Was du nicht siehst (Mai 2007)
Wieland strich Judith das Haar aus dem Gesicht. »Willst du weitermachen?«
Sie nickte. »Martha hatte also einen Liebhaber. Hätte ich nicht von ihr gedacht. Meine Großmutter sieht auf den Fotos immer so beherrscht aus. Nach den Erzählungen meiner Mutter zu urteilen war sie nicht gerade lebenslustig.«
»Ich denke schon, dass sie eine Affäre hatte. Dein Großvater scheint es zumindest geglaubt zu haben. Warum sonst hätte er sie einsperren sollen?«
Sie hatten die Papiere auf dem kleinen Tisch im Wintergarten ausgebreitet. Die Sonne stand hoch. Es war noch nicht spät. Aber nach dem ausgedehnten Frühstück überkam Wieland eine angenehme Trägheit.
In diesem Moment lief Karel kläffend in das Haus hinein. Kurz darauf hörte Wieland die Eingangstür. Er erschrak. Alexia wollte erst am Wochenende kommen. Schritte auf hohen Absätzen näherten sich. Judith richtete sich abrupt auf. Aber da stand die Witwe schon in der Tür.
»Was für eine Überraschung, Herr Doktor.«
Hella Vahlen trug einen schwarzen Hosenanzug. Ihr Haar war streng nach hinten gekämmt. Wieland wünschte, Judith würde aufstehen. Sie mussten lächerlich aussehen auf dem Sessel, umständlich aufeinander hockend, im Glasanbau weithin sichtbar.
»Guten Tag, Frau Vahlen«, sagte Wieland.
Judith rutschte betont langsam von seinem Schoß.
»Hattest du eine gute Reise, Mama?«
»Es war anstrengend. Aber Reinier hat mir sein Auto geliehen. Vielleicht sollte ich besser wieder fahren. Mir scheint, ich störe hier.«
»Blödsinn. Wir ordnen den Nachlass, Mama.«
»Ja, so etwas habe ich mir schon gedacht.«
Wieland stand nun auch auf. »Ich glaube, ich bin es, der gehen sollte. Entschuldigen Sie, Frau Vahlen.«
»Ja, dann gehen Sie.«
»Wieland ist mein Gast«, sagte Judith. »Warum sollte er gehen, nur weil du hier plötzlich auftauchst, nach ganzen drei Wochen Ferien in – war es Südfrankreich oder die Toskana?«
»Ferien waren das nicht. Wir haben gearbeitet. Mehr jedenfalls, als ihr es zu tun scheint. Ich habe Herrn Wieland bereits gesagt, dass ich seine Einmischung in unsere Angelegenheiten nicht schätze.«
»Frau Vahlen, ich wusste nicht …«
»Wieland arbeitet mit mir am Nachlass. Wir sind fast fertig. Wir haben alles aufgelistet.«
»Genau das wollte ich verhindern, mein Schatz.« Die Witwe wirkte müde. Wieland hatte nicht einmal das Gefühl, überflüssig zu sein. Er war für die beiden Frauen gar nicht mehr anwesend.
»Was genau willst du verhindern, Mama?«
»Ich habe mehrfach versucht, dir zu erklären, dass es Dinge gibt, die ich für mich behalten möchte. Sie gehen niemanden etwas an. Auch dich nicht.«
»Du hast aber auch gesagt, dass Reinier weitere Filmvorlagen sucht.«
»Reiniers Interessen stimmen nicht immer mit meinen überein. Ich möchte mich soweit es geht von seinen Projekten zurückziehen. Wenn du willst, kannst du dich künftig mit den Fernsehleuten herumärgern. Du könntest durchaus auch mal etwas zum Haushaltsgeld beitragen.«
»Genau das tue ich gerade. Ich möchte Papas Briefe veröffentlichen.«
»Das kommt nicht in Frage. Es reicht völlig, dass jeder dahergelaufene Student sich Vahlens Briefe in den Archiven ansehen kann. In Buchform möchte ich das nicht haben. Außerdem kommst du damit nicht weit, was das Haushaltsgeld angeht. Das weißt du genauso gut wie ich.«
»Wir könnten auch den Roman veröffentlichen.«
»Von welchem Roman sprichst du?«
Wieland erstarrte. Sie waren übereingekommen, die Sache mit dem Manuskript vorerst vor Hella Vahlen geheim zu halten. Er wollte das Material zunächst einmal sichten. Die Notizen zu Vahlens historischen Recherchen, die Fotos, die Namen – es konnte Monate dauern, bis er alles überprüft hätte. Judith hatte ihn belogen, was das Einverständnis ihrer Mutter zu seiner Arbeit betraf. Auch wenn Wieland schon geahnt hatte, dass die »schwierige Witwe« nicht so schnell ihre Meinung geändert haben konnte. Ein wenig schmeichelte ihm sogar, wie Judith ihre Mutter – und auch ihn – hintergangen hatte, nur damit er bei ihr blieb.
»Mama, da ist ein Manuskript. Ein autobiografisches Romanfragment. So etwas wie die Fortsetzung von Westerwald. Das wird ein Buch. Man soll wieder über Papa reden. Reinier könnte eine neue Staffel machen. Vielleicht sogar einen Film zur Serie. Einen Kinofilm!«
»Wovon redest du? Es gibt keinen Roman. Vahlen hat nach Westerwald nur noch Erzählungen geschrieben.«
»Ich sehe was, was du nicht siehst!«
Judith konnte so unangenehm sein.
In Marthas Kammer (Frühjahr 1919)
Die Bewohner von Sehlscheid hatten schnell gelernt, ihre Vorräte vor den Amerikanern zu verstecken. Zumindest das Überleben der Zuchttiere konnte mit den Besatzern ausgehandelt werden. Und inzwischen waren die Soldaten immer häufiger bereit, geringe Gegenleistungen wie eine Konserve oder Hilfe beim Holzhacken anzubieten, um die Dorfbewohner, die sie mit frischem Fleisch und duftenden Backwaren versorgten, bei Laune zu halten.
Die Kinder waren die ersten, die sich näher an die Fremden herantrauten. Die Gewehre, das fortwährende Gespucke und vor allem die deutsche Mörserkanone, die von den Soldaten unter größter Anstrengung mit einem Ochsengespann die Hohl herauf geschafft worden war, übten auf die Jungen eine Faszination aus, die ihre Aufregung um die jährliche Kirmes, das Schlachtfest oder den Sprung des Deckbullen auf die Kühe noch übertraf. Der Offizier der Truppe hatte die »Dicke Bertha«, wie er das Geschoss mit schwerem amerikanischen Akzent nannte, von seinem Vorgesetzten übernehmen müssen, der nach dem Frieden von Compiègne nicht mehr gewusst hatte, wohin damit. Nun stand das tonnenschwere Beutestück am Rand des Dorfplatzes in einem eigens errichteten und bewachten Unterstand, wurde täglich gereinigt und gewendet, damit es keinen Rost ansetzte, und geriet zum Mittelpunkt eines ärgerlichen Briefwechsels mit dem Stützpunkt in Koblenz.
Die amerikanischen Soldaten, die sich die meiste Zeit über lässig rauchend gegen den Mörser lehnten, beherrschten vom Deutschen nicht viel mehr als die Worte »Halt«, »Hände hoch« oder »Vorsicht, Feuer«. Aber sie verstanden es, mit spaßhaften Drohgebärden, einfachen Liedern und Kaugummiblasen das Vertrauen der Jungen zu gewinnen.
Schließlich begannen die Soldaten aber auch, den Mädchen hinterher zu sehen. Sieben Wochen nach Kriegsende und mehrere Monate nach ihrem letzten Freigang versetzte der Anblick der langen Röcke die Rekruten in Erregung. Sie lachten plötzlich auf und vollführten merkwürdige Sprünge. Und von allen Mädchen, die an ihnen vorbei zum Burplatz liefen, war Martha Vahlen die Schönste.
Martha bewegte ihre langen Arme und Beine, als müsse sie sich erst daran gewöhnen. Sie war gerade sechzehn Jahre alt, und niemand hätte sagen können, wann ihr Haar so glänzend, die Taille so schlank und ihre Lippen so sinnlich geworden waren. Der trotzige Gesichtsausdruck erinnerte noch an ihre frühere Plumpheit. Aber die kantigen Züge, ihre ganze Haltung drückten nun einen Stolz aus, der die Jungen von Sehlscheid davon abhielt, sie wie die anderen Mädchen um leichtfertige Küsse anzugehen. Die Amerikaner dagegen, denen die Vorstellung von etwas Unerreichbarem gänzlich unbekannt war, sahen nur Marthas blaue Augen.
Seit ihre Brüder sie verlassen hatten, fühlte Martha die Einsamkeit wie einen wiederkehrenden Albtraum in sich aufsteigen. Schon ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. Wenn sie aber den kleinen Heinrich mit seinem leeren Blick über den Küchenboden kriechen sah, glaubte sie, nie vergessen zu können, dass sie mit der Geburt des Unglückskindes ihre einzige Freundin und ihren geliebten Bruder fast gleichzeitig verloren hatte.
An den kurzen Wintertagen, wenn sie in der Dämmerung Brennholz sammeln ging, überlegte sie oft, wie sie die Hüh, die Witwen und ihren Krüppel verlassen könnte. Lohnarbeit war im unteren Westerwald knapp geworden. Die Besatzer hatten die Produktion an den Walzen, die Blechpresse und den Bimssteinabbau für das erste stillgelegt. Eine der Brink-Töchter lebte bereits bei Verwandten in Köln, und die jüngste Gehrke sollte noch in diesem Sommer eine Stelle in Koblenz antreten. Aber wenn Martha am Abend in die Vorküche trat, hörte sie Hagis schon nach ihr rufen. Sie sah ihn Heinrichs Wägelchen über den Hof zerren, um ihr entgegenzukommen, und alle Pläne fortzugehen erschienen ihr mit einem Schlag waghalsig und dumm.
Während die anderen Mädchen sich die seltsamen Namen der Soldaten in die Ohren flüsterten, bis wie in einer Stillen Post bekannte Laute daraus wurden, während manche der Sehlscheiderinnen begannen, mit den Besatzern Blicke zu tauschen, und die eine oder andere ihrem Rekruten einen frischgebackenen Butterzopf vor die Zimmertür legte, begann auch Martha zu warten. Die Geschichte ihrer Großmutter Irma, die sie beim Kartoffelklauben so gerne erzählt hatte, ließ Martha noch immer hoffen, dass eines Tages ein Mann in das Dorf kommen würde, um sie aus Sehlscheid fortzubringen.
Das Auftreten der amerikanischen Soldaten war so schlicht wie ihre sackförmigen Uniformen. Ihre Witze mit der fremden Sprache, das unflätige Ausspucken, ihre ungezogene Haltung noch gegenüber den angesehensten Bauern wirkten auf Martha abstoßend. Die schwarzen Männer der Versorgungseinheit sahen dagegen aus wie die Wilden mit Palmen und Strohhütten, die der Lehrer ihnen in der Schule auf Bildern aus den Kolonien gezeigt hatte. Aber ihre roten Zungen, ihre strahlend weißen Zähne und Augäpfel, ihr still wirkendes Wesen waren in Wirklichkeit eindrucksvoller als die Nacktheit der Männer auf den Bildern. Und auch wenn man sie im Dorf viel seltener sah als die weißen Soldaten, löste ihr dunkler Gesang, der abends von der Schule herübertönte, ein sanftes Ziehen in Marthas Bauch aus.
Schon bald war im Dorf das Gerücht umgegangen, die schwarzen Besatzer stiegen nachts bei jungen Frauen ein. Am Burplatz und in der Gastwirtschaft sprach man über die Wilden und ihr ungezügeltes Verlangen. Als eines Morgens sogar Pastor Heller während der Messe vor der Bedrohung warnte, die von ungesegneten Berührungen für Leib und Seele eines jungen Mädchens ausgehe, fühlten sich alle an das Unglück der kleinen Lisbeth Gehrke erinnert. Und sie dachten an die Schande, sollte tatsächlich eines Tages ein schwarzes Kind in Sehlscheid geboren werden.
Die Tage wurden zögernd länger. Das schneidende Februarlicht erwärmte wenig mehr als nur die obersten Erdbrocken der Felder. Und die Kinder mussten bis zur unteren Mühle laufen, um für ihre Ziegen und Kaninchen noch Grünes zu finden. Die Bäuerinnen hängten morgens die klammen Kleider vor das Küchenfeuer und wärmten abends die Betten mit heißen Kartoffeln.
Unmerklich war das leichte Beben, das der Anblick der Besatzer in den Körpern der jungen Frauen ausgelöst hatte, zu einem gewohnten Zustand geworden. Und doch war Martha Vahlen sofort hellwach, als sie – keine zwei Wochen nach der Ansprache des Pastors – von einem groben Poltern auf den Dielen ihrer Kammer geweckt wurde.
Sie zwängte sich in die hinterste Ecke ihres Betts und zog die Decke fest um sich. Es war eisig kalt und stockfinster. Sie hörte ein hastiges Atmen, und vor dem geöffneten Fenster erkannte sie die Umrisse eines Mannes.
»Nicht schreien, Fraulein«, zischte es aus seiner Richtung.
Marthas Herz klopfte stark. Sie zwang sich, keinen Laut von sich zu geben. Sie musste an die Kaninchen denken, die sich gegen die Wand des Verschlages drängten, wenn sie eins herauszog, um es mit dem Klöppel zu erschlagen. Ihre Beine begannen zu zittern.
Der Mann lief jetzt mit ausgestreckten Armen tastend auf sie zu. Er polterte mit dem Stiefel gegen den Schemel. Dann suchte er schon das Bett nach ihr ab. Sie sah das Weiß seiner Augen, das im Dunkeln zu leuchten schien.
»Da ist Fraulein«, sagte er, als sich seine Hand um ihr Fußgelenk schloss. »Jetzt ist liebe Fraulein. Kuss. Kuss.«
Seine rauhe, nach Öl riechende Hand presste sich auf Marthas Mund. Sie rührte sich nicht, als er sich auf sie legte. Einen Moment lang meinte sie, beinahe schützend bedeckt zu werden, und dann war es doch wie ein Ersticken. Er zerrte ihr Nachthemd hoch. Seine Gürtelschnalle bohrte sich in ihren Bauch. Die Hose zerrieb die Haut ihrer Schenkel. Und bald war der Schmerz nur noch ein Stechen, fühlte sich an wie etwas Angelaufenes, aus dem warme Flüssigkeit rann.
Als der Mann sich von ihr abrollte, die Hand noch immer auf ihrem Mund, trat Martha zu. Zuerst traf sie ins Leere. Er wollte sie niederdrücken, da erwischte sie ihn. Stöhnend fiel er auf den Boden. Martha stieg über ihn hinweg, er packte sie erneut am Fuß, aber diesmal gelang es ihr, sich los zu machen. Dann stürzte sie aus der Tür, wo sie zu schreien begann, nach Großmutter Irma, nach der Mutter, nach Hermann und Emmy, die seit Jahren im Unterdorf lebten, und sie war sich später nicht sicher, ob sie nicht auch nach Rudolf gerufen hatte.
Als die Witwen mit ihren Lampen in die Kammer kamen, war der Mann schon durch das Fenster verschwunden. Martha stand zitternd neben ihrem Bett, das nun ganz klein aussah. Der umgeworfene Schemel, das offene Fenster, vor dem sich der Vorhang in der Kälte bauschte, alles schien im weichen Licht der Lampen wieder mit geraden Linien gezeichnet. Aber am Fenster, auf dem Strohbett und an dem Laken waren nun überall schmutzige, schwarze Schlieren zu sehen.
»Hat er dir etwas getan?«, fragte die Alte.
Martha senkte den Blick. Sie spürte die pochende Schwellung zwischen den Beinen. Arme und Hände schmerzten. Die Lippen waren aufgesprungen, mit einem Fuß konnte sie nicht auftreten. Auch das Nachthemd, ihr noch immer heftig zitternder Körper war übersät mit schwarzen Flecken.
Die Witwen wechselten einen Blick. Kläre trat einen Schritt auf ihre Tochter zu. Aber keine der beiden Frauen wagte es, Martha zu berühren.
Wir leben nur einmal (Juni 2007)
Gellmann machte eine einladende Geste, und Wieland folgte ihm durch den langen mit Bücherregalen ausgekleideten Flur in das Wohnzimmer. Hier waren die Wände mit großformatigen Bildern behängt, deren Fluchtperspektive und schreiende Farben Wieland verwirrten.
»Wie geht es dir. Du musst entschuldigen, dass ich dich extra hierher bitte. Aber manche Dinge kann man nicht am Telefon besprechen.«
Wieland nickte. Die Fahrt nach Frankfurt war angenehm gewesen. Er war gespannt, was Gellmann von ihm wollte.
»Ich habe mit Harras vom Verlag gesprochen«, sagte er, als Wieland sich gerade erst gesetzt hatte. »Er ist einverstanden, dass wir eine größere Sache aus dem Buch machen. Du musst nur einiges ändern. Er hat mir deine ersten Kapitel gezeigt. Um es gleich zu sagen, das konnte ich nicht lesen. So viel Wissenschaft interessiert keine Sau. Ich weiß, für die Doktorarbeit ist er wichtig, dieser belegte Scheiß. Aber jetzt musst du da noch mal rangehen und dem Ganzen Biss geben.«
Wieland nickte vorsichtig.
»Harras wünscht sich ein Porträt der Zeit und ihrer Akteure, es muss ja nicht immer nur um mich gehen. Du hast doch von einem Romanfragment gesprochen. Wie wäre es, ein paar Ausschnitte reinzunehmen. Unveröffentlichtes kommt immer gut. Da, wo es Sinn macht, meine ich. Das Thema selbst soll nicht aus dem Blick geraten: Die Epoche, die Kollegen. Unsere Freundschaften, unsere Aktionen. Wir haben damals schließlich auch ein bisschen Revolution gemacht, nicht wahr? Willst du was trinken?«
Er griff hinter sich in einen Schrank und zog eine halbvolle Flasche Whisky heraus. »Ist noch ein wenig früh, kann aber nicht schaden.«
Wieland winkte ab. Er war sich nicht darüber im Klaren gewesen, wie viel Gellmann das Buch bedeutete. Er war davon ausgegangen, für den Dramatiker zähle die wissenschaftliche Publikation, die universitäre Aufmerksamkeit, so hatte er ihn noch neulich am Telefon verstanden. Aber jetzt schien er mehr zu erwarten, eine Veröffentlichung für das breite Publikum. Und natürlich, Vahlens Manuskript – auch Gellmann begann sich dafür zu interessieren.
»Biografien sind stark im Kommen. Du musst dir nur mal die Verkaufszahlen von diesem Ding von dem Kühn über ’68 ansehen. In unserem Thema ist ja alles schon drin: Sex und Liebe und Leidenschaft. Was wir brauchen, ist eine These, die zieht. Oder noch besser, wir begründen einen neuen Mythos. So etwas wie: ›Die neue Freiheit, Gert Gellmann und die späten 68er‹, das ist doch ein guter Titel. Oder ›Fingerabdrücke. Nichts, wie es vorher war.‹ Wie wäre das?«
Wieder nickte Wieland. »Der Verlag hat mir gesagt, man würde bis auf kleine Änderungen und ein paar Auslassungen im methodischen Teil meine Dissertation vollständig übernehmen.«
»Kann man, klar. Man kann jede Scheiße publizieren. Man kann aber auch etwas daraus machen, was tatsächlich Leser findet. Das ist doch echter Stoff, was in den Briefen steht.«
Wieland hob abwehrend die Hand. »Da ist noch ein Problem. Hella Vahlen ist strikt dagegen, dass ich die Briefe veröffentliche.«
»Was denn, meine Briefe?«
»Sie hat mir ausdrücklich verboten, irgendetwas aus dem Briefwechsel zu veröffentlichen. Vielleicht könnten Sie ja noch mal …«
»Ich kann mit Hella nicht reden. Die ganze Familie will mit mir nichts mehr zu tun haben.«
»Wissenschaftlich gesehen ist das natürlich höchst bedauerlich.«
»Wissenschaftlich!«, prustete Gellmann. »Das sind meine Briefe. Von mir geschrieben! Sie sind Teil meines Werkes. Ich will, dass sie ein Teil meines Werkes sind. Darauf habe ich ein Recht.«
»Aber die Vahlen-Witwe ist nun einmal im physischen Besitz Ihrer Briefe. Da lässt sich nicht viel ausrichten.«
Gellmann starrte Wieland nun an. »Ich denke, du hast die Briefe.«
»Ich habe sie gefunden und gelesen. Aber, da sie mir verboten hat, die Briefe zu suchen, habe ich sie offiziell nicht.«
»So ein Quatsch. Wenn du es geschickt anstellst, kann Hella dir gar nichts. Es hängt nur von dir ab. Von dir und deinen Eiern.«
»Nehmen Sie es mir nicht übel, Herr Gellmann. Ich glaube, ich würde lieber bei meiner Doktorarbeit bleiben. Das mag Ihnen trocken erscheinen. Es wird vielleicht auch keine breite Leserschaft finden. Aber immerhin ist es korrekt und unangreifbar.«
»Korrekt, korrekt. Ihr kleinen Pisser.« Gellmann lehnte sich vor und trank sein Whisky-Glas in einem Zug leer. Sein Gesicht wurde röter. »Was ist denn das auch für eine Scheiß-These, die du da hast«, brüllte er plötzlich. »Mein Dokumentartheater sei autobiografisch. Dass ich nicht lache. Hast du schon mal von irgendjemandem gehört, der irgendetwas geschrieben hat, was nicht autobiografisch ist? Der etwas tatsächlich erfunden hat? Im Grunde ist doch alles nur Dokumentartheater. Und manchmal ist es das im wahrsten Sinne des Wortes. Hör gut zu, das kannst du zitieren: Die Dokumentation eines Experiments. Und damit meine ich nicht die Literatur, sondern unser Leben. Schreiben können wir viel. Aber leben tun wir nur einmal.«
Wieland wäre jetzt am liebsten aufgestanden und gegangen.
»Ich will dir eins sagen, Junge.« Wieder ruhiger geworden, schenkte Gellmann sich neu ein und goss auch Wieland Whisky in sein Wasserglas. »Du bringst mir jetzt erst einmal die Briefe, Originale, Kopien, Abschriften, was immer du willst. Ich übernehme die Verantwortung. Wenn du nicht veröffentlichen willst, dann mache ich es eben selbst. Ist schon klar, dass du Angst vor der Witwe hast. Ist eine beeindruckende Frau.«
»Herr Gellmann, ich kann Ihnen die Briefe nicht geben.«
»Was soll das heißen?«
Wieland wusste selbst nicht genau, was das heißen sollte. Aber er wusste, dass er auf keinen Fall mitansehen würde, wie Gellmann die Briefe an ihm vorbei und außerhalb seiner Doktorarbeit veröffentlichte. In monatelanger Suche hatte er sie sich mühsam beschaffen müssen. Und er hatte nicht vergessen, dass Gellmann ihm in all der Zeit nicht einmal einen Tipp gegeben hatte, wie er die Vahlen-Witwe finden konnte. Es wäre nicht gerecht, dachte er. »Sie sind bei meinem Professor, im Institut«, log er. »Ich komme zurzeit nicht dran.«
Die Erfindung des Glücks (Juli 1973)
Die Buchstaben reihten sich in lockerer Folge auf das Papier. Das rhythmische Tackern der Schreibmaschine, ein leichtes Schmatzen der Metallgelenke, wenn er genau hinhörte, nie ganz regelmäßig, mit Verzögerungen am Anfang eines Satzes oder längeren Wortes, wie ein Tanz. Vahlen schrieb. Die Sätze sammelten sich in seinem Kopf.
Draußen dämmerte es. Eine feine Linie aus Helligkeit bildete sich zwischen dem klaren Schwarz des Himmels und den dunklen Anhöhen am anderen Ende des Aulbachtals. Langsam begann sich die Hügelkette abzusetzen, schimmerte bläulich vor der nun heller werdenden Wolkenmasse, bis das Licht, als Vahlen das nächste Mal aufblickte, plötzlich überzuborden schien. Die Sonne zog kreuzförmige Strahlen über die Horizontlinie, tauchte das Tal mit den Streuobstwiesen, den Feldwegen und Böschungen in glitzerndes Licht.
Vahlen wandte sich von der Maschine ab, um mit dem Bleistift zu notieren, was er sah. Er genoss das Arbeiten im Glasanbau, der ihn ganz einhüllte in das wechselnde Wetter, in die Nacht und den Tag und den Augenblick.
Gestern hatte die Sommerhitze während seines Spaziergangs am Nachmittag drückend über den Wiesen am Waldrand gelegen. Die Pferde auf ihren Weiden erwehrten sich schweifschlagend der Fliegen und Bremsen. Am Weg wuchsen Himbeeren, deren Kerne noch nach Stunden zwischen seinen Zähnen steckten. Er konnte nicht genug bekommen von dieser Landschaft, die nach jeder Biegung einen neuen Blick eröffnete, die alten Bäume, das wuchernde Unterholz. Dieses Leben der langen Wege, um das er die Bewohner der Gegend beneidete, wenn er sie langsam, in einer Kleidung, die vor allem als Schutz gedacht war, an den Zäunen entlang über die Felder laufen sah. Ihr Gehen war immer mit einem Ziel verbunden, einer notwendigen Tätigkeit, während Vahlen noch überlegte, ob er geradeaus laufen oder abbiegen sollte. Irgendwann endete sein Weg an einem Brombeergestrüpp, einer Müllkippe. Kleine Fliegen und Mücken stürzten sich auf ihn, so dass er umkehren musste.
Vahlen hörte Hella hereinkommen. Sie musste ihn gesucht haben, nachdem sie das Bett neben sich leer gefunden hatte. Still setzte sie sich zu ihm, um die neuen Seiten des Manuskripts zu lesen. Er sah ihr einen Moment lang dabei zu. Die vollen Brüste, der runde Bauch, an dem sie nun immer schwerer trug, verliehen ihr schon jetzt etwas Mütterliches. Ein süßlicher Geruch nach Schlaf und Vertrautheit verbreitete sich im Raum, und mehr als Hellas Anwesenheit war es dieser Geruch, der Vahlen wie ein unerwartetes Glück durchdrang.
Er wandte sich wieder der Maschine zu. Mehrere der Gedanken, die er jetzt hatte, musste er verwerfen, weil sie zu kitschig waren, um aufgeschrieben zu werden, weil sie über dieses eine, echte Gefühl nicht hinausgingen.
Natürlich müsste eine gute Geschichte ein Stück Wirklichkeit zusammenhalten, etwas entstehen lassen, bestenfalls etwas berichtigen. Nichts schien Vahlen so ausschlaggebend für einen Text wie seine Beziehung zur Realität, nichts schien ihm schwieriger festzumachen. Aber im einzelnen war dieses Verhältnis unwichtig. Es galt im ganzen, im Prinzip. Vahlen hatte sich immer geärgert über Gellmanns Chiffren und direkte Verweise. Er hatte kein Interesse an Schlüsselromanen. Er spürte auch nicht mehr das Bedürfnis, mit seinen Texten die Gesellschaft zu verändern. Er wollte ein Buch lesen, als das, was es ist – ein Stück Kunst, ein Kunststück.
Zum ersten Mal stellte Vahlen sich nicht mehr die Frage, was ihn zum Schreiben berechtigte. Was ihn von den anderen unterschied, die lebten, ohne mitzuschreiben, ohne den Blick auf das Detail zu richten, ohne jeden Konflikt in Gedanken zuzuspitzen. Jetzt, wo seine Beziehung zu Hella mit der Schwangerschaft einen Fluchtpunkt gefunden hatte – und sei er in der Weite des Universums noch so klein und unbedeutend –, fürchtete er sich nicht mehr, konnte sich nicht mehr fürchten vor dem spurlosen Verschwinden.
Immer weiter reihten sich die Buchstaben aneinander, die noch rohen Sätze, in täuschend gleichmäßigen Linien. Er tippte eine letzte Zeile auf die Seite, bevor er ein neues Blatt einspannen musste. Diese Geschichte war alles andere als gradlinig. Sie war ihre Geschichte. Seine und Hellas und die ihres Kindes. Sie war der Beginn eines neuen Lebens.
Wichse I (Frühjahr 1919)
Der First Lieutenant Herbert Green fühlte sich jeden Tag wohler in der gutgeheizten Gemeindestube. Hier, als Kommandant der Militärverwaltung von Sehlscheid, war er zum ersten Mal im Leben sein eigener Herr. Den Dolmetscher hatte er zu Linde in das Vorzimmer gesetzt. Eine seiner besten Entscheidungen, wie er fand. Die beiden erledigten die meisten Amtsangelegenheiten, ohne ihn zu behelligen.
Green hatte es sich an diesem Februarmorgen in seinem breiten Sessel bequem gemacht. Die meiste Zeit des Tages hatte er seine Füße auf dem mächtigen Schreibtisch des Gemeindevorstehers liegen. Durch das Fenster zu seiner Linken sah er die laublosen Pappeln, die sich silbrig gegen den frostblauen Himmel abzeichneten. Die Verwaltungsarbeit des Dorfes blieb überschaubar. Er unterschrieb, was man ihm brachte. Wenn er unsicher war, fragte er den Dolmetscher Meyer oder Linde, oder er telefonierte mit dem Stützpunkt in Koblenz. Meist stieg bereits am späten Vormittag der Duft von Butterzöpfen und gebratenem Fleisch durch das Treppenhaus. Er musste nur rufen, dann brachte Lindes Frau ihm Kaffee, Marmeladenhörnchen, knusprige Hühnerschenkel und überhaupt alles, wonach ihm der Sinn stand.
Auch die Soldaten seines gemischten Platoons machten einen zufriedenen Eindruck. Die Männer schienen ihn zu mögen. Endlich kam er in den Genuss der vielgerühmten Vorzüge der höheren Offizierslaufbahn, die er mit mäßigem Erfolg vor einigen Jahren eingeschlagen hatte. »Wenn etwas schiefgeht, duckst du dich«, hatte ihm sein Vorgesetzter Major an der Front in Frankreich gesagt. »Dafür stehen sie schließlich hinter dir, deine Männer. Und wenn etwas gutgeht, dann nimmst du Haltung an. Das bist du dir und der Army schuldig, Green.«
Nach der Spanischen Grippe im Trainingslager, nach der endlosen Atlantiküberfahrt, nach den Gefechten im knietiefen Schlamm der europäischen Schlachtfelder und nach den kleinen und großen Gaunereien seines Vorgesetzten, die immer auf ihn zurückfielen, meinte Green diesen Frieden wirklich verdient zu haben. Er hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen, wo seine Frau jammerte, dass ihr das Geld nicht reiche und dass die drei Söhne ihr nie gehorchten, wenn er nicht da war.
Als im Vorzimmer plötzlich ein Tumult ausbrach, hysterische Frauenstimmen und Stühlerücken, wusste Green sofort, dass es nun aus war mit seinem Frieden. Sein Magen verkrampfte sich. Und da öffnete Meyer auch schon, ohne vorher anzuklopfen, die Tür seiner Arbeitsstube.
Zwei ältere Frauen drängten sich mit einem auffallend hübschen Mädchen ins Zimmer. Eine der beiden, die jüngere, meinte Green bereits in der Amtsstube gesehen zu haben, mit einem kleinen Jungen, der wohl im Krieg seine Eltern verloren hatte. Hinter ihnen tauchte der rot angelaufene Kopf des Gemeindevorstehers Linde auf. Er stammelte etwas auf Deutsch, was Green nicht verstand.
»Entschuldigen Sie, Lieutenant«, sagte nun der Dolmetscher, ebenfalls sichtlich aus dem Konzept gebracht. »Es scheint, dass diese Angelegenheit –«
Die beiden Frauen unterbrachen ihn mit einem aufgeregten Redeschwall. Ihre Gesichter verzerrten sich zu Grimassen, ihre Hände gestikulierten wild. Beim Anblick ihrer fauligen Zähne hielt Green unwillkürlich die Luft an.
Das junge Mädchen stand stumm und mit gesenktem Blick da. Noch der weite Rock und das übergeworfene Tuch schienen ihr nicht genug Deckung zu bieten in dieser Umgebung. Als sie aufsah, spürte Green einen Stich in seinem Herzen. Ihre Augen, dieser Blick erinnerte ihn an das Kindheitsfoto seiner Mutter, das bei ihm zu Hause in Idaho auf der Anrichte stand.
»Diese Frauen behaupten, ein amerikanischer Soldat sei durch das Fenster bei dem Mädchen eingestiegen«, sagte Meyer.
Wieder fühlte der Lieutenant den Schmerz in seinem Magen, diesmal verbunden mit leichter Übelkeit, als er sich vorstellte, wie einer seiner Männer sich an dem Mädchen vergriff.
Solche Fälle hatte es gegeben. Natürlich. Das hier war nicht Amerika. Unter Hunderttausenden Soldaten musste es immer einige faule Eier geben. Auch das hatte er von seinem Vorgesetzten gelernt. Green selbst war einmal dabei gewesen, als der Major in eine wütend schreiende Frau eindrang. Sie war nicht mehr ganz jung und allein auf ihrem Hof – gleich hinter der Front, mitten im Krieg in Frankreich. »Die will es nicht anders«, hatte der Mayor gesagt. »Wenn ich es nicht tue, tut es der nächste, der hier vorbeikommt.« Und er hatte gegrinst. Green war hinausgegangen, um beim Hühnerstall auf ihn zu warten. Hinterher hatte er sich schmutzig und schäbig gefühlt.
Hier war Green selbst der Vorgesetzte. Unzucht mit der Bevölkerung wurde vor dem Militärgericht verhandelt. Und er wäre nicht der erste Offizier, dessen Karriere endete, weil die Leute, für die er verantwortlich war, sich daneben benommen haben.
»Gibt es Beweise?«, fragte er.
Der Dolmetscher sagte etwas zu Linde. Der wiederum hob beschwichtigend die Hände, als die Frauen nun hörbar schnaubten. Die Ältere stieß einen heftigen Schimpflaut aus. Green zuckte zusammen. Dann folgte wieder ein Redeschwall.
Meyer übersetzte. »Das Mädchen hat bezeugt, es habe sich um einen Mann gehandelt, der nur wenig Deutsch sprach und der ihr damit drohte, sie zu erschießen. Der Mann habe nach Alkohol gerochen sagt sie, und er sei schwarz gewesen.«
Das Mädchen streckte nun auf Aufforderung der jüngeren Frau einen Fuß nach vorne, der in dem offenen Schuh geschwollen und am Gelenk mit blauen und braunen Flecken übersät war.
»Der Mann war schwarz?« Green atmete auf. Es war kein Vergnügen, einer Truppe vorzustehen, die zur Hälfte aus schwarzen Männern bestand. Es erforderte besondere organisatorische Vorkehrungen, getrennte Unterkünfte und ständige Aufmerksamkeit. Vor späteren Vorgesetzten hinterließ es nie einen guten Eindruck. Tatsache war, dass man es in Washington vorgezogen hatte, schwarze Hilfstruppen zu schicken, als die Franzosen um Verstärkung baten. Eine Entscheidung, die Green durchaus für vernünftig hielt. Aber wenn es ein schwarzer Soldat gewesen war, der bei dem Mädchen eingestiegen war, dann würde es Green zumindest nicht allein angelastet. Dass diese Männer zu Tieren werden konnten, war schließlich allgemein bekannt. Das Militärgericht würde kurzen Prozess machen. Er hätte keine weiteren Schwierigkeiten.
»Rufen Sie den Sergeant, Meyer. Er soll herausfinden, wer von den Burschen aus der Schule gestern Abend nicht auf dem Zimmer war. Sie sollen sich hier melden. Alle. Sofort.«
Eine unangenehme halbe Stunde lang musste Green in seinem Büro warten. Das Vorzimmer war von den Furien belagert. Er traute sich nicht einmal, auf die Toilette zu gehen. Stattdessen schaute er aus dem Fenster in den im Vergleich zu Idaho geradezu milden Winterhimmel, der sich über dem Tal zu einer einzigen blassen Wolke zusammenzog. Dann tauchte auf dem Dorfplatz endlich der Sergeant mit Private Washington auf, einem schlanken und hochgewachsenen Mann aus Alabama mit breiten Wangenknochen, einer platten Nase und ausladenden Lippen. Der Mann schaute ängstlich, als er an den Frauen vorbei in die Gemeindestube geführt wurde.
»Private Washington. Haben Sie in der vergangenen Nacht Ihre Stube verlassen?«
»Ja, Sir, Lieutenant«, antwortete Washington.
»Warum, Private?«
»Weil ich etwas gegessen habe, das ich nicht vertragen habe, Sir.«
»Wie bitte?«
»Sir, ich habe etwas gegessen und musste vor die Tür gehen, um mich zu übergeben. Ich musste auch die Toilette aufsuchen, Sir.«
»Private Washington. Die Toilette befindet sich innerhalb des Schulgebäudes. Warum haben Sie also die Schule verlassen?«
»Sir, ich habe mich geschämt, Sir.«
»Private Washington. Sind Sie in der vergangenen Nacht bei einem Mädchen eingestiegen und haben ihm Gewalt angetan?«
»Sir, nein, Sir!« Der Mann war entsetzt.
»Sie sind der einzige, der gestern die Schule verlassen hat, Private Washington.«
»Sir, ich habe nichts getan. Ich würde doch niemals … Ich habe etwas gegessen, das ich nicht vertragen habe. Ich habe, äh, ich musste schnell auf die Toilette. Sir!«
»Dass Ihnen schlecht war, tut hier nichts zur Sache. Ich halte fest, dass Sie zugeben, die Schule verlassen zu haben. Meyer, bringen Sie die Frauen rein.«
Die Frauen kamen diesmal zögerlicher in die Stube. Sie ließen Private Washington nicht aus den Augen. Nur die Kleine hielt den Blick weiterhin auf den Boden gerichtet.
»War er das?«, fragte Green in ihre Richtung.
Der Dolmetscher übersetzte. Martha sah kurz auf. Unsicher. Die Alte stieß sie an. Sie sagte etwas.
»Sie sagt, der Mann war kleiner und schwärzer, und er war sehr stark«, übersetzte Meyer.
»Schwärzer?« Green war genervt. Schwarz war ja wohl noch immer schwarz. Und Washington war von der eher dunklen Sorte.
Jetzt sagte die Alte etwas.
»Sie bittet darum, sich den Mann ansehen zu dürfen«, sagte Meyer.
Private Washington stand sehr aufrecht vor Greens Schreibtisch. Aber als die Alte, bereits nah herangekommen, wieder ihren Schimpflaut ausstieß, schien er all seine Kraft aufbringen zu müssen, um nicht wegzulaufen. Sie strich wie ein schnüffelnder Hund um den Soldaten herum. Dann stellte sie sich plötzlich auf die Zehenspitzen und streckte ihre Hand aus. Mit einem langen Finger strich sie über seine Wange, erst vorsichtig, dann immer fester.
Alle Anwesenden hielten die Luft an. Washington zitterte, aber er rührte sich nicht. Die Alte führte ihre Hand an den Mund und spuckte hinein, als würde sie einem Kind das Kinn abwischen oder die Haare richten wollen. Erneut rieb sie, diesmal kräftig, über Washingtons Gesicht, so dass der ganze Mann ins Wanken geriet. Lange besah sie daraufhin ihre Handfläche. Dann erst sagte sie etwas.
»Sie sagt, er war es nicht«, übersetzte Meyer mit einem Achselzucken. »Der Mann, der in ihrem Haus gewesen sei, habe abgefärbt.«
Die Sache fing an, Green auf die Nerven zu gehen. Wenn Washington es nicht gewesen war, wer konnte es dann gewesen sein? Und was sollte das mit dem Abfärben? Die Hirngespinste der Einheimischen, was seine schwarzen Männer anging, fand er längst nicht mehr unterhaltsam.
Die Frau zog nun ein schmutziges Tuch unter ihrer Schürze hervor. Green wurde nervös. Wollte sie die Entjungferung des Mädchens mit Blutflecken auf dem Laken beweisen? Auf dem Tuch waren tatsächlich ein paar Schlieren zu sehen, die von Blut stammen konnten. Ansonsten sah es aber ungefähr so aus wie der Lappen, mit dem er zu Hause seine Stiefel putzte. Schuhwichse, dachte er, und verstand, was die Frau meinte. Manche seiner Männer waren weniger dumm, als er gedacht hatte. Aber diese Deutschen schienen auch nicht so hinterwäldlerisch zu sein, wie sie aussahen.
Jetzt fiel ihm ein weiterer Spruch seines Vorgesetzten ein: »Alles abstreiten. Wenn etwas nicht den Interessen der Army entspricht, dann streite es ab, Green. Damit fährt die Army noch immer am besten.« Er hätte es abstreiten sollen. Alles. Sofort. Noch als das Mädchen gesagt hatte, sie erkenne Washington nicht wieder, wäre es nicht zu spät gewesen. Er selbst hatte nach Beweisen gefragt. Jetzt war es zu spät. Einer seiner Männer war tatsächlich ein faules Ei. Und dass er es nicht gemerkt hatte, würde auf ihn zurückfallen. Wenn er keinen schwarzen Mann fände, dem er die Sache anhängen könnte, säße Green in der Falle.
Ein Detail (Juni 2007)
Die Buchstaben verschwammen vor Wielands Augen. Seit Stunden versuchte er, die Namen im Manuskript sinnvoll mit denen der Figuren des Romans zu verbinden. Er kniff die Augen zusammen. »Herta Krieger« aus Westerwald hieß im Fragment »Herta Voss« und war natürlich Hella Vahlen. »Julia« war Judith und »Maria« war Martha. Es ließ sich fast immer eine Entsprechung finden, nur war es nicht jedes Mal so eindeutig.
Seit die Witwe zurück in Sehlscheid war, hatte sich der Doktorand in einem neuen Hotel in Arlich eingemietet. Hella Vahlen sollte nicht wissen, dass er mit Judith weiterhin an der Manuskriptveröffentlichung arbeitete. Die Gardinen ließ er vorgezogen. Abends, manchmal schon nachmittags, kam Judith zu ihm, und sie fuhren gemeinsam nach Koblenz, gingen an der Rheinpromenade spazieren oder aßen im Hotel.
Wieland hatte Kopien der Originale anfertigen wollen, schon weil es ihm riskant erschien, mit den vergilbten und teilweise blass gewordenen Handschriften zu hantieren. Aber Judith war dagegen gewesen. »Das sind die Notizen meines Vaters, keine Heiligtümer und Reliquien«, hatte sie gesagt. »Wenn du sie lesen willst, musst du sie auch anfassen.« Aber zugleich hatte sie ihm nicht einmal Gellmanns Briefe überlassen wollen. Anfangs machte ihn das wütend, weil er glaubte, sie vertraue ihm nicht. Er musste an Gellmanns Worte denken und bereute, dass er keine Abschriften angefertigt hatte, als er es noch hätte tun können. Doch schließlich einigten sie sich, dass Judith ihm die Briefe mitbrachte, wann immer er sie benötigte. Zu Wielands Entsetzen bewahrte sie sie in einer einfachen Klarsichthülle auf, die sie in ihrer Handtasche mit sich trug.
Das Manuskript hingegen war dafür zu umfangreich. Judith willigte ein, dass er es in die Universität bringen würde, damit sein Doktorvater es sich ansehen könnte. Eines Nachmittags, als die Witwe in die Stadt gefahren war, hatte Wieland mit Judiths Hilfe den Plastikkorb voller Papiere und Notizbücher vom Dachboden geholt, ihn im Kofferraum verstaut und war damit zum Institut nach Duisburg gefahren. Ein Dokumentenkarton mehr oder weniger im Aufenthaltsraum der studentischen Hilfskräfte würde nicht auffallen, dache er. Vorsichtshalber markierte er ihn mit seinem Namen und schrieb nach einigem Zögern in Klammern »persönlich« darunter. Zumindest gab es an der Fakultät Nachtwächter, Rauchmelder und Feuerlöscher.
Wieland arbeitete nur noch selten an seiner Doktorarbeit. Nach dem Gespräch mit Gellmann kam ihm seine These über das autobiografische Element in Gellmanns Dokumentartheater tatsächlich banal vor. Meistens saß er jetzt über seinen Notizen zu Vahlens Fragment, ordnete die Szenen anhand von Listen und glich sie mit seinen Informationen zur Familiengeschichte ab. Wenn er im Institut die Notizbücher aus dem Karton holte, waren die Kopierräume schon verschlossen, die Flure leer. In der Stille des Aufenthaltsraums schrieb er einzelne Stellen des Manuskripts ab und fügte vorsichtig mit Bleistift, einmal – aus Versehen – sogar mit Kugelschreiber, Fehlendes hinzu.
Er begann, Vahlens Vorgehensweise zu durchschauen, bekam einen Überblick, wie viel Zeit noch nötig war, um aus den zahlreichen Teilstücken ein Ganzes zu erstellen. Er verlor dabei die Scheu vor dem Material und auch vor Eingriffen in das Manuskript. Manchmal kam es ihm vor, als handle es sich um seine eigenen Worte, die er da hin- und herschob. Längst sah er keine Notwendigkeit mehr, die dünnen, beidseitig beschriebenen Seiten zu fotokopieren. Und obwohl es mit Judith so abgesprochen war, wollte er auch Kittel nicht mehr in das Projekt einbeziehen, das er inzwischen tatsächlich als sein persönliches begriff.
Gerade deshalb ärgerte er sich, dass Judith ihm das Manuskript wieder wegnehmen wollte. Sie halte es für besser, wenn es an seinem ursprünglichen Platz liege, hatte sie ohne weitere Erklärung gesagt, als sie zuletzt zusammen im Stadtcafé saßen. Wieland musste sich räuspern, und beinahe hätte er gefragt, ob sie das Projekt nun jemand anderem übergeben wolle und ob sie mit diesem anderen auch schlafen würde. Dann fiel ihm ein, wie er sich schon bei Gellmann herausgeredet hatte: Er könne ihr gerade jetzt unmöglich das Material zurückbringen, rief er. Sein Doktorvater sei dabei, es sich anzusehen.
Judith schien Wielands Begründung zu akzeptieren. Sicherlich wollte sie gar nicht ohne ihn weitermachen, sagte er sich. Sie waren beide gereizt und übermüdet. Wahrscheinlich befürchtete Judith lediglich, ihre Mutter könnte das Fehlen der Papiere bemerken. Er sollte sich nicht verrückt machen. Er würde ihr beweisen, dass er der Richtige für die Arbeit war. Wieland beugte sich über die mit Bleistift und Radiergummi mehrfach korrigierten, durchgestrichenen und neugezogenen Verbindungslinien des Stammbaums der Familie Vahlen. Die Alte, die Tochter, der Onkel, der Bruder. Fehlte nur noch der Philosophische Gärtner, dachte er, und Villa Westerwald wäre komplett.
Die vielen Übereinstimmungen des Manuskripts mit der Fernsehserie konnte Wieland sich nur damit erklären, dass die Vorlage für beide nicht der Roman, sondern die Familiengeschichte selbst gewesen war. Bei Westerwald handelte es sich um ein großangelegtes Epos, das bis in das Kaiserreich zurückreichte. In seinem neuen Werk hatte Peter Vahlen die Chronik offensichtlich fortsetzen wollen. Aber die Figurenkonstellationen vervielfältigten sich. Nie war klar, wer nun welches Kind gezeugt hatte und ob nicht vielleicht doch alles ganz anders gewesen war. Und der auf den ersten Blick so deutliche Zusammenhang der Figuren mit realen Personen erwies sich als hochkomplex.
Wieland hatte lange darüber nachgedacht, welche Bedeutung die von Vahlen in seinen Notizen mehrfach erwähnte Episode haben könnte, in der Judiths Großmutter auf dem Dachboden eingesperrt war. Bis er schließlich auf die Idee kam, dass es dabei um etwas ganz anderes gehen könnte.
Erst heute Morgen hatte er im Sehlscheider Kirchenbuch gefunden, wonach er gesucht hatte: Martha von Nesselhahn war eine geborene Vahlen. Zuerst war es Wieland vor lauter Namen und Daten gar nicht aufgefallen. Aber dann wurde ihm plötzlich die ganze Tragweite des Eintrags deutlich: Peter und Hella Vahlen waren blutsverwandt. Peter Vahlens Vater, der bekannte Architekt, war der Neffe von Hellas Mutter Martha. Rechtlich war das wohl kein Problem. Eine Liebe zwischen Cousin und Cousine war in einem Dorf wie Sehlscheid sicher keine Seltenheit.
Der Witwe musste es natürlich unangenehm sein, wenn so etwas über ihre Familie bekannt würde. Für die wissenschaftliche Forschung war der Fund aber mehr als ein Detail. Denn kaum ein Motiv kam in Vahlens Werk so häufig vor wie das der falschen Verbindung, des »Fehlers«, wie es bei ihm hieß. In Villa Westerwald häuften sich die Irrungen und Wirrungen, von Fehltritten unter Geschwistern bis zu ehelichem Inzest. Wieland stellte sich vor, wie er mit dieser Entdeckung in wissenschaftlichen Kreisen zu Ehren kommen würde: »Inzest – Der biografische ›Konstruktionsfehler‹ als konstitutives Element der Prosa Peter Vahlens«.
Er war unsicher, ob er Judith erzählen sollte, was er herausbekommen hatte. Aber erst, als er sich vorzustellen versuchte, wie sie darauf reagieren könnte, wurde ihm klar, wie leichtsinnig das wäre. Die inzestuöse Beziehung von Hella und Peter Vahlen stellte doch vor allem deshalb einen Skandal dar, weil sie zusammen ein Kind hatten, ein missgebildetes Kind – Judith mit ihrer fehlenden Hand.
Kurz verspürte er Mitleid mit Judith. Er glaubte nicht, dass sie etwas von der Blutsverwandtschaft ihrer Eltern ahnte. Sie schien sich überhaupt kaum Gedanken über die Gründe für ihre Behinderung zu machen.
Wieland sprang auf. Er würde ihr nichts sagen. Seine Kladde mit den Aufzeichnungen müsste er verstecken. Judith liebte es, ihn im Hotel zu überraschen, und sie wollte immer gleich sehen, wie weit er gekommen war. Auch, wenn sie sich über die Ergebnisse seiner Recherchen oft lustig machte. Überhaupt ließ ihr Interesse nach, sobald Wieland etwas genauer wissen wollte. In der vergangenen Woche hatte er einen ganzen Tag im Koblenzer Archiv verbracht, um herauszufinden, dass Hermann Vahlen der Vorsitzende der Nazi-Kreisleitung in Sehlscheid gewesen war. Nach dem Krieg hatte er deshalb sogar eine Weile im Gefängnis gesessen. Aber als Wieland Judith davon erzählte, tat sie, als habe sie das schon gewusst.
Die Familienzusammenhänge erschienen ihr unwichtig. Dabei befand sie selbst sich im Zentrum der Geschichte. Zuerst hatte Wieland geglaubt, das wäre nur in der Serie der Fall und liege daran, dass ihre Mutter die Drehbücher geschrieben hatte. Aber dann stellte er fest, dass Judith auch in Vahlens Fragment die wichtigste Rolle einnahm.
Er verstaute die Kladde zwischen den Hemden im großen Rollenkoffer und stopfte noch den zusammengefalteten Zettel mit der Abstammungsskizze hinterher. Dann setzte er sich wieder an den Schreibtisch und stützte seinen Kopf auf die Handflächen. Er sollte nochmal den Stammbaum studieren. Wer waren die Eltern von Martha, die Großeltern? Was war mit Vahlens Vater Heinrich? Weshalb hatte er einen Künstlernamen angenommen? Wieland notierte seine Fragen in Stichworten auf einen neuen Zettel. Aber seine Gedanken drifteten immer wieder zu dem Inzest. Warum hatte Martha von Nesselhahn nicht reagiert, als ihre Tochter ausgerechnet einen Vahlen heiraten wollte? Die Folgen von Inzucht mussten doch in den sechziger Jahren bekannt gewesen sein. Wenn Peter Vahlen und seine Frau davon gewusst hatten, dass sie blutsverwandt waren, wie hatten sie dann ein Kind miteinander zeugen können? Oder hatten sie es gar nicht getan?
Behinderte Kinder wurden häufig zur Adoption freigegeben. Auch im Manuskript kamen mehrere Adoptionen vor. Wieland schrieb auf das Papier: »Hella nicht Judiths Mutter?« Aber Judith sah der Witwe so ähnlich, dass ihm diese Variante unwahrscheinlich erschien. Eine Weile lang dachte er nach, dann fasste er sich an die Stirn, strich den Satz durch und schrieb: »Peter Vahlen nicht Judiths Vater!«
In einem der Notizbücher zum Fragment hatte er eine unausgearbeitete Szene gefunden, die in der Fernsehserie ebenfalls auftauchte. Darin hatte »die Alte« ein Verhältnis mit dem besten Freund ihres Mannes, und es wurde angedeutet, dass »die Tochter« aus diesem Verhältnis hervorgegangen war. Bisher war für Wieland Martha von Nesselhahn auf ihrem Dachboden immer diejenige gewesen, die ihren Mann betrogen hatte. Nun musste er offenbar alles neu überdenken.
Er holte die Kladde mit den Namen und Daten zu Judiths Familie wieder aus dem Koffer hervor. Silbe für Silbe wiederholte er laut, als könne er so seinen Gedanken auf die Sprünge helfen: »Die Tochter des besten Freundes.«
Plötzlich erschien Wieland alles ganz folgerichtig. Hella Vahlen hatte ihren Mann mit Gert Gellmann betrogen. Ein solcher Fehltritt war immerhin die einzige Möglichkeit für sie, die Inzucht mit ihrem Mann zu vermeiden. Jetzt wurde ihm klar, warum die Witwe um jeden Preis verhindern wollte, dass Peter Vahlens verschlüsseltes Manuskript an die Öffentlichkeit geriet. Ihre Tochter durfte nichts von ihrer wahren Herkunft erfahren.
Der Doktorand zwang sich, weiterzudenken. Wenn Judith aber wirklich das Resultat eines Fehltritts war, wenn Gert Gellmann also Judiths Vater war – wie um Himmels Willen hatte Hella Vahlen es dann zulassen können, dass Judith mit ihrem eigenen Vater ein Kind zeugte?
Der Bulle (März 1919)
Die Witwen wurden nie wieder bis zum Lieutenant Green vorgelassen. Die Angelegenheit gehe ihren Gang, ließ der Dolmetscher ausrichten. Sie müssten sich gedulden, bis ihnen das Ergebnis der Untersuchung mitgeteilt wurde.
Im Gegensatz zu Green und Meyer wusste der Gemeindevorsteher Linde, wie im Dorf über Marthas Unglück getuschelt wurde. Ganz Sehlscheid, hieß es, träfe die Schande des Mädchens. Und wenn tatsächlich ein schwarzes Kind geboren würde, dann breitete sich die Schande über den gesamten Westerwald aus. Als Vater einer Tochter im heiratsfähigen Alter verstand Linde diese Ängste durchaus. Und auch er konnte sich nicht erklären, warum es so lange dauerte, bis sich die höheren Stellen der wichtigen Sache annahmen.
Erst an diesem trüben Märzmorgen erfuhr der Gemeindevorsteher, dass die Besatzer sich zunächst eines anderen Falls angenommen hatten. Frühmorgens war der Brief aus Koblenz gekommen, in dem angekündigt wurde, dass der kleine Hans Gisbert demnächst von einer Beauftragten des dortigen Waisenhauses abgeholt werden würde. Etwas verwundert, denn Linde hatte diese Dienststelle nie wegen der Sache angefragt, zeigte er das Schreiben dem Dolmetscher. Und Meyer erzählte ihm mit einem zufriedenen Lächeln, dass es seine Idee gewesen war, die Akte des Hungermauls voranzutreiben, um die Frauen von der Hüh abzulenken, bis das Militärgericht in Marthas Fall entschied. Wieder einmal wünschte sich Linde, er wäre nicht ausgerechnet jetzt und in Sehlscheid Gemeindevorsteher. Denn er selbst würde den Witwen die Nachricht von Hagis’ bevorstehender Abholung überbringen müssen.
Als er über den glitschigen Pfad die Hüh heraufkam, sah er Kläre Vahlen schon von weitem unter dem Vordach der Lehmhütte sitzen. Sie war dabei, mit Pflock und Hammer ein Rad des Leiterwagens auszubessern. Ihr einmal so hübsches Gesicht wirkte hart und eingefallen. Während der Schulzeit hatte sie sich über Linde lustig gemacht, weil er so dick war. Aber der Gemeindevorsteher war nicht nachtragend. Sie blickte kaum auf, als er vor ihr stehen blieb.
»Haben sie ihn?«, fragte sie.
»Da gibt es keine Neuigkeiten, leider. Es geht um etwas anderes. Ich dachte, ich sage es dir lieber gleich«, schnaufte Linde und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Der Stützpunkt in Koblenz hat sich gemeldet«, rief er wie aus der Ferne. »Die wollen Hagis nächste Woche in ein Waisenhaus bringen.«
»Die wollen was?«
»Es tut mir leid, Kläre. Sie haben die Eltern nicht finden können. Verlorene Kinder gehören nun mal in ein Waisenhaus.«
Inzwischen war auch Martha, die Kläres erregte Stimme gehört haben musste, hinter der Scheune hervorgekommen. In der Hand hielt sie den Leib eines Kaninchens, dem sie das Fell abgezogen hatte. Das Haar fiel ihr in einem weichen Zopf über die Schulter. Die Schürze reichte bis zu den Knöcheln. Ihre immer zierlicher werdende Figur, die volle Brust zeichneten sich deutlich darunter ab. Wenn die mal nicht doch schwanger ist von dem Mohren, wiederholte Linde in Gedanken, was am Morgen seine Frau gesagt hatte.
Im Dorf war man der Meinung, das Mädchen trage, wie damals ihre Großmutter, zumindest einen Teil der Schuld an ihrem Unglück selbst. In jedem Fall sei es leichtfertig von den Witwen gewesen, Martha allein in der Stube schlafen zu lassen mit einem Fenster, in das sie jeden einlassen konnte. Mehrfach war das Gerücht umgegangen, man habe bereits die Engelsmacherin auf die Hüh gehen sehen. Und die älteren Frauen pflegten dem hinzuzusetzen, dass es höchste Zeit war.
»Aber Hagis ist kein verlorenes Kind«, riss Martha den Gemeindevorsteher aus seinen Überlegungen. »Er ist bei uns!«
Marthas Blick ruhte mit großem Ernst auf Wilfried Linde, als wollte sie gegen die Gerüchte im Dorf, gegen die amerikanischen Besatzer und gegen das Leben an sich Haltung bewahren. Trotzdem erkannte Linde in ihren Augen einen deutlichen Schmerz, der zu ihrem schönen, noch so jungen Körper gar nicht passen wollte.
»Martha, es tut mir leid«, murmelte er. »Das muss alles seine Richtigkeit haben.«
»Hör auf«, schrie jetzt Kläre, die ganz blass geworden war. Ihre Augen starrten richtungslos. Ihr Haar wirkte spröde und ungepflegt. Linde hatte die Vahlen-Witwe noch nie so aufgelöst gesehen. »Ich weiß genau, was dahinter steckt. Die wollen nicht, dass wir ihren schmutzigen Soldaten finden. Die nehmen uns Hagis weg, um uns einzuschüchtern. Wie lange kennen wir uns, Wilfried? Wie kannst du da nur mitmachen?«
»Von mir hängt gar nichts ab«, jammerte Linde. »Was soll ich denn tun?«
»Sag ihnen, wir lassen die Sache fallen«, rief Martha. »Sag ihnen, es ist uns egal, wer der Mann war. Sag ihnen, ich erinnere mich an nichts mehr. Und bitte sie, uns den kleinen Hagis zu lassen. Er hat ja nur uns.«
Neben Martha, die Linde weiterhin unverwandt ansah, war Kläre kraftlos auf dem Schemel zusammengesunken. Sie hatte sich abgewandt, ihr Rücken zuckte. Linde nickte langsam. Dann entschuldigte er sich noch einmal und verließ eilig die Hüh.
Inzwischen war der Gemeindevorsteher endgültig davon überzeugt, dass die Amerikaner, so sehr sie das auch betonten, keine zivilisierten Menschen waren. Diese Kuhjungen mit den schlechten Manieren hatten sicher mehr als nur eine Frau aus dem Westerwald auf dem Gewissen. Jeden Tag fürchtete er um die Zukunft seiner eigenen Tochter. Das Dorf, dessen stetig wachsender Wohlstand vor dem Krieg sein ganzer Stolz gewesen war, schien dem Wilden Westen immer ähnlicher zu werden.
Zu Hause angekommen, lief Linde lange in der Stube auf und ab. Gemeinsam mit seiner Frau überlegte er, was er dem Dolmetscher Meyer sagen würde. Aber er brauchte sich nur dessen gleichgültigen Gesichtsausdruck vorstellen, um alles gleich wieder zu verwerfen. Dann dachte er sich aus, wie er die Witwen beschwichtigen könnte. Immerhin war Kläre ja selbst mit dem Jungen zu ihm gekommen, damit er seine Eltern fände. Lindes Frau war der Ansicht, die Witwen müssten das Kind eben hergeben. Alle anderen hatten ihre Hungermäuler schließlich auch nicht behalten.
Abends konnte der Gemeindevorsteher nicht einschlafen. Er drehte und wendete sich im Bett herum, bis seine Frau ihn in die Gastwirtschaft schickte. Kaum war er in Brinks Schankstube angekommen, als Hermann Vahlen in den Raum trat, sich suchend umsah und dann gleich auf ihn zukam.
»Hast du es hingekriegt?«, fragte Vahlen. Offenbar wusste er bereits von Lindes Besuch bei den Witwen.
»Hermann, da ist nichts zu machen«, sagte Linde. »Koblenz ist schon eingeschaltet wegen des Kindes. Der Lieutenant will davon nichts wissen. Die Dinge nehmen ihren Lauf.«
»Und was ist mit dem Soldaten?«
»Der Schwarze sitzt immer noch. Einen anderen haben sie nicht. Aber das Militärgericht mussten sie einschalten. Das ist alles höchst unangenehm für Green.«
Hermann richtete sich drohend vor ihm auf. »Sag deinem Lieutenant, wir werden ihn höchstpersönlich vor Gericht bringen und seine gesamte Saubande dazu, wenn er meiner Mutter den Jungen wegnimmt.«
»Hermann. Das kann ich ihm nicht sagen. Das wäre unvernünftig. Die haben den Krieg gewonnen.«
Linde konnte es Hermann nicht verdenken, dass er wütend war. Niemand wusste besser als der älteste Vahlen-Sohn, der noch immer die Wucht des Kartätschengeschützes in seinem Bein spüren musste, wer den Krieg gewonnen und wer ihn verloren hatte.
Hermann Vahlen gehörte trotz seines Hinkens längst zu den wichtigsten Männern von Sehlscheid. Auch Linde hatte ihn häufig nach seiner Meinung gefragt, gerade in politischen Angelegenheiten. Hermann hatte als erster von der Erniedrigung gesprochen, die die Anwesenheit der schwarzen Soldaten für das Dorf bedeutete. Das Benehmen der Amerikaner auf dem Hof seines Schwiegervaters schien er mit erstaunlichem Gleichmut hinzunehmen. Aber von seiner Frau wusste Linde, dass Hermann Anweisungen gegeben hatte, Kartoffeln, Äpfel, Speck und Saatgut zu verstecken. Und wenn Hermanns Emmy mit den grinsenden Fremden zu freundlich wurde, ermahnte er sie sofort.
Linde hatte Hermann gesehen an dem Tag, als er von Marthas Unglück mit dem Soldaten erfuhr. Die Neuigkeit hatte sich schnell herumgesprochen in Sehlscheid. Womöglich war es Lindes eigene Frau, die sich gleich nach dem Mittagstisch auf den Weg gemacht hatte, um die Ereignisse in der Gemeindestube weiterzuerzählen. In jedem Fall wussten an jenem Abend bereits alle im Gasthaus, was passiert war, und nicht einmal sein Schwiegervater wagte es, sich Hermann Vahlen zu nähern. Allein hatte er an seinem Ecktisch gesessen, mit leerem Blick auf sein Glas starrend, seine breiten Schultern herunterhängend. Und als er schließlich die Schankstube lange vor allen anderen wieder verließ, hatte kaum einer der Männer nicht an Hermanns Worte von der Schande der Niederlage denken müssen.
Am Sonntag darauf war Hermann als einer der letzten zur Messe gekommen. Mit festen Schritten ging er an den Reihen der Bänke vorüber, kaum sah man ihn sein Bein nachziehen, bis er, statt sich wie gewöhnlich zu den Schwiegereltern, der Frau und den Kindern zu setzen, für alle Gemeindemitglieder sichtbar neben seiner Mutter, der Großmutter und seiner Schwester Martha Platz genommen hatte.
»Sag es dem Lieutenant«, zischte Hermann. »Wenn die wollen, dass wir den Mund halten, dann müssen sie uns Hagis lassen.«
Linde nickte. Er wollte Hermann helfen. Ein Gemeindevorsteher musste wissen, auf welcher Seite er zu stehen hatte, dachte er. Wenn Wilfried Linde aber bereits an diesem Abend in der Brinkschen Gastwirtschaft gewusst hätte, was er damit anrichten würde, dann hätte er dem Dolmetscher Hermanns Forderung nicht überbracht. Er hätte den Dingen ihren Lauf gelassen.
Der Klügere gibt nach, hatte Lindes Mutter immer gepredigt. Einem wildgewordenen Eber stellt man sich nicht in den Weg, und schon gar keinem Bullen.
Die Sieger waren es nicht gewohnt, auf die Vorschläge der Verlierer einzugehen. Keiner der fremden Soldaten fühlte sich verantwortlich für das Unglück des deutschen Mädchens. In den Augen der Amerikaner, das verstand Linde erst später, war ein Mann unschuldig, solange er nicht verurteilt war, und er wurde nicht verurteilt, solange man ihm nichts beweisen konnte.
Innere Sicherheit (Herbst 1974)
Es war spät, als Vahlen in das Eckstein kam. Die Luft war verqualmt und aus den Toiletten, deren Türen ständig auf- und zuklappten, verbreitete sich ein süßlicher Geruch nach Urin. Vahlen ging in Richtung des Tresens, wo er Gellmann und Pfaff entdeckte. Weiter hinten nahm er undeutlich die Blicke einiger Einheitsfrontler wahr. Schmitt saß auf einer der Eckbänke zwischen zwei Mädchen, die dämlich grinsten. Eine winkte ihn an den Tisch, aber Vahlen grüßte nur kurz. Er wollte zu Gellmann und erkannte erst jetzt, dass auch Rössig und Kühn am Ausschank standen. Er würde sich ein Bier holen, dachte er, ein paar Worte mit Pfaff und Gellmann wechseln und sich dann zu Schmitt setzen.
»Vahlen! Hier rüber!«, rief Gellmann. »Auf der Messe erzählt man sich, dein Roman geht gut! Vier Wochen nach der Auslieferung schon die zweite Auflage!«
»Was soll ich sagen?«, antwortete Vahlen. »Ich kann nicht klagen.« Er sah, wie Rössig sich zu ihm umdrehte. Er musste schon eine ganze Menge getrunken haben.
»Bleibst du noch hier, oder geht es gleich zurück in die texanische Wüste?«, fragte Gellmann.
»Ein paar Wochen bleibe ich wohl in Deutschland.«
»Und Hella? Muss die nicht arbeiten?«, fragte Kühn.
»Sie darf in Amerika nicht arbeiten. Jedenfalls nicht gegen Geld. Sie hospitiert wieder am Krankenhaus, das hat sie schon beim letzten Mal gemacht. Sie sagt, sie würde von den Ärzten dort lernen.«
»Das nenne ich echte Kapitalistenscheiße«, dröhnte Rössig nun vom Tresen herüber. »Und deine Frau macht da auch noch mit, lässt sich von den Schweinen ausbeuten.«
»Hör mal, ich bin ganz deiner Meinung, was die Kapitalistenscheiße angeht«, fiel Gellmann ihm ins Wort. »Aber wenn Vahlens Frau in Amerika nichts gelernt hätte, dann hätte ich jetzt keinen Mittelfinger mehr. Die sind uns, was die Medizin angeht Jahrzehnte voraus.« Gellmann war mindestens genauso betrunken wie Rössig. Er hob seinen vernarbten Mittelfinger, der seit dem Erfolg seines letzten Stückes zu einer Art Markenzeichen geworden war, in die Höhe und schwang ihn langsam vor Rössigs aufgedunsenem Gesicht hin und her.
»Wie war das nochmal mit deinem Finger, Gellmann?«, fragte Vahlen. »Hat Ingeborg ihn dir abgebissen, als du einer anderen an die Wäsche gehen wolltest? Ich wusste gar nicht, dass Hella etwas damit zu tun hatte. Spielt sie etwa eine Rolle in deinem versauten Stück?« Er zwang sich zum Lachen.
»Nein, nein, so blöd bin ich auch wieder nicht. Die Wirklichkeit, auf die wir ja beide viel Wert legen, hat sich anders zugetragen. Ich habe mir beim Kochen den Finger fast abgeschnitten. Hella hat dem Arzt geholfen, ihn wieder anzunähen.«
Kühn und Rössig grinsten blöd.
»Hierzulande kümmert man sich um solche Kleinigkeiten wie Mittelfinger gar nicht. Wie schon meine Mutter immer gesagt hat: Ungeschicktes Fleisch muss weg. Die amerikanischen Kapitalisten dagegen wussten, dass in meinen Fingern noch ein paar gute Theaterstücke stecken.«
»Du bist doch selbst schon eine Kapitalistensau«, brüllte Rössig hinter seinem Rücken. »Wie viel machst du denn pro Aufführung mit deinem ›Finger‹-Stück? Wo war es nochmal, in Hamburg?«
»Es läuft gerade in Frankfurt, Wien, Berlin, Hamburg und in Lausanne. Nächsten Monat kommen Paris und Lyon dazu. Nimm es mir nicht übel, Kumpel. Deine Stücke finden auch noch eine Bühne, auch wenn sie schlechter sind.« Gellmann lachte.
»Hella war also dabei, als du dir in den Finger geschnitten hast?«, fragte Vahlen. »Wann war das genau?«
»Das kann ich dir verraten. Das war vor ziemlich genau drei Jahren. Am siebten Oktober 1971. Zwei Tage später wurde Ingeborg auf der Kundgebung verhaftet, und ich saß mit dem Finger allein da und konnte sehen, wie ich mir den Arsch mit links abwische. Sag nicht, du wusstest nicht, dass deine Frau mich damals in Frankfurt besucht hat?« Wieder lachte er.
Vahlen nickte und lachte ebenfalls. Er sah wie Rössig, der inzwischen auf einem Barhocker saß, sich nach vorne beugte und Gellmann am Ärmel packte. Gellmann schwang mit seinem Bierglas herum, zog Rössig vom Hocker, der auf ihn drauf fiel. Beide brauchten eine Weile, bis sie sich wieder aufgerichtet hatten. Mit hochroten Gesichtern standen sie sich gegenüber.
»Du schreibst doch nur fürs Geld«, zischte Rössig.
»Das solltest du auch mal versuchen«, sagte Gellmann.
Wieder brauchte Rössig eine Weile, um sich zu sammeln. Dann nahm er einen Aschenbecher vom Tresen. Die Kippen fielen zu Boden, die Asche wirbelte durch die Luft. Er holte aus, Gellmann duckte sich, und Vahlens Faust landete in Rössigs Gesicht. Der Aschenbecher fiel zu Boden. Kühn half Rössig, der unter dem Schlag zurückgetorkelt war, in den Stand. Vahlen drehte sich um. Gellmann sah ihn erstaunt an. Aber bevor er etwas sagen konnte, hatte auch er Vahlens Faust im Gesicht.
Vahlen war Linkshänder. Das hatte schon öfter für Überraschungen gesorgt. Er rieb sich die Hand. Noch immer hatte er Lust auf ein Bier, aber er würde es woanders trinken. Die Leute sahen ihm nach, als er das Lokal verließ. Ihr Blick erinnerte ihn an einen seiner wiederkehrenden Träume.
Konfrontation I (Juni 2007)
»Mein lieber, guter Wieland«, sagte Hella Vahlen. Beim Sprechen blätterte sie weiter in den Seiten seiner Doktorarbeit, tat sogar, als lese sie noch einen Absatz zu Ende, bevor sie aufschaute. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie auf Judiths Spielchen nicht eingehen und die Briefe aus Ihrer Dissertation heraushalten wollen.«
Wieland nickte. Da saßen sie wieder im Glasanbau. Sein erster Besuch bei der Witwe lag weit zurück. Zwar behandelte sie ihn noch immer von oben herab, und Wieland war ihr gegenüber noch immer unsicher. Doch diesmal kannte er das Haus. Er wusste, wie schwer es für sie gewesen war, es nach dem Tod Peter Vahlens zu halten. Und jede Ecke darin verband er mit Judith.
Nie hätte er gedacht, er würde sich freiwillig noch einmal in diese Situation bringen. Aber Judith zuliebe wollte er es tun. Er hatte sich vorgenommen, Hella Vahlen mit seinem Wissen zu konfrontieren. Er wollte ihr klarmachen, dass er, was die Geheimhaltung gewisser familiärer Details anging, auf ihrer Seite war. Wenn sie zusammenhielten, müsste niemand – und vor allem nicht Judith – von ihrer wahren Herkunft erfahren. Trotzdem würde er darauf bestehen, das Fragment in aller gebührenden Vollständigkeit zu veröffentlichen, ganz nach Judiths Wunsch und notfalls auch gegen den Willen der Witwe.
Er hatte sich alles genau zurechtgelegt. Um sein Entgegenkommen zu signalisieren, hatte er Hella Vahlen ein Kapitel seiner Dissertation mitgebracht. Die Korrespondenz zwischen Gellmann und Vahlen wurde darin nicht erwähnt. Er plante durchaus, ausführlich daraus zu zitieren. Doch dieser Teil war noch in Arbeit.
»Sehen Sie, ähnlich steht es mit diesem unglücklichen Manuskript«, fuhr die Witwe fort. »Ich bin weit davon entfernt, Peter Vahlens Arbeiten für mich behalten zu wollen. Ich möchte lediglich keine unfertigen Fassungen in Umlauf sehen. Auch mein Mann hätte nicht gewollt, dass sein Bild in der Öffentlichkeit unter irgendwelchen posthumen Entdeckungen leidet.«
Das Wort ›Entdeckungen‹ hatte sie betont, als wäre Wielands wissenschaftliche Tätigkeit an sich schon etwas Anrüchiges.
»Ich verstehe«, beeilte er sich zu sagen, obwohl ihn der Ton der Witwe ärgerte. Wochenlang hatte er nicht nur sämtliche Manuskripte und Briefe, sondern auch Reisekostenabrechnungen, Zeitungsausschnitte und Versicherungsbriefe im Nachlass geordnet und aufgelistet. Nach all den Mühen meinte er, wenn schon kein Mitbestimmungsrecht, dann zumindest Anerkennung verdient zu haben.
»Ich respektiere selbstverständlich Ihre Sorge um den Ruf der Familie«, sagte er. »Einiges in der Geschichte ist sicherlich delikat.«
Die Witwe runzelte die Stirn. Sie schien ihn nicht zu verstehen. »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erklären, Herr Wieland, dass die Figuren und Ereignisse, die in Vahlens Texten beschrieben werden, der Wirklichkeit womöglich nahe kommen, doch in keinem Fall mit ihr übereinstimmen.«
»Ja, so ist es.« Wieland begriff sofort, was die Witwe sagen wollte. Und er zweifelte nicht daran, dass ihr der kompromittierende Inhalt des Manuskripts bekannt war. »In der Literatur werden häufig reale Probleme behandelt, ohne dass eine direkte Verbindung zur Wirklichkeit hergestellt werden kann«, sagte er. »Aber gerade deshalb meine ich, dass man die Nähe des Autors zu seinem Werk nicht aus dem Blick verlieren darf.« Er machte eine kurze Pause, während der er die Witwe beobachtete. Hella Vahlens Blick blieb unbewegt.
»Die Frage ist, wie die Westerwald-Fortsetzung, die uns meiner Meinung nach vorliegt, trotz der Indiskretionen im Text bewahrt und als Ganzes der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden kann. Niemand möchte private, sagen wir, Fehltritte im Manuskript erkennbar lassen. Ich habe mir überlegt …«
»Wovon reden Sie?« Jetzt starrte die Witwe ihn regelrecht an. Ihre glatte Stirn, die gerade Nase, Hella Vahlens Gesicht wirkte wie eine Maske. Aber Wieland ließ sich nicht beirren.
»Ich meine, es wäre legitim und auch nicht aufwendig, beispielsweise die Namen abzukürzen, damit sie von Außenstehenden keinen realen Personen zugeordnet werden können«, sprach Wieland weiter. »Wir müssten uns nur genau überlegen, wie wir solche Eingriffe für den Leser nachvollziehbar machen. Sie werden verstehen, dass ich als Wissenschaftler …«
»Nein, nein, das meine ich nicht. Wovon haben Sie eben gesprochen? Sie haben etwas von ›privaten Fehltritten‹ gesagt. Worauf wollten Sie damit hinaus?«
Die Neugier der Witwe war ganz offensichtlich gespielt. Wieland glaubte sogar, ein Lächeln um ihren Mund zu bemerken.
»Ich meinte die Tatsache, dass Sie und Ihr Mann blutsverwandt waren«, sagte er schnell.
»Wie bitte?« Hella Vahlen schien nun tatsächlich entsetzt. Trotzdem war Wieland ganz sicher, dass seine Entdeckung sie kaum überraschte. Wenn die Witwe den Umstand der Verwandtschaft mit ihrem Mann nicht gestehen wollte, der immerhin der wahrscheinlichste Grund für Judiths Behinderung war, dann musste er sie wohl oder übel mit seiner zweiten, noch skandalöseren Entdeckung konfrontieren.
»Entschuldigen Sie. Ihr Verwandtschaftsverhältnis zu Ihrem Mann geht mich natürlich nichts an«, sagte er und hoffte, dabei süffisant zu klingen. »Vielleicht ist Peter Vahlen auch gar nicht Judiths Vater. Vielleicht ist es Gert Gellmann?«
Wieder herrschte einen Moment lang Stille. Dann verzog sich das Gesicht der Witwe zu einem Lächeln: »Das ist also das Ergebnis Ihrer wissenschaftlichen Arbeit?«, fragte sie. Und als Wieland nickte, zeigte sie zur Tür. »Raus!«, schrie sie. »Was bilden Sie sich ein?«
Als er aufstand, wurde Hella Vahlen beleidigend. »Durchgeknallter Spinner«, schrie sie ihn an. »Schnüffler, Spießer, Opportunist!« Wieland fürchtete, sie würde ihn angreifen.
Noch beim Hinausgehen rief er, weil er glaubte, sich damit schützen zu können, dass sich das Fragment längst bei seinem Doktorvater in der Duisburger Universität befinde. »Die Allgemeinheit hat ein Recht an Vahlens Werk. Genau wie Judith. Sie können Ihrer Tochter die Entscheidungsbefugnis für den Nachlass ihres Vaters nicht einfach aberkennen. Eines Tages werden die Dinge ohnehin in ihrer Verantwortung liegen.«
»Jetzt hören Sie mir mal zu«, schrie die Witwe. »Das ist mein Leben, in dem Sie herumstochern. Und noch ist es nicht vorbei. Was in meiner Kraft steht und was nicht, entscheide immer noch ich. Machen Sie also keinen Fehler.«
Nach dieser Drohung konnte Wieland sich nicht mehr zurückhalten. »Den Fehler haben Sie selbst begangen, Frau Vahlen. Vor vielen Jahren. Für mich kann es nur noch darum gehen, Dichtung und Wahrheit auseinander zu halten. Ich werde Judith helfen, mit ihrer Geschichte ins Reine zu kommen, wie sie es für richtig hält.«
Wichse II (März 1919)
Wolken schoben sich vor den abnehmenden Mond und verdickten die Nacht zu einer trüben Suppe. Auf den bitterkalten Winter war tagelang andauernder Regen gefolgt, der die Wege zur Hüh in zähen Morast verwandelt hatte. Vier junge, kleingewachsene Männer, deren letzte Zweifel an der eigenen Auffassung von Recht und Ordnung mit der dritten Flasche Morbelswein endgültig verschwunden waren, stapften fluchend den Hohlpfad herauf. Sie hatten ihre Gesichter mit Schuhwichse geschwärzt. In den Händen hielten sie Benzinkanister aus dem Treibstofflager. Und in ihren Köpfen kreisten dumpfe Gedanken von Soldatenehre und Rache.
Nie, davon waren sie überzeugt, hätte ein amerikanischer Soldat sich an einem einheimischen Mädchen vergangen, mochte es noch so schöne Augen haben. Schließlich kamen sie aus einem zivilisierten Land, und die Fräuleins lagen ihnen ohnehin alle zu Füßen. Greens Truppe mochte zur Hälfte schwarz sein, aber die andere Hälfte hatte Herzen, so weiß wie der Schnee von Wyoming. Und sie schworen, sich nicht von den Kriegsverlierern und schon gar nicht von Krüppeln wie Hermann Vahlen den Frieden verderben zu lassen.
An ihrer Spitze ging der junge Kehl, der sich auf der Hüh auskannte. Auch er hatte sich Hände und Gesicht schwarz angemalt, so dass das Weiße seiner Augen und das blutrote Innere seiner Lippen leuchteten. Auch er trug eine Militärhose mit einem schweren Gürtel, und auch in seinem Herzen brannte eine tiefe Verachtung für die Vahlen-Frauen, die sich seit einiger Zeit aufführten, als gehörte ihr Hof schon zum wohlhabenden Unterdorf. Das Flittchen von der Hüh sollte büßen. Alle sollten sie büßen. Wenn am Montag die Offiziere des Militärgerichts einträfen, würden die Witwen wieder wissen, wo ihr Platz war.
Duisburg I: Kittels Chance (Juni 2007)
»Bitte nennen Sie mich Judith«, sagte die Vahlen-Tochter gleich nachdem sie sich vorgestellt hatte. »Herr Professor, ich brauche Ihren Rat.«
Judith strahlte eine zarte Hilflosigkeit aus. Zu den hohen Absätzen trug sie Jeans und eine geblümte Bluse. Aber so wie sie ihren missgebildeten Unterarm geschickt zu verbergen wusste, erschien Kittel auch die einfache Kleidung lediglich als Teil einer Strategie. Judith Gellmann-Vahlen bekam sicher grundsätzlich alles, was sie wollte. Und er zweifelte keine Sekunde daran, dass sie das Vorbild für die Figur der hinterlistigen »Tochter« in Villa Westerwald war.
Statt den Besucherstuhl zu nehmen, den Kittel ihr angeboten hatte, setzte sie sich auf seinen Schreibtisch. Sie sagte, was Kittel schon wusste, dass sie Wieland damit betraut hatte, das Fragment zu ordnen und mit den Notizen und Materialien Peter Vahlens für die Publikation zu vervollständigen. Allerdings klang das Vorhaben aus ihrem Mund für den Professor seriöser als die Unterbreitungen seines Doktoranden.
Der Professor nickte verständnisvoll. Er konnte noch immer nicht glauben, dass ausgerechnet Wieland, ein blutiger Anfänger, auf eine solche Sensation gestoßen war. Als Wieland ihn angerufen hatte, um von seiner Entdeckung zu erzählen, hätte der Professor unmöglich mit Begeisterung reagieren können. Aber nur einen Moment später bereute er seine abwehrende Haltung. Wieland ließ sich nicht mehr am Lehrstuhl blicken. Dabei wollte Kittel das Manuskript unbedingt sehen. Vielleicht hätte er die Herausgabe sogar übernehmen können.
Er war gespannt, was die Vahlen-Tochter von ihm wollte. Gleichzeitig machte ihn ihre körperliche Nähe nervös. Bei dem Versuch, die Missbildung ihrer Hand genauer zu betrachten, fiel Kittels Blick auf ihre halbdurchsichtige Bluse. Wenn der Dekan hereinkäme, könnte er die Situation falsch verstehen.
Selbst in der ehemals so beschaulichen Duisburger Hochschulwelt gehörten kleine Verdächtigungen und große Unterstellungen längst zum Arbeitsalltag. Kittel selbst hatte sich vor einigen Jahren dem Vorwurf ausgesetzt gesehen, in seinen Seminaren attraktive junge Frauen zu bevorzugen. Eine hysterische Langzeitstudentin hatte das Gerücht verbreitet. Sie hatte ihn wegen eines schlechten Klausurergebnisses aufgesucht, und er musste sie etwas zu freundlich angeschaut haben. Inzwischen schien sich kaum noch jemand an die Geschichte zu erinnern. Dennoch war Kittel seitdem besonders vorsichtig.
»Ich frage mich, ob Andreas Wieland wirklich verstanden hat, worum es bei dieser Veröffentlichung geht«, sagte Judith.
Das war also der Grund für den überraschenden Besuch, dachte Kittel. Sie überlegte, Wieland die Herausgabe des Manuskripts aus der Hand zu nehmen. Vielleicht hatte der Doktorand zu gewissenhaft und langsam gearbeitet. Auch Kittel war beim Lesen seiner detailversessenen Ausführungen mehrfach ungeduldig geworden.
»Ich mag Wieland«, sagte Judith. »Aber in letzter Zeit wirkt er auf mich etwas abgelenkt. Er verrennt sich in fragwürdigen Recherchen. Meine Mutter ist sehr empfindlich, wenn es um den Nachlass geht. Deshalb war mir daran gelegen, Ihre Meinung zum Manuskript und zu unserem Projekt persönlich einzuholen.«
»Natürlich«, sagte Kittel und versuchte, sich trotz seiner Erregung gelassen zu geben. Ob sie das Fragment bei sich hatte? In ihrer Handtasche?
»Selbstverständlich hat sich Herr Wieland im wissenschaftlichen Betrieb noch keinen Namen gemacht«, sagte er vorsichtig. »Ich müsste das Manuskript erst einmal genau untersuchen, um etwas dazu sagen zu können. Die Sache interessiert mich natürlich brennend. Ich bin ein großer Verehrer Ihres Vaters.«
»Vielleicht könnten wir uns das Manuskript jetzt gemeinsam ansehen? Danach würde ich es gerne wieder an mich nehmen.«
Kittel war verwirrt. Was meinte sie? Glaubte sie, das Manuskript wäre bei ihm?
»Selbstverständlich schaue ich mir gerne alles mit Ihnen an, liebe Judith«, sagte er versuchshalber.
Es entstand eine etwas unangenehme Pause.
»Sie haben das Manuskript also gar nicht.« Judith erhob sich. »Wieland hat es Ihnen nie gegeben.«
»Ich fürchte nicht.« Kittel war fassungslos. Er hätte das Manuskript also längst vorliegen haben sollen. Dachte Wieland denn, die Vahlens würden seinen Alleingang nicht bemerken? Hatte er vor, die Papiere gegen ihren Willen zu behalten?
Wieland machte einen Fehler. Aber vielleicht lag darin Kittels Chance. Irgendwo musste der Doktorand das Manuskript ja aufbewahren. Er würde nicht weit kommen ohne seinen Professor.
»Ich bin sicher, es gibt eine Erklärung dafür, dass Herr Wieland mir das Manuskript noch nicht gezeigt hat«, sagte er beschwichtigend. »Ich werde mich gleich darum kümmern. Bestimmt lässt sich eine Möglichkeit finden, wie wir ihn bei seiner Arbeit unterstützen können.«
Das Feuer (März 1919)
Als Martha erwachte, spürte sie ihr Herz heftig schlagen. Nur langsam konnte sie den Traum, in dem ihr eine riesige Männerhand Mund und Nase zudrückte, von sich abschütteln. Sie zwang sich die Augen zu öffnen. Noch immer war Nacht, aber ein flackerndes, künstlich wirkendes Licht drang durch das Fenster in die Kammer. Beißender Rauch lag in der Luft. Martha tastete nach der Großmutter, die bewegungslos neben ihr lag. Dann griff sie nach der Decke, hielt sie sich vor den Mund und sprang zum Fenster, das sie weit aufstieß.
Im Hof sah sie die Scheune in Flammen stehen. Sie hörte Tiergebrüll aus den Ställen. Über ihrem Kopf knallte es heftig. Die Dachbalken brannten. Hastig atmete sie die kalte Luft ein und lief dann gleich zurück, um ihre Großmutter zu wecken. Sie schüttelte die Alte. Steif rollte der hagere Leib unter ihren Händen hin und her. Martha erschrak. Sie wollte schreien, aber der Rauch war jetzt so dicht, dass sie meinte zu ersticken. Erneut rüttelte sie an den Armen der Großmutter, an ihren Beinen, bis sie endlich zu husten begann.
Martha zerrte Irma mit Mühe hoch und brachte sie, auf ihre Schulter gestützt, nach draußen. Das Krachen und Knistern des Feuers erfüllte die Nacht. Die Funken flogen bis in den Himmel. Martha setzte Irma, die noch immer würgte und hustete, auf der Bank unter der Linde ab. Dann lief sie ihrer Mutter hinterher, die sie in ihrem langen Nachthemd zum Stall hatte rennen sehen. Sie rissen die Türen auf, und die Ziegen stürmten ihnen sofort entgegen. Mit der Kuh ließ Kläre ihre Tochter allein. Das Tier stemmte sich ängstlich und mit verdrehten Augen gegen den Strick, als Martha es durch das brennende Tor ziehen wollte. Sie musste es mit der Forke schlagen, bis es schließlich in einem heftigen Satz über die Schwelle sprang.
Im Hof sah Martha, wie Irma mit wackligen Schritten auf das brennende Haupthaus zuging. Erst in diesem Augenblick begriff sie, dass niemand die Kinder geholt hatte. Heinrich und Hagis mussten noch immer in der Kammer unter der Treppe schlafen. Sie holte ihre Großmutter ein und begann panisch nach den Jungen zu rufen. Aber da sah sie Kläre schon aus dem Eingang treten, über dem der Dachstuhl gefährlich aufloderte.
Später war es, als hätten in diesem Moment alle Geräusche und Bewegungen ausgesetzt. Irma stand reglos neben Martha. Sie hatte aufgehört zu husten. Es war, als gelte alle Aufmerksamkeit der Welt nur der Witwe Kläre, die schwer tragend einige Schritte weiter wankte, bis sie schließlich unendlich langsam in die Knie ging. Im vom Feuer taghell erleuchteten Hof saß sie am Boden. Ihr Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen, und in den Armen hielt sie die leblosen Körper der beiden Kinder.
Konfrontation II (Juni 2007)
Judith hatte ihren Mantel in Wielands Auto liegen lassen. Am Morgen war es noch kühl gewesen. Aber am Nachmittag, auf der Terrasse des Cafés in Arlich, hatte die Luft bereits friedlich summend über der Einkaufspassage gelegen. Und als er in Duisburg den Wagen abschließen wollte, sah er das silbrige Daunensteppteil auf dem Rücksitz liegen, eine abgeschälte Haut, ein Teil von Judith, den sie bei ihm zurückgelassen hatte.
Wieland überlegte, ob er ihr den Mantel schicken sollte. Er könnte ihn auch als Vorwand benutzen, um Judith wiederzusehen. Aber womöglich würde sie sich darüber ärgern. Dabei musste auch ihr klar sein, wie dumm und unnötig ihr Streit gewesen war.
Wie hatte es der Philosophische Gärtner formuliert? »Wenn einer geht, bleibt ein anderer zurück.« Wieland stand in seiner ihm fremdgewordenen Duisburger Wohnung und schämte sich. Er hätte gerne wieder zurückgenommen, was er Judith gesagt hatte. Die Witwe hatte recht. Im Grunde ging es ihn alles nichts an. Das einzige, was Wieland jetzt interessierte, war Judith. Nicht ihre Herkunft, nicht ihre Vergangenheit, sondern sie selbst. Ihre warme Stimme, die tiefen Winkel ihrer Lippen. Er setzte sich auf sein Bett.
Noch immer war er überzeugt, Judith alles erklären zu können. Aber sie hatte ihm keine Chance gelassen, und ihre Reaktion auf seine Worte war so schroff gewesen, dass Wieland zu keinem sinnvollen Argument mehr fähig war.
Er hatte gehofft, sie könnten ihr Vorhaben, das Manuskript zu veröffentlichen, aufgeben. Er hatte sich gewünscht, Judith würde ihm vertrauen, ohne dass er ihr sämtliche Gründe dafür darlegen müsste. Aber nach seiner Konfrontation mit der Witwe hatte er Angst, Hella Vahlen könnte ihre Tochter gegen ihn aufbringen. Und so hatte er sich gezwungen gefühlt, Judith mit zumindest einem Teil der Wahrheit zu konfrontieren.
Sie hatten sich gegenüber gesessen, und Judith hatte etwas schroff die Klarsichthülle mit den Briefen auf den Tisch geworfen.
»Ich will dich nicht beunruhigen«, begann er vorsichtig. »Aber vielleicht sollten wir die Publikation des Manuskripts noch einmal überdenken.«
»Ich wusste, du würdest einen Rückzieher machen«, sagte Judith sofort. »Du hältst mich hin. Seit Wochen hockst du über den Papieren. Was suchst du da eigentlich?«
Wieland war erschrocken über das Ausmaß ihrer Wut. Aber seine Recherchen zum Familienhintergrund waren ihr von Anfang an unnötig erschienen. Für sie musste es ausgesehen haben, als wolle er sie prüfen, als er ihr davon erzählte, dass er das Sehlscheider Kirchenbuch konsultieren wollte.
»Nein, ich will das mit dir machen«, sagte er schnell. »Vielleicht müssen wir es nur anders angehen. Wir müssen uns über einige Risiken klarwerden. Es ist wichtig, dass jemand, der sich auskennt, einen Blick auf das Manuskript wirft. Mein Professor hat großes Interesse an dem Thema. Aber es dauert eben, bis er sich alles angesehen hat.«
»Du lügst.« Judiths Gesicht war verzerrt. Seine Worte hatten alles nur schlimmer gemacht. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten, denn jetzt graute ihm vor dem, was sie als nächstes sagen würde.
»Ich habe gerade mit deinem Professor gesprochen«, fuhr Judith fort. »Er sagt, er hätte das Manuskript nie gesehen.«
Sie war also tatsächlich bei Kittel gewesen. Vielleicht war der Professor sogar zu ihr gekommen. Wieland malte sich aus, wie Judith mit Kittel über ihn sprach. Er sah die beiden über ihn lachen. Kittel mit seinem geistvollen Professorengesicht, dem schlohweißen Haar. Judith, wie sie ihm die Hand auf den Arm legte. Einen Moment lang glaubte Wieland, den Kopf zu verlieren. Aber dann fiel es ihm doch überraschend leicht, Ruhe zu bewahren.
»Hat er das gesagt? Wahrscheinlich deshalb, weil ich ihm das Versprechen abgenommen habe, niemandem davon zu erzählen«, behauptete er kühn.
»Das glaube ich dir nicht. Was hast du eigentlich vor, Wieland?«
»Und du? Warum läufst du hinter meinem Rücken zu meinem Doktorvater?« Er sah ihr in die Augen. »Das Manuskript liegt zur Verwahrung im Institut. Falls Kittel dir etwas anderes erzählt hat, dann tut es mir leid. Ich habe mit den Verlagsleuten gesprochen. Die sind begeistert von der Geschichte. Sie warten nur auf ein Zeichen von uns. Wenn du noch zur Veröffentlichung entschlossen bist, bin ich es auch. Du kannst mir vertrauen.« Wieder machte er eine Pause. Sicher mehr als ich dir vertrauen kann. »Aber eben deshalb müssen wir miteinander reden.«
»Was für ein Quatsch«, sagte Judith. Wieland wusste nicht, ob sie ihm glaubte oder ob sie beschlossen hatte, ihn nicht mehr ernst zu nehmen. »Willst du mir erzählen, dass mein Vater fremdgegangen ist?«, fragte Judith. »Das ist für mich kein Geheimnis. Habe ich irgendwo einen Bruder, von dem ich nichts weiß? Eine Schwester? Beides? Ich würde mich freuen, ehrlich. Wenigstens wäre ich dann nicht mehr allein auf der Welt.«
»Ich weiß nicht, ob du irgendwo Geschwister hast«, sagte Wieland und bemühte sich, ebenfalls belustigt zu klingen, auch wenn ihm Judiths Bemerkung einen Stich versetzte. »Vielleicht ist das nicht einmal unwahrscheinlich. Aber mir geht es um etwas anderes.«
»Sag schon.«
»Mein Vater hat meine Mutter auch betrogen. Aber ich wünschte, ich hätte es nicht herausgefunden. Mir wäre es lieber gewesen, er wäre einfach gegangen.«
»Kann sein«, sagte Judith.
Die Leute am Nebentisch schauten zu ihnen herüber. Wieland sprach leise weiter: »In einem Roman oder in einer Fernsehserie wirken Betrug, Verlust, Verrat oder Inzest abenteuerlich. Aber in der Realität sind sie einfach nur gefährlich.«
»Was willst du damit sagen?«
»Sieh dir alles genau an«, antwortete er. »Die Geschichte der Alten in Villa Westerwald und die Geschichte von Maria von Moselbach im Manuskript. Die Auswanderung von Hasso Boll in der Serie und die deines Großvaters nach Amerika. Hertha von Moselbach und deine Mutter. Da sind überraschend viele Parallelen.«
»Das ist mir bekannt.«
»Was ich sagen will: Es könnte sein, dass auch deine Mutter fremdgegangen ist.«
»Ach ja?« Judith wirkte plötzlich empfindlich, aber noch immer skeptisch, und Wieland glaubte, ihr beweisen zu müssen, dass es sich nicht um ein Spiel handelte. »Es könnte sogar sein, dass dein Vater gar nicht dein wirklicher Vater war«, fuhr er fort.
»Im Manuskript oder in der Realität?« Judith wurde laut.
»In der Realität«, antwortete er mutig.
»Du bist ja verrückt«, sagte Judith leise. Dann stand sie auf und ging.
Er sah ihr hinterher, während sie zwischen den Cafétischen hindurchlief, blass und mit ausdrucksloser Miene. Wie immer zog sie alle Blicke auf sich. Über die Terrasse ging sie am Ufer entlang, bevor sie in eine der Straßen Richtung Innenstadt abbog. Die Ahnung eines langen, heißen Sommers, der endlich zu beginnen schien, lag in der Luft. Judith hatte ihn verlassen.
Wieland griff nach ihrem Mantel, ließ sich auf sein Bett fallen und vergrub die Nase in das glänzende Material. Er roch Judiths Parfüm, ihr Shampoo, ihre Haut. Der Stoff fühlte sich weich und warm an. Es war kühl in der seit Wochen unbewohnten Wohnung. Wieland zog den Mantel über. Die oberen Knöpfe konnte er schließen, aber schon an der Brust wurde es zu eng. Wie ein Umhang stand das Kleidungsstück von seinem Rücken ab. Lange betrachtete er sich im Spiegel seiner Schranktür. Er wirkte scheu und verhohlen auf sich, wie ein alter Bekannter, den er vor Jahren zuletzt gesehen hatte und der nicht mehr derselbe war.