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XVI LIEBESERKLÄRUNGEN . 1999  2002

Reiterstandbild. Indizien, Verdächte, Mißverständnisse. Nichts als Sprache.

«Ich brauch’ kein Mahnmal», sagte Walser, wenn mal wieder seine Meinung zum Holocaust-Mahnmal in Berlin eingeholt wurde.1 Nun aber sah er sich in seiner Heimatstadt mit einem Reiterstandbild konfrontiert, das unverkennbar ihn darstellte. Hoch über einem Brunnen sitzt er zu Ross, umgeben von wasserspeienden Dämonen. Überlingen schmückt sich mit seinem berühmten Dichter. In der Ausführung des Bildhauers Peter Lenk blickt er unter buschigen, steinernen Augenbrauen allerdings ziemlich grimmig in die Gegend. Auf dem Kopf trägt er eine Mütze mit Ohrenklappen, an den Füßen Schlittschuhe. Dieser Reiter über den Bodensee ist auch für den Fall gewappnet, daß sein Pferd den Ritt übers Eis verweigert. Das Pferd sieht müde aus, kaum geeignet, größere Gefahren zu bestehen. Auch der Reiter hat nichts Dichterfürstenhaftes an sich. Er ist kein Vorzeigeheld, sondern eine Figur, die ihren öffentlichen Ausritt nur widerwillig absolviert. Geduckt, mißmutig, fast ein wenig ängstlich hockt er auf seinem Gaul, als wäre er viel lieber anderswo, vielleicht draußen auf dem See, wo sich weniger Blicke auf ihn richten würden.

Martin Walser weigert sich beharrlich, diesem Bildnis seiner selbst gegenüberzutreten. Seit das Denkmal im Juni 1999 errichtet wurde, ist er nicht mehr nach Überlingen gefahren und hat sogar den Friseur gewechselt, um diesen Weg nicht mehr einschlagen zu müssen. Die Peinlichkeit, dem eigenen Denkmal zu begegnen, wäre zu groß. «Warum hat man mich nicht gefragt, bevor man das gemacht hat», beschwert er sich. Der Stadtrat hätte anrufen können, das wäre doch das mindeste gewesen. Aber er bekam keine Chance zu verhindern, daß ausgerechnet er, der Denkmalskeptiker, zum ersten lebenden deutschen Schriftsteller wurde, dessen Denkmal einen öffentlichen Platz schmückt.

Dabei hätte diese Ehrung ihn doch auch stärken können. Er brauchte jede Form von Zuspruch. Die Angriffe, die er seit der Paulskirchenrede auf sich zog, verunsicherten ihn. Nervös kämpfte er gegen das Bild des rechtslastigen, antisemitismusverdächtigen Nationalisten an, das in Teilen der Öffentlichkeit gezeichnet wurde. Die Atmosphäre lud zur Denunziation ein. Einer, der unter Verdacht steht, muß mit Indizien überführt werden. Jedes seiner Worte wurde von jetzt an abgeklopft, ob da etwas hohl töne und sich gegen ihn verwenden lasse. Journalisten verwandelten sich in Staatsanwälte, die aus seinen Worten immer neue Beweise fragwürdiger Gesinnung herausmeißelten. Der Berliner Tagesspiegel behauptete, Walser habe während einer Lesung in Berlin-Treptow zu Demonstrationen gegen das Holocaust-Mahnmal aufgerufen.2 Walser dementierte, worauf der Tagesspiegel zugab, die Äußerung ein wenig «zugespitzt» zu haben. Günter Amendt veröffentlichte in der Schweizer Wochenzeitung einen offenen Brief an Ignatz Bubis, in dem er von einer Begegnung mit Walser im Sommer 1978 in der Hamburger konkret-Redaktion berichtete. Walser habe sich damals ins Gespräch über Bob Dylan mit der Frage eingemischt, was an diesem «herumzigeunernden Israeliten» eigentlich so besonders sei. Er, Amendt, habe ihm darauf vorsichtig vorgehalten, ein Antisemit zu sein, was Walser angeblich «lachend und selbstgefällig» mit der Bemerkung quittierte, das habe ihm Habermas am Rande eines Kongresses in Chicago auch schon vorgeworfen.3

Jetzt, zwanzig Jahre danach und durch und durch verdächtig, konnte Walser nicht mit dem Lachen reagieren, das der banalen Anekdote angemessen wäre. Die Macht des Verdachts ließ eine entspannte Reaktion nicht mehr zu. Aufgeregt rief er im Verlag an: All das habe er nie gesagt, und er sei auch nie mit Habermas in Chicago gewesen. Und «Israelit», das sei Goebbels-Jargon, nie hätte er so etwas sagen können. Er wollte Strafantrag wegen Verleumdung stellen und verlangte eine öffentliche Entschuldigung Amendts. Doch auch innerhalb des Verlages fühlte er sich nicht mehr genügend unterstützt, ja regelrecht ausgegrenzt. Eine von Gert Ueding im Insel Verlag herausgegebene Anthologie mit politischen Reden von Luther bis in die Gegenwart führte ihm das mit schmerzlicher Deutlichkeit vor Augen: Er war in dieser Sammlung nicht vertreten, woraus er den Schluß zog, für seinen Verlag keine Rolle mehr zu spielen. Nur die F.A.Z. stand in dieser Phase treu zu ihm. Frank Schirrmacher verwies die Walser-Kritiker auf Leben und Werk des Autors, die doch ausreichen müßten, um all die versammelten Verdächte zu entkräften: «Vielleicht erleben wir hier, daß Biographien nichts mehr bedeuten», diagnostizierte Schirrmacher. «Vielleicht werden wir gerade die leicht gelangweilten Zeugen des Zerfalls von so pathetischen Vorstellungen des neunzehnten Jahrhunderts wie Lebenswerk und Werkbiographie.»4 Drei Jahre später, in der Bewertung des Romans «Tod eines Kritikers», sollten Werkzusammenhang und Biographie aber auch für ihn keine Rolle mehr spielen. Dann würde auch er das Lebenswerk Walsers dem Skandaleffekt opfern.

Zum Eklat kam es nach einer Lesung in Bergen-Enkheim, als sich die lokalen Kulturrepräsentanten und Freunde Walsers im Restaurant «Lindenschänke» versammelten. Tochter Alissa war aus Frankfurt gekommen, Arnold Stadler saß dabei, Elisabeth Borchers und Christoph Buchwald vertraten den Suhrkamp Verlag. Als Burgel Zeeh Grüße Unselds bestellte, zog Walser den Insel-Prospekt aus der Tasche, schlug die Ankündigung des Ueding-Bandes auf und fragte, warum er nicht unter den Beiträgern sei. Burgel Zeeh war der Ansicht, er habe im Gespräch mit Unseld selbst erklärt, nie wieder in einer Anthologie des Verlages vertreten sein zu wollen. Walser geriet außer sich. Wütend schlug er auf den Tisch. «Siegfried liest nicht mehr», beklagte er sich laut Burgel Zeeh, zeigte auf Elisabeth Borchers und rief: «Sie war mal (m)eine Lektorin, mein jetziger Lektor ist Programmdirektor, der hier» – er zeigte auf Christoph Buchwald – «ist Verlagsdirektor.» Mit der Drohung «ich verlasse diesen Verlag!» ergriff er seine Tasche und verschwand. Die Tischgesellschaft blieb stumm zurück.5

Unseld war entsetzt. Er verstand «die ganze Sache» nicht und meinte, «daß unsere bald 50jährige Beziehung dies nicht verdient hat»6. Dem konnte Walser nur beipflichten. «Ich habe vor kurzem, nachdem ich gesehen habe, daß ich im Band 1945  90 nicht enthalten bin, da erst habe ich gesagt, ich möchte in keiner Anthologie mehr vertreten sein. Da war aber der Ueding-Band doch schon längst fertig und ich nicht drin. Das hat mich an Burgels Aussage erbittert. (…) Und jetzt kommst Du genau so (…). Ich bitte Dich, das zurückzunehmen, oder mir zu sagen, der Band sei, als wir telephonierten, noch disponibel gewesen! Da war doch der Prospekt gedruckt usw. Und jetzt willst du, will mir Burgel unterjubeln, ich hätte mich selber entfernt aus dem Band. Dazu darf ich eine Stellungnahme erbitten! Sonst weiß ich nicht, wie ich in einem Verlag veröffentlichen kann, der mich so behandelt. (…) und Deine Begründung halte ich für aberwitzig. (…) Also unter ‹Politische Rede› passe ich nicht? Ist das Dein Ernst? Sag mir das nochmal, bitte!! Ich bin fast sicher: als Du noch ‹mein› Lektor warst, hättest Du es zumindest versucht. (…) unsere bald 50jährige Beziehung habe das nicht verdient. Das gebe ich Dir voll und ganz zurück. Das finde ich auch. Und wenn mir, was da passiert ist, nicht erklärt werden kann, dann gehöre ich nicht mehr in diesen Verlag.»7

Das «Mißverständnis», auf das Unseld sich berief, konnte mit seiner Entschuldigung noch einmal ausgeräumt werden. Walser tat die Sache vor allem gegenüber der geschätzten Burgel Zeeh leid, der er schrieb: «Ich hatte mich, wie Sie wissen, so viele Jahre nie zu beklagen, jetzt habe ich das Gefühl, es gäbe Anlässe. Liegt das an mir?»8 Fast ängstlich kam Unseld Ende Juli zu einer Aussprache nach Nußdorf und war erleichtert, wie glimpflich der Besuch verlief – auch weil Käthe dabeisaß und ihren gelegentlich aufbrausenden Mann sanft beruhigte. Walser klagte wiederholt darüber, «keinen Lektor mehr» zu haben. Er wünschte sich, daß für ihn gekämpft werde, wenn wieder einmal in einer Zeitung behauptet wurde, er wolle einen Schlußstrich unter die deutsche Vergangenheit ziehen. «Der Verlag ist zuständig, wenn gesagt wird, ich hätte ‹Nie wieder Auschwitz› nicht gelernt», beschwerte er sich. «Aber der Verlag weiß es eben nicht. Kein Lektor. Niemand weiß, was ich seit 1964 geschrieben habe zu diesem Thema. (…) Nur damit Du verstehst, warum mein Verhältnis zum Verlag sich geändert hat. Zuerst die 2 Reden, jetzt das. Ich war nie überempfindlich. Aber jetzt darf ich empfindlich werden und bleiben. Und ohne Lektor will ich dort kein Buch mehr.»9

Die Ablösung von Rainer Weiss als dem für Walser zuständigen Lektor war ein letzter Versuch, die Verlagsbeziehung noch einmal zu stärken. Walser wollte nicht nur einen Lektor, der seine Manuskripte betreute – da hatte er nichts zu bemängeln –, sondern der «meine Sache soweit sie als Verlagssache gelten darf, andauernd vertritt»10. Er wollte jemanden, der mehr war als ein Lektor, einen Vertrauten, einen Freund. So ein Gesamtrepräsentant mit Herz und Verstand war früher einmal Unseld gewesen. Jetzt war er es nicht mehr. Darin lag das eigentliche Problem. Jede kleinste Mißachtung wurde deshalb zur großen Kränkung und zum neuerlichen Indiz der Ausgrenzung: Bei der Feier zum 50. Geburtstag des Verlages fühlte Walser sich nicht gebührend begrüßt. Im Herbst 2000 erschien eine Anzeige zum Jubiläum, auf der er nicht erwähnt wurde. Der Verkauf der Rechte an fremdsprachige Verlage stagnierte. Mit Übersetzungen ging es nicht voran. Walser galt als deutscher Autor, der in anderen Ländern nur schwer verkäuflich ist. Auch das machte ihm zu schaffen. Grass war ein Weltautor. Auch Walsers Romane waren in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. Aber kannte man ihn im Ausland wirklich? Einen großen Erfolg konnte Unseld 2001 immerhin melden: Der «Springende Brunnen» werde in dreizehn Sprachen übersetzt. «Wir freuen uns darüber.»11

Was nutzte es Walser, von der Zeitschrift GQ 1999 zum «Man of the Year» gekürt und mit einer Silbertrophäe geehrt zu werden? Dem Trendmagazin der reiferen männlichen Jugend imponierte gerade Walsers skandalgesättigte Medienpräsenz. Florian Illies attestierte dem «Balzac vom Bodensee», er wirke selbst mit seinen 72 Jahren noch zeitgenössisch. Walser aber sah sich als Opfer einer Öffentlichkeit, die keine Abweichungen aus dem Toleranzbereich des öffentlichen Meinens duldete. Wie streng mit Abweichlern umgegangen wurde, zeigte auch der Fall Peter Handke. Handke wagte es, während des Jugoslawienkrieges für Serbien Partei zu ergreifen und die Luftangriffe der NATO auf Belgrad zu kritisieren. Walser verhielt sich in dieser Frage vorsichtig. Er zog sich auf den Standpunkt zurück, nur das zu fordern, was er auch selbst handelnd vertreten könnte. Er konnte keinen Krieg befürworten, den doch andere führen mußten, und erklärte grundsätzlich jede Politik für falsch, die zum Krieg führt. Er störte sich erneut an der Rolle der Medien, die in ihrer Konzentration auf Nachrichten aus den Schützengräben kaum mehr die Reflexion darüber zuließen, ob vielleicht der ganze Krieg falsch sein könnte. Handke als einer der wenigen, der eine Gegenposition vertrat, wurde mit Häme überschüttet und lächerlich gemacht. Walser fand es erschreckend, wie eine Gegenmeinung niedergebügelt wurde. Daran las er eine Kriegsstimmung ab, in der die Political Correctness auf eine Art und Weise triumphierte, die «fast schon peinlich» war.12

Ähnlich argumentierte er auch im Deutschlandgespräch mit Günter Grass, das fast auf den Tag genau fünf Jahre nach ihrer ersten Kontroverse wieder im Studio des NDR stattfand. Dieses Mal tranken sie Rotwein statt Wasser. Das Gespräch verlief friedlicher und war von Grass auch als demonstrative Geste der Solidarität mit dem gescholtenen Paulskirchenredner gemeint. Walser sprach darüber, warum er die Rolle des mahnenden Intellektuellen nicht mehr spielen wollte und sich lieber aus dem Feld der Meinungsbekundungen zurückziehen würde. «Ich kann nur noch ausdrücken, was ich auch praktizieren könnte», sagte er zu Grass. «Ich habe in verschiedenen Jahrzehnten mich auch provozieren lassen, bin nicht am Schreibtisch geblieben, habe Reden gehalten, fühlte mich provoziert, hatte aber immer das Gefühl, mich auf fremdem Terrain zu befinden. Ich würde nie etwas sagen zu Steuererhöhung und Lastenausgleich, weil ich es nicht praktizieren muß. Staatsangehörigkeitsrecht, Asyl und so weiter, da gibt es Praktiker, und da gibt es uns. Das letzte, was ich geäußert habe, war der Kosovo-Einsatz der NATO. Da habe ich gesagt, ich könnte keine Bombe werfen oder einmarschieren. Also kann ich es auch nicht von anderen verlangen.»13

Damit bezog er wieder einmal die Gegenposition zu Grass, der das militärische Eingreifen auf dem Balkan befürwortete. Wenn man so will, übernahm Walser in dieser Frage den Part des klassischen, pazifistisch orientierten «Linken». Doch seine Zustimmungszurückhaltung war weniger aus der Sache heraus begründet als das Resultat einer alles Politische umfassenden Meinungsskepsis. In letzter Konsequenz wäre sein Hinweis darauf, auch selbst tun zu müssen, wofür man öffentlich eintritt, die Selbstabdankung als Intellektueller. Wer so spricht, dürfte sich zu keiner politischen Frage mehr äußern. Er müßte das Prinzip der universalistischen Zuständigkeit ablehnen und Intellektuelle als Spezialisten fürs Allgemeine für überflüssig halten. Politik wäre dann allein eine Sache der Gremien und der Fachleute, Öffentlichkeit wäre das Ergebnis der Arbeit spezialisierter Medienarbeiter, Krieg eine Sache der Generäle. Intellektuelle als kritische Instanz hätten keine Funktion mehr, weil sie keine Fachleute und – außer als Schreibende – keine Praktiker sind.

Walser wollte für sich nur noch die Themen gelten lassen, die bis in den Roman vordringen können. Was ihn nicht so stark bedrängte, daß es literarisch bewältigt werden mußte, brauchte auch nicht in politischen «Sonntagsreden» abgehandelt zu werden. Die erklärte politische Abstinenz war sicher auch eine Reaktion auf die Paulskirchenrede. Gebranntes Kind scheut das Feuer. Das Risiko der öffentlichen Einmischung war zu hoch geworden. Vom fortgesetzten Rückzug auf sich selbst künden auch die Essays, die er im Jahr 1999 schrieb: «Über die Schüchternheit», «Über das Selbstgespräch» und schließlich «Sprache, sonst nichts». In diesen Texten verschärfte er seine Kritik am Zustand der Öffentlichkeit und suchte nach einer Begründung seines Denkens, das der Maxime folgte: «Ich habe nichts zu vertreten. Ich muß niemanden aufklären als mich selbst.»14 Aufklärung, so erklärte er mit Bezug auf Immanuel Kant, war ursprünglich eher eine Aufforderung zu Selbsterforschung als die Belehrung anderer. Kant hielt einen Fürsten für aufgeklärt, der jedem freistellt, «sich in allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner eigenen Vernunft zu bedienen». Das ist eine Definition, wie sie auch der Kurfürst in Kleists «Prinz von Homburg» praktiziert. Für Walser steht sie gegen seine Erfahrungen mit einer Öffentlichkeit, in der Aufklärung bedeutet, andere zu belehren und selbst Bescheid zu wissen.

Er suchte nach einer anderen, philosophischen Art des Sprechens als Suchbewegung, das nichts mit dem Meinungsverkünden zu tun haben sollte. Er wollte radikal nur noch das zum Ausdruck bringen, was ganz und gar ihn selbst enthielt. Philosophie – die große Sehnsucht. Sätze, die er Anfang der siebziger Jahre formulierte – «Der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit ist so ungelöst wie zuvor» –, konnte er nun nicht mehr akzeptieren. Nicht weil sie falsch geworden wären, sondern weil sie aus einer Haltung des Belehrens kamen, die ihm mißfiel. Anstelle des Meinens wollte er das bloße Dasein. Von der Erkenntnis wollte er zur Existenz. Von der Einsicht zum Ausdruck. Vom Wissen zum Wesen. Vom öffentlichen Reden zum Selbstgespräch. Vom Äußeren ins Innere. Vielleicht sogar vom Handeln zum Erleiden: entgegennehmen, nichts verändern, bloß dasein.15

Das klang fast schon nach buddhistischer Weisheitslehre, nach Sanftmut und Gelassenheit, an denen es ihm doch allzuoft mangelte: Der Mensch sehnt sich ja immer nach dem, was ihm fehlt. Verständlich ist diese Haltung nur als Gegenbewegung, als Selbstschutz. Er wollte sich zum Schweigen bringen, und wollte sich doch äußern. Aber er weigerte sich, die Spaltung in ein gutbehütetes Inneres, in dem man seine wahren Ansichten verbirgt, und in eine opportune öffentliche Rede zu akzeptieren. Sein und Scheinen sollten nicht länger auseinanderfallen. Nichts anderes hatte er ja auch in der Paulskirchenrede erprobt und die Erfahrung gemacht, daß die öffentlichen Gewissensbenoter sich über seine offengelegte Innenwelt beugten, um Bedenkliches aufzuspüren. Das aktualisierte frühe Erfahrungen des katholischen Knaben mit der Beichte und mit Schulaufsätzen, in denen das uneigentliche, möglichst folgenlose Sprechen als Lehrererwartungserfüllung eingeübt wurde.

«Sozialisation heißt, wir sollen geistig-seelisch stubenrein werden», schrieb er jetzt und sehnte sich nach einem Zustand jenseits von Gut und Böse und aller moralischer Vormundschaftlichkeit: «Dich im Dasein fortzuschreiben, ohne Bescheid zu wissen. Dich in der Sprache zu erleben, das genügt.»16 Die Paten für diese Religion der Sprache waren Swedenborg, «weil er unser Inneres, Geist und Seele oder Wasauchimmer, so ganz und gar zum Ausdrucksursprung des Sprachlichen gemacht hat», und Kierkegaard, den er mit dem Satz zitierte: «Wir haben zuviel zu wissen gekriegt und fangen zu wenig damit an.» Die Imperative, die nun galten, hießen: «Meide alles Frontale. Lasse dich gehen. Es darf nichts direkt Wichtiges mehr vorkommen.»17 Der Heilige der Befreiung aus dem «Ich-Gefängnis» des Rechthabenwollens ist der Konstanzer Mystiker Heinrich Seuse, dessen «non sum» – «ich bin nicht» – sanft ins Nirwana einer allumfassenden Gelassenheit hinüberführt.18

Die höchste Form des sprachlichen Ausdrucks, in der alles erscheinungshaft Beschränkte sich überschreiten läßt, ist das Gedicht. Geglückte Lyrik ist Transzendenz durch nichts als Sprache. Gedichte verlangen keine Zustimmung. Sie sind der natürliche Gegensatz zur Politikerrede, weil sie kein bißchen recht haben wollen.19 Da fing er fast schon an zu summen, wenn er schrieb: «Wenn du Lyriker wärst, würdest du das, was zuletzt übrigblieb, das Nichts nennen. Jetzt spürst du, daß du auf einem guten Weg bist. Das Nichts. Die Sprache ist ganz und gar beschäftigt mit der Verwaltung des Nichts. Die Sprache ist nichts anderes als eine Verwaltung des Nichts.»20 Vergleichbar ist damit nur die Musik als Element, «in dem uns Flügel wachsen»21. Musik ist das, was Sprache in ihren glücklichsten Momenten erreicht: reine Gegenwart. Sprache nimmt damit einen Rang ein, für den andere das Wort «Gott» einsetzen. Etwas, das größer ist als man selbst. Etwas, dem wir uns anvertrauen.

Walser, der stets von sich behauptet hat, kein Lyriker zu sein, versuchte dennoch, dem lyrischen Ausdruck näherzukommen. In der Neuen Zürcher Zeitung erschien zwischen 1998 und 2001 eine Serie von Gedichten mit dem Titel «Das geschundene Tier», Zeilen von höchster Verdichtung und mit dem Wunsch nach Ich-Auflösung:

Am liebsten wäre ich das Ufer

eines Meeres, das keinen Namen hat.22

Hätte das Meer einen Namen, es hieße Sprache. Sonst nichts. Aber dabei konnte es nicht bleiben.

Düsseldorf. Nichts als Liebe. Nachlaß mit Notizbüchern.

Nein, er versuchte nicht, auf seine späten Tage ins Lyrikfach zu wechseln. Er zog sich nicht zurück in die Namenlosigkeit, sondern stürzte sich in die gesellschaftliche Wirklichkeit. Mit seinem nächsten Roman machte er die Probe aufs Exempel: Wäre es auch dann durchzuhalten, nichts besser wissen zu wollen als die Romanfiguren, wenn bei ihnen alles schiefläuft? Würde er seine Figuren durch alle Niederungen des Daseins tragen können, ohne sie besser machen zu wollen, als sie sind? «Der Lebenslauf der Liebe» ist der Beleg, wie Walsers vorbehaltlose Menschenfreundschaft sich bewährt. Es gibt hierzulande keinen freundlicheren Autor. Bis in die hintersten Winkel durchleuchtet er die Seele seiner Susi Gern, ohne sie jemals zu denunzieren. Ihre Daseinsnot, ihre Ängste, ihre Leere werden ausgebreitet, und doch gewinnt sie unmerklich an Größe und Statur. Wie ist das möglich?

Fünfzehn Jahre hatte er sich mit der Figur beschäftigt, bis sich plötzlich so etwas «wie eine Kernschmelze» ereignete. «Ohne daß ich das beabsichtigt hatte, bin ich Susi Gern geworden. Da wußte ich, daß ich den Stoff zu meiner Sache gemacht hatte, da habe ich begonnen zu schreiben.»23 So wie Flaubert Madame Bovary war, wurde Walser zu Susi Gern. Daß er zum ersten Mal über einen ganzen Roman hinweg aus weiblicher Perspektive erzählte, ist dabei weniger wichtig, als man vermuten könnte. Wichtig ist das liebende Einverständnis mit seinen Gestalten. Das prägt Walsers Schreiben wie sonst nichts. Ohne dieses Grundgefühl wäre es ihm unmöglich, sich jahrelang mit ihnen zu befassen.24

Liebe ist also nicht nur das Thema des Romans, sie ist auch die Schreibbedingung. Und auch die Leser müssen sie entwickeln, um die mehr als 500 Seiten strapaziöser Daseinsbewältigung zu überstehen. «Es hat mir sehr gepaßt, endlich einmal ganz und gar über Liebe zu schreiben», sagte Walser zu diesem Buch. «Was ja keinesfalls eine Glückssträhne ohne Ende ist und mit dem neuen Wort Happy zu bezeichnen, sondern was ein furchtbares Schicksal ist. Liebe ist ja vor allem etwas, was man nicht hat. Es ist nicht Besitz und Ausruhen und Sicherheit.»25 Für Susi Gern ist Liebe die Hoffnung darauf, durch einen anderen von sich selbst erlöst zu werden. Sie hofft auf Harmonie und eine gerechte Balance des Liebens und Geliebtwerdens, die nicht gelingen kann. Mit ihrer ungestillten Sehnsucht fügt sie sich in die Reihe der Walser-Helden, die an einem Mangel leiden. Und Walser zeigte einmal mehr, daß all sein Schreiben mit einem Mangel beginnt.

Im Winter 1999 lautete seine Adresse für drei Monate: Renaissance-Hotel Düsseldorf, Am nördlichen Zubringer 6. Hier, im Niemandsland zwischen Autobahnen und Baustellen, bezog er Quartier, um an dem Roman zu arbeiten, den er zunächst «Liebesleben» nannte. Wenn er auf Reisen ist, bevorzugt er ortlose Orte von höchster Neutralität. Nichts Aufdringliches, nichts Störendes gab es da, außer der aus allen Decken flutenden Musik, die er abzustellen bat. Im Hotelzimmer war er vom Umgebungslärm fugendicht abgeschottet. Kein Licht, kein Geräusch drangen herein. Das Essen war mäßig, dafür war die Weinkarte exzellent. Andere Gäste schien es nicht zu geben. Wenn er morgens zum Frühstück herunterkam, waren die Geschäftsleute schon wieder weg, und abends, wenn die Lobby sich füllte, saß er in seinem Zimmer und schrieb. Er hatte immer geglaubt, fürs Schreiben auf die häusliche Atmosphäre in Nußdorf und das eigene Arbeitszimmer angewiesen zu sein. Jetzt lernte er, daß es auch anders ging.

In Düsseldorf wollte er in den Stadtvierteln recherchieren, in denen der Roman spielte und wo seine Heldin wohnte. 1984 nahm sie Kontakt zu ihm auf, nachdem sie im Fernsehen eine von ihm gedrehte Reportage über eine Segelregatta auf dem Bodensee gesehen hatte. Die Bilder der nächtlichen Bootsfahrt hatte er mit dem letzten Schubert-Quintett unterlegt, geeignet, die Seele direkt aus dem Leib zu reißen, wenn noch eine drin ist. Seine Töchter hatten ihm die Schubert-Verwertung übelgenommen. «Susi Gern» und ihr Mann waren beeindruckt. Weil sie ihrem Mann eine Videokassette der Sendung zu Weihnachten schenken wollte, rief sie bei Walser an, der sie freundlich an das ZDF verwies. Doch das war nicht alles. «Susi» hatte eigene Schreibbemühungen hinter sich, verhedderte sich aber immer wieder beim Versuch, ihr Leben zu Papier zu bringen. Nun, wo sie mit Walser schon mal telephoniert hatte, dachte sie, dann könnte er doch auch ihre Biographie schreiben. Walser war von diesem Vorschlag nicht sonderlich begeistert.

Irgendwann muß er aber gemerkt haben, daß dieses Leben tatsächlich ein Stoff für ihn sein könnte. Vielleicht 1987, als sie zum ersten Mal mit ihrem Porsche in Nußdorf vorfuhr und er in ihr Exemplar von «Dorle und Wolf» eine Widmung schrieb: «Zur Erinnerung an eine Juliwoche, in der Sie hier eine faszinierende Erzählerin waren». Gelesen hat sie das Buch nicht. Sie las überhaupt nichts. «Dafür war sie einfach zu lebhaft», heißt es im Roman über Susi Gern. «Schon dieses Umblättern! Eine Seite nach der anderen. Wenn sie sich das vorstellte, dachte sie: Nee. Sie hatte Tänzerin werden wollen.»26

In unregelmäßigen Abständen trafen sie sich seither. Sie schrieb ihm lange Briefe und berichtete kontinuierlich vom Fortgang ihres Lebens: vom wirtschaftlichen Ruin ihres Mannes nach Börsenspekulationen; von dessen Erkrankung und dem langsamen, quälenden Tod; von ihrer Verarmung und vom Umzug in eine kleine Wohnung, in der sie sich früher mit ihren Liebhabern getroffen hatte; von der Liebe zu ihrer behinderten Tochter; von ihrem Sohn, der ins Rotlichtmilieu abdriftete, und vom Selbstmord der Schwiegertochter, die von der Oberkasseler Brücke sprang; von ihrer zweiten Ehe mit einem 38 Jahre jüngeren marokkanischen Studenten und dem verzweifelten Bemühen, mit ihm glücklich zu sein. All diese Ereignisse gingen in den «Lebenslauf der Liebe» ein, fast so, als habe Walser die Wirklichkeit nur mitstenographiert. Die Gefahr bei der Arbeit an diesem realistischen Gesellschaftsroman bestand darin, in einen Naturalismus zu verfallen, der sich seinen Verlauf vom realen Geschehen diktieren läßt.

Walser wurde für «Susi Gern» zu einer Art Therapeut, dem sie alles mitteilte, was ihr widerfuhr. Ihr Leben bekam dadurch einen Sinn, daß sie schon während ihrer Erlebnisse daran dachte, wie sie ihm davon erzählen würde. Nichts geschah vergeblich, denn alles wurde Literatur. Walser erhielt einen Stoff, der auch sein eigener war. Es ging um Liebes- und Eheverhältnisse, um ein exemplarisches Paar: Sie will ihn ganz, will nichts als treu sein und lieben. Er kann sich nicht auf eine Frau beschränken, sucht sich von Anfang an Liebhaberinnen, schaut am Weihnachtsabend Pornofilme an und geht noch als sterbenskranker, parkinsongeschüttelter, einnässender Prostatiker zu seinen Konkubinen. Das Ehe-Arrangement, nichts heimlich zu tun, ist für sie die Hölle. Die vereinbarte Offenheit ist eine Lüge. Sie will lieben, sonst nichts. Aus der Not und aus dem Bedürfnis nach einem Gleichgewicht sucht auch sie sich in Cafés oder per Annonce andere Männer. Das Glück, das sie findet, ist vergleichsweise bescheiden. «Unglücksglück» nennt sie das, denn ein anderes Glück gibt es nicht.

Walser erklärte diese Konstellation zum «fundamentalen Verhältnis der Geschlechter in unserer Kultur»27. Er war ja nicht nur Susi Gern, er war auch Edmund, dieser Ehemann und Spekulant, der immer unterwegs ist zu anderen Frauen und doch seiner «Schnucke» beteuert, daß keine ihr jemals das Wasser reichen könne. Während seiner Düsseldorfer Monate kam «Susi» regelmäßig zu ihm ins Hotel, um zu erzählen. Er ließ bei diesen Arbeitssitzungen immer ein Tonband mitlaufen. Wenn sie essen gingen, dann zum Italiener in Kaiserswerth oder ins Restaurant Baan Thai, das auch im Roman eine Rolle spielt. Susi Gern feiert dort die Hochzeit mit dem Marokkaner Khalil. Niemals sprachen sie über den Inhalt des entstehenden Buches. Sie erzählte, und Walser hatte alle Freiheit, daraus zu machen, was er wollte. Das war die unausgesprochene Vereinbarung.28

Wie sehr der Stoff auch sein eigener war, wird im letzten Teil über Susi Gerns zweite Ehe deutlich. Hier spielt die Altersdifferenz eine entscheidende Rolle. Mit der Figur der Susi Gern konnte er den eigenen Zweifeln und Fragen nachgehen: Was bringt einen jungen Menschen dazu, einen so viel älteren zu lieben? Wie wird der Ältere damit fertig, keinen Grund dafür finden zu können? Muß es nicht furchtbar für den Jüngeren sein, in so ein altes Gesicht zu schauen? Noch steht das Thema eher am Rand, und Susi Gern kommt zu anderen, unbrauchbaren Resultaten, wenn sie über chirurgische Maßnahmen nachdenkt. Für sie, die außer ihrer Schönheit wenig zu bieten zu haben glaubt, ist die Last des Altwerdens ungleich größer. In «Der Augenblick der Liebe» aus dem Jahr 2004 setzt Walser sich dann ganz direkt und aus männlicher Perspektive mit den Erfahrungen der Liebe zu einer sehr viel jüngeren Frau auseinander.

Fast zwei Jahre schrieb er an dem Roman um Susi Gern, als im Herbst 2000 ein Buch der israelischen Autorin Zeruya Shalev mit dem Titel «Liebesleben» auf den Bestsellerlisten stand. Damit war der Titel für ihn unmöglich geworden. Er entschied sich zunächst für «Susi Gern», dann erst kam er auf die irritierende Genitivkonstruktion «Der Lebenslauf der Liebe». Am 11. Juli 2001 wurde das Buch ausgeliefert. Am 12. Juli bekam es denkbar günstige Werbung: Harald Schmidt verschenkte 100 Exemplare an die Gäste seiner Show. Schon im April hatte er live aus der Sendung heraus im Verlag angerufen und bei Burgel Zeeh die Bücher bestellt. Walser gratulierte ihr, wie gewitzt sie mit Schmidt fertig geworden sei. Der Verlag lud Harald Schmidt im Gegenzug zu einer nichtöffentlichen Walser-Lesung vor Buchhändlern in Düsseldorf ein.

Für «Susi Gern» ging mit dem «Lebenslauf der Liebe» ein Traum in Erfüllung. Jetzt wo ihr Leben zum Roman geworden war, würde sie für immer mit Martin Walser verbunden bleiben und ein kleines bißchen unsterblich sein, sie und ihre Tochter und die geliebten Kätzchen. Daß fremde Menschen Einblick in all die Peinlichkeiten ihres Ehe- und Liebeslebens erhielten, störte sie nicht. Doch sie ärgerte sich über alles, was Walser verändert hatte: Es stimmte ja gar nicht, daß ihre Tochter immerzu rheinisch redet, und ihr Mann hätte niemals Straußenlederschuhe getragen. Auch ihr Metzger habe sich beschwert, warum er nicht vorkomme. Und das nach all den Jahren! Alle ihre Freunde glaubten, daß sie als Bestsellerheldin keine Geldsorgen mehr habe. Das stärkte sie in ihrer Ansicht, am Umsatz beteiligt werden zu müssen. Schließlich war es ja ihr Leben, das da erzählt wurde. Zwei Mark von jedem verkauften Buch wären recht und billig. Walser hatte ihr im Lauf der Jahre ein paarmal einen Scheck gegeben, wenn sie in Not war. Sie hatte das als Vorschuß auf die anstehenden Honorare aufgefaßt. Er sah das begreiflicherweise anders. Er rechnete ihr vor, daß sich das Buch schlecht verkaufe, daß er es als Mißerfolg abbuchen müsse. Den letzten Brief, den sie zu Weihnachten 2001 von ihm erhielt, unterschrieb er distanziert «mit freundlichen Grüßen»29.

Unseld enthielt sich aller Kritik. Daß er schon seit längerem nicht mehr dazu gekommen war, mit Walser zu sprechen, führte er auf seinen «miserablen gesundheitlichen Zustand» zurück: «Ich werde die Taubheit meiner Füße und Finger einfach nicht los.» Aber er mühte sich darum, seinem Autor das Gefühl zu vermitteln, im Verlag nach wie vor eine Heimat zu haben, und schilderte ihm, «wie sich meine Mitarbeiter in besonderer Weise um Dich und Deinen neuen Roman bemühen; wir hatten am vergangenen Wochenende eine Zwischenbesprechung mit den Vertretern und da wurde klar: Dein neuer Roman wird vom Buchhandel sehr gefördert werden»30. Im Herbst, als Walser das Buch auf der Frankfurter Buchmesse vorstellte, hatte Unseld nur noch wenig Zeit. Den Part der Einführung überließ er Günter Berg, der zu seinem Nachfolger werden sollte. Walser dankte und grüßte in Unselds Richtung, doch der Verlegerfreund wirkte auf ihn abwesend und wie versteinert. Während er noch signierte, fuhr Unseld mit einer Mitarbeiterin und mit Martina Zöllner voraus ins Lokal. Sie berichtete ihm später den Wortwechsel im Auto. Unseld demnach zu seiner Mitarbeiterin: «Wer sind Sie denn?» Sie: «Ich arbeite bei Ihnen.» Zu Martina Zöllner: «Und Sie?» – «Ich bin mit Martin Walser befreundet.» Er, abwinkend: «Das weiß ich.» Zum Fahrer: «Walser kommt in zehn Minuten, holen Sie mich also in vierzig Minuten wieder ab.» Das heißt, sagt Walser, er plante dreißig Minuten fürs Gespräch ein. Mehr war nicht mehr drin.

Als Zeichen der Trennung muß Unseld die Nachricht aufgenommen haben, Walser wolle seinen literarischen Nachlaß dem Antiquar Heribert Tenschert zur Betreuung übergeben. Walser vertraute dem Freund, den er «einen Fachmann durch und durch» nannte. Schließlich betreut Tenschert unter anderem auch das Rudolf-Borchardt-Archiv und ediert und finanziert dessen Werkausgabe in der Edition Tenschert im Hanser Verlag. Über ihn, der mit Borchardt einen geradezu «wesenssymbiotischen» Umgang pflegte, entdeckte Walser überhaupt erst diesen Dichter und Übersetzer, den er zuvor nie gelesen hatte, und schrieb einen langen Essay über Borchardts Briefwechsel mit Rudolf Alexander Schröder.31 Dieses lebenslängliche, deutsch-jüdische Gespräch zwischen einem konservativen Juden und einem religiös tendierenden Autor, der zum NS-Mitläufer wurde, mußte ihn interessieren. Borchardt steht am Ende der Reihe, die mit dem Tübinger Professor Hans Rothfels begann und mit Victor Klemperer fortgesetzt wurde.

Walser war nie ein großer Sammler der eigenen Manuskripte. Er verwahrt sie achtlos, kaum wissend, was sich in seinen Schränken verbirgt. Von seinen Briefen machte er keine Kopien wie andere, nachruhmbesorgtere Autoren. «Nachlaß» ist ein Wort, das er «zum Kotzen» findet. Wirklich wichtig sind ihm die Notizbücher, mit denen er lebt und arbeitet, in denen sich die Stoffe seiner Romane ablagern und anreichern. Nur um diese Tag- und Nachthefte, aus denen auch die «Meßmer»-Bände destilliert sind, sorgt er sich. Sie stehen in Griffweite vom Schreibtisch im Regal aufgereiht: die Chronik eines Lebens. Wo sie einmal landen werden, mag er sich immer noch nicht vorstellen. Am liebsten wäre es ihm, sie blieben da, wo sie jetzt stehen: im Regal hinter seinem Schreibtisch.

Lesereise mit Polizeischutz. 8. Mai und Versailles. Gespräch mit dem Kanzler.

Kaum war der «Lebenslauf der Liebe» erschienen, drängte Unseld auf Fertigstellung von «Meßmers Reisen». Er hoffte, damit einen Titel zu Walsers 75. Geburtstag zu haben, aber Walser wollte sich auf keinen Termin festlegen. Er war mit einem anderen Manuskript beschäftigt, von dem er aber noch nichts verlauten ließ: «Tod eines Kritikers». In den Notizbüchern führte er seit 25 Jahren das Projekt unter dem Kürzel «T.e.Kr.», seit Reich-Ranickis Verriß von «Jenseits der Liebe». Er brauchte diese Notizen für die Seelenhygiene: «Das sind selten ruhige, sachliche Eintragungen, sondern da geht es darum, Dinge, die mir zustoßen, für mich erträglich zu machen.»32 Mittlerweile war er beim 46. Band der Notizbücher angelangt. Immer, wenn er einen vollgeschrieben hatte, legte er eine Registratur an und schrieb auf die letzte Seite alle Projekte, die es schon zu einem Titel gebracht hatten. So zog sich «T.e.Kr.» durch zweieinhalb Jahrzehnte. Schon 1996 erzählte er einem Reporter, für ein Buch, dessen Titel er nicht verraten wollte, bei der Münchner Kriminalpolizei recherchiert zu haben. «Sollte ich diesen Roman je schreiben, dann ist der ehemals weiße Fleck schon ausgefüllt. Das hat mit dem leisen Vorratswahnsinn zu tun, mit dem ich lebe. Wenn ich sterbe, dann liegen fast bis zur Gänze vorbereitete Projekte in der Schublade – unter anderem der inzwischen ermittelte Täter, nach dem Sie gefragt haben. Ich hoffe, daß eine meiner Töchter ein Erbarmen haben wird und dies oder das noch zu Ende bringt.»33

Die Lesereisen durch Deutschland, die für Walser zu jedem neuen Buch selbstverständlich dazugehören, verwandelten sich in wahre Spießrutenläufe. Er, der den Kontakt mit seinem Publikum braucht wie kaum ein anderer Autor, sah sich überall, wo er auftauchte, jugendlichen Demonstranten gegenüber, die ihn mit Transparenten und Sprechchören auf Auschwitz hinweisen zu müssen glaubten. Sie verteilten Flugblätter mit Zitaten aus der Paulskirchenrede und versuchten, ihn am Lesen zu hindern. Ausgerechnet der «Lebenslauf der Liebe», dieses Großmütigkeitsexerzitium, diese Schule der Duldsamkeit, wurde mit «Wehret den Anfängen»-Rufen traktiert. Manchmal war Polizeischutz erforderlich, damit das Publikum überhaupt in den Saal gelangen konnte. Ein Fernsehteam des Süddeutschen Rundfunks begleitete ihn in diesen Monaten und dokumentierte die Auseinandersetzungen, die er zu bestehen hatte.34

Die jungen Leute, die allerorts gegen ihn demonstrierten, konnte Walser nicht unsympathisch finden. Wenn er jetzt in ihrem Alter wäre, wäre er wie sie, stellte er sich vor. Ihr Engagement, ihren Idealismus kannte er aus eigener Erfahrung. Und doch hätte er Ohrfeigen austeilen wollen, wenn sie ihn als Antisemiten bezeichneten. In Erfurt bot er den Demonstranten ein Gespräch an, schubste dann aber einen beiseite, der nicht mehr weichen wollte, nachdem er eine Anti-Walser-Resolution vorgetragen hatte. Der junge Mann schrie: «Fassen Sie mich nicht an. Mein Vater ist Staatsanwalt.» In Berlin versuchte er, Demonstranten ein Transparent mit der Aufschrift «Verwüstung jüdischer Friedhöfe – Antisemitismus ist deutsche Normalität» zu entringen, ließ plötzlich wieder von ihnen ab, ging auf die Bühne und trank hastig sein Rotweinglas leer. Als habe er sich damit neue Energie eingeflößt, warf er sich erneut in den Kampf, packte einen Demonstranten am Arm und kündigte an: «Ich werfe Sie jetzt raus.» Das Publikum applaudierte, als er endlich mit der Lesung beginnen konnte. In Bremen sah er sich einem Plakat gegenüber, auf dem er als SS-Mann abgebildet war. Hier verzichtete er auf Dialogversuche, dämpfte seine Kampfeslust und erprobte statt dessen die Wirkungskraft von «Dalai-Lama-Gestik»35.

Es ist erstaunlich, daß Walser immer wieder so heftige Aversionen hervorruft. Trotz seines aufbrausenden Temperaments, das manchen erschreckt, ist er, lernt man ihn persönlich kennen, einer der freundlichsten und friedlichsten Menschen, die man sich denken kann. Er will niemanden bevormunden und zu seiner Denkweise zwingen, wird aber behandelt, als wäre er ein Gefolgschaft gebietender Dogmatiker. Dabei rechnet er sich im Zweifelsfall lieber den «Unrichtigen» zu, um nicht als Rechthaber aufzutreten. Er gehört zu den Zweiflern, die Mißtrauen gegen sich in ausreichendem Maße selbst zu mobilisieren vermögen. Als «Trickser der Sanftmut» titulierte ihn Heinrich Detering in der F.A.Z., vier Tage bevor Frank Schirrmacher dort seinen schrillen Antisemitismus-Brandbrief zu «Tod eines Kritikers» publizierte. «Wer könnte diesem so umsichtig fragenden, spielerisch erwägenden, so liebenswürdig und selbstkritisch nachdenkenden Herrn etwas abschlagen?» fragte Detering und bereitete unwissentlich das Terrain für einen Angriff, dessen Heftigkeit alle bisherigen Walser-Debatten übertreffen sollte. «Immer gibt er nur zu bedenken, stellt er lediglich anheim, möchte er ‹die Vermutung nähren, daß› – kann man zarter auf seiner Meinung beharren?»36

Walser möchte zur Zustimmung verführen. Er weiß, daß sein Innenleben so wie jedes Innenleben «unvorzeigbar», ja, «untaufbar» ist, daß er «verwildern» würde, wenn er sich gehen ließe.37 Doch er spricht darüber öffentlich. Es ist, als bringe er das Verdrängte, das Wilde, Ungezügelte zum Ausdruck, das in der öffentlichen Rede normalerweise nicht vorkommen darf. Er wird zu einem Sprecher des kollektiven Unbewußten, indem er den eigenen Empfindungen und Träumen lauscht. Ungeschönt. Ohne moralischen Zwischenfilter. Indem er sich selbst nachspürt, bekommt man auch als Zuhörer das Gefühl, deutlicher zu werden. Walser ist ein Differenzierungskünstler der Innenwelten. Weil er sich offenbart, ist er so leicht angreifbar.

Wer seine Lesungen unvoreingenommen besucht und dort keine politischen Kanzelreden erwartet, erlebt einen eher schüchternen, leise sprechenden, fast zerbrechlich wirkenden Mann, der zögerlich und räuspernd zu lesen beginnt, dann aber, als nähre und kräftige ihn der Strom der Worte und der Rotwein, der neben ihm steht, fester und sicherer wird. Wortbildner ist er nicht nur als Schreibender, sondern auch im Vortrag. Seine Sätze stützt und begleitet er mit Gesten. Er trägt die Sprache auf Händen, prüft die Worte mit den Fingern, modelliert ihren Sinn, tastet sie ab in der Luft und schmeckt ihnen nach mit dem Mund. Spricht er Worte aus, die ihm mißfallen, begleitet er sie mit flatternden Handbewegungen, als wolle er sie in Luft auflösen. Und wenn es ihm beim Reden langweilig wird, dann läßt er den Satz in einem plätschernden Geräusch verebben, um sich Dringlicherem zuzuwenden. Sprache ist das Element, in dem er lebt wie der Fisch im Wasser. Das kann man sehen und hören.

Am Abend des 11. September 2001 gastierte er vor einem verstörten Publikum in Bamberg. Konnte er nach dem Terroranschlag in New York aus einem Buch mit dem Titel «Lebenslauf der Liebe» lesen? Er erzählte vom 21. November 1963, als die Premiere seines Stückes «Überlebensgroß Herr Krott» wegen der Ermordung Kennedys verschoben wurde. Und jetzt pfuschte ihm Amerika schon wieder dazwischen! Er las trotzdem. Die Organisatorin bat ihn darum. Anschließend sagten zwei Zuhörer: Sie haben uns den Tag vergessen lassen. Eine schöne, tröstliche Erfahrung.

Einen Monat später unterschrieb er einen «Berliner Aufruf», den internationalen Terrorismus mit zivilisierten Mitteln zu bekämpfen. Die Politik des US-Präsidenten George W. Bush, die darauf beruhte, die Welt in Gut und Böse einzuteilen, bezeichnete er als hoffnungslos: «Auf diese Weise schafft es Osama bin Laden, daß die westliche Seite genauso daherredet wie er. John le Carré hat gerade treffend geschrieben, wer jetzt nicht den Ton der Gut-und-Böse-Rhetorik anschlage, der sei verdächtig, und das ist jetzt noch mehr der Fall als beim Golfkrieg. Ich fühle mich nicht auf der Seite von Menschen, die Krieg führen. Es muß politische Mittel geben. Sonst muß man sagen: Soll’s doch ein anderer probieren, vielleicht könnte es ein anderer Präsident besser. Die vollmundige Zustimmung, zumal die in Deutschland gang und gäbe ist, tut mir schon ein bißchen weh.»38 Daß Walser mit seiner Antikriegshaltung ein Bündnispartner für sie sein könnte, übersahen die Demonstranten an den Leseorten geflissentlich.

Die Erregung erhielt weitere Nahrung, als die SPD Walser für den 8. Mai 2002 zum öffentlichen Gespräch mit Bundeskanzler Gerhard Schröder in die Berliner Parteizentrale einlud. Das Thema am Jahrestag des Kriegsendes: «Nation. Patriotismus. Demokratische Kultur.» Im Herbst standen Bundestagswahlen an, da ziemt es sich für einen Kanzler allemal, die Nähe zu Intellektuellen zu demonstrieren. Aber mußte das ausgerechnet Walser und ausgerechnet am 8. Mai sein? Wollte der Kanzler damit ein geschichtspolitisches Zeichen setzen? Der Zentralrat der Juden in Deutschland zeigte sich irritiert. Michel Friedman fragte: «Sollen mit dieser Veranstaltung rechtsnationale Wähler angesprochen werden?» Ein Berliner «Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus» forderte die Absage des Termins und kündigte Demonstrationen vor dem SPD-Haus an, weil es befürchtete, Kanzler und Schriftsteller würden «Stolz auf unser Land» predigen und Deutschland zur «normalen Nation» erklären. Generalsekretär Franz Müntefering hatte diese Worte in seinem Einladungsschreiben benutzt.39 Der Vizepräsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, der SPD-Abgeordnete Reinhold Robbe, hielt zwar den Vorwurf des Antisemitismus für absurd, gebärdete sich aber als besorgter Pädagoge: Viel gefährlicher als ein Dialog sei es, Menschen wie Walser «mit seinen Thesen allein zu lassen»40. War da der Kanzler gar als Therapeut für einen gefährdeten Autor gefragt?

Walser wiederholte in der Rede «Über ein Geschichtsgefühl» seine seit den achtziger Jahren bekannten Thesen. Ganz in Schwarz gekleidet, saß er neben dem Kanzler vor einer Plakatwand mit der Aufschrift «Politik der Mitte». «Mein Geschichtsgefühl, Deutschland betreffend», sagte er, «ist der Bestand aller Erfahrungen, die ich mit Deutschland gemacht habe. Mit dieser Nation. Wenn es sich um etwas geologisch Erfaßbares handeln würde, könnte ich von der Mächtigkeit eines Vorkommens sprechen. Naturnahe Metaphern bieten sich an, weil Geschichte wie Natur ein Prozeß ist, der der Zeit unterworfen ist. Nation wird es einmal nicht mehr geben.»41 Diese Haltung, die er immer vertreten hat, wird von denen, die ihn für einen Nationalisten halten, gerne übersehen. Nation ist ein historisches Vorkommen, sagt Walser. Daß die deutsche, die «verspätete» Nation sich so pathetisch gebärden mußte, um sich zu empfinden, gehört zu ihrer Verhängnisgeschichte. Von hier aus zog er eine Linie über den Wilhelminismus zum Ersten Weltkrieg und weiter: «Ohne diesen Krieg kein Versailles, ohne Versailles kein Hitler, ohne Hitler kein Weltkrieg zwei, ohne Weltkrieg zwei nichts von dem, was jetzt unser Bewußtsein oder unser Gefühl bestimmt, wenn wir an Deutschland denken. Das wichtigste Glied in der historischen Kette bleibt: ohne Versailles kein Hitler.»42 Ein paar Absätze später, ergänzend: «Versailles ist nicht die einzige Ursache für 1933, Versailles entschuldigt nichts, aber erklärt einiges.»43

Das war vielleicht etwas vereinfacht, aber sicher nicht falsch. Und doch war er damit gleich wieder in der rechten Ecke gelandet. Der Historiker Hans Mommsen belehrte ihn in der Zeit, daß er mit der «undifferenzierten Verwendung von ‹Versailles› als Chiffre» sich «direkt an die Agitation der Rechtsparteien vor 1933 und nach 1945» anschließe.44 Walser führte in einer zunächst ungedruckt gebliebenen Erwiderung45 zu seiner Entlastung unverdächtige Zeitzeugen aus der Weimarer Republik an, die seine Ansicht bestätigten: Leo Trotzki und Carl von Ossietzky. Wieder einmal fragte er gewissermaßen gegen das Erlaubte an. Der Common sense, den Mommsen formulierte, besagt: Je unbedeutender der Friedensvertrag von Versailles für die weitere deutsche Entwicklung, um so reiner die deutsche Schuld. Walser wehrte sich gegen diese Logik. Ihm kam es darauf an, nach historischen Ursachen für Auschwitz fragen zu dürfen, ohne damit in den Verdacht zu geraten, die deutsche Schuld relativieren zu wollen. «Ich kann nicht damit leben, daß wir einfach so sind. Ich muß wissen, was für Bedingungen dafür notwendig waren.»

Schröder hatte keine Probleme mit Walsers Position, auch wenn ihm beim Stichwort «Nationalgefühl» eher die deutsche Fußballnationalmannschaft einfiel. Walsers Begriff der «Schicksalsgenossenschaft» lehnte er ab, weil er sich nur unter einer Genossenschaft etwas vorstellen könne. Nach dem Gespräch war Walser für zwei Stunden Schröders Gast, ehe er ins Hotel zurückkehrte. Dort traf er sich am nächsten Morgen mit Suhrkamp-Geschäftsführer Günter Berg und mit Hubert Spiegel, dem Literaturchef der F.A.Z., der eine erste Fassung des Manuskripts «Tod eines Kritikers» erhielt, um einen Vorabdruck zu prüfen. Zunächst einmal publizierte die F.A.Z. Walsers Rede zum 8. Mai und stand demonstrativ an seiner Seite. Hubert Spiegel nahm ihn gegen den Herausgeber der Zeit, Michael Naumann, vor einer «öffentlichen Vorverurteilung» in Schutz. Naumann hatte schon am 8. Mai in der Zeit Walsers Rede zerpflückt – also noch bevor sie gehalten war. Kaum drei Wochen später erhob Frank Schirrmacher in der F.A.Z. schwerste Vorwürfe gegen Walsers neuen Roman, bevor der auch nur in Druckfahnen vorlag. Öffentliche Moralpostulate haben eine kurze Halbwertszeit.

Mediensatire II: «Tod eines Kritikers». Das Antisemitismusurteil.

Anfang April hatte Walser die erste Hälfte des Manuskripts per E-Mail an Berg und an Unseld geschickt. Berg war unterwegs und druckte den Text in einem Baumarkt aus. Walser rief ihn auf dem Handy an: «Wie ist es?» Berg wußte nicht so recht, sagte, er müsse es erst noch gründlich lesen. Darauf Walser: «Ich erkläre Ihnen jetzt mal, was der Unterschied ist zwischen einem guten Verleger und Ihnen.» Er meinte Siegfried Unseld, denn der habe nach der Lektüre von «Tod eines Kritikers» sofort angerufen und gesagt: «Ein Meisterstück». Walser fühlte sich dadurch an vergangene, bessere Zeiten erinnert und schrieb ihm einen kurzen Brief: «Dir danke ich sehr für die Reaktion gestern: sie war so prompt und potent wie früher. Du hast mir Erinnerungen aktiviert. Dafür also meinen empfundenen Dank.»46 Am 5. Mai meldete Unseld sich noch einmal, nachdem er die zweite Lieferung gelesen hatte. Er gestand, schlecht geschlafen zu haben, versprach aber: «Wir werden das machen, in die Vorschau nehmen, es in unserer Weise anbieten.» So erzählt es Martin Walser, der sicher ist, alles Weitere wäre nicht geschehen oder ganz anders verlaufen, wenn Unseld noch hätte agieren können. Aber Unseld erkrankte schwer und bekam von der Aufregung um das noch gar nicht publizierte Buch nichts mehr mit.

In «Tod eines Kritikers» gerät der Schriftsteller Hans Lach unter Mordverdacht. Er wird beschuldigt, den Fernseh-Großkritiker André Ehrl-König ermordet zu haben. Sein Kollege Michael Landolf recherchiert den Fall, weil er von Lachs Unschuld überzeugt ist. Schließlich taucht Ehrl-König wieder auf, wohlbehalten und gutgelaunt. Lach und Landolf, so stellt sich im letzten Teil der etwas verwirrenden Handlung heraus, sind in Wirklichkeit ein und dieselbe Person. Lach hat sich mit Landolf ein Alter ego geschaffen, um die eigene Geschichte zu erzählen – die Geschichte von Macht und Abhängigkeit im Literaturbetrieb aus der Perspektive des Autors.

Martin Walser ist bekannt als Vervielfältigungstalent. Er schreibt seine Romane, um sich darin zu verstecken. Es sind Vexierspiele, die ein Porträtbild nur erkennen lassen, wenn man lange genug aufs Ganze starrt. Hans Lach erklärt, warum er schreibt: «Weil er sich nicht traut, etwas von sich zu erzählen, erzählt er es so, als handle es sich um einen Bekannten. Dann wird der scharf verurteilt. Dann weiß er, was er zu erwarten gehabt hätte, wenn er gestanden hätte, daß es sich um ihn selber handle.» Walsers Figuren sind Handpuppen, denen er als Bauchredner seine Stimme leiht. Das hat zur Konsequenz, daß sie alle so klingen wie er selbst. Alle sind geprägt von seiner Empfindsamkeit, seiner Gefühlsdominanz, seiner Stimmungszugewandtheit. «Denken bringt mir nichts. Ich bin auf Erfahrung angewiesen», sagt Hans Lach. Er ist ein Autor, der hineinwill ins «schrille Schreibgeschehen», der seinen Erfolg nach Zugehörigkeit und Popularität bemißt und Bücher schreibt mit Titeln wie «Mädchen ohne Zehennägel»: So lautete auch der Titel eines geplanten Romans über Franz Horn, den Walser aber nie ausgeführt hat.47 Wie nah ihm Hans Lach ist, belegen auch einzelne Sätze aus dessen Buch «Der Wunsch, Verbrecher zu sein», die sich unverändert ein Jahr später in «Meßmers Reisen» wiederfinden. Lachs Notiz «Öffentlichkeit schmerzt, vergleichbar dem Sonnenbrand» beispielsweise verwandelt sich dann in eine Sentenz Meßmers.48

Lachs Antipode ist der Erzähler Michael Landolf, der sich mit Kabbala, Alchemie und Rosenkreuzertum beschäftigt. Dessen Held ist der Mystiker Heinrich Seuse. Er arbeitet an einem Buch mit dem Titel «Von Seuse zu Nietzsche», das die «Ichwichtigkeit» untersucht. Im Wissenschaftsjargon könnte man sagen: Es geht um die Konstituierung des Subjekts, und das ist auch das Thema von «Tod eines Kritikers». Was Landolf über Seuse und die Sprache als Verwaltung des Nichts schreibt, ist aus Walsers Essays bekannt. Als drittes Autorenbild kommt schließlich der inhaftierte, unter Schizophrenie leidende Mani Mani dazu, der die von Hölderlin zu Robert Walser reichende Linie der Identitätsbedrohung und Ich-Gefährdung verkörpert. Für Mani Mani gab es ein reales Vorbild, einen Autor, mit dem Walser fünfzehn Jahre lang Briefe wechselte, ohne ihn schließlich am Selbstmord hindern zu können. In «Tod eines Kritikers» setzte er ihm ein Denkmal.49 Doch vor allem gilt: «Erzähler und Erzählter sind eins. Sowieso und immer. Und wenn der eine sich vermummen muß, um sagen zu können, wie der andere sich schämt, dann ist das nichts als das gewöhnliche Ermöglichungstheater, dessen jede menschliche Äußerung bedarf.»50 Solche deutlichen Hinweise wären nicht erforderlich, um in der Trias Lach, Landolf und Mani Mani ein vielfältiges, widerspruchsvolles Selbstporträt zu erkennen.

Von den ersten Lesern – Siegfried Unseld, Günter Berg und Lektor Thorsten Ahrend vom Suhrkamp Verlag sowie Hubert Spiegel von der F.A.Z. – fühlte Walser sich ermuntert. Ein paar Wochen zuvor hatte er der Zeitschrift Bunte noch nicht einmal den Titel verraten wollen, weil er so skandalös sei.51 Daß ein Vorabdruck in der Zeitung, die Marcel Reich-Ranicki eng verbunden ist, nicht ohne Komplikationen ablaufen würde, war ihm klar. Weil dort aber die letzten sechs Romane vorabgedruckt worden waren, darunter auch «Ohne Einander», worin Reich-Ranicki schon einmal parodiert wurde, folgte er einer verhängnisvollen Routine. Die F.A.Z. war, angefangen mit Friedrich Sieburgs «Halbzeit»-Verriß, seine Schicksalszeitung. Hier, im «Edelmistblatt», sollte deshalb auch der «Tod eines Kritikers» publiziert werden. Es wäre ihm eine Genugtuung gewesen.

Sieburgs Kritik aus dem Jahr 1960 begann mit dem Satz: «Als mir das Buch wie ein Neugeborenes ganz behutsam und mit einem fast religiös geflüsterten Kommentar, der mich zur Ehrfurcht aufrief, in die Arme gelegt wurde, trug der Bergahorn noch seine Blätter.» Es folgte die detaillierte Schilderung einer monatelangen Leidenszeit der Lektüre, die langsam verröchelte, als die Bäume ihr Laub abwarfen und die toten Blätter raschelten.52 Da lag die Assoziation zu Goethes Erlkönig nahe, jener berühmten Ballade, in der ein Mann mit einem kranken Kind im Arm losreitet, um es zu retten, und die mit dem Satz endet: «In seinen Armen das Kind war tot.» Sieburg, nicht Reich-Ranicki, ist die Urgestalt der machtvollen Figur des Kritikers, der in «Ohne Einander» noch Willi André König hieß und nun zu André Ehrl-König mutierte.53 Sieburg allerdings war kein Jude, sondern ein williger Mitläufer im «Dritten Reich». Auf ihn bezogen bekäme das Bild des «Erlkönig» eine ganz andre Bedeutung. Das ist insofern nicht unwesentlich, als Walser wenig später vorgeworfen wurde, schon die Wahl des Namens Ehrl-König sei ein «beschämender Skandal». So schrieb die Suhrkamp-Autorin Katharina Hacker in einem offenen Brief an Günter Berg: «Man muß nicht empfindlich, keinesfalls böswillig sein, um diese Namensgebung als einen widerwärtigen Antisemitismus zu begreifen. Man kann sie gar nicht anders begreifen – Erlkönig, der ein Kind verführt, um es zu töten.»54 Man muß schon sehr viel Phantasie mitbringen, um sich zu dieser Behauptung zu versteigen.

Walser dachte tatsächlich, seine bitterböse Satire über den Literaturbetrieb im Zeitalter des Fernsehens könnte Reich-Ranickis Eitelkeit schmeicheln. Er hielt es für möglich, daß «DER» sich freue, «einmal so als Fresko an die größte Wand der Welt projiziert zu werden»55. Er glaubte, keine «Abrechnung» und schon gar keine «Exekution» geschrieben zu haben, wie Kritiker ihm vorhielten, sondern auch eine versteckte Liebeserklärung. «Ich würde niemals ein Buch schreiben, das einer Exekution gewidmet ist, weil ich ohne Liebe nicht schreiben kann», erklärte er. «Zwischen Kritiker und Autor gibt es natürlich eine sehr vielstimmige, vielfältige, vielfarbige Liebe – und der Kritiker in meinem Buch hat ein Verhältnis zu dem Schriftsteller, das ich zumindest als ambivalent bezeichnen möchte. Dieser Autor, meine Hauptfigur, gibt sich zeitweise der Illusion hin, daß er der engste Freund dieses Kritikers werden kann. Solche Wörter wie Hass und Exekution würde ich nie schreiben – da wäre ich lieber Gefängniswärter geworden.»56 Man sollte diesen Hinweis ernst nehmen. Immerhin wollte Reich-Ranicki Walser gerne als Gast in die allererste Sendung des «Literarischen Quartetts» im März 1988 einladen.57 Hätte Walser damals zugesagt und nicht instinktiv die Mitwirkung am Fernsehzirkus abgelehnt, wäre die Geschichte vielleicht anders verlaufen. Andererseits bearbeitete er mit seinem Roman jahrzehntelange Demütigungen. Was sich so lange angestaut hatte, mußte nun als Wut heraus. Das war eine Notwendigkeit, ein therapeutischer Akt und dann erst, in einem zweiten Schritt, literarischer Gestaltungswille. Als es vollbracht war, fühlte Walser sich «so unabhängig wie noch nie»58 und behauptete tapfer, über kein Buch so froh gewesen zu sein wie über dieses.

Die Signale, die aus der F.A.Z. kamen, klangen zunächst durchaus positiv, so als sei ein Vorabdruck machbar und auch Marcel Reich-Ranicki vorsichtig beizubringen. Walser telephonierte mehrfach mit Hubert Spiegel, der um Geduld bat, aber zuversichtlich war. Die Darstellungen des Geschehens dieser Wochen passen allerdings nicht ganz zusammen. Günter Berg erzählt, Hubert Spiegel sei während der Entscheidungsphase zu ihm zu einem Gartenfest gekommen. Nichts habe darauf hingedeutet, daß der Roman in der F.A.Z. unter Antisemitismus-Verdacht geraten könnte. Vielmehr sei ein gemeinsames Essen mit Reich-Ranicki geplant gewesen, zu dem, ein positiver Verlauf vorausgesetzt, Walser später hätte dazustoßen sollen. Hubert Spiegel gewichtete die Ereignisse wenig später in der F.A.Z. anders. Über sich selbst in der dritten Person schreibend, wies er die Behauptung zurück, «der Literaturchef dieser Zeitung habe Walser mehrfach versichert, ‹es gebe keine Bedenken›, Walsers Roman vorabzudrucken». Spiegel schrieb: «Tatsächlich hatte Walser sehr früh erfahren, welch erhebliche Bedenken es gab und wie daher in diesem Fall verfahren werden sollte. Noch bevor das Buch gelesen war, wurde der Schriftsteller gewarnt, daß ein Vorabdruck ohne Marcel Reich-Ranickis Einverständnis ausgeschlossen sei. (…) Obwohl Walser damals sagte, daß für ihn ein Vorabdruck unter dieser Bedingung völlig unvorstellbar sei, sandte er wenig später das Manuskript per E-Mail zur Lektüre. Die Gründe dieses erstaunlichen Vorgehens kennt nur Martin Walser selbst.»59 Nicht erklärt ist damit der weite Weg von der Einverständnissuche bis zum Antisemitismusvorwurf.

Der Suhrkamp Verlag veröffentlichte postwendend eine «Klarstellung», in der es hieß: «Es gab mehrere Telephongespräche zwischen dem Verlag, dem Autor und Herrn Spiegel, in denen dieser immer wieder betonte, daß er – trotz des heiklen Themas! – dafür sei und es der Zeitung ‹gut anstünde›, auch diesen Roman vorab zu drucken. Er, Spiegel, müsse das bei einer passenden Gelegenheit mit Marcel Reich-Ranicki besprechen. Gravierende Bedenken seitens der F.A.Z., seitens Hubert Spiegels, wurden zu keinem Zeitpunkt geäußert. Noch am 27. Mai bat Hubert Spiegel um einen weiteren Tag Bedenkzeit. Einen Tag darauf, dem 28. Mai, rief Herr Spiegel dann um 17.40 Uhr Günter Berg an, um ihm mitzuteilen, daß die F.A.Z. den neuen Roman von Martin Walser nicht vorab drucken werde. Gleichzeitig wurde mitgeteilt, daß Herr Schirrmacher schon am folgenden Tag über den Roman schreiben werde. – Eine Stunde später waren Textpassagen aus Frank Schirrmachers offenem Brief bereits auf Spiegel-Online60

Die Attacke, die F.A.Z.-Herausgeber Frank Schirrmacher am 29. Mai 2002 mit seinem offenen Brief an den «lieben Herrn Walser» führte, kam in ihrer Heftigkeit wie ein Blitz aus heiterem Himmel – auch für die Redakteure der F.A.Z., in der Walser noch vier Tage zuvor gerühmt worden war. Mit allem hatte Walser gerechnet, aber nicht mit dem Vorwurf des Antisemitismus. Berg und Unseld hatten über dieses Thema noch gesprochen und überlegt, ob Vorwürfe in dieser Richtung zu erwarten wären, waren aber zum Ergebnis gekommen, daß keine Gefahr drohe. Walser hatte einen Kritiker als Machtinstanz parodiert. Mit keiner Silbe wird er als Jude angegriffen. Seine jüdische Herkunft ist nicht mehr als ein Gerücht im Literaturbetrieb. Wer Walser vorwarf, er hätte doch leicht auf diesen Aspekt verzichten können, verkennt, daß dieses Thema die deutsche Debattenkultur um- und antreibt wie kein anderes. Man kann keine Satire über die deutsche Öffentlichkeit schreiben und das wichtigste, brisanteste und heikelste Thema aus Sicherheitsgründen aussparen. Das Buch ist nicht antisemitisch, sondern handelt davon, wie Antisemitismus zum Medienthema wird. Es ist die literarische Variante der Paulskirchenrede. Was Walser damals «Instrumentalisierung von Auschwitz» nannte, führt er nun als grell gezeichnetes, burleskes Literaturbetriebskasperletheater vor. Und die Wirklichkeit richtete sich danach.

Schirrmacher verfuhr nach dem Prinzip der Machtausübung, wie er es in «Tod eines Kritikers» beschrieben fand. Da heißt es: «Wenn man einen ganz und gar treffen will, muß man im Stande sein, gegen ihn so extrem zu verfahren, daß er, auch wenn er sein Leben lang darüber nachdenken würde, auf nichts käme, was ihm die Härte des Vorgehens gegen ihn erklären könnte. Der Schlag, für den man kein Motiv findet, der sitzt. Das ist der reine Schlag.»61 Und Schirrmachers Schlag saß. Er war in Präzision und Timing perfekt. Walser jetzt anzugreifen war günstig, denn mit seiner Rede zum 8. Mai war er wieder einmal Gegenstand öffentlicher Kontroversen. Über Antisemitismus wurde schon seit Monaten am Beispiel des FDP-Politikers Jürgen W. Möllemann gestritten, der wegen seiner proarabischen Haltung in der Kritik stand. Wieder einmal tobte die alte Debatte durchs Land, welche Konsequenzen aus der deutschen Geschichte für das Verhältnis zu Israel zu ziehen seien. Möllemann gerierte sich als wackerer Kämpfer, der seine Kritik an der israelischen Siedlungspolitik mit dem Gestus eines Tabubrechers vortrug: Es müsse doch endlich wieder möglich sein, das auch als Deutscher auszusprechen. Es gibt kein Tabu, hielten die Möllemann-Kritiker dagegen. Selbstverständlich sei es erlaubt, Israel zu kritisieren. Aber sie unterschlugen damit, auf wie heiklem historischem Gelände man sich bewegt, wenn es um das deutsch-jüdische Verhältnis geht.

Schirrmacher mußte nur noch die Kontakte zusammenstecken, um den Sprengsatz zu zünden. Keiner war dazu geeigneter als er, der Laudator des Friedenspreisträgers und sein Adjutant in der Walser-Bubis-Debatte gewesen war. Um so größer nun seine Glaubwürdigkeit, wenn er sich entsetzt abwandte und schrieb: «Es geht hier nicht um die Ermordung des Kritikers als Kritiker (…). Es geht um den Mord an einem Juden.»62 Auch diesen unerhörten Vorwurf mußte er nur aus Walsers Roman abschreiben. «Das Thema war jetzt, daß Hans Lach einen Juden getötet hatte», heißt es da.63 Walser schildert an dieser Stelle die Funktionsweise der Medien, die in ihrer Aufmerksamkeitskonkurrenz stets auf den größtmöglichen Skandal aus sind. Der größtmögliche Skandal aber ist der Antisemitismus. «Erst jetzt hatten die Medien ihr Saisonthema gefunden», heißt es im Roman, der als Farce vorwegnahm, was in der Wirklichkeit als Tragödie folgte. Erstaunlich, wie präzise die medialen Nachspieler sich an das Drehbuch hielten. Walser hätte sich über seine prognostische Präzision freuen können, wenn sie ihn nicht selbst getroffen hätte.

Schirrmacher behauptete, Walser bedrohe in Marcel Reich-Ranicki einen Überlebenden des Holocaust mit einer infamen Mordphantasie. Er wolle fiktiv nachholen, was den Nazis nicht gelungen war. Er bediene das Repertoire antisemitischer Klischees, wenn er seinem jüdischen Kritiker «Herabsetzungslust» und «Verneinungskraft» bescheinige. Daß André Ehrl-König gar nicht ermordet wird, machte die Sache nur noch schlimmer. Den Satz «Getötet zu werden paßt doch nicht zu André Ehrl-König» verstand Schirrmacher so, daß damit «das Getötetwerden oder Überleben zu einer Charaktereigenschaft» erklärt werde. Das sei angesichts der Tatsache, daß Reich-Ranicki der einzige Überlebende seiner Familie ist, «ungeheuerlich»: «Verstehen Sie, daß wir der hier verbrämt wiederkehrenden These, der ewige Jude sei unverletzlich, kein Forum bieten werden?» Schirrmacher, der «ein Dokument des Hasses» gelesen hatte, schloß seinen Brief mit der bedrohlichen Bemerkung: «Sie, lieber Herr Walser, haben oft genug gesagt, Sie wollten sich befreit fühlen. Ich glaube heute, Ihre Freiheit ist unsere Niederlage. Mit bestem Gruß.»64

Der Vorgang war ohne Beispiel. Schirrmachers Angriff richtete sich gegen ein Buch, das es noch gar nicht gab. Er nahm damit das Risiko in Kauf, daß nun über einen Text debattiert wurde, den außer ihm zunächst niemand kannte. Und er setzte sich über die guten Sitten des Literaturbetriebs hinweg, vertraulich überlassene und noch nicht autorisierte Manuskripte auch vertraulich zu behandeln. Er rechtfertigte diesen Schritt damit, er habe der Legendenbildung vorbeugen müssen, der Vorabdruck sei am Einspruch Reich-Ranickis gescheitert. Und außerdem habe nicht er die Regeln des Anstands verletzt, sondern Walser mit seinem Roman.65 Berücksichtigt man jedoch die damalige Lage der F.A.Z., die sich – wie die gesamte Medienbranche – in einer schweren wirtschaftlichen Krise befand, muß man auch diese hohe Moral ins Reich der Legendenbildung verweisen. Schirrmacher war kurz zuvor F.A.Z.-intern mit dem Versuch gescheitert, das gesamte Feuilleton nach Berlin zu verlagern. Die öffentliche Verkündigung des Umzugs mußte er auf Druck der Verlagsleitung zurücknehmen. Nach dieser strategischen Niederlage brauchte er dringend einen publizistischen Erfolg.

Ein angekündigter Skandal. Der Wunsch, Verbrecher zu sein. Unselds Tod.

Schirrmachers Vorwürfe waren zunächst nicht nachprüfbar. Sie überrumpelten eine fassungslose Öffentlichkeit und setzten eine entsetzensbereite Kommentierungsmaschinerie in Gang, die wochenlang nicht mehr zur Ruhe kam. Selbst die Tagesschau machte den Fall Walser zur Spitzenmeldung, wichtiger als die Gefahr eines Nuklearkrieges zwischen Indien und Pakistan. Der Suhrkamp Verlag verschickte eilig das kaum redigierte Manuskript per E-Mail, das sich wie ein Virus in den Redaktionen vervielfältigte. Im Rekordtempo wurde gelesen und geurteilt. Der Furor, mit dem das geschah, erinnerte an frühzeitliche Stammesgesellschaften, die das Böse durch gemeinsam gemurmelte Beschwörungsformeln vertreiben zu können glaubten. Das «Besprechen» von Literatur erhielt eine urwüchsige, beängstigende Dimension. Ein Gespenst ging um in Deutschland: der Antisemitismus. «So leidenschaftlich geht die Suche nach verdächtigen Stellen mittlerweile voran, daß jeder, der keine Passage mit ‹antisemitischen Klischees› finden kann, sich selbst des Antisemitismus verdächtig macht», beschrieb Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung die Atmosphäre.66 Und Harry Nutt diagnostizierte in der Frankfurter Rundschau die «Aufführung einer deutschen Neurose»67.

Der Skandal um «Tod eines Kritikers» ist die Geschichte einer Überwältigung und einer Hysterisierung der Öffentlichkeit. Das Manuskript war für all die professionellen Leser nicht mehr anders wahrnehmbar als unter der Frage: Ist es antisemitisch oder nicht? Schirrmacher hatte es geschafft, die Rezeptionsweise auf eine einzige Lesart einzuengen. Was für eine Leistung! Nachdem er zum Auftakt weniger eine Anklage vorgetragen als ein Urteil gesprochen hatte, beugten sich die Literaturexperten in kriminalistischer Akribie über das Manuskript, als wäre es eine Tatwaffe. Auch dieses Verfahren hat Walser im Roman bereits vorweggenommen. Ein Münchner Kriminalhauptkommissar, die Verlegergattin, der Erzähler Michael Landolf und andere zitieren immer wieder aus Hans Lachs «Der Wunsch, Verbrecher zu sein», um seine Schuld oder Unschuld zu beweisen, je nach Interessenlage. «Schriftsteller sind ununterbrochen damit beschäftigt, ihr Alibi zu notieren»68 ist so ein beidseitig verwendbarer Lach-Satz. Und Michael Landolf resümiert: «Um die Schuld oder Unschuld eines Schriftstellers zu beweisen, braucht man doch keine Indizien, die Bücher genügen.»69

Mit Literaturkritik hatte die republikweite Spurensuche nichts zu tun, eher schon mit pornographischer Gier, in der man sich darauf beschränkt, die verdächtigen «Stellen» herauszupicken. «Geschmacklos» war noch das harmloseste Adjektiv, das in fast allen Rezensionen auftauchte. In früheren Jahrzehnten der Bundesrepublik sorgte sich die öffentliche Moral eher um das erotisch Statthafte und belegte Grenzüberschreitungen im Bereich des Sexuellen mit dem Vorwurf der Obszönität. Hatte nicht Friedrich Sieburg «Halbzeit» einst auch aus sittlich-moralischen Bedenken heraus abgelehnt?70 Diese Stelle nimmt nun der Antisemitismus ein. Aus der sexuellen Prüderie der Adenauer-Zeit ist eine Prüderie des Gedenkens geworden. Walsers Erzählstrategie, die Kritikerfigur durchgängig zu sexualisieren, Ehrl-König während einer Party an der Nase einer Begleiterin herumkneten zu lassen, ihm eine Vorliebe für «Mädels» beziehungsweise «Mädelchen» und für Schwangere bis zum dritten Monat anzudichten, erscheint vor diesem Hintergrund konsequent. Ehrl-König betreibt das Handwerk der Kritik als eine Art sexueller Ekstase, so daß es in der Szene, für die Walser am heftigsten gescholten wurde, heißt, er «ejakuliere durch die Gosch’n». Geschmacklos? Mag sein. Aber muß Literatur immer vornehm und zurückhaltend sein? «Ich bin kein Damenkränzchen», sagt Martin Walser.

«Tod eines Kritikers» wurde durchgängig als Schlüsselroman gelesen. Das stimmt und stimmt nicht, wie bei all seinen Romanen. Sie reagieren auf Erfahrung. Sie nehmen Wirklichkeitsmaterial auf und verarbeiten es. Schon in «Ehen in Philippsburg» glaubte sich der Freund Helmut Jedele in einer Figur erkennen zu können, in «Halbzeit» Corinne Pulver. Und so weiter. Jetzt wurden Rainer Heiner Henkel als Walter Jens und Professor Wesendonk als Jürgen Habermas gedeutet. Auch Habermas selbst meinte, die Wesendonk-Figur auf sich beziehen zu müssen. Doch Walser wollte die realen Vorbilder nicht einfach porträtieren, er setzte sie zu neuen Figuren zusammen. Nicht die verschlüsselte Abbildung der Wirklichkeit ist sein Ziel, sondern ihre Umschrift: sie für sich erträglich zu machen. Dabei geht es vor allem um ihn selbst. «Selbstporträt als Kriminalroman» hieß eine kleine Erzählung aus dem Jahr 1978, die das Verhältnis zu Reich-Ranicki als Parabel darstellte. Daß «Tod eines Kritikers» vor allem ein komplexes Selbstporträt als Kriminalroman ist und in viel geringerem Maße eine Persiflage der Protagonisten des Literaturbetriebs, hat die Kritik in ihrer Fixiertheit auf den Skandal kaum bemerkt.

«Tod eines Kritikers» ist vielleicht Walsers dringlichstes, notwendigstes Buch. Geglückt ist es nicht, wenn man es an seinen eigenen Kategorien mißt. Gälte Hans Lachs späte Erkenntnis – «Das Höchste, was man erreichen kann, einem Feind sagen, daß man sich nicht mehr für ihn interessiere. Das Feld überlassen. Ausscheren.» –, dann wäre dieser Roman nicht geschrieben worden. Auch der Idealvorstellung Heinrich Seuses, daß Sprache erst dann ganz bei sich ist, wenn sie nichts transportieren muß, genügt «Tod eines Kritikers» unter allen Walser-Romanen am wenigsten. «Wenn ich recht haben muß, befinde ich mich sprachlich schon in einem depravierten Zustand, auf der falschen Frequenz», hatte er einmal in einem Interview gesagt.71 So gesehen tönt «Tod eines Kritikers» ziemlich schrill auf einer falschen Frequenz. Daß er sich unbedingt ins Recht setzen mußte, ist auch stilistisch zu merken. Fast zwanghaft bildete er eine Manier der Ausschließlichkeit aus. Als genüge es nicht, Hans Lach sagen zu lassen: «Ich war haltlos», schreibt er: «Ich war nichts als haltlos.» Dieses «nichts als» zieht sich als penetrantes Stilmittel quer durch den Roman – eine Formelhaftigkeit des Ausdrucks, die Walser sich zuvor nie gestattet hat. Dennoch: «Tod eines Kritikers» ist reicher und vielfältiger und im Aufbau komplexer, als es die einseitige Lesart als Rache an Reich-Ranicki nahelegte.

Reich-Ranicki schwieg zunächst und wollte auch auf Nachfragen nichts sagen. Er war ja in diesem Kritiker-Autor-Verhältnis, in dem Walser sich erklärtermaßen als Opfer, ja sogar einmal als «Juden» und seinen Peiniger als Täter bezeichnete, Opfer der Satire geworden. Walser sah sich nun öffentlich als Täter angeklagt – was seine Wut noch steigerte: «Nun stehe ich als der böse Wüterich da, und der tut den Leuten leid. DER durfte mit meinem Lebensstoff dreißig Jahre umspringen, wie er wollte, da begehrte niemand auf.»72 Nun wurde Walser vorgeworfen, die Seiten vertauscht zu haben, wenn er einen Juden als Täter und sich selbst als Opfer imaginierte. In seiner Fernsehsendung «Solo» äußerte Reich-Ranicki sich schließlich doch und verlas eine Erklärung in eigener Sache: Walsers «Mordphantasie» habe ihn und seine Frau «tief getroffen». Sie seien in ihrem langen Leben «mit der Absicht, uns zu ermorden, hinreichend konfrontiert worden. Wir sind schon leidgeprüft. Aber daß ein solches Buch von einem bekannten und anerkannten deutschen Schriftsteller im Jahr 2002 geschrieben werden kann, damit haben wir nicht gerechnet»73. Reich-Ranicki, der erfahrene Leser, verlor in seiner Getroffenheit die literarischen Maßstäbe. Indem er Walser «Mordabsichten» unterstellte, verwechselte er die Ebene der literarischen Satire mit der Wirklichkeit. Bei allem, was man gegen «Tod eines Kritikers» sagen kann: Eine reale Mordabsicht darf man dem Autor doch wohl nicht unterstellen.

In seiner Dankesrede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde in München ging Reich-Ranicki wenig später noch weiter. Da wollte er Walsers Namen nicht einmal mehr in den Mund nehmen, sprach nur noch von dem «Mann vom Bodensee» und behauptete allen Ernstes, in «Tod eines Kritikers» werde nach «dem Vorbild des ‹Stürmers›» «gegen Juden gehetzt». «Der Autor vom Bodensee kann sich nicht damit abfinden, daß ich noch lebe und arbeite. Er kann sich ja ausrechnen, daß das nicht mehr lange dauern wird. Aber er ist auf grausame Weise ungeduldig.»74 Angst habe er, sagte der wortgewaltige Kritiker, als müsse er tatsächlich um sein Leben fürchten, als sei Walsers Roman ein Indiz für einen neuen, blutigen Antisemitismus in Deutschland.

Schmerzhafter als alles andere war für Walser der offene Brief von Ruth Klüger, der zwar mit der Formel «in alter Freundschaft» unterzeichnet war, den er aber doch als Aufkündigung der Freundschaft empfand. Klüger stellte sich ganz auf die Seite von Schirrmacher und Reich-Ranicki. Sie fühlte sich «betroffen, gekränkt, beleidigt» von der Darstellung des Kritikers als «jüdisches Scheusal» und wollte Walser nicht glauben, daß er diese Figur nicht absichtsvoll als Juden gezeichnet hatte. Nicht die Mordabsicht empörte sie, sondern die Tatsache, daß schließlich alles nur ein Phantasma gewesen sein soll. Damit zeige Walser, daß die Deutschen in Wirklichkeit schuldlos seien: «Ich bitte euch, scheint der Text zu sagen, wir sind doch kein Mordgesindel. Lieber Martin, vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, die sich nun einmal nicht ausklammern läßt, ist die komische Wiederkehr des nur scheinbar ermordeten Juden noch schlimmer, als ein handfester Krimi mit Leiche gewesen wäre.»75 Auch der jüdische Schriftsteller Elie Wiesel distanzierte sich von Walser. Er verfügte, daß die nächste Auflage seiner Erinnerungen «Die Nacht» ohne dessen Vorwort aus dem Jahr 1963 erscheinen sollte. Günter Grass gehörte dagegen zu den Verteidigern Walsers. Er konnte in keiner der inkriminierten Stellen des Romans und nirgendwo in Walsers Werk Antisemitismus entdecken.

Als das Buch Ende Juni erschien, war längst alles darüber geschrieben. Und doch brandete die Debatte noch einmal auf – angefeuert wiederum von der F.A.Z., die das publizistische Unentschieden doch noch in einen Sieg verwandeln wollte. «Walser war beschädigt, aber der zentrale Antisemitismusvorwurf gegen ihn hatte vielfachen Widerspruch gefunden», wertete die N.Z.Z. das Zwischenergebnis aus schweizerischer Neutralität.76 Für die F.A.Z. ließ sich nun Jan Philipp Reemtsma, Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, dazu hinreißen, Walser einen «antisemitischen Affektsturm» zuzuschreiben.77 Damit ging er über Schirrmachers vergleichsweise vorsichtige Formulierung des «Spiels mit antisemitischen Klischees» weit hinaus. Reemtsmas mehr als eine Zeitungsseite füllende Beweisführung enthielt allerdings einen peinlichen Fehler, der ein deutliches Licht darauf wirft, wie die Verdachtproduktion funktionierte. Reemtsma rügte Walser unter anderem für die physiognomische Darstellung des Kritikers Ehrl-König mit «Wulstmund» und einer «so kräftigen wie feinen Nase». «Kräftige Nase muß sein», schrieb er, «aber wieso soll das eine antisemitische Karikatur sein, höre ich jemanden einwenden, da steht doch ‹feine Nase›? Ebendarum. Weil es auffällt, daß da etwas fehlt am Klischee, fällt es auf. Immer wenn Walser etwas verbergen will, zeigt er es überall herum.» Folgt man diesem Argumentationsgang, dann kann es auch nicht mehr stören, daß die «feine Nase» tatsächlich gar nicht Ehrl-König, sondern vielmehr Hans Lach gehört. Reemtsma hatte sich vertan, wie Joachim Günter in der N.Z.Z. bemerkte.78 Oder war es nur eine weitere, besondere Perfidie Walsers, die feine Nase nicht dem Juden, sondern seinem Widersacher gegeben zu haben? Müßte es Reemtsma nicht ganz besonders verdächtig erscheinen, wenn im Roman überhaupt das Wort «Nase» vorkam?

Der Suhrkamp Verlag brauchte im Klima der aufbrandenden Empörung nach Schirrmachers Verdikt mehr als eine Woche, um sich zaghaft hinter seinen Autor zu stellen. Es war kein Geheimnis, daß es auch im Verlag heftige Einwände gegen das Buch gab und eine Fraktion, die gegen die Veröffentlichung kämpfte. Der todkranke Unseld konnte sich nicht mehr äußern. In seiner Abwesenheit setzten die Diadochenkämpfe ein. Berg als Geschäftsführer hatte gegen den Druck der Öffentlichkeit und Widerstand im Verlag – besonders von Programmleiter Rainer Weiss und Ulla Berkéwicz – seine Entscheidung durchzusetzen. Ulla Berkéwicz schrieb in der Zeit einen Artikel zum dritten Todestag von Ignatz Bubis, mit dem sie sich sichtbar von Walser distanzierte.79 Wäre Unseld noch handlungsfähig gewesen, wäre dieser Text wohl kaum so geschrieben worden. Reich-Ranicki sprach sich öffentlich gegen die Publikation des umstrittenen Romans im Suhrkamp Verlag aus: In die Tradition von Walter Benjamin, Ernst Bloch, Theodor Adorno und Paul Celan passe dieses Buch nicht. Das war der Versuch der Exkommunizierung eines Dichters und sein Ausschluß aus der Gemeinde, aus der Tradition der Suhrkamp-Kultur, die über mehrere Jahrzehnte die bundesdeutsche Geistesgeschichte repräsentierte. Als Suhrkamp sich schließlich dazu durchrang, «den Roman in der von Martin Walser verantworteten Textform» zu publizieren, wie es in einer Presseerklärung distanzschaffend hieß, wollte Reich-Ranicki nicht dagegen protestieren, um den Verlag, dem er selbst verbunden ist, nicht in noch größere Schwierigkeiten zu bringen. Längst war aus dem «Fall Walser» auch ein «Fall Suhrkamp» geworden. Würde der Übergang in die Nach-Unseld-Ära gelingen?

Walser war lange Zeit nicht darüber informiert, wie es um Unseld stand. Schon ein paar Tage vor dem Schirrmacher-Artikel rief er besorgt an, wollte ihn sprechen, wissen, wo er sei. Am 29. Mai, geschockt von Schirrmachers offenem Brief, schickte er in aller Frühe ein Fax in den Verlag: «Lieber Siegfried, ich habe im Herbst 1998 nicht von Dir erwartet, daß Du Dich für mich erklärst, heute frage ich mich zumindest, was Du tun wirst. Es geht direkt um das Verlagsprojekt, um den Bruch der Regel, der wichtigsten, was die Veröffentlichung betrifft. In 50 Jahren nie passiert. Also, was jetzt? Herzlich grüßend, Dein Martin»80. Unseld erreichte er mit diesen Zeilen nicht mehr. Immer wieder versuchte er in den folgenden Monaten, telephonisch zu ihm vorzudringen. Jetzt hätte er ihn gebraucht wie nie zuvor. Doch nun konnte Unseld nicht mehr, und Ulla Berkéwicz stand schützend vor ihrem Mann, um jede Aufregung von ihm fernzuhalten. Sie berief sich dabei auf die behandelnden Ärzte.

Zwei Texte, die Walser im Juni als Reaktion auf die Antisemitismusvorwürfe in Fortsetzung von «Tod eines Kritikers» schrieb, um sich Luft zu machen, bot er bei Suhrkamp an. Günter Berg und Thorsten Ahrend lasen und empfahlen, diese «Wesendonkiade» besser in der Schublade zu belassen. Der erste, erzählerische Text trug den Titel «Excelsior» und schilderte einen Spaziergang Wesendonks und Lachs durch die Stadt, bei dem aber nur Wesendonk zu Wort kommt, der unentwegt auf Lach einhaut. Der zweite Text war eine Farce in Szenen und hieß «Die Glatze des Prometheus».

«Tod eines Kritikers» erschien Ende Juni ohne begleitende Werbung und ohne Klappentext. Es sah so aus, als ob der sterile Umschlag den giftigen Inhalt neutralisieren müßte. Der Verlag veröffentlichte das Buch gewissermaßen mit spitzen Fingern, um sich nicht schmutzig zu machen. In Wochenfrist hatte es Platz 1 der Bestsellerliste erobert. Skandale sind allemal gut für den Verkauf. Auf Lesereise ging Walser vorsichtshalber nicht. Er hätte das zu erwartende Geschrei nicht mehr ertragen. Als er für einen Auftritt im MDR-Lese-Café in Leipzig, der live im Rundfunk übertragen wurde, doch eine Ausnahme machte, blieben die üblichen, lautstarken Proteste nicht aus. Die Demonstranten verteilten sich strategisch im Publikum und riefen, man wolle einem Antisemiten nicht zuhören. Walser forderte die Störer auf, nach vorne zu kommen und ihm ins Gesicht zu sagen, daß er ein Antisemit sei. Dann könnten sie sich eine Ohrfeige gleich dazu abholen. Es dauerte eine halbe Stunde, bis die Lesung beginnen konnte.

Im September versuchte er erneut, zu Unseld vorzudringen. Er hätte ihn dringend gebraucht. Wie schwer der Freund erkrankt war, wußte er immer noch nicht. «Lieber Siegfried, jetzt muß ich Dir doch einfach schreiben. Ich möchte Dich gern besuchen. Es kann ja auch ein kurzer Besuch sein. Auf jeden Fall kein anstrengender. Ich würde Dich gern wieder einmal sehen, ein paar Worte wechseln. Ich würde mich sehr freuen, wenn Dir das recht wäre. Bitte, laß mich wissen, wie du darüber denkst. Für heute mit herzlichen Grüßen und guten Wünschen, auch von Käthe, Dein Martin»81. Weil er keine Antwort erhielt, versuchte er es über Ulla Berkéwicz und bat sie um ein Gespräch, denn er wußte, daß andere Autoren Unseld besucht hatten. «Ich finde, was seit einiger Zeit abläuft, unwürdig. Mir läge sehr daran, dafür Dein Verständnis zu finden. Das Wann und Wo könntest Du bestimmen, mir wäre alles recht. Ich glaube, zwischen uns könnte eine bessere Beziehung entstehen, sonst bäte ich nicht um ein Gespräch.»82 Ulla Berkéwicz leitete den Brief an ihren Anwalt weiter. Walser erhielt Antwort vom behandelnden Arzt, der dringend von emotional bewegenden Kontakten abriet. Dann endlich, am 4. Oktober, klärte sie ihn über den lange Zeit lebensbedrohlichen Zustand ihres Mannes auf, dem es nun aber wieder etwas besser gehe. Ein Gespräch lehnte sie ab. Auch sie brauche jetzt erst einmal Ruhe, und Walser habe in Günter Berg «de jure» seinen Verleger und in Thorsten Ahrend einen wunderbaren Lektor. Sie erinnerte an das Zerwürfnis um den Schlüsselroman «Abstieg vom Zauberberg» und wie sehr Unseld damals unter Walsers Haltung gelitten habe. Walser schrieb erfreut zurück: «Ich bin froh, daß es Siegfried ein wenig besser geht! Wirklich! Was unser Gespräch betrifft: wann immer Du es für möglich hältst, laß es mich wissen. Mit herzlichen Gruß, Martin. P. S. Falls es denkbar ist, daß Siegfried durch eine Schachpartie an frühere Kräfte und überlegene Fähigkeiten erinnert wird, wäre ich sofort da.»83

Unseld starb am 26. Oktober 2002. Walser schrieb einen zärtlichen, warmherzigen Nachruf auf den langjährigen Freund, den intensiven Leser, den großen Verleger.84 Noch einmal wurde die Freundschaft, die doch in den letzten Jahren kaum noch existierte, gegenwärtig. Alles Vergangene legte er in diesen Text, so daß die Freundschaft im Abschied zu leuchten begann und Unseld, der Tote, als Lebendigkeitsphänomen erstrahlte. Unseld wollte immer nur an seinen besten Augenblicken gemessen werden. Also maß Walser ihre Freundschaft an den Augenblicken der Zusammengehörigkeit, der Sorglosigkeit, des Glücks, die als etwas Gelungenes in der Erinnerung blieben. Aber der Tod machte auch die angestauten Versäumnisse spürbar, die nun endgültig geworden waren. Nichts ging mehr. Alle aufgeschobenen Gespräche waren endgültig verpaßt. Die Liebeserklärung kam zu spät.

Die Trauerfeier auf dem Frankfurter Hauptfriedhof besuchten rund 800 Gäste, unter ihnen auch Bundeskanzler Schröder. Die Suhrkamp-Kultur versammelte sich noch einmal über alle Widersprüche und Gräben hinweg. Scharfsichtige Beobachter lasen aus der Sitzordnung der Gäste einen symbolischen Sinn fürs Zeremonielle, wenn Walser und Reich-Ranicki etwa gleichrangig, aber in größtmöglichem Abstand voneinander plaziert wurden. Am Grab, so kolportierte die Berliner Zeitung, ging Walser «auf Ulla Berkéwicz zu, gab ihr kräftig die Hand, schien eine Umarmung zu erwarten, wie sie seine Umarmung zu erwarten schien, dann aber blieb es beim Händedruck, während Frau Walser und Frau Berkéwicz einander in die Arme fielen»85. Man könnte glauben, hier werde eine Staatsaktion geschildert. Aus der Intensität und Dauer eines Händedrucks und einer unterbliebenen Umarmung ließen sich diplomatische Verstimmungen herauslesen. Und so war es auch. Walsers Abschied vom Suhrkamp Verlag, seiner publizistischen Heimat für rund fünfzig Jahre, stand bevor.

Als ein paar Wochen später Rudolf Augstein starb, fragte Walser: «Zuerst er, dann er. Wer jetzt?» Der Tod rückt näher mit jedem Toten. Für sich und seine Frau Käthe hatte er schon vor ein paar Jahren einen Grabplatz auf dem Wasserburger Friedhof erworben, gleich neben dem Grab der Eltern. Mit dem Tod war zu rechnen, und so sind auch seine Nachrufe unsentimental, ganz auf den Menschen bezogen, auf das, was bleibt. In Augstein verlor er einen Freund, mit dem er seine Deutschlandgefühle teilte. Im Spiegel erzählte er, wie er ihn einmal, «als wir uns nicht mehr für nüchtern halten konnten», eine Treppe hinabtrug und hinüber zum Taxi: «Er war leicht. Mehr Vogel als Stein. So leicht, als bestünde er aus lauter Gedanken.»86 Kann man einem Menschen Schöneres nachsagen? Etwas so schön zu sagen, wie es nicht ist – das ist, wie Walser immer wieder erklärt hat, seine Aufgabe als Schriftsteller. Er hatte ja sogar – davon war er überzeugt – Reich-Ranicki in der Figur des André Ehrl-König schöner, witziger, größer, souveräner gemacht, als er wirklich war. Bloß daß ihm das niemand abnehmen wollte.