllt von der Existenz dieses Kindes, das die meiste Zeit schlief oder schrie. Es war, als würde sie ihn gar nicht bemerken, den Defekt, die winzige Abweichung vom Vorgesehenen.
Bei Vahlen löste Judiths Anblick vor allem Scham aus. Die betroffenen Gesichter der Krankenschwestern, die ausweichenden Antworten der Ärzte auf seine Fragen, das Entsetzen der Freunde, wenn sie das Baby zum ersten Mal sahen – wieder fühlte Vahlen sich schuldig. Für ihn konnte Judiths Behinderung nichts anderes als ein Symptom sein – ein deutliches Zeichen für das, was er in Gedanken mit wachsender Bestimmtheit »den Fehler« nannte.
Wann wurde aus wenigen Zellen ein Arm, ein Unterarm, eine Hand? Wann bildeten sich die Finger, einer, zwei und schließlich – auf wundersame Weise immer genau – fünf? Und warum wuchs ihrem Baby, einem von Tausenden, nur die rechte Hand, und statt der linken ein schlaffer, in zwei fingerähnlichen Fortsätzen endender Stumpf?
Von einer Kollegin in Amerika ließ Hella sich Bücher über Entwicklungspsychologie und Krankengymnastik schicken, die sie gewissenhaft las. Es gebe Kinder, die mit den Füßen das Schreiben erlernen, erzählte sie ihm. Mit der Feststellung, dass sich Judith ohne eine Prothese natürlicher entwickeln würde, schien das Thema ihrer Behinderung für Hella erledigt. Vahlen dagegen musste seinen Drang unterdrücken, einfach wegzulaufen. Er fürchtete, dem Kind, der Frau und dem Leben, das da so zwingend vor ihm lag, nicht gewachsen zu sein.
Aber auch diese Angst hatte bald nachgelassen, auch diese Sicherheit, wo der Fehler zu suchen sei, wich einer neuen Unsicherheit. Der Alptraum von Judiths fehlender Hand war Normalität geworden. Der Erfolg seines Romans hatte geholfen und Hellas Stärke, mit der sie ihre Praxis, das Kind, die täglichen Abläufe im Blick behielt. Trotzdem war Vahlens Bemühen, aus allem das Beste zu machen, war sein Optimismus, über den Hella sich gerne lustig machte, nichts anderes als der Versuch gewesen, seine Unruhe zu übergehen. Er hatte nie ein vollkommenes Leben gewollt, aber er wünschte es sich doch erfüllt. Und er glaubte nicht akzeptieren zu können, dass es ihm oft nur künstlich und hohl erschien.
Vahlen stieg aus dem Wagen und ließ die Tür sanft zufallen. Wahrscheinlich würde Hella ohnehin auf ihn warten. Aber wenigstens die Kleine durfte er nicht wecken.
Eine Weile lang blieb er stehen, lauschte und ließ die Dunkelheit auf sich wirken, bevor er sich auf den Weg zum Treppenaufgang machte. Die Lampe an der Haustür bot kaum mehr als einen Orientierungspunkt. Einen Moment lang meinte er, unter der Rhododendronhecke etwas liegen zu sehen, einen gedrungenen Körper. Der Zweig eines Holunderbuschs schlug ihm entgegen und bespritzte sein Gesicht mit Regenwasser. Es roch nach Moos und Pilzen. Morgen wollte er in den Wald gehen, um Maronen zu suchen. Er stellte sich an das Rosenbeet und pinkelte auf die vom Regen gesättigte Erde. Dann war es wieder still um das Haus.
In der Eingangshalle umhüllte ihn der vertraute Geruch nach verkohltem Holz und feuchter Asche. Der Hund hob nur kurz den Kopf. Früher wäre er angesprungen gekommen, dachte Vahlen. Vielleicht war das Tier müde, wie alle anderen auch.
Er streifte sich die Schuhe ab und ging auf Socken die Treppe hinauf. Er machte kein Licht, aber er hatte die Gartenlampe vergessen. Im Schimmer des beleuchteten Fensters sah er Hellas Körper, der sich beim Atmen beinahe unmerklich bewegte. Es roch nach Schlaf und nach dem süßlichen Duft des Kindes. Er hörte die Kleine in ihrem Bett leise schnarchen. Ihr Ärmchen mit der perfekten kleinen Hand hatte sie über den Kopf gestreckt, als greife sie nach etwas.
Vielleicht war alles gut so, wie es war. Judith »fehlte nichts«, wie Hella zu sagen pflegte. Sie entwickelte sich normal, das bestätigten auch die Ärzte. Seine Fragen und Zweifel hatten Vahlen bisher keinen Schritt weiter gebracht.
Vahlen nahm die kleine Puppe, die Judith so gerne mochte, vom Fußende des Betts und schob sie zu ihrem Kopf. Als er sich neben Hella auf das Bett legte, dachte er, dass er noch nach der anderen Frau riechen musste, und er hoffte, der Geruch von Alkohol und Zigaretten wäre stärker.
Der letzte Jude (Februar 1938)
Vom Marktplatz drang ein greller Schrei herauf. Ein Geräusch wie von einer Katze, die unter einen Wagen geraten ist, dachte Hermann, obwohl er wusste, dass es von einem Menschen stammte. Denn vor knapp einer Stunde war die Frist vergangen, in der Jud Wolf, der letzte in Sehlscheid lebende Jude, sich hätte freiwillig melden müssen. Hermann hatte veranlasst, dass er noch am selben Morgen daran erinnert würde.
Der Parteivorsitzende unterdrückte den Impuls, an sein Fenster zu treten, um das Geschehen auf dem Vorplatz zu verfolgen. Dem Lärm nach zu urteilen, hatte Wolf nicht vor, sich friedlich abführen zu lassen. Aber in Koblenz würde man sich seines Falls annehmen. Und, solange es noch heute geschah, müsste Hermann sich nicht um den Papierkram kümmern.
Hermann erstarrte. Aus dem ungeformten Geschrei war sein Name geworden. Wolf rief nach ihm, über den ganzen Platz hinweg – ein Rufen wie eine Anklage. Hermann überkam das Gefühl, dem Alten etwas schuldig zu sein. Nur, weil sie sich jahrelang auf der Dorfstraße zugenickt hatten, ohne je auch nur ein Wort miteinander zu wechseln?
Das Rufen begann von neuem: »Ich will Vahlen sprechen. Ich gehe nicht, ohne Vahlen gesprochen zu haben!«
Jetzt klang Wolfs Anliegen wie ein letzter Wunsch, den man niemandem verweigern durfte. Vahlen trat zum Fenster und blickte auf den Platz. Kehl, der dicke Brink und zwei der Moor-Jungen näherten sich der Treppe. Sie hielten den Juden wie ein Beutetier an Händen und Füßen. Er warf sich hin und her. Sein Rücken schleifte am Boden. Die Kleider an seinem Leib – solange Hermann ihn kannte, die gleichen dunklen, unförmigen Lumpen – waren voller Straßenstaub. Kehls Hunde sprangen aus sicherer Distanz wiederholt auf ihn zu, als müssten sie den Alten in Schach halten. Die Kinder, Kehls Truppe und einige Kleinere, die gerne dazugehört hätten, liefen lachend und mit Steinchen werfend hinter den Männern her. Am Eingang des Kolonialwarenladens griffen Hagis’ Söhne in die Rockfalten ihrer Mutter. Aus großen Augen beobachteten sie die Szene.
Hermann öffnete das Fenster, pfiff einmal kurz mit den Fingern und machte Kehl ein Zeichen, den Mann in die Parteistube zu bringen.
»Die wollen mich wegbringen, Vahlen.« Wolf stand vor dem Schreibtisch und rang nach Luft. Er begann an seinem Mantel herum zu zupfen, als wolle er ihn herrichten.
»Du hättest dich melden müssen. Es war angeschlagen. Alle Bewohner jüdischer Rasse hatten sich zu melden. In Koblenz wird man weiter sehen.«
Wolfs Augen blitzten auf. »Schick die Männer raus, ich habe dir was zu sagen.«
»Du hast gar nichts mehr zu sagen. Man wird sich in Koblenz um dich kümmern.«
»Schick sie raus. Es ist in deinem Interesse.«
Hermann sah den Alten an. Dünn war er geworden, ungepflegt, seit er den Wagen verloren hatte. Wie alt mochte er sein? Wolf hatte nie eine Familie gehabt, kein Zuhause, nur seinen Handel in dem Karren, der ihm als Bett und Warenlager diente. Als sie noch Kinder gewesen waren, war Hermann mit seinem Bruder einmal hineingekrochen. Während Wolf im Haus mit der Großmutter den Preis für einen Topf aushandelte, hatten sie seine Sachen durchwühlt. Der Jude hatte Uhren in seinem Wagen, Ketten, kleine Glasbehälter mit Pulvern und Flüssigkeiten. Unter einem Tuch fanden sie einen schweren, metallenen Gegenstand mit feinen Rädchen und einem Glasauge, den Hermann erst später als Mikroskop benennen konnte. Rudolf hatte an den Knöpfen herumgedreht und in das Rohr geblasen, bis sich plötzlich die Tür des Wagens öffnete und Wolf seinen Kopf hineinsteckte. Als er sie sah, stieß er einen Schrei aus, der dem von heute ganz ähnlich war. Er zerrte Rudolf am Ohr aus dem Wagen. Hermann stolperte hinterher, und von diesem Tag an war er dem Juden immer mit respektvollem Abstand begegnet.
Hermann hatte nie etwas bei Wolf gekauft. In der Gastwirtschaft war er der erste, der gesagt hatte, man müsse Kehls Kolonialladen vor der Konkurrenz des Juden schützen. Und als der Boykott offiziell ausgerufen wurde, ließ er Kehl und seine Jungen mit weißer Farbe »Kauft nicht bei dem Juden« auf Wolfs Wagen malen. Hermann war es auch, der veranlasst hatte, am Ortseingang das Schild mit der Aufschrift, »Juden sind in Sehlscheid unerwünscht« anzubringen. Der Arzt und der Viehhändler aus Niederbieber waren längst fortgegangen. Niemanden interessierte es, wohin. Die Synagoge in Arlich war, wie in den meisten Städten, im vergangenen Herbst abgebrannt worden. Warum der Alte noch da war, wo er ohnehin nirgends hingehörte, konnte Hermann sich nicht erklären.
Wolf, aber auch Kehl und die beiden Moor-Söhne, sahen den Parteivorsitzenden erwartungsvoll an. Schließlich machte Hermann eine Kopfbewegung in Richtung der Tür, und die Männer verließen den Raum.
»Hermann, du kennst mich. Ich habe nichts gemacht. Ich habe ja nicht einmal mehr verkauft«, begann Wolf.
»Du bist Jude. Gesetz ist Gesetz. Ist das alles, was du sagen wolltest? Ich habe zu tun.«
»Ich kenne noch einen in Sehlscheid, der sich nicht gemeldet hat.«
»Ach, ja?« Hermann verstand nicht, was Wolf vorhatte. Wollte er tatsächlich einen anderen Juden an ihn verraten? Und wer sollte das sein?
»Dein Neffe Hagis ist, wie ich gehört habe, wieder zu Besuch? Soll ja jetzt Architekt werden in London. Deine Schwester hat ihm das wohl ermöglicht? Sie hat eine gute Partie gemacht mit dem jungen von Nesselhahn. Das zahlt sich aus für die Familie.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Stell dich nicht dumm, Hermann. Ich bin ein alter Mann. Aber ich will nicht sterben. Denkst du, ich lasse mich einfach so abführen? Während dein Hagis hier in Ruhe ein und aus geht? Niemand hat vergessen, woher er kommt. Er täte besser dran, in London zu bleiben.«
»Hagis war ein Hungermaul. Keiner weiß, wo er herkommt.«
»Genauso ist es. Sieh’ ihn dir doch mal genauer an, mein lieber Hermann. Bisher haben alle den Mund gehalten. Für die Amerikaner war es die einfachste Lösung, euch das Kind dazulassen. Er ist ja sogar getauft, dein Neffe. Aber wenn man in Koblenz erfährt, dass auf dem Friedhof in Wirklichkeit der kleine Heinrich Vahlen liegt und nicht das unbekannte Hungermaul, dann wird man sich seine lange Nase schon genauer ansehen.«
Hermann begann zu schwitzen. Warum hatte er selbst nie daran gedacht, dass Hagis ein Jude sein könnte? Er war nur erleichtert gewesen, als sein aufsässiger Neffe zum Studieren endlich fortgegangen war. Wie hatte er nicht merken können, was ganz Sehlscheid sich hinter dem Rücken seiner Familie längst zuflüstern musste?
Er fuhr sich über die Stirn. Am liebsten hätte er alles geleugnet, hätte geschrien, dass Wolf lüge, dass es nicht wahr sei. Aber nichts erschien ihm nun naheliegender.
»Du erpresst mich, Wolf?«, fragte er.
»Alles, was ich will, ist, dass du mich gehen lässt.«
Lesezirkel (Juni 2007)
Im Hausflur konnte Gisela Wieland nicht gleich erkennen, wie schlecht ihr Sohn aussah. Sie freute sich, ihn dem Lesezirkel endlich präsentieren zu können. Andreas war ihr stärkstes Argument in den Gesprächen über die neuesten Bucherscheinungen. Und gerade vor Ortrud Giester, der Zahnarztgattin, die ausschließlich lesen wollte, was auf der Bestsellerliste stand, brüstete sie sich gerne mit ihrem Sohn an der Universität.
Erst als er sich weigerte, den seltsamen Daunenmantel auszuziehen, bemerkte sie, dass mit Andreas etwas nicht stimmte. Er blickte sich im Eingang um, als fühlte er sich verfolgt.
»Ich wusste nicht, dass du Besuch hast«, sagte er. »Ich komme besser später wieder.«
»Ach, was.« Gisela packte ihn am Arm, um ihn festzuhalten, aber auch, um sich zu versichern, dass der Mantel tatsächlich aus dem weiblich-glänzenden Material gemacht war, das sie zu erkennen meinte. »Was ist mit dir los?«, fragte sie. »Hattest du einen Unfall? Wo ist mein Wagen?«
Andreas zuckte mit den Schultern. »Ich habe ihn ein bisschen weiter weg geparkt.«
Gisela schwankte zwischen dem Wunsch, ihren Sohn nun doch vor den Gästen zu verbergen, und der Gewissheit, dass die sich längst fragen mussten, mit wem sie da so lange flüsterte. Schließlich drängte sie Andreas in die Wohnstube.
»Mein Sohn«, sagte sie. »Entschuldigt. Er ist etwas müde.«
»Andreas, das freut uns aber, Sie endlich kennenzulernen. Ihre Mutter hat uns viel von Ihnen erzählt.« Ortrud Giester hatte sich in ihrem Sessel aufgerichtet und streckte die Brust heraus. In ihrem kirschroten Blazer mit dem Gold- und Perlengehänge musste sie auf Andreas überkandidelt wirken. Monika Tengelmann, die als Buchhändlerin die wöchentlichen Treffen initiiert hatte, begann die Kuchenteller und Kaffeetassen hin- und herzurücken. Auch Renate, die Gisela noch am liebsten war, erschien ihr plötzlich albern, wie sie mit gerecktem Hals anfing, vom Wetter zu plappern.
Andreas blickte starr auf den Tisch. Die Tengelmann schenkte ihm Kaffee ein. Aber erst als er die Platte mit dem Nusskuchen entdeckte, schien er zu erwachen, griff, noch über den Arm der Buchhändlerin hinweg, ein großes Stück und stopfte es sich in den Mund. Kauend nickte er vor sich hin, während die Frauen auf ihn einredeten.
»Sagen Sie uns doch selbst, Herr Wieland, was Sie von dem neuen Pfaff-Roman halten. Ich nehme an, als Wissenschaftler interessiert Sie vor allem seine Darstellung der siebziger Jahre?«, begann die Tengelmann.
»Sie verzeihen, Herr Wieland«, fiel Ortrud ein. »Ich wüsste so gerne, was genau Sie an der Universität machen? Ihre Mutter erzählt ja kaum etwas«, Ortrud lächelte kokett. Sie war sich durchaus bewusst, dass ihre Frage wie eine Stichelei gegen Gisela aufgefasst werden musste.
Andreas schluckte den Kuchen herunter: »Entschuldigen Sie, meine Damen. Ich würde nichts lieber tun, als mit Ihnen zu plaudern. Aber ich muss eine überaus wichtige Angelegenheit mit meiner Mutter besprechen. Ich hoffe auf Ihre Nachsicht …«
Er schaute seine Mutter eindringlich an. Es musste Jahre her sein, dass er sie zum letzten Mal so angesehen hatte.
»Es geht um eine Sache, meine wissenschaftlichen Recherchen betreffend«, sprach er weiter. »Eine Sache, die keinen Aufschub duldet: ›Aufschub einer guten Tat hat schon oft gereut! Hurtig leben ist mein Rat! Flüchtig ist die Zeit.‹«
Renate stieß einen spitzen Schrei aus. »Das ist vom Philosophischen Gärtner, nicht wahr?«, jubilierte sie.
»Gleim, meine Verehrteste. Johann Wilhelm Ludwig Gleim.« Andreas lächelte gewinnend, als habe Renate nur knapp danebengelegen, und stopfte sich ein weiteres Stück Nusskuchen in den Mund. »Aber soviel ich weiß, hat der Philosophische Gärtner es auch mal zitiert.«
Giselas Stolz auf ihren Sohn mischte sich mit einer altbekannten Scham. Sein aufgesetztes, beinahe verwahrlostes Auftreten erinnerte sie an den Zusammenbruch während seiner Schulzeit. Verständnis beteuernd, als wäre Wielands Anliegen für Frauen wie sie nicht weiter verwunderlich, verließen die Zirkel-Mitglieder das Haus. Gisela schloss die Tür hinter ihnen, und Andreas zog sie mit sich ins Wohnzimmer.
»Iss doch noch ein Stück Kuchen«, sagte sie etwas gereizt und hielt ihm den Teller hin. Er griff zu, ohne zu merken, wie angespannt sie war.
»Mir ist etwas passiert, Mama«, sagte er mit vollem Mund. »Ich habe Dinge herausbekommen über Peter Vahlen und seine Familie. Du weißt, das ist der, der die Vorlage für Villa Westerwald geschrieben hat. Ich habe ein Manuskript in seinem Nachlass gefunden. Und jetzt ist die Witwe hinter mir her, und ich befürchte das Schlimmste. Sie hat vielleicht ihren Mann auf dem Gewissen, und mir hat sie auch gedroht.«
Er drückte sich an ihr vorbei und lief zurück in den Flur, wo er durch die kleine Luke in der Haustür den Frauen hinterherschaute, bis sie nicht mehr zu sehen waren. »Du musst ihnen sagen, ich sei sofort wieder gefahren. Das ist wichtig, hörst du?«
»Um Liebeswillen«, sagte sie. »Was hast du denn bloß gemacht?«
»Nichts habe ich gemacht. Die Witwe verlangt, dass ich ihr das Manuskript zurückgebe. Es ist sehr wertvoll und alle möglichen Leute wollen es haben. Aber Judith, die Tochter, hat es mir persönlich zur Bearbeitung anvertraut.«
»Aber wenn es dir doch nicht gehört, Andreas.«
»Ich sage doch, Mama, ohne mich wüsste niemand, dass es überhaupt existiert. Wem gehört Mozarts Kleine Nachtmusik? Dir? Mir? Den Mozarts? Den Plattenfirmen? Den Herstellern der Mozartkugeln? Oder gar dem österreichischen Staat?« Er redete immer schneller. »Es ist ein großer, glücklicher Zufall, dass ich das Manuskript gefunden habe. Verstehst du?«
Andreas spuckte beim Sprechen. Er machte Gisela Angst. »Du musst es zurückgeben«, sagte sie unsicher.
»Wem denn? Der Witwe, die Vahlen umgebracht hat? Seiner Heimatstadt, die sein Andenken nicht pflegt? Der Tochter, die sich damit ohne nachzudenken ins Unglück stürzt? Wenn überhaupt, dann gehört Vahlens Werk doch den Lesern, den Unzähligen, die seine Bücher lieben!«
»Da magst du recht haben, Andreas, das ist ein schöner Gedanke, aber …«
»Jetzt ist ohnehin alles vorbei. Judith hat mich verlassen. Das Manuskript habe ich auch nicht mehr. Überall habe ich es gesucht. Womöglich wurde es mir gestohlen. Die Polizei wird sich der Sache annehmen. Aber du darfst niemandem etwas sagen. Niemand darf wissen, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt.«
Gisela hätte ihren Sohn jetzt gerne festgehalten, um ihn zu beruhigen. Er war also schon wieder von einer Frau verlassen worden. Erst neulich hatte sie überhört, wie zwei ihrer Nachbarinnen sich auf der Straße darüber unterhielten, dass Andreas »ja auch immer noch keine Kinder« habe. Gisela hatte es oft gesagt. Vielleicht zu oft: Verlassen kann man sich nur auf die Familie. Was hatte überhaupt einen Sinn im Leben, wenn nicht die eigenen Kinder und Kindeskinder? Dies war die einzige Weisheit, in deren Besitz sie sich fühlte. Nach allem, was sie erlebt hatte, nach allen Verlusten und Niederlagen. Und jetzt fragte sie sich, wie sie es verpasst haben konnte, ihrem einzigen Sohn diese Wahrheit zu vermitteln?
Bushaltestelle (Juni 2007)
Hinter dem Waldrand ging die Sonne unter. Alexia wartete bereits eine ganze Weile. Sie saß auf der Bank des Bushäuschens, die Beine ausgestreckt, die Spitzen ihrer Reitstiefel aneinandergedrückt.
Von Ferne näherte sich Motorenlärm. Ein Junge, er mochte nicht viel älter sein als sie, brachte sein Mofa direkt vor ihr zum Stehen.
»Willst du mitfahren?«, fragte er. »In die Richtung kommt nichts mehr.«
Alexia sah ihn kaum an, schüttelte aber den Kopf. Als der Junge schon eine Weile fort war, kam ein neues Geräusch, leiser, regelmäßiger die kurvige Straße herauf. Der Bus hielt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ein Mann stieg aus, kräftig und grob. Im schwächer werdenden Licht war sein Gesicht kaum zu erkennen. Er blieb an der Haltestelle stehen, nachdem der Bus schon wieder verschwunden war, als wartete er darauf, dass ihn jemand abholte. Dabei blickte er unverhohlen zu Alexia, dann die Straße herunter. Schließlich überquerte er pfeifend die Fahrbahn.
»Soll ich dir mal was zeigen?«, fragte er mit gepresster Stimme. Breitbeinig stellte er sich vor sie hin.
Alexia schüttelte den Kopf.
»Komm schon, sei keine Spielverderberin. Ich hab was für dich.« Der Mann bückte sich zu ihr herunter. Seine Worte schienen ihn zu erregen. »Ich stecke meinen großen Schwanz in deinen Mund. Wird dir gefallen.«
Alexia begann, zuerst nur unmerklich, dann immer heftiger vor und zurück zu schaukeln und dabei ohne erkennbare Melodie zu summen. Der Mann stutzte, schien abzuwarten. Aus der Ferne hörte man wieder ein Auto näherkommen.
»Durchgeknallt«, sagte der Mann laut, wie um sich selbst zu überzeugen. »Scheißnutte.«
Der heranrauschende Wagen erreichte die Bushaltestelle, verlangsamte die Fahrt und beschleunigte erst in der Kurve. Der Mann wandte sich wieder der Straße zu. Zunächst zögernd, dann immer schneller lief er auf dem Randstreifen entlang in Richtung der Ortschaft. Als das Auto nicht mehr zu hören war, drehte er sich noch einmal nach Alexia um. Schließlich verschwand er hinter der nächsten Biegung.
Im Bushäuschen flackerte die Neonbeleuchtung mehrmals kurz auf, bevor sie anging, und im selben Augenblick schien es draußen dunkel geworden zu sein. Alexia öffnete ihre Tasche und holte ein Klappmesser heraus. Sie schob den Ärmel ihres Pullovers hoch. Dann begann sie die Schnitte zu setzen, immer einen neuen zwischen zwei ältere, rötlich entzündete oder bereits hellvernarbte. An den Einschnittlinien bildeten sich blutige kleine Rosen.
Auf dem Boden I (August 1940)
Nesselhahn hörte, wie die Kinder unten die Eingangshalle erreichten. Er war sicher, Martha wusste, dass er da war. Die Vorstellung, auch sie würde auf der anderen Seite der Tür den Geräuschen der Kinder lauschen, erregte ihn. Langsam ließ er sich am Treppenverschlag in die Hocke rutschen. Jetzt vernahm er schon die Rufe von Emilie und Karl im Garten. Sie mussten mit dem Hausmädchen, das die kleine Hella trug, zum Bach gelaufen sein, denn ihre Stimmen entfernten sich. Dann war es wieder ruhig.
Warm und rauh spürte Nesselhahn das Holz der Tür an seiner Wange. Vom Dachboden kam noch immer kein Laut. Für gewöhnlich, dass wusste er vom Hausmädchen, machte Martha tagsüber Dehnübungen, notierte Rezeptideen, kämmte sich das Haar, während die Kinder mit ihren Puppen und Autos spielten. An anderen Tagen starrte sie stundenlang aus dem Fenster, einer kleinen Luke, durch die gerade noch die Wipfel der Bäume zu sehen waren.
Blass sei sie geworden und schmal, sagte Lisa. Die Frau Martha sehe ja kaum mehr die Sonne. Nesselhahn hatte dem Mädchen mit Entlassung drohen müssen, damit es mit seinem Gemurre aufhörte. Streng hatte er es dabei angesehen. »Wissen Sie eigentlich, warum ich meine Frau einsperre?« Lisa hatte genickt.
Sie war dabei gewesen, als der Arzt gekommen war. Mit hochrotem Kopf war Doktor Werth hinterher aus Marthas Zimmer getreten. Lange hatte er sich in der Küche Arme und Hände gewaschen. Das Mädchen hatte ihm das Handtuch gereicht.
Auf Nesselhahns Frage, wie Marthas Zustand sei, wandte der Arzt sich ihm abrupt zu.
»Sie sollte es überstehen.« In seinem Blick lag eine merkwürdige, fast bösartige Genugtuung.
»Ihnen ist wohl klar, dass ich das melden muss«, fuhr er fort. »Eine solche Weiberpfuscherei habe ich lange nicht erlebt. Sie wissen, wie der Führer darüber denkt.«
Nesselhahn hatte sich ungerührt gegeben. Er öffnete die oberste Schublade seines Sekretärs, in der ein Stapel größerer Scheine zu sehen war.
»Das ist keine Frage von Geld«, sagte Werth eilig. Wir alle haben in diesen Zeiten nur das Allernötigste.« Aber schließlich hatte er das Geld doch genommen.
Als der Arzt gegangen war, hatte Nesselhahn vorsichtig die Tür zu Marthas Zimmer geöffnet und war an ihr Bett getreten. Fahl und reglos hatte sie dagelegen, ihr Körper ungewöhnlich flach unter den Decken. Und doch war da noch immer ein Kind in Marthas Bauch. Ein Kind, das sie so sehr nicht wollte, dass sie alles riskiert hatte, um es loszuwerden – ihr Leben, das Glück ihrer Kinder und sein eigenes. Unendlich schwach hatte sie gewirkt. Müde und ohne jedes Gefühl. Er musste an sich halten, sie nicht zu berühren.
»Warum hast du das getan?«, fragte er. »Warum hast du es mir nicht wenigstens gesagt? Du weißt, wie gefährlich das ist. Die Leute reden.«
Martha antwortete nicht, bewegte sich auch nicht. Die Augen hielt sie geschlossen, obwohl er wusste, dass sie nicht schlief.
Nach einem langen Moment des Schweigens hatte er das Zimmer verlassen. Sie musste sich ausruhen. Sobald sie stark genug war, würde sie mit ihm reden. Früher oder später würde sie sagen müssen, von wem das Kind war.
Als dann die Blutungen von neuem begannen, war Nesselhahn gleich in den Verlag gefahren. Er wollte nicht dabei sein, wollte Martha nicht wieder schreien hören. Er hatte Angst, wie noch nie in seinem Leben. Und er schämte sich, ohne zu wissen, wofür.
Martha hatte das Kind verloren. Es war der bestmögliche Ausgang, die einfachste Lösung, dachte Nesselhahn. Sie hatte es so gewollt, sie würde sich erholen. Und doch fühlte er sich nicht erleichtert.
Seine Frau wollte ihn verlassen. Sie selbst hatte es gesagt, ohne weitere Erklärung. Er hatte wohl gemerkt, wie ungern sie inzwischen in seiner Nähe war. Trotzdem konnte er nicht glauben, dass ihr längst miteinander verwachsenes Leben, das Wohlergehen der Kinder, ihr Haus im Aulbachtal Martha nichts mehr bedeuten sollten. Er hoffte, sie würde bleiben. Aber für das erste wusste er keinen anderen Ausweg, als sie einzusperren.
Wenn Emilie, Karl und die noch so kleine Hella am Nachmittag von Lisa hinausgebracht wurden, lief Martha mit kurzen, abgehackten Schritten auf dem Dachboden hin und her. Mehrmals hatte sie angefangen zu schreien, immer lauter und schriller, so dass Nesselhahn sich in seinem Arbeitszimmer die Ohren zuhalten musste.
Nachdem sie das Schreien aufgegeben hatte, setzte er sich zu ihr in den Treppenaufgang. Und weil sie stumm blieb, begann er zu sprechen. Seit Wochen verweigerte seine Frau ihm die Wahrheit, vielleicht schon seit Jahren. Sie musste begreifen, wie groß der Verlust wäre, wenn sie jetzt nicht einlenkte, sagte er.
Bald waren ihm die Worte ausgegangen, die immer gleichen Bitten und Forderungen, und so erzählte Nesselhahn seiner Frau ihre gemeinsame Geschichte. Anfangs flüsternd und zögerlich, später mutiger und manchmal sogar mit einem Lächeln. Er kauerte im Halbdunkel des Treppenverschlags, immer in der Hoffnung, eine Antwort, irgendeine Regung von Martha zu vernehmen. Es war der letzte Versuch einer Wiedererweckung, sagte er sich, die Beschwörung ihrer Liebe.
Martha war zu schön für ihn gewesen. »Wesentlich«, hatte sein Freund Gues an jenem ersten Wochenende in Sehlscheid mit leicht eingeschnapptem Unterton festgestellt. Gues war es, der ihn und Anhausen auf die junge Köchin des Kurhotels aufmerksam gemacht hatte, die am Sonntag persönlich mit einem warmen Butterzopf an ihren Frühstückstisch gekommen war. Aber Nesselhahn hatte es als erster gewagt, sie anzusprechen. »Wesentlich«, hatte auch er zufrieden geantwortet, genau wie er es jetzt für Martha wiederholte, mit der Zuversicht desjenigen, der wusste, dass bei seinem Namen und seiner Stellung Äußerlichkeiten keine Rolle spielten und bei einem einfachen Mädchen aus dem Westerwald, mochte es noch so schön sein, keine Rolle spielen konnten.
Er erzählte Martha nicht, dass er durchaus auch ihre Schwermut bemerkt hatte, die er anfangs noch geheimnisvoll fand. Später erst hatte er die feinen Fältchen um ihre Augen entdeckt, spürte an der Weichheit ihrer Arme und Schenkel, mit denen sie ihn nachts kraftvoll umschlang, dass sie nicht mehr jung war. Für Nesselhahn war sie die Schönste, das sagte er ihr. Aber längst hatte er sich eingestehen müssen, dass Marthas Schönheit eben nur ein Teil dessen war, was ihre Persönlichkeit ausmachte.
Es war nie einfach gewesen, mit Martha zusammen zu leben. Keiner seiner Freunde, weder der verheiratete Anwalt Anhausen noch der notorische Junggeselle Gues hätte sie auch nur ansatzweise zufriedenstellen können. Doch manchmal fragte sich Nesselhahn, und das nicht erst seit diesem Sommer, ob auch er die Herausforderung besser nicht angenommen hätte.
Martha hatte sich in der eleganten Koblenzer Wohnung schnell eingerichtet. Trotz des Ruhrkampfs, der noch lange nach dem Abzug der französischen Truppen mit Racheaktionen, Hass und Armut wie ein Schleier über der Stadt lag, schien sie sich wohlzufühlen. Abends kochte sie mit Hingabe für ihn und die Verlagsfreunde. Nesselhahn ermunterte sie, ein eigenes Kochbuch zu schreiben, und als es erschien, gab er in den Verlagsräumen ein großes Fest für sie. Die einfachen Rezepte mit wenigen Zutaten wurden schnell zu einem Geheimtipp unter jungen Frauen. Martha trug die neuesten Kleider, fuhr bald selbst einen Wagen und ritt am Wochenende mit Freundinnen aus, deren exotische Namen Nesselhahn sich nie merken konnte.
Bald hatte er sich wieder ganz dem Aufbau des Aurum Verlags gewidmet. Seine Übersetzungen aus dem Französischen, Gedichte und Erzählungen der Romantiker erschienen in kleinen, feinen Bänden. Über seinen Freund Gues war er auf eine Gruppe avantgardistischer Autoren gestoßen, deren experimentelle Pamphlete und utopische Manifeste man ihm in interessierten Kreisen gerne abnahm. Die Geschäfte gingen besser als erwartet, und deshalb hatte er Martha wohl oft alleingelassen. Um ihr das Leben angenehm zu machen, kaufte er einen schnelleren Wagen und ein teureres Pferd für sie. Er bezahlte ihr Reisen, und als sie endlich ein Kind erwartete, ließ er sie eine Hilfsköchin einstellen.
An ihrem Geburtstag schließlich, jenem kaltsonnigen, fast windstillen Morgen im Frühjahr 1934, half er seiner hochschwangeren Frau vor einer hübschen kleinen Villa aus dem Wagen. Er hatte ihr die Augen verbunden, und flüsterte ihr zu: »Erschrick nicht, Liebes«, weil er vorhatte, ihr diesmal eine besonders große Freude zu machen.
Martha selbst hatte ihm von dem Haus im Aulbachtal erzählt, das ihre Großmutter Irma vor langer Zeit bewohnt hatte. Mit Hagis war sie einmal dort gewesen. Die Hausherrin hatte freundlich reagiert, als sie die beiden um ihr Grundstück herumschleichen sah, und ihnen in der Küche eine Tasse Milch servieren lassen. Hagis, der damals noch ein Kind war, erschien ihr Ausflug wie ein Abenteuer. Eines Tages, versprach er Martha, werde er ihr das Haus kaufen. Der um einiges älteren Martha aber, die so neugierig auf Irmas Vergangenheit gewesen war, hatte der Anblick der Rosenbeete, der Kieswege und der steinernen Außentreppe einen Stich versetzt. Nesselhahn hatte gleich den Verdacht, die Geschichte der Großmutter sei der Grund dafür, dass Martha so traurig war, immer als wäre sie um ein schöneres Leben betrogen worden.
Marthas Geburtstag sollte zum ersten einer neuen Zeitrechnung werden. Nesselhahn wollte seine Frau, die er meinte, mehr denn je zu lieben, seit sie sein Kind trug, endlich glücklich machen. Aber im Nachhinein schien es ihm, als hätte Martha genau an diesem Tag, als er ihr das Haus ihrer Großmutter im Aulbachtal schenkte, begonnen, sich von ihm abzuwenden.
Weiterschreiben I (April 1981)
Vahlen erhob sich vom Sofa, ging mit leichtem Schwindel herüber zum Schreibtisch und ließ sich vorsichtig auf den Stuhl nieder. Seine verquollene Nasenwurzel schien ihm bis in das Hirn hinaufzureichen. Es lag nicht an der Erkältung, dass er schon seit Tagen nicht schreiben konnte. Aber wenn die Kopfschmerzen nachlassen würden, dachte er, dann könnte er sich zumindest dazu zwingen, einige der Figuren auszuarbeiten. So verbrachte er den Morgen damit, Briefe zu beantworten, viel zu ausführlich, viel zu freundlich, weil er dabei nicht nachdenken musste.
Es waren Schreiben von Kollegen, Verlagen, Radiosendern und Akademien. Organisatoren planten Veranstaltungen, Herausgeber Anthologien. Und immer wieder schrieben ihm junge Autoren. Sie erinnerten ihn auf unangenehme Weise daran, dass er nicht mehr dazugehörte, dass er fünfzehn Jahre, nachdem er selbst zu schreiben begonnen hatte, zur anderen Seite gehörte, zu denen, die entschieden, was Literatur ist und was nicht.
Es war nicht Vahlens Art, sich wie Gellmann vor jedem ersten Satz zu betrinken. Mit Aufsätzen, Briefen und kurzen Reisen hielt er sich so lange auf, bis in seinem Kopf wieder Platz war für die neue Geschichte. Seine Stimmung musste etwas Bescheidenes haben, dachte er, weit entfernt von einem wie auch immer gearteten Rausch.
Er hob den Kopf, um aus dem Fenster zu blicken. Durch das Grau der Wolken fiel in hellen Streifen das Licht. Von Tag zu Tag wurde das Grün der Felder kräftiger. Weiter weg waren die Talwiesen mit Lerchensporn lila und weiß überzogen. Sie hatten Schafe angeschafft – ein Paar scheue Heidschnucken. Einmal, als er sich ihnen auf der Weide nähern wollte, hatte sich eins der Tiere bei der Flucht am Zaun verletzt. Jetzt zogen sie ruhig grasend am Bach entlang.
Er wandte sich wieder den Briefen zu. »Ich mag, was du schreibst«, tippte er in die Maschine und verachtete sich im selben Moment für seine Verlogenheit. »Aber du musst noch an dir arbeiten.« Als wäre es so einfach. Dabei wusste er genau, dass diese Frau sich noch so abmühen konnte. Ihr Text hatte Vahlen schon nach zwei Absätzen gelangweilt, so wie sie selbst ihn neulich im Bett gelangweilt hatte, mit ihrer abwartenden, hingebungsvollen Art. Vahlen wusste, dass sie nie über eine erste, bestenfalls mittelmäßige Publikation hinauskommen würde, selbst wenn sie mit sämtlichen Verlegern und Kritikern der Republik schlief.
Es war leicht, die Schwächen der anderen zu erkennen. Er selbst war lange nicht über Erzählungen hinausgekommen. Er wusste nicht einmal, ob er den neuen Roman jemals zu einem Ende bringen würde.
Seinen Traum, ein perfektes Buch zu schreiben, hatte Vahlen schon während der Arbeit an Westerwald aufgegeben. Ohne Hella hätte er das Buch nie beendet. Wenn er nicht weiterwusste, hatte sie ihn beiseitegeschoben und zu lesen begonnen. Er saß an seinem Schreibtisch, während sie mit ihrem damals so eindrucksvollen Bauch auf und ab ging und über den Text sprach. Fast alles, was sie sagte, war richtig.
Plötzlich war es ganz einfach erschienen, als brauchte er nur noch aufzuschreiben, was längst in ihm bereit lag. Gemeinsam arbeiteten sie an den Anfängen der Geschichte, die Figuren wurden zu ihrer Familie, die Umgebung, in der sie spielte, wurde zu ihrer Heimat, und zur selben Zeit setzte sich ihre eigene Geschichte mit Hellas Schwangerschaft auf wunderbare Weise fort.
Die Kritik hatte Westerwald gelobt. Niemand stellte je in Frage, dass die Familie Krieger erfunden war. Natürlich fühlte sich in Sehlscheid jeder von Vahlens Roman angesprochen. Gleichzeitig waren sich die Leute einig, dass alles nur ausgedacht war und mit dem wahren Leben im Dorf nichts gemein hatte. Für Vahlen war es dagegen bald, als erzählte das Buch die einzig mögliche Geschichte, und alles andere wäre nur unzuverlässige Erinnerung.
Nach dem Durchbruch mit Westerwald hatte er eine Zeitlang das Gefühl gehabt, alles erreichen zu können. Judiths Behinderung, die Schwierigkeiten mit Hella und seine eigene Beklemmung darüber hatten Vahlens Sprache roher und tiefgründiger werden lassen. Nur selten gestand er sich ein, dass er für das Schreiben von seinen Ängsten zu profitieren glaubte.
Vahlen gefiel die Vorstellung von Reife. Er verstand jetzt die Maler, die ihr Leben damit zubrachten, immer wieder ein einzelnes Motiv zu verarbeiten, in der Hoffnung, zur Perfektion zu gelangen. Je größer der Raum, den das Motiv in ihrem Werk einnahm, desto weniger wichtig wurde es tatsächlich. Mit der Wiederholung rückte die Ausführung in den Vordergrund, die Farben, das Licht, die Abstraktion. Und Vahlen bekam Lust, auch für seine Familienchronik einen neuen Ansatz zu finden. Er wollte sehen, was passieren würde, wenn er sich selbst beim Schreiben näher kam. Wenn er seine Geschichte noch einmal erzählte, so dachte er lange, dann müsste der »Fehler«, wenn es tatsächlich einen geben sollte, zum Vorschein kommen.
Hella war nur noch selten einer Meinung mit ihm. Und als er ihr sagte, er wolle ihre Geschichte weiterschreiben, anders und dichter an der Wirklichkeit, war sie wütend geworden. Ob ihm das Gerede im Dorf noch nicht reiche, hatte sie gefragt. Es gebe Dinge, die sie nicht über sich lesen wollte, schon gar nicht in seinen Büchern. Er war sicher, sie dachte dabei an den Selbstmord ihrer Mutter.
Trotzdem hatte er angefangen zu recherchieren, hatte geglaubt, mehr über die Familie herausfinden zu müssen, bevor er mit dem Schreiben beginnen könnte. Monatelang hatte er Nesselhahns Tagebücher, Briefe und Akten auf dem Dachboden durchgesehen. Er hatte mit Hilde gesprochen, mit seinen Brüdern und mit dem alten Förster Ranke. Er las alles, was je über seinen Vater publiziert worden war. Aber außer einiger schöner Bilder, Namen, Orte und Bezeichnungen für vor langer Zeit vergessene Dinge hatte er nichts gefunden.
Vielleicht stimmte, was der alte Verleger Nesselhahn in seinen Aufzeichnungen befürchtete. Vielleicht war Hella tatsächlich nicht seine Tochter. Vielleicht war auch Vahlen nicht Hagis’ leiblicher Sohn, wie es sein ältester Bruder immer behauptete. Wahrscheinlicher schien es ihm, dass all das eben nur Gerede war. Hellas Vater war ein Nazi und sein Vater war ein Jude. Und beide hatten sie Hellas Mutter auf unerfüllte Weise geliebt.
Als er wieder aus dem Fenster schaute, fand er die Knospen der Mirabellen vielversprechend. Zu Winteranfang hatte er die Triebe mit Hilfe des Mannes aus dem Gärtnereibetrieb bei eisiger Kälte auf Pflaumenbäume gepfropft, Vogelkirschen auf die Kirschbäume, damit die Stare beschäftigt wären. Später würde er hinausgehen, um danach zu sehen. Er hoffte in diesem Jahr auf eine gute Ernte. Eine, wie es sie in seiner Kindheit gegeben hatte.
Hella und er stammten beide aus Sehlscheid. Sie teilten einen Namen, der ihre Geschichte an verschiedenen Punkten der Vergangenheit miteinander verband. Schon dieser Umstand war schwer zu ertragen für zwei einzelne Menschen. Und gleichzeitig, meinte Vahlen, sah es von außen aus wie eine Fügung, eine vollkommene Rundung, wie sie in der Kunst sofort artifiziell wirken musste.
Er wollte diesen Roman noch immer schreiben. Aber es schien ihm nun wie ein schwierigeres Unterfangen. Seine früheren Ängste waren ihm fremd geworden. Judith war inzwischen zu einem eigensinnigen kleinen Mädchen herangewachsen. Er sprach mit Hella nie darüber, aber sie wussten beide, dass ihre Tochter gelernt hatte, mit der Fehlbildung umzugehen.
Auch sein Zusammenleben mit Hella hatte sich verändert. Manchmal glaubte er, mit seinen Überlegungen und Nachforschungen zu weit gegangen zu sein, zu nah an ihr Geheimnis herangekommen zu sein. Als habe er in seinem tollpatschigen Versuch, eine vermeintliche Wahrheit über sich und Hella herauszufinden, alles Schöne und Besondere ihrer Liebe kaputt gemacht. Und dann wunderte Vahlen sich wieder, dass er überhaupt an die Möglichkeit von Geheimnissen in ihrem Leben glaubte.
Er nahm noch ein Taschentuch und dann den Stapel Briefe, der neben dem Sofa lag. Er machte sich mit einem Bleistift Notizen an die Ränder, »beantwortet am«, »weiterverwiesen am«, »abgelehnt, weil«. Datum drauf, lochen, alphabetisch einordnen, abheften in den Jahresordner 81, fertig.
Duisburg III: Cliffhanger (Juni 2007)
Hans Ullrich Kittel lutschte geräuschvoll an seinem Bonbon, während er ein Notizbuch nach dem anderen aus Wielands Karton hervorzog. Er überflog Landschaftsbeschreibungen, Dialoge, einzelne Szenen. Eindeutig handelte es sich um eine Fortführung von Westerwald. Aber diesmal konnten die Figuren, womöglich, weil sie noch unausgearbeitet waren, problemlos reellen Personen zugeordnet werden. Das Zögern der Witwe, dieses unfertige Manuskript zu veröffentlichen, war nicht unbegründet. Und auch Wielands Verwirrung erschien Kittel nun verständlicher.
Natürlich könnte man das Fragment als Dokument des Schaffensprozesses oder als einen autobiographischen Versuch Peter Vahlens präsentieren. Aber das wirklich Spektakuläre an dem Material, das hatte Wieland richtig erkannt, waren die reellen Bezüge und, aus Kittels Sicht, die vielfachen Verbindungen zu Villa Westerwald. Diese mit Kommentaren herauszuarbeiten würde Monate, vielleicht Jahre dauern.
Kittel war früh ins Institut gefahren, um ungestört zu sein. Gute drei Stunden konnte er sich mit dem Manuskript beschäftigen, während es in den Gängen und Räumen um ihn herum langsam geschäftiger wurde. Als er Schritte hörte, die eindeutig in seine Richtung kamen, dachte er, das könnte nur wieder der Dekan sein. In letzter Zeit häuften sich seine Überraschungsbesuche. Und Kittel wurde das Gefühl nicht los, überprüft zu werden. Hastig packte er die Manuskriptseiten zusammen, legte sie mit den Notizbüchern zurück in den Karton zu seinen Füßen und warf, nach kurzem Zögern, ein paar der Bonbonpapiere darauf, die in einem Haufen auf dem Schreibtisch lagen.
Es klopfte kurz. Dann flog die Tür auf. Ein Mann von massiger Gestalt mit einer hohen solariumgebräunten Stirn trat ein, den der Professor sofort als Gert Gellmann erkannte.
»Gellmann. Ich nehme an, Sie wissen, wer ich bin?« Die Stimme des Dramatikers war voll und dröhnend. Erst vorgestern hatte Kittel ihn in einer Talkshow gesehen, wo er, etwas aufgeblasen, aber durchaus faszinierend, über sein neues Stück gesprochen hatte. In Wirklichkeit sah Gellmann größer aus als im Fernsehen. Aber wenigstens, dachte Kittel, wirkte er ohne die Studioschminke nicht so aalglatt.
»Es ist mir eine Ehre. Hans Ullrich Kittel. Ich habe hier den Lehrstuhl für die Dramentheorie des 19. und 20. Jahrhunderts.«
»Zu Ihnen wollte ich. Wieland sagt, Sie hätten meine Briefe.«
Kittel versuchte ruhig zu bleiben. Dass der Doktorand jetzt auch noch Gert Gellmann wegen seiner Briefe zu ihm schickte, ging ihm wirklich zu weit. Vorsichtig schob er den Dokumentenkarton mit dem Fuß tiefer unter den Schreibtisch.
»Setzen Sie sich doch. Ich bin erstaunt. Andreas Wieland behauptet, ich hätte Ihre Briefe?«
»Die, die ich an Peter Vahlen geschrieben habe.«
»Das tut mir leid. Ich weiß, dass er zu Ihren Briefen arbeitet. Aber warum er Ihnen sagt, sie wären bei mir, verstehe ich nicht. Um ehrlich zu sein, ich habe schon länger nichts von Herrn Wieland gehört.«
Der Dramatiker schien ein wenig gebremst in seinem Schwung. Aber Kittel sah, dass er sich nicht so leicht geschlagen geben würde.
»Haben Sie es schon bei den Erben versucht?«, fragte Kittel.
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«
Der Professor räusperte sich. Gellmanns Entschlossenheit war ein Problem, das wurde ihm klar.
»Herr Gellmann, ich habe nicht die Gewohnheit, das Forschungsmaterial meiner Doktoranden persönlich einzusehen, geschweige denn, es für sie aufzubewahren.« Kittel versuchte, höflich und bestimmt zu klingen.
»Umso besser, wenn Sie die Briefe nicht brauchen können«, sagte Gellmann. »Ich zähle darauf, dass ich sie von Ihnen bekomme.«
Das hatte wie eine Forderung geklungen, und Kittel meinte, sich am besten sofort zu wehren: »Da müssen Sie sich schon an Herrn Wieland halten. Es ist sein Dissertationsprojekt. Sie haben sicher ein Recht darauf, die Briefe einzusehen. Aber ohne das Einverständnis der Erben dürfte Wieland sie Ihnen kaum zeigen. Das ist auch eine Vertrauensfrage.«
Beim Anblick von Gellmanns Gesicht, das nun merklich rot wurde, bereute Kittel seine Bemerkung sofort.
»Ich kann mir vorstellen, was hier läuft.« Gellmann sprach langsam und gepresst, als müsste er seine Erregung unterdrücken. »Sie lassen Wieland die Vorarbeit leisten, damit Sie hinterher vor den hübschen Erbinnen den Helden spielen können. Ruhm und Ehre in Duisburg, ja? Aber Vorsicht, Herr Professor! Wenn Sie in einem meiner Stücke vorkommen wollen, müssen Sie schon nach meinen Regeln tanzen!«
Gellmann machte eine Pause. Er klang wieder ganz so wie Kittel ihn aus dem Fernsehen kannte, vielleicht eine Spur aggressiver.
»Wissen Sie, was ein Cliffhanger ist? Ich hänge Sie am Ende des ersten Akts an einen Felsvorsprung und lasse Sie herunterbaumeln, solange es mir passt. Ich setze Sie in ein Auto und fahre es gegen die Wand. Ich verpasse Ihnen Fußpilz, Haarausfall und eine Erektionsstörung.«
Kittel versuchte, Gellmann anzusehen, ohne seinen Blick zu fixieren. Ob der Mann betrunken war? Es schien ihm Spaß zu machen, Kittel auf diese Weise zu drohen.
»Was wollen Sie jetzt tun?«, fragte Gellmann und gab dann selbst die Antwort. »Wollen Sie mich aus Ihrem Bibliothekskatalog streichen? Aus dem Lehrplan verbannen? Nur zu! Wenn Sie in Ihrem Sarg verwesen, beginnt mein Nachruhm erst zu blühen. Ich bin der Dramatiker. Ich schreibe die Worte, die den aufgehenden Mond zu dem machen, was er ist. Sie sind nur ein kleiner Wurm in einem noch kleineren Büro, der die Hände in die Taschen steckt, wenn er sich einen runterholen will.« Gellmann streckte sein Kinn vor. »Oder was sagen Sie dazu?«
Kittel sagte gar nichts. Er hoffte nur, jetzt wäre Schluss.
»Wo ist Wieland?«, fragte Gellmann merklich ruhiger.
»Wenn ich das wüsste …« Der Professor seufzte.
»Sorgen Sie dafür, dass er mich kontaktiert.«
Gellmann war aufgestanden und beugte sich weit über den Schreibtisch, so dass Kittel tatsächlich Alkohol in seinem Atem roch.
»Dieses Schwarzer-Peter-Spiel zwischen Euch interessiert mich nicht«, sagte der Dramatiker leise. »Wer immer die Briefe jetzt hat, Sie sind der Professor. Sie haben eine Verantwortung für das Treiben Ihrer Doktoranden. Wenn ich meine Sachen in den nächsten Tagen nicht zu lesen bekomme, dann können Sie sich auf etwas gefasst machen. Ich hänge es an die große Glocke.«
Auf dem Boden II (August 1940)
Während die Wehrmacht im Blitzkrieg durch Belgien, die Niederlande und Luxemburg marschierte, Paris einnahm und schließlich den Luftkrieg gegen England begann, während sein ehemaliger Kollege Anhausen im Reichspropagandaministerium Karriere machte und der Freund Gues mit seiner Jazz-Truppe zunächst nach Lissabon und dann in die USA auswandern musste, saß Richard von Nesselhahn im Treppenverschlag seines Hauses und erzählte.
Er wusste noch immer nicht, ob Martha ihm zuhörte. Es war dunkel geworden. Wenig Licht drang durch die Tür zum Dachboden. Von Zeit zu Zeit meinte Nesselhahn, ein leises Scharren, einen tieferen Atemzug auf der anderen Seite zu vernehmen. Aber jedes Mal, wenn er innehielt, um darauf zu lauschen, war das Geräusch verschwunden. Und so blieb ihm nichts anderes übrig, als weiterzusprechen.
Eines Tages hatte Marthas Bruder mit glänzenden Stiefeln und einer Hakenkreuzbinde in Nesselhahns Koblenzer Räumen gestanden. Hermann Vahlens Hände wirkten grobschlächtig, seine wildwuchernden Brauen ungepflegt. Er zog das verkrüppelte Bein auffällig nach. Sein Stand und Ansehen als Parteivorsitzender wurde in Sehlscheid längst nicht mehr hinterfragt, aber in dem mit Fischgrätenparkett ausgelegten Empfangszimmer des Aurum Verlags hatte sein Auftreten für Nesselhahn etwas Groteskes.
Hermann erzählte seinem Schwager gleich von dem Haus im Aulbachtal. Der jüdische Kaufhausbesitzer, der es mit seiner Familie bewohnt hatte, sei vor einiger Zeit nach Kolumbien ausgewandert, der neue Besitzer ein Parteifreund. Hermann wisse zufällig, dass die Villa demnächst zum Verkauf angeboten würde.
Nesselhahn wollte ihm danken, denn er wusste, was das Haus für Martha bedeutete. Aber als Hermann ihn mit einem leichten Zucken um den Mund anblickte, ahnte Nesselhahn, dass der Schwager nicht allein deshalb zu ihm gekommen war. Hermann erwartete eine Gegenleistung. Ein anderer Parteifreund, der direkt dem Gauleiter unterstellt sei, habe ihn gefragt, ob Aurum nicht seine Kriegsmemoiren drucken könnte.
Nesselhahn wurde sofort vorsichtig. »Danke, dass du an mich denkst, Hermann. Aber ich glaube, das ist nichts für mich. Aurum bringt hauptsächlich Romantiker, Reiseberichte und ausländische Literatur heraus.«
»Weiß ich«, sagte Hermann schnell, »aber der war ja in Frankreich, der Herr Kreisleiter.«
»Ich möchte mit diesen Leuten nichts zu tun haben. Ich bitte dich, das zu respektieren.«
»Was heißt hier mit diesen Leuten, Richard? Der Mann ist mein Freund!«
»Entschuldige. Du weißt, wir sind nicht immer derselben Ansicht, was die Politik angeht. Das würde doch auch dein Parteifreund nicht gutheißen.«
Nesselhahn dachte, den Schwager schon fast überzeugt zu haben, die Sache auf sich beruhen zu lassen, als dieser etwas murmelte, was er nicht sofort verstand.
»Tu mir den Gefallen, Richard«, sagte Hermann. »Sonst bekommen wir beide Schwierigkeiten.«
Nesselhahn erzählte diese Geschichte zum ersten Mal. Es war nicht seine Art, mit Martha über Geschäfte zu sprechen. Sie hatte auch nie gefragt, wie er an ihr Haus herangekommen war. Und er hatte es keinesfalls als ehrenhaft empfunden, dass er das Aurum-Programm, das einmal sein ganzer Stolz gewesen war, ohne zu zögern völlig umgestellt hatte.
Hermanns Bekannter brüstete sich vor allen befreundeten Nazigenossen mit seinem neuen Verlag. Die Kriegserinnerungen und Ansichten mehrerer regionaler Größen wurden gedruckt, bis hin zu – die Ehre war groß – den Gedichten des Herrn Gauleiters. Das gutgehende Romantikprogramm durfte Nesselhahn fortführen, auf Anraten der Koblenzer Parteileitung erweiterte er es um Leitsprüche und Balladen, Heimaterzählungen und Heldensagen, die reißenden Absatz fanden. Aus den feinen Schmuckbänden wurden bald billige Pappausgaben und schließlich, nach Beginn des Krieges, echte Landserromane, die Nesselhahn in hohen Auflagen verkaufte.
Die Kommentare der neuen Verlagsautoren zu den experimentellen Editionen der ersten Jahre blieben nicht aus. Eine gehobene Augenbraue des Obersturmbannführers, ein Naserümpfen des Majors genügte. Nesselhahn nahm alles Neue, alles Moderne, alles, was nun als undeutsche Literatur verstanden wurde, schon bald und mit einer ihn im Nachhinein selbst überraschenden Gründlichkeit aus dem Programm.
Während er zu Martha sprach, hatte Nesselhahn das Gefühl, alles würde plötzlich einen Sinn ergeben. Was ihm vorher wie eine lange Reihe von mühseligen Kompromissen und erduldeten Zwängen erschienen war, wurde jetzt, da er es in Worte fasste, zu einer schlüssigen Abfolge – die Geschichte der schmerzlichen Kapitulation seiner Ideale vor der Wirklichkeit.
Wieder horchte Nesselhahn. Jetzt hätte er von Martha gerne gehört, dass er sie und die Kinder schließlich hatte schützen müssen und dass erst sein Erfolg mit dem Verlag ihnen das schöne Leben ermöglicht hatte, das sie im Aulbachtal führten. Denn im Grunde war er überzeugt, die richtigen Entscheidungen getroffen zu haben. Aber auf dem Dachboden blieb es still. Er vernahm nur von Ferne das Rauschen der Pappeln am Wiesenbach.
Es war sicher ein Fehler gewesen, Martha die Villa ihrer Großmutter im Westerwald zu kaufen, das räumte Nesselhahn ein. Er hatte geglaubt, sie werde in der Nähe ihres Heimatortes zur Ruhe kommen. Sie könnte ihre wilden Freundinnen vergessen, sich auf die Erziehung der Kinder konzentrieren. Martha hatte das Haus im Aulbachtal sofort geliebt. Und obwohl Nesselhahn wusste, wie froh sie an ihrem Hochzeitstag darüber gewesen war, Sehlscheid endlich verlassen zu können, hatte er es zugelassen, dass der Morast des nahegelegenen Dorfes nach und nach verschlang, was noch von ihrer Liebe übrig war.
Sehlscheid ähnelte schon damals kaum mehr der hübschen Ortschaft, in der Nesselhahn seine Frau kennengelernt hatte. Wo noch vor wenigen Jahren die Kinder mit krummen Beinchen auf den Ochsen durch das Dorf geritten kamen, wo die Sommergäste sich erholten und der geschmückte Gesellschaftswagen des Verschönerungsvereins die Damen spazieren fuhr, marschierten nun Hitlerjugend, SA, Reichsnährstand und NS-Frauenschaft. Das romantische Flussufer im Völkerwiesenbachtal hatte man zu einem Freibad ausbauen lassen, das sämtliche Jugendorganisationen und Wandervereine der Umgebung anzog. Der Morbelswein wurde mit dem Etikett des Gauleiters verkauft, und der unwiderstehliche Geruch von frischen Butterzöpfen strömte nicht mehr aus Gehrkes Backstube, sondern aus einem Fabrikschornstein. Sogar die Gesichtszüge der Bauern, die Nesselhahn immer an alte Pferderassen erinnert hatten, schienen feiner geworden zu sein und strahlten, wie er fand, zuweilen eine aggressive Modernität aus.
Seit sie im Aulbachtal lebten, war Martha kein einziges Mal in ihrem Heimatort gewesen. Sie verließ das Haus ausschließlich in die andere Richtung, durchfuhr mit ihrem Wagen eilig die Kurven nach Oberbieber und weiter nach Niederbieber, bis sie am Arlicher Walzwerk vorbei auf die Rheinstraße nach Koblenz gelangte. Ihren Bruder Hermann und dessen Frau Emmy besuchte sie nie. Und auch ihre Mutter lud sie nicht zu sich ein. Allein Hagis war gekommen, solange er noch in Karlsruhe studierte, unangekündigt und ausschließlich, wenn Nesselhahn sich im Verlag oder auf Reisen befand. Das Hausmädchen hatte es ihm hinterher gesagt, und auch Martha erzählte von den gemeinsamen Nachmittagen, obwohl sie wusste, dass ihr Mann sich darüber ärgerte.
Nesselhahn war klar, wie nah Martha und Hagis sich standen, und er hatte sich seiner Eifersucht auf den hübschen, überraschend belesenen jungen Mann nie erwehren können. Seit seiner Hochzeit, bei der Marthas Neffe ihm deutlich zu verstehen gegeben hatte, was er von ihm hielt, hatte Nesselhahn gehofft, der Junge würde bald von zu Hause fortgehen, irgendwohin, wo er vernünftiger werden und seine unzweifelhaft vorhandenen Talente einsetzen konnte. Auf Marthas Bitte hin hatte er ihm die höheren Schulen in Arlich und das Architekturstudium in Karlsruhe finanziert. Und so hatte er bei der Ankündigung von Hagis’ Hochzeit mit einem Mädchen aus dem Dorf Marthas tiefe Enttäuschung durchaus nachempfinden können, dass ihr Neffe sein Leben nun doch in Sehlscheid verbringen wollte.
Im Jahr der Geburt des kleinen Karl, ihres zweiten Kindes, hatte Hagis während einer seiner Heimfahrten aus Karlsruhe die hübsche Ilse Kleinmann geschwängert. Martha weigerte sich, die Hochzeitsfeier zu besuchen. Sie ließ ausrichten, sie könne nicht kommen, weil sie jederzeit das Kind erwarte. Ihrem Mann gegenüber behauptete sie, den Onkel der Braut, den jungen Kehl, einen bekannten Sehlscheider Nazi, nicht ausstehen zu können. Eine Geschichte von früher, sagte sie. Aber Nesselhahn war sicher, dass nun auch sie wegen ihres geliebten Hagis mit Eifersucht kämpfte.
Vom Hausmädchen hatte Nesselhahn erfahren, was man im Dorf über Hagis redete. Es hieß, er wäre ein Hitzkopf und Störenfried. Auf seine Schläue bilde er sich schon lange etwas ein. Kaum einer in Sehlscheid sei vor seinen üblen Scherzen sicher. Nur der Parteivorsitz seines Onkels Hermann habe den Jungen bisher vor Schlimmerem bewahrt. Aber erst als das Hausmädchen Hagis ein Findelkind nannte, das die Witwe Kläre während der Nachkriegswirren lediglich als ihren Enkel ausgegeben hatte, verstand Nesselhahn, worum es bei den Gerüchten ging. Überall wurden in dieser Zeit Machenschaften gegen das Volk und den Führer vermutet, Verschwörungen, Hetze und jüdisches Blut. Einen Moment lang hatte Nesselhahn selbst mit dem Gedanken gespielt, einen Brief zu schreiben, der dafür sorgen würde, dass Hagis’ wahre Herkunft geklärt würde. Noch immer meinte er, seine Frau müsste ihm dankbar sein, dass er ihrem vorgeblichen Neffen stattdessen die Fortsetzung seines Studiums in England bezahlte. Denn obwohl der Junge da bereits Vater von zwei kleinen Söhnen war, schienen sowohl Hagis als auch Martha erleichtert gewesen zu sein, als er die Heimat verlassen konnte.
Kehl war daraufhin mehrfach unter Vorwänden in ihr Haus gekommen. Wie um zu überprüfen, ob Hagis sich nicht doch bei Martha aufhielt. Oft erfragte er in Ilses Namen Neuigkeiten. Martha versuchte jedes Mal, ihn schnell loszuwerden, das hatte Nesselhahn wohl bemerkt. Einmal hatte er sie hinterher sogar zurechtweisen müssen, höflicher mit Kehl umzugehen, der immerhin Hermanns Amtshelfer war.
Nesselhahn lauschte, sein Ohr am Holz des Verschlages. Nichts. Und dann hörte er hinter der Tür plötzlich doch ein Räuspern, sehr deutlich, sehr nah. Er erschrak und spürte sein Herz klopfen. Martha war die ganze Zeit gleich hinter der Tür gewesen. Sie hatte alles gehört.
»Lass mich gehen, Richard.« Ihr erster Satz klang wie ein Würgen.
»Wenigstens das Karlchen soll den Dachboden nicht in Erinnerung behalten.« Marthas Stimme wirkte erschöpft, und doch war sie Nesselhahn vertraut.
Sie habe sich lange bemüht. Aber sie glaube, den Kindern nun keinen Moment länger etwas vorspielen zu können.
Ihre Rede brach ab, merkwürdig unbetont. Nesselhahn dachte, Martha würde noch etwas hinzufügen. Aber nachdem sie ihre langsamen, wie schmerzlich hervorgestoßenen Sätze vorgebracht hatte, schwieg sie wieder.
»Glaubst du, ich lasse dich einfach gehen?«, rief Nesselhahn. »Was soll aus unseren Kindern werden? Was wird aus mir?«
Sie schwieg.
»Versprich mir, zu bleiben, dann mache ich auf.«
Nichts.
»Martha!« Nesselhahn schlug mit der Faust gegen die Tür. »Rede mit mir!«
Es dauerte einen Moment, bis sie wieder zu sprechen begann.
»Es ist wahr, Richard. Ich habe einen Fehler gemacht. Du hast jedes Recht, wütend zu sein.«
»Was soll das heißen? Hast du mich betrogen? Von wem war dieses Kind?«
»Du bist der Vater.«
»Woher weiß ich, dass es stimmt, was du sagst? Die Kinder könnten jedes von einem anderen sein. Glaubst du, ich hätte nicht gesehen, wie die Männer dich ansehen?«
»Sag mir die Wahrheit! Sag mir nur ein einziges Mal die Wahrheit!«
»Du bist der Vater unserer Kinder.«
»Ich glaube dir nicht.«
Stille.
Nesselhahn schrie jetzt immer lauter in den Treppenaufgang. »Dieser Kehl schleicht seit Monaten hier herum. Warum eigentlich? Und deine Nachmittage mit Hagis! Hat er dich noch einmal besucht?«
»Hagis ist wie mein Bruder.«
»Hagis ist nicht dein Bruder. Er ist nicht einmal dein Neffe.«
»Du willst die Wahrheit?« Jetzt klang Marthas Stimme wie Metall, das aufeinanderschlägt. »Mein größter Fehler war es, dich geheiratet zu haben, obwohl ich dich nie geliebt habe.« Sie machte eine Pause und fuhr dann sanfter fort. »Aber ich habe dich nicht betrogen. Das zumindest musst du mir glauben. Glaubst du mir, Richard?«
Nesselhahn sagte nichts mehr. Er ging hinunter in sein Büro und schloss sich für den Rest des Tages ein. Erst am übernächsten Morgen stieg er wieder zum Dachboden herauf. Er reichte kein Essen durch die Klappe, die er zu diesem Zweck in die Tür hatte einbauen lassen. Er begann auch nicht, wie sonst, zu sprechen. Stattdessen schob er, einen nach dem anderen, die Riegel zurück. Die Kinder kreischten. »Nach draußen, nach draußen«, riefen sie abwechselnd, so dass nichts anderes mehr wahrzunehmen war. Nesselhahn drehte sich um und ging langsam, wie in einem dunklen Traum, die Treppe herab.
Er hörte Martha den Kindern befehlen, sich an der Hand zu nehmen, als sie die Stockwerke herunter zum Ausgang liefen. Er saß an seinem Schreibtisch. Die Schultern ließ er fallen, den Kopf hielt er gesenkt. Die Tür zu seinem Arbeitszimmer hatte er nicht verschlossen. Aber Martha und die Kinder gingen daran vorbei, ohne auch nur auf Wiedersehen zu sagen.