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Am folgenden Tag sah Wrath zum ersten Mal nach dreihundertdreißig Jahren seine Mutter.

Insgeheim war ihm bewusst, dass es nur ein Traum sein konnte. Er war zu lange blind gewesen, um sich zu der Hoffnung verleiten zu lassen, daran könnte sich etwas geändert haben.

Außerdem, hallo, sie war seit Jahrhunderten tot.

Und doch wirkte sie quietschlebendig, als sie aus der Dunkelheit trat. Sie bewegte sich mit Leichtigkeit und trug ein altmodisches rotes Samtkleid.

»Mahmen?«, staunte er.

Als er den Kopf hob, bemerkte er voll Schrecken, dass er ihn vom Kissen hob. Und Scheiße, das hier war sein Zimmer – er erkannte es an den glitzernden Wänden.

Sein erster Impuls war, sich umzudrehen nach …

Beth lag neben ihm, gesund und wohlbehalten unter der Decke, das Gesicht ihm zugewandt und ihr dunkles Haar ausgebreitet über das Kissen. Ihr Bauch war rund, sie war noch immer schwanger …

Gütige Jungfrau, er konnte sie sehen.

»Beth«, sagte er rau. »Beth! Ich sehe dich, Lielan, wach aufichsehdich, ichsehdich …«

»Wrath.«

Er drehte sich nach seiner Mahmen um. Sie stand jetzt direkt neben dem Bett, hatte die Arme verschränkt und die Hände in die weiten Ärmel ihres Kleides gesteckt.

»Mahmen?«

»Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, aber du bist vor langer Zeit einmal zu mir gekommen.«

Himmel, ihre Stimme war so sanft wie in seiner Erinnerung. Beinahe hätte er die Augen geschlossen, um sich ganz darauf zu konzentrieren. Doch er würde sich keine Nanosekunde Sehkraft entgehen lassen.

Moment, was hatte sie gesagt? »Ach, wirklich?«

»Ich lag im Sterben. Du bist mitten aus dem Schleier zu mir gekommen. Du hast mich aufgefordert, dir nach Hause zu folgen. Du hast mich aufgehalten und mitgenommen.«

»Ich erinnere mich nicht …«

»Es ist eine Schuld, die ich lange Zeit nicht wettmachen konnte …« Ihr Lächeln war so friedvoll wie das der Mona Lisa. »Jetzt kann ich mich revanchieren. Denn ich liebe dich so sehr …«

»Wettmachen? Wovon redest du?«

»Wach auf, Wrath, wach auf. Jetzt.« Auf einmal änderte sich ihr Ton und wurde dringlich. »Ruf den Heiler – du musst den Heiler rufen, wenn du ihr Leben retten willst.«

»Sie retten – Beth das Leben retten?«

»Wach auf, Wrath. Ruf den Heiler. Jetzt.«

»Wovon redest du …«

»Wrath, wach auf.«

Wrath fuhr mit einem Ruck hoch, als hätte man ihn aus der REM-Phase katapultiert. »Beth!«, schrie er.

»Wa-wa-wa-was?«

Als er sich nach seiner Frau umdrehte, verfluchte er die Schwärze, die ihn umgab. Was für ein gemeiner Traum, der ihm vorgegaukelt hatte, er könnte wieder sehen.

»Was ist?«, schrie Beth.

»Scheiße, tut mir leid. Tut mir echt leid.« Wrath streckte die Hand nach ihr aus und beruhigte sie, beruhigte sich selbst. »Entschuldige, ich hatte einen total verrückten Traum.«

»Mann, hast du mich erschreckt!« Sie lachte, und er hörte, wie sie auf das Kissen plumpste, als hätte sie sich fallen lassen. »Zum Glück haben wir Licht im Bad an.«

Stirnrunzelnd drehte er sich auf die Seite, wo seine Mutter gestanden hatte. »Nein, sie war nicht wirklich hier.«

»Wer?«

»Entschuldige.« Er ließ den Nacken krachen und stellte ein Bein aus dem Bett. »Bin gleich zurück.«

Er streckte sich ausgiebig, und als seine Wirbelsäule hörbar knackte, dachte er zufrieden an seine Unterhaltung mit Payne, nachdem er heimgekommen war. Sie würden ihre Sparringsessions wieder aufnehmen. Aber nicht, weil sie eine Frau war.

Sie machten es, weil sie eine verdammt gute Kämpferin war und er wieder einsteigen wollte.

Im Bad tätschelte er George, der in seinem Hundebett lag, einem Weihnachtsgeschenk von Butch – dann ging er aufs Klo und wusch sich das Gesicht.

Zurück im Bett wollte er eigentlich wieder schlafen, doch als er flach dalag, zog er die Stirn kraus. »Äh, hör zu … fühlst du dich gut?«

Beth gähnte. »Ja, absolut. Aber ich bin froh, dass ich früher heimgegangen bin – der Schlaf hat mir gutgetan. Und Liegen fühlt sich besser an. Mein Rücken ist immer noch steif von diesem Marathoneinkauf.«

Wrath bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall: »Wann ist dein nächster Kontrolltermin?«

»Am Freitag. Ich gehe jetzt wöchentlich. Warum?«

»Nur so.«

Als er verstummte, rollte sie sich ein, kuschelte sich an ihn und seufzte, als wollte sie in dieser Stellung bleiben. Er hielt es ungefähr eine Minute aus.

»Was meinst du, sollen wir Dr. Sam anrufen?«

»Anrufen? Du meinst … jetzt?«

»Ja, warum nicht.«

Er spürte, wie sie sich von ihm löste. »Aber aus welchem Grund?«

Schwierig. Vermutlich schied Weil’s meine tote Mama sagt aus. »Keine Ahnung. Sie könnte doch mal nachsehen, ob alles in Ordnung ist oder so.«

»Wrath, das können wir nicht bringen. Schon gar nicht, weil da nichts ist.« Sie spielte mit seinem Haar. »Ist es wegen des Zivilisten? Der, der Frau und Kind verloren hat?«

»Sie sind nicht bei der Geburt gestorben.«

»Oh. Ich dachte …«

»Vielleicht rufen wir sie einfach an.«

»Aber es gibt keinen Anlass.«

»Wie lautet ihre Nummer?« Er langte nach dem Telefon. »Ich rufe sie an.«

»Wrath, hast du den Verstand verloren?«

Scheiß drauf, er würde einfach die Auskunft anrufen.

Beth redete auf ihn ein, während er auf die Vermittlung wartete. »Ja, hallo, in Caldwell, New York. Die Nummer von Dr. Sam – wie heißt sie mit Nachnamen?«

»Du spinnst.«

»Ich bezahle den Besuch – nein, nicht Sie.« Als ihm der Name wieder einfiel, nannte er ihn und buchstabierte ihn zweimal. »Ja, verbinden Sie mich mit der Praxis, danke.«

»Wrath, das ist …«

Doch als er durchgestellt wurde, verstummte Beth. »Beth?«, fragte er.

»Entschuldige, mein Rücken hat gezwickt. Weißt du was? Beim nächsten Mal trage ich Turnschuhe, wenn ich so viel laufe. Würdest du jetzt bitte auflegen und …«

»Hallo? Wir haben hier einen Notfall. Dr. Sam muss zu uns nach Hause kommen, meine Frau ist Patientin bei ihr … sechsunddreißigste Woche … Symptome? Meine Frau ist schwanger, wie viel Zeit haben Sie?«

»Wrath?«, sagte Beth leise.

»Was soll das heißen, Sie können nicht …«

»Wrath.«

Er verstummte – und wusste, dass seine Mutter recht gehabt hatte. Er wandte sich seiner Shellan zu und fragte angstvoll: »Was?«

»Ich blute.«

Die Angst bekam eine neue Dimension, wenn man nicht nur um das eigene Wohl besorgt war. Und nichts drehte sich weniger um das eigene Wohl, als wenn ein plötzlicher nasser Schwall in der sechsunddreißigsten Schwangerschaftswoche abging – ein Schwall, der kein Fruchtwasser war.

Erst dachte Beth, sie hätte die Kontrolle über ihre Blase verloren, aber als sie die Decke zur Seite schlug und nach oben rutschte, sah sie etwas auf dem Laken.

Sie hatte noch nie so leuchtendes Blut gesehen.

Und Scheiße, ihr Rücken tat auf einmal höllisch weh.

»Was ist los?«, fragte Wrath.

»Ich blute«, wiederholte sie.

Von diesem Moment an ging alles sehr schnell. Es war fast wie hinten in einem rasenden Auto zu sitzen: Alles flog an einem vorüber, bevor man es erkennen konnte. Wrath schrie ins Telefon, dann wählte er eine neue Nummer, Doc Jane und V kamen angerannt. Und immer mehr Tumult entstand um sie herum, immer schneller drehte sich das Karussell, während Beth sich sonderbar reglos und gedämpft fühlte.

Als man sie auf die Transportliege hob, blickte sie zurück zum Bett und erschauderte beim Anblick des grell leuchtenden Flecks. Er war riesig, als hätte jemand einen Eimer Farbe ausgekippt.

»Was wird aus meinem Kind?«, murmelte sie und versank in einem dämmrigen Schockzustand. »Was wird aus dem kleinen Wrath? Was …?«

Sie bekam Mitgefühl, aber keine richtige Antwort.

Doch Wrath, der große Wrath, blieb ganz dicht bei ihr und hielt ihre Hand, während er sich am Rand der Transportliege orientierte.

Im ersten Stock gesellte sich John zu ihnen. Er trug nichts als Boxershorts, sein Haar stand in alle Richtungen ab, und sein Blick war voller Sorge. Er nahm ihre andere Hand.

Beth erinnerte sich nicht an viel von dem übereilten Transport hinunter in den Tunnel – nur daran, dass der Schmerz immer schlimmer wurde. Die Lichter an der Decke peitschten vorbei, und das rhythmische Pulsieren erinnerte an Star Wars, kurz bevor man Lichtgeschwindigkeit erreichte.

Warum hörte sie nichts mehr?

Die Leute um sie herum bewegten die Münder und wechselten dringliche Blicke über ihre Liege hinweg.

»Was ist mit dem kleinen Wrath?« Selbst ihre eigene Stimme war kaum hörbar, als hätte man sie leise gedreht. Beth versuchte, lauter zu sprechen. »Wird ihm auch nichts geschehen?«

Da rauschten sie am Eingang zum Trainingszentrum vorbei und weiter den Flur entlang zu einem neuen Notausgang, der eigens für sie und diesen Anlass geschaffen worden war.

Doch das hier war nicht der vorgesehene Ablauf. Sie sollte in der Menschenwelt entbinden, bei Ärzten, die sich um sie und den kleinen Wrath kümmern konnten, die ihn auf mögliche Probleme untersuchten, die für sie und iAm da waren, wenn Tag war, oder für den großen Wrath und John bei Nacht.

Kleiner Wrath.

Wie es aussah, hatte sie ihren Sohn soeben getauft.

Als sie in der Klinik ankamen, konnte sie nichts anderes denken, als dass es so nicht geplant war. Zumal sie jetzt zu der riesigen OP-Leuchte im Hauptoperationssaal aufsah.

Aus irgendeinem Grund dachte sie an die unzähligen Male, die sie hier runtergekommen war, um einem Bruder beizustehen, der verletzt aus dem Einsatz heimgekehrt war, oder um nach Layla zu sehen, oder …

Doc Jane erschien vor ihrem Gesicht. Ihre Lippen bewegten sich langsam.

»…eth? Hörst du mich, Beth?«

Ah, gut, jemand hatte die Lautstärke wieder aufgedreht.

Aber ihre Antwort kam nicht an. Sie hörte ihre eigene Stimme nicht.

»Okay, gut.« Doc Jane sprach überdeutlich. »Ich möchte einen Ultraschall machen, um eine Placenta praevia auszuschließen – dass der Mutterkuchen nicht vor dem Geburtskanal liegt. Aber ich fürchte, du hast eine vorzeitige Plazentalösung.«

»Was … das?«, murmelte Beth.

»Hast du Schmerzen?«

»Rücken.«

Doc Jane nickte und legte die Hände auf den Bauch von Beth. »Wenn ich hier drücke …«

Beth stöhnte. »Pass auf Wrath auf.«

Sie schoben das Ultraschallgerät an ihre Liege, und ihr Nachthemd wurde aufgeschnitten. Als man ihr ein Gel auf den Bauch schmierte und die Lichter dimmte, blickte sie nicht auf den Monitor. Sie sah ihren Mann an.

Das wunderschöne männliche Gesicht war vollkommen verängstigt.

Er trug keine Sonnenbrille. Seine hellen, blinden Augen irrten umher, als versuchte er verzweifelt, etwas zu erkennen, irgendetwas.

»Woher wusstest du?«, flüsterte sie, »… dass etwas nicht stimmt …«

Sein Blick richtete sich in ihre Richtung. »Meine Mutter hat es mir gesagt. Im Traum.«

Aus irgendeinem Grund brachte sie das zum Weinen, und ihr Mann verschwamm in ihrer Sicht. Das hier war die Willkür des Lebens auf seine schlimmste Art. Ihr war alles egal außer dem Baby, aber sie hatte keinerlei Einfluss auf das Geschehen. Ihr Körper und ihr Kind ließen die Würfel rollen.

Ihr Verstand, ihr Wille, ihre Seele? All ihre Träume, Wünsche und Hoffnungen?

Sie alle saßen nicht einmal mit am Tisch.

Das Gesicht von Doc Jane tauchte wieder auf. »…eth? Beth? Bist du noch da?«

Als sie die Hand hob, um sich das Haar aus den Augen zu streichen, sah sie, dass man ihr eine Blutdruckmanschette angelegt und eine Infusionsnadel gelegt hatte. Und das in ihren Augen war kein Haar. Es waren Tränen.

»Beth, der Ultraschall gefällt mir nicht. Die Herztöne von deinem Baby werden schwächer, und du blutest immer noch sehr stark. Wir müssen ihn holen, okay? Ich bin fest davon überzeugt, dass du eine vorzeitige Plazentalösung hast, du schwebst ebenso in Gefahr wie er. Okay?«

Sie konnte nur Wrath ansehen. »Was machen wir?«

Seine Stimme klang so gebrochen, dass man sie kaum verstand. »Lass sie und Manny operieren, okay?«

»In Ordnung.«

Doc Jane erschien in ihrem Gesichtsfeld. »Du bekommst eine Vollnarkose – für eine PDA fehlt uns die Zeit.

»In Ordnung.«

»Ich liebe dich«, sagte sie zu Wrath. »O Gott … das Baby …«