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Alleine zu leben und von seinem verbleibenden Elternteil enterbt worden zu sein, hatte auch seine Vorteile: Wenn man den ganzen Tag nicht heimkam, raufte sich niemand die Haare vor Sorge, ob man vielleicht verstorben war.

Was einem das an Telefonaten ersparte, dachte Saxton, während er so vor der Flügeltür zum königlichen Arbeitszimmer saß.

Er verlagerte seine Position auf der mit Schnitzereien verzierten Sitzbank und blickte über das vergoldete Geländer. Stille. Nicht einmal putzende Doggen waren unterwegs. Andererseits spürte er auch, dass in diesem Haus etwas Gewichtiges vorging. Es lag zentnerschwer in der Luft, und obwohl er wenig Erfahrung mit Frauen hatte, wusste er, was es war.

Jemand war in der Triebigkeit.

Diesmal war es natürlich nicht die Auserwählte Layla. Aber er hatte gehört, dass eine triebige Vampirin ansteckend auf andere wirken konnte, und dieser Fall war offensichtlich eingetreten.

Gütiger Himmel, hoffentlich hatte es nicht Beth erwischt, dachte er und rieb sich die müden Augen.

Sie mussten einige Dinge regeln, bevor sie …

»Hast du eine Ahnung, wo er steckt?«

Saxton blickte erneut über das Geländer. Rehvenge, dem Leahdyre des Rats, war es gelungen, die Freitreppe zur Hälfte zu erklimmen, ohne sich zu verraten.

Offensichtlich war aber noch etwas anderes vorgefallen: Wie immer wirkte der Kerl mit dem langen Nerz und dem roten Gehstock Furcht einflößend, doch heute verkündete sein Blick Tod und Verderben.

Saxton zuckte mit der Achsel. »Ich warte selbst auf ihn.«

Rehv kam in den ersten Stock und ging zur Tür des Arbeitszimmers, um sich selbst davon zu überzeugen, dass keiner da war. Dann runzelte er die Stirn, vollführte eine Drehung auf seinem Louis-Vuitton-Schuh und sah zur Decke auf – während er mit einer diskreten Bewegung in der Hose alles neu arrangierte.

Dann erblasste er. »Ist es Beth?«

Er musste dieses »es« nicht näher definieren. »Ich glaube, ja.«

»Scheiße.« Der Leahdyre setzte sich auf die gegenüberstehende Bank, und da bemerkte Saxton die lange, dünne Papprolle in seiner Hand. »Das wird immer besser.«

»Sie haben es getan«, flüsterte Saxton. »Habe ich recht?«

Rehv riss den Kopf herum und sah ihn mit amethystfarbenen Augen an. »Woher weißt du das?«

Hasst du mich?

Ja. Ich hasse dich.

Saxton wandte den Blick ab. »Ich habe versucht, den König zu warnen. Aber … er wollte sich um seine Shellan kümmern.«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

»Mein Vater hat mich zum Geburtstag in sein Haus zitiert. Dort konnte ich alles in Erfahrung bringen.« Saxton zückte sein Handy und scrollte für Rehv durch die Fotos. »Diese Bilder habe ich heimlich aufgenommen. Es sind Bücher des Alten Gesetzes, aufgeschlagen bei Passagen, die die Erbfolge betreffen. Wie gesagt, ich wollte Wrath gestern Abend darauf ansprechen.«

»Das hätte auch nichts mehr geändert.« Rehv strich sich über den kurzen Irokesenschnitt. »Die Sache war bereits ins Rollen …«

Gleich gegenüber, am Anfang des Ganges mit den Statuen, ging die Tür zur Treppe in den zweiten Stock auf. Und was da rauskam, war …

»Heilige Scheiße.« Rehv schüttelte ungläubig den Kopf. »Jetzt wissen wir, was uns bei der Zombie-Apokalypse bevorsteht.«

Der Albtraum, der da mit halb geschlossenen Lidern auf wackligen Beinen heraustorkelte, erinnerte nur noch entfernt an den König – die lange Mähne, noch nass vom Duschen, ging immer noch von einem spitzen Haaransatz aus, die Panoramasonnenbrille saß am rechten Fleck, und ja, das schwarze Shirt und die lederne Hose waren sein Markenzeichen. Aber alles andere stimmte nicht mehr. Wrath hatte so viel an Gewicht verloren, dass die Hose um seine Beine schlackerte und der Bund auf seinen Schenkeln saß, selbst das eigentlich hautenge Shirt wölbte sich über der Brust. Um sein Gesicht stand es nicht besser. Die Haut zog sich wie Vakuumfolie über die hohen Wangenknochen und das markige Kinn – und sein Hals … gütige Jungfrau der Schrift, sein Hals!

Sein Hals war derart zerbissen und zerfetzt, dass er aussah wie ein Statist aus dem Texas Chainsaw Massacre.

Und doch schwebte der Kerl wie auf einer Wolke dahin. Eine sanfte Brise wehte wie ein Sommerhauch vorweg, und eine Aura von Zufriedenheit und Glück umgab ihn wie eine Blase.

Es war ein Jammer, das zu zerstören.

Wrath erkannte die Wartenden sofort. Er blieb stehen und drehte den Kopf von einer Seite auf die andere, als würde er in ihren Gesichtern lesen. Stattdessen erforschte er ihre Ausstrahlung, dessen war sich Saxton sicher.

»Was ist los?«

Verdammt, seine Stimme klang heiser, sie war kaum mehr als ein Flüstern. Doch es steckte Kraft dahinter.

»Wir müssen reden.« Rehv schlug die Papprolle in die hohle Hand wie einen Baseballschläger. »Jetzt.«

Wrath antwortete mit einem Erguss von Flüchen. Dann presste er hervor: »Scheiße, hat das eine Stunde Zeit, damit ich meiner Shellan nach ihrer Triebigkeit zu essen geben kann?«

»Nein. Und wir brauchen die Bruderschaft. Alle.« Rehv erhob sich mithilfe seines Gehstocks. »Die Glymera hat dich abgesetzt, mein Freund. Wir müssen unverzüglich darauf reagieren.«

Eine ganze Weile blieb Wrath reglos stehen. »Mit welcher Begründung?«

»Deine Königin.«

Das ohnehin schon blasse Gesicht verlor das letzte bisschen Farbe.

»Fritz!«, rief der König aus vollem Hals.

Der Butler materialisierte sich aus dem Salon im ersten Stock, als wartete er schon seit Stunden auf diesen Ruf.

»Wie kann ich dienen, Euer Hoheit?«

Wrath klang zu Tode erschöpft, als er leise sprach: »Beth braucht etwas zu essen. Bring ihr alles, was sie will. Ich habe sie in die Wanne gesetzt. Bitte sieh nach ihr. Sie war erschöpft, und ich will nicht, dass sie einschläft und ertrinkt.«

Fritz verbeugte sich so tief, dass seine hängenden Wangen fast den Teppich streiften. »Sehr wohl. Wird sofort erledigt.«

Als der Doggen davoneilte, rief Wrath ihm hinterher: »Und führ meinen Hund aus, ja? Und bring ihn dann in mein Büro.«

»Selbstverständlich, Sire. Mit Vergnügen.«

Wrath wandte sich nach der offenen Flügeltür um, die in sein Arbeitszimmer führte, und stand davor wie vor dem Galgen. »Rehv, ruf die Bruderschaft zusammen.«

»In Ordnung. Saxton muss auch dabei sein. Wir brauchen einen Sachverständigen, der die Legitimität des Ganzen beurteilen kann.«

Wrath antwortete nicht. Er ging einfach in den blassblauen Raum, ein lebendiger Schatten inmitten des verschnörkelten französischen Mobiliars.

In diesem Moment sah Saxton das Gewicht, das auf den Schultern des Königs lastete, und spürte die glühende Kohle unter seinen Füßen, während sich eine aussichtslose Situation vor ihm auftat. Wrath war der Bug am Schiff der Spezies … also rammte er die Eisberge als Erster.

Das Ganze war so undankbar. Die Stunden, die Wrath am Schreibtisch seines Vaters verbracht hatte, gebeugt über Dokumente, eine nicht enden wollende Abfolge aus Anfragen, vorbereitet von anderen, vorgelegt durch Saxton, entschieden von Wrath und wieder zurückgesandt in die Welt.

Ein ewiger Strom zehrender Bedürfnisse.

Saxton stand auf und strich seinen Anzug glatt. Er trug ihn seit dem Besuch bei seinem Vater, bei dem er die Wahrheit zu spät erkannt hatte.

Was kam als Nächstes? Er stand auf der Seite von Wrath – und das nicht nur weil er sich mit seinem Vater entzweit hatte.

Er wusste nur zu gut, wie es war, wenn man in eine Schablone gepresst wurde, in die man nicht passte – und dann Hiebe kassierte, weil man der Konvention nicht entsprach.

Er und Wrath waren Leidensgenossen.

Wie tragisch.

Schweigend und mit schwerem Herzen lief Sola durch das Haus, das sie mit ihrer Großmutter geteilt hatte. Sie ging von Raum zu Raum und sah alles und doch nichts.

»Ich kann eine Umzugsfirma damit beauftragen«, bot Assail leise an.

Sie blieb in der Küche vor dem kleinen runden Tisch stehen und sah aus dem Fenster. Obwohl draußen kein Licht brannte, sah sie die Veranda hinter dem Haus, sah sie schneebedeckt vor sich. Sah ihn da draußen in der Kälte stehen.

Wie frustrierend. Sie war mit einigen zusammengefalteten Umzugskartons angerückt, um ein bisschen was von ihrer persönlichen Habe einzupacken – nicht um über diesen Mann nachzugrübeln. Aber während sie Schränke öffnete und Schätzungen anstellte, wie viel zusammengeknüllte Zeitung notwendig sein würde, drehten sich all ihre Gedanken um ihn: Nicht um das Haus, das sie verließ, nicht um die Dinge, von denen sie sich trennen musste, nicht um die Jahre, die vergangen waren seit jenem Tag im Herbst, als sie mit ihrer Großmutter hierhergekommen war und sie entschieden hatten, ja, dieses Haus wurde ihren Bedürfnissen gerecht.

Viel Zeit war vergangen.

Und doch konnte sie nur an diesen Mann denken, der da hinter ihr stand.

»Marisol?«

Sie blickte über die Schulter. »Entschuldigung?«

»Ich habe gefragt, wo du anfangen möchtest.«

»Ähm, oben, denke ich.«

Sie ging ins Wohnzimmer, nahm ein paar der flachen Kartons, steckte sich mehrere Rollen Klebeband auf den Arm und ging nach oben. Auf dem oberen Treppenabsatz entschied sie sich für ihr Zimmer.

Es dauerte einen Moment, die Kisten aufzustellen. Das Klebeband löste sich mit dem Geräusch von reißendem Stoff von der Rolle, mit den Zähnen trennte sie Stücke ab, bis die Kartons stabil genug waren, um befüllt zu werden.

Ihre Großmutter hatte so lange für Sola gewaschen, dass sie ihre Lieblingsstücke kannte und diese bereits zu Assail mitgenommen hatte. Was noch in der Kommode lag, war Ersatzwäsche, die sie, ohne sie groß zu falten, in den Karton warf: eine Yogahose, die so oft gewaschen war, dass sie dunkelgrau und nicht mehr schwarz aussah, Rollkragenpullover mit ausgeleierten Bündchen, die aber zur Not noch gingen, BHs mit leicht ausgefransten Körbchen, Fleecepullis, die etwas fusselten, Jeans aus Highschoolzeiten, die sie nur behielt, um zu sehen, ob sie zugenommen hatte.

»Hier«, sagte Assail sanft.

»Was …« Erst als er ihr ein Taschentuch reichte, merkte sie, dass sie weinte. »Entschuldige.«

Ehe sie sichs versah, hatte sie sich auf das Bett gesetzt. Und nachdem sie sich die Augen trocken getupft hatte, starrte sie das Taschentuch an und ließ den zarten Stoff unter ihren Fingerspitzen hindurchgleiten.

»Was quält dich?«, fragte er, und seine Knie krachten, als er neben ihr in die Hocke ging.

Sie sah ihn an und forschte in seinem Gesicht. Himmel, sie konnte nicht glauben, dass sie es je für hart gehalten hatte. Es war … wunderschön.

Und seine außergewöhnlichen Augen in der Farbe von Mondschein waren Seen des Mitgefühls.

Aber das würde sich vermutlich gleich ändern.

»Ich muss weg«, sagte sie rau.

»Weg aus diesem Haus? Aber natürlich. Wir lassen es ausschreiben, und du …«

»Weg aus Caldwell.«

Assail erstarrte, und seine Reglosigkeit war so ausdrucksstark, als wäre er aufgesprungen – alles veränderte sich, obwohl er in derselben Haltung blieb.

»Warum.«

Sie holte tief Luft. »Ich kann nicht … ich kann nicht einfach für immer bei dir bleiben.«

»Natürlich kannst du das.«

»Nein, das geht nicht.« Sie konzentrierte sich erneut auf das Taschentuch. »Morgen früh fahre ich und nehme meine Großmutter mit.«

Jetzt sprang Assail auf und lief in dem kleinen Zimmer umher. »Aber bei mir bist du sicher.«

»Ich kann zu keinem Leben wie deinem gehören. Das … geht einfach nicht.«

»Mein Leben? Was für ein Leben?«

»Ich weiß doch, was als Nächstes kommt. Nachdem Benloise nicht mehr da ist, musst du irgendwoher Ware beziehen – und am Ende wirst du nicht nur für den Nachschub für die vielen Einzelhändler in Caldwell zuständig sein, sondern Großhandel für die gesamte Ostküste betreiben.«

»Du kennst meine Pläne nicht.«

»Aber ich kenne dich. Du musst ganz hoch – und das ist an und für sich nicht schlecht. Es sei denn, man versucht gerade, sich von alldem« – sie beschrieb eine Geste mit der Hand – »loszulösen.«

»Aber du musst nichts mit meiner Arbeit zu tun haben.«

»Du weißt selbst, dass es so nicht läuft.« Sie sah zu ihm auf. »Das ginge vielleicht mit einem Rechtsanwalt, aber das bist du nicht.«

»Dennoch hältst du es für eine bessere Lösung, mich zu verlassen?«

Erfreut registrierte ein kleiner Teil von ihr, dass er von ihnen sprach wie von einem Paar. Doch die Freude hielt nicht lange an. »Willst du denn einen anderen Beruf ergreifen?«

Sein Schweigen beantwortete diese Frage auf die erwartete Weise.

Er klang verärgert. »Ich verstehe den plötzlichen Sinneswandel nicht.«

»Ich wurde in meinem Haus niedergeschlagen, ich wurde gegen meinen Willen festgehalten und um ein Haar vergewaltigt.« Er zuckte zusammen, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst, und sie fluchte. »Es ist nur einfach … an der Zeit für mich, mit den krummen Touren aufzuhören. Ich habe genug Geld, ich kann eine Weile ohne Arbeit auskommen, und ich habe noch eine Wohnung.«

»Wo?«

Sie schlug die Augen nieder. »Nicht hier.«

»Du willst mir nicht einmal sagen, wohin du gehst.«

»Ich befürchte, du würdest mir folgen. Und im Moment wäre ich zu schwach, um dich davon abzuhalten.«

Plötzlich erfüllte ein Duft den Raum, und Sola blickte sich um. Sie dachte an eine Duftprobe aus einer Zeitschrift. Aber es hatte sich nichts verändert – sie waren immer noch zu zweit in diesem Haus, keine mögliche Quelle für diesen Duft weit und breit.

Er schritt über den billigen Teppich auf sie zu und ragte groß vor ihr auf. »Ich will nicht, dass du gehst.«

»Vielleicht bin ich geistesgestört, aber das freut mich.« Sie hob das Taschentuch an den Mund und rieb sich damit über die Lippen. »Ich will nicht die Einzige sein, der es so geht.«

»Ich kann dich aus meinen Geschäften heraushalten. Du musst nichts über Operationen, Vertrieb oder Liquiditätslage wissen.«

»Aber solange ich deine Freundin oder was auch immer bin, bin ich ein Angriffspunkt. Und solange meine Großmutter bei dir lebt, ist auch sie in Gefahr. Benloise hat Familie. Nicht hier in den Staaten, aber in Südamerika. Früher oder später taucht seine Leiche auf, oder man bemerkt sein Fehlen. Womöglich finden sie dich nicht. Vielleicht aber doch.«

»Denkst du, ich könnte dich nicht beschützen?«, fragte er hochmütig.

»Ich dachte immer, das könnte ich selbst. Und dein Haus? Ich habe es mir angesehen, wie du weißt, es ist eine Festung, das muss ich dir lassen. Aber es kann immer etwas passieren. Jemand verschafft sich Zutritt. Jemand wird … verletzt.

»Ich will nicht, dass du gehst.«

Sie sah ihn an und wusste, dass sie seinen Anblick nie vergessen würde, wie er da in ihrem kleinen Schlafzimmer stand, mit den Händen in den Hüften und einem finsteren Gesicht, auf dem sich leichte Verwirrung abzeichnete.

Als wäre er so daran gewöhnt, alles zu bekommen, was er wollte, dass er nicht begreifen konnte, was hier vorging.

»Du wirst mir fehlen«, sagte sie mit gebrochener Stimme. »Jeden Tag, jede Nacht.«

Aber sie musste vernünftig sein. Die magische Anziehung zwischen ihnen hatte von Anfang an bestanden – und dass er ihr zu Hilfe geeilt war, hatte dem Ganzen eine neue Dimension verliehen, eine emotionale Bindung, geboren aus ihrer Angst und ihrem Schmerz. Leider war all das keine Basis für eine solide Beziehung.

Hölle, sie kannte ihn nur, weil sie ihn für einen Drogenimporteur ausspioniert hatte. Er hatte ihr wegen Hausfriedensbruchs nachgestellt. Sie hatten sich gegenseitig bei ihren nächtlichen Umtrieben verfolgt – bis sie ihm schließlich dabei zusah, wie er mit einer anderen Frau schlief, Himmel noch mal. Dann entging sie knapp dem Tod und hatte unglaublichen Sex mit ihm, der sich als zweischneidiges Schwert bei ihrer Genesung erwies.

Sola räusperte sich. »Ich muss einfach weg. Und sosehr es schmerzt … ich werde gehen.«