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Nachdem er die Migräne im abgedunkelten Zimmer verbracht hatte, reagierte Trez ziemlich empfindlich auf die Reize der Außenwelt, als würden ihm ein Stroboskop in die Augen blitzen und Lautsprecher an den Ohren kleben. Als er auf den Northway bog und in Richtung Caldwell fuhr, setzte er die Sonnenbrille auf …

Plötzlich schwenkte irgendein Blödmann zwei Spuren rüber und scherte direkt vor ihm ein.

»Pass doch auf, du Penner!«, schrie er die Windschutzscheibe an und drückte auf die Hupe.

Eine Sekunde lang wünschte er, der Kerl in seinem Dodge Charger würde genauso aggressiv reagieren. Er hatte gute Lust, auf etwas einzudreschen. Scheiße, es wäre vermutlich keine schlechte Übung für das bevorstehende Treffen mit s’Ex, doch der Typ mit dem Überschuss an Testosteron und seinem Essiggürkchen von Schwanz fuhr bei der nächsten Ausfahrt runter und schnitt dabei einen Minivan und einen Pickup.

»Arschloch.«

Mit etwas Glück raste er ohne Gurt in den nächsten Graben.

Zehn Minuten später fuhr auch Trez von der Schnellstraße ab und tauchte in ein Labyrinth aus Einbahnstraßen ein. Doch im Angesicht der vielen Ampeln und Stoppschilder blockierte sein Gehirn.

Als es hinter ihm hupte, biss er die Zähne zusammen und trat aufs Gas. Letztlich war er gezwungen, sich per Sichtkontakt an dem über zwanzig Stock hohen Gebäude zu orientieren und sich stückweise zu nähern, bis er endlich davorstand und die Einfahrt zur Parkgarage gefunden hatte. Auf der Rampe holte er die Karte von der Sonnenblende, zog sie durch den Schlitz an der Schranke und hielt schließlich auf einem der zwei für sie reservierten Parkplätze.

Es dauerte fünfzig Jahre, bis ihn der Lift nach oben gebracht hatte und er über Teppichläufer zu der Wohnung lief, die ein Stück weiter hinten lag. Schließlich stand er vor der Wohnungstür, nicht dem Lieferanteneingang, und sperrte mit dem Kupferschlüssel auf.

In der Küche standen zwei Tassen auf dem Tresen, eine offene Tüte Cape Cod Chips lag daneben, und die Kaffeekanne war halb voll.

Trez warf einen Blick in das aufgeschlagene GQ-Magazin. Er hatte es schon gelesen. »Hübsche Jacke«, murmelte er und klappte es zu.

Es gab keinen Anlass, die Lampen angehen zu lassen. Es war ein heller, sonniger Tag, und durch die Fenster drang jede Menge Licht …

Die hoch aufragende schwarze Gestalt, die sich auf der Terrasse materialisierte, sah wirklich aus wie der Schnitter persönlich.

Trez öffnete die Terrassentür von Hand, trat ins Freie und schloss sie hinter sich.

Die Stimme von s’Ex klang leicht amüsiert, als sie unter der Scharfrichterhaube hervordrang. »Dein Bruder hat mich hereingebeten.«

»Ich bin nicht mein Bruder.«

»Ja, das haben wir gemerkt.« Als der Vollstrecker der Königin die Arme vor der Brust verschränkte, zeichneten sich die anschwellenden Unterarme unter den Falten des Stoffes ab. »Welchem Umstand verdankst du die Ehre meines Besuchs?«

Die eisige Kälte auf der Terrasse passte irgendwie zur Situation. »Ich will, dass du die Finger von meinen Eltern lässt.«

»Dann komm zurück. Ganz einfach.« Der Scharfrichter beugte sich auf ihn zu. »Erzähl mir nicht, du hast mich den ganzen Weg hierherkommen lassen, weil du glaubst, du könntest verhandeln. So bescheuert kannst du nicht sein.«

Trez bleckte die Fänge, doch dann riss er sich zusammen. »Es gibt etwas, das du willst. Jeder ist käuflich.«

Der Henker langte nach seiner Haube und zog sie sich langsam vom Kopf. Das Gesicht hinter dem schwarzen Stoff war schön wie die Sünde … und seine Augen so warm wie ein Granitblock im Winter.

»Warum sollte ich mein Leben für deine Eltern aufs Spiel setzen? Es hat Konsequenzen, wenn ich Befehle verweigere – und ihr seid sie nicht wert.«

»Du kannst mit der Königin reden. Sie hört auf dich.«

»Selbst wenn es so wäre – was ich nicht behaupte –, warum sollte ich das für dich tun?«

»Weil es etwas gibt, das du willst.«

»Da du ja alles zu wissen scheinst, kannst du mir sicher verraten, was das sein soll«, sagte der Henker gelangweilt.

»Du bist dort genauso gefangen wie alle anderen. Ich weiß, wie das ist – und ich versichere dir: Das Leben auf dieser Seite der Mauern ist so viel besser.«

»Siehst du deswegen so scheiße aus?«

»Denk darüber nach. Hier draußen kann ich dir alles besorgen. Alles.«

Die Augen des Scharfrichters wurden schmal. »Dich wird es nicht retten, wenn wir sie schonen.«

»Aber indem ihr sie umbringt, bekommt ihr mich nicht zurück. Und das ist doch der Zweck der Übung, oder? Also geh zur Königin, und sag ihr, dass du mit mir gesprochen hast – und dass es mir egal ist, ob du meine Eltern tötest. Dann schlag ihr vor, ihnen alles zu nehmen, was sie für mich bekommen haben – ihr Haus, den Schmuck, die Kleider, alles, was sie sich von dem Erlös geleistet haben, die Vorräte in ihren Schränken. Damit ist die Königin entschädigt. Dann ist nichts verloren, nichts verschenkt …«

»Blödsinn. Eine Rückerstattung ändert nichts daran, dass die Prinzessin keinen Gefährten hat.«

»Ich werde nicht ihr Gefährte. Ich sage es zum letzten Mal: Ihr könnt meine Eltern umbringen, ihr könnt mir wehtun, ihr könnt meine Wohnung in Schutt und Asche legen …«

»Und wenn ich dich einfach jetzt mitnehme?«

Trez zog die Waffe, die er hinten in den Hosenbund gesteckt hatte. Doch er zielte nicht auf s’Ex. Er drückte sie sich selbst von unten gegen das Kinn.

»Versuch’s, dann hast du eine Leiche. Und wenn die Prinzessin keine vollkommen kranke Schlampe ist, wird sie mich dann auch nicht mehr wollen.«

s’Ex erstarrte. »Bist du völlig übergeschnappt?«

»Was du willst, s’Ex, du bekommst es. Du regelst meine Angelegenheit, ich sorge für dich.«

Während der Scharfrichter über das Angebot nachsann, atmete Trez ruhig durch und dachte an die einzigen beiden Personen, die ihm etwas bedeuteten. Selena … lieber Himmel, er wollte sie, aber er war kein Umgang für eine Auserwählte. Selbst wenn dieser gewagte Deal funktionierte, blieb er ein Zuhälter, und seine Vergangenheit konnte er auch nicht ändern.

Der zweite war iAm.

Die Vorstellung, seinen Bruder zu verlieren, war … er konnte nicht einmal daran denken. Aber wenn er dieses Problem nicht in den Griff bekam, wäre iAm ohne ihn besser dran.

»Es überrascht mich, dass dir so viel an deinen Eltern liegt«, sagte s’Ex unvermutet.

»Machst du Witze? Ihr Vermögen zu verlieren ist für sie schlimmer als der Tod. Mit dem Verkauf haben sie mein Leben zerstört und das von meinem Bruder gleich dazu. Auf diese Weise kann ich mich rächen. Und wie gesagt: Ich komme ohnehin nicht zurück, egal was du mit ihnen anstellst.«

Der Scharfrichter lief bis ans Ende der Terrasse und stieß dabei Atemwölkchen aus wie ein Feuer speiender Drache, während die Robe unheilvoll um seine Füße wallte.

Nach einer Weile verschränkte er die Hände hinter dem Rücken und kam zurück.

Es dauerte einige Zeit, bis er sprach, und dabei sah er Trez nicht an, sondern blickte auf die Scheiben der Fenster.

»Mir gefällt dieses Plätzchen.«

Trez nahm die Waffe nicht vom Kinn, aber etwas keimte in ihm auf. Nicht Hoffnung, das klang zu positiv, aber vielleicht gab es ja doch einen Ausweg.

s’Ex hob eine Braue. »Drei Schlafzimmer, zwei große Bäder, ein kleines, eine ansehnliche Küche. Hell. Aber das Beste sind die Betten – diese großen Betten, die da drin stehen.«

»Wenn du sie willst, gehört sie dir.«

Als s’Ex ihn das nächste Mal ansah, kam Trez unwillkürlich das Wort »Teufelspakt« in den Sinn.

»Aber eines fehlt.«

»Was denn?«

»Frauen. Ich will, dass man mir Frauen bringt. Ich sage dir, wann. Und ich will drei bis vier auf einmal.«

»Gebongt. Sag mir Anzahl und Uhrzeit – ich bringe sie dir.«

»So von dir überzeugt.«

»Was glaubst du denn, womit ich mein Geld verdiene?«

s’Ex Augen loderten. »Ich dachte, du wärst Clubbetreiber.«

»Ich verkaufe nicht nur Spirituosen«, murmelte er.

»Was für ein Job.« Der Henker runzelte die Stirn. »Aber sei auf alles gefasst: Sie befiehlt mir vielleicht, dass ich mir deinen Bruder vorknöpfe.«

»Dann muss ich dich töten.«

s’Ex warf den Kopf zurück und lachte. »Ganz schön mutig.«

»Das ist kein Witz. Wenn du iAm auch nur ein Haar krümmst, mach ich dich kalt. Ich raube dir den letzten Atemzug, ich reiße dir das Herz aus der Brust, solange es noch warm ist, und verspeise es roh.«

»Weißt du, es ist wirklich erstaunlich, dass wir nicht besser miteinander klarkommen.«

Trez streckte ihm die freie Hand entgegen. »Sind wir uns einig?«

»Du vergisst die Königin. Vielleicht kann ich sie nicht umstimmen. Und wenn sie sich nicht darauf einlässt, ist deine Frist bereits verstrichen.«

»Dann töte meine Eltern.« Trez sah s’Ex fest in die Augen. »Ich meine es ernst.«

Der Henker neigte den Kopf, als würde er die Angelegenheit von allen Seiten betrachten. »Ja, das scheinst du wirklich zu tun. Bring mir morgen eine Kostprobe hierher – und ich sehe, was ich im Territorium ausrichten kann.«

Bevor s’Ex verschwand, schlug er kurz ein. Und dann war er fort wie ein Albtraum, der sich mit dem Erwachen verflüchtigt.

Leider wusste Trez, dass er zurückkommen würde.

Die Frage war, mit welchen Neuigkeiten. Und wie es um seinen Appetit bestellt sein würde.