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VII VON AUSCHWITZ BIS VIETNAM. 1963  1966

Alleinstehender Dichter. Zwischen Gewerkschaft und Gruppe 47.

Uwe Johnson schenkte zum Jahreswechsel 1963/​64 wie üblich einen Kalender. Walser ärgerte sich über das Ritual, verstand aber den Symbolwert. Sein Dankeschön schrieb er, ständig unterwegs, auf einen Notizblock der Lufthansa. Er versicherte, daß nun «unsere besten Jahre» bevorstünden: «Das wird was!»1 Der zur Schau getragene Optimismus war nicht echt. Der Mißerfolg mit dem «Krott» hatte keine Zuversicht hinterlassen, sondern ein Null- und Nichtigkeitsgefühl, für das er literarisch in Robert Walser einen Paten fand. Peter Hamm und Walter Höllerer hatten schon Ende der fünfziger Jahre für Robert Walser missioniert. Seither begeisterte Martin Walser sich für den Schweizer Namensvetter, den er nun in einem Funkessay als «alleinstehenden Dichter» porträtierte.2 Mit ihm verlängerte sich die Linie der Gefährdeten in seiner Leserbiographie, die Linie Hölderlin – Kafka – Proust. Es ist seltsam: Martin Walser wünschte sich nichts sehnlicher als Erfolg. Er wollte zu den Siegern gehören, zu den Widerstandsfähigen und Anerkannten. Er wollte in der Gesellschaft mitmischen und ganz und gar nicht zu den Alleinstehenden gerechnet werden. Und doch waren es immer wieder die Untergeher, die Zerbrechlichen, die Wehrlosen, deren Literatur ihn anzog. Lebensideal und Literaturideal standen sich geradezu gegensätzlich gegenüber. Vielleicht muß das so sein, wenn Literatur einen Mangel bezeichnet.

Kaum etwas könnte weiter auseinanderliegen als Robert-Walser-Lektüre und Gewerkschaftsengagement. Und doch handelte es sich dabei vielleicht nur um zweierlei Konsequenzen aus der Theaterenttäuschung. Die politischen Aktivitäten nahmen mit der künstlerischen Verunsicherung zu. Die Gewerkschaft war als gestalterische gesellschaftliche Kraft jenseits des Tarifgeschachers nicht gerade auffällig geworden. Dennoch orientierte Walser sich politisch in Gewerkschaftsrichtung – einige Jahre bevor das abstrakte Bekenntnis zur Arbeiterbewegung Mode unter Intellektuellen wurde. Er wollte wissen, ob von dort vielleicht doch ein bißchen mehr zu erwarten wäre; ob sich kulturpolitische Aktivitäten mit Gewerkschaftsunterstützung anzetteln ließen.

Im Sommer 1963 hatte er sich schon einmal mit Funktionären, auch mit DGB-Chef Ludwig Rosenberg, getroffen und immerhin den Eindruck gewonnen, daß man auch dort einen Mangel empfinde und gegen einen mitreißenden Ideengeber nichts einzuwenden hätte. Doch die Diskrepanz zwischen einem erfinderischen Intellektuellen und verwaltenden Funktionären ließ sich nicht überwinden. Walser träumte von einer großen, linken Tageszeitung. Die Gewerkschafter kürzten seine Schwärmerei auf ein Monatsblättchen zusammen. Also lieber nicht. Von seinen Überlegungen, «Außenforts», Bündnisplattformen außerhalb der Parteien zu gründen, so wie es der CDU mit dem BDI gelungen sei, blieb nicht viel mehr als der Plan einer Podiumsdiskussion in Oberursel, für die er in Gedanken schon einmal mögliche Teilnehmer aufmarschieren ließ. Gegenüber Johnson, den er gern dabeigehabt hätte, zählte er auf: Jens, Rühmkorf und Enzensberger, den man «um seinetwillen» ganz vorsichtig fragen müßte. Hochhuth, Palitzsch, Roehler, Hamm und Amery. Hirschauer, der in der «Alternative» gut geschrieben hatte. Vielleicht Peter Weiss. Grass nur dann, wenn er «seinen hohen Mut gegen Ideologien überwinden» könnte. Auch Hans Werner Richter wäre willkommen, sofern nichts an «jene verschlampte Gruppe» erinnere: «Es ist wirklich die Frage, ob wir ein Leben lang im H.-W.-Richter-Kauderwelsch schwimmen können?»3

Das klang, bezogen auf die Gruppe 47, nicht gerade freundlich. Schon seit Anfang der sechziger Jahre bemühte Walser sich dort um Veränderungen. Die Zusammenkünfte hatten längst nichts mehr mit den Freundestreffen der frühen Jahre zu tun. Sie waren zu einem Großereignis im Literaturbetrieb geworden, wo Verleger und Redakteure junge Autoren begutachteten und wo im grellen Licht der Öffentlichkeit Marktchancen verteilt wurden. Mit seinem «Brief an einen ganz jungen Autor», der 1962 in der Zeit erschien, lag Walser noch auf Richters Linie.4 In freundlich-satirischer Weise porträtierte er die fünf Berufskritiker Walter Höllerer, Walter Jens, Joachim Kaiser, Marcel Reich-Ranicki und Hans Mayer. Als Show eitler Selbstdarsteller, die zu Lasten der Autoren ging, persiflierte er das Ritual von Lesung und Kritik. Reich-Ranicki verglich er mit dem König Drosselbart aus Grimms Märchen, dem «Ahnherrn aller Kritiker», der mit prächtigem Gewand auf den Marktplatz reitet, um den Künstlern die Keramik zu zerdeppern.5

In der Gruppe gab es eine breite Opposition gegen die Professionalisierung der Kritik, namentlich gegen Marcel Reich-Ranicki. Er störe das kollegiale Gespräch, ja, er zerstöre die Freundschaften, die den Zusammenhalt der Gruppe ausmachten. Eich, Aichinger und Hildesheimer drohten, nicht mehr zu kommen, wenn Reich-Ranicki wieder eingeladen werde. Doch Richter hielt an ihm fest, versuchte lediglich, ihm den Gedanken der «Autorenkritik» nahezulegen und ihn damit um Zurückhaltung zu bitten.6 Reich-Ranicki ließ sich darauf nicht ein. Er waltete unverdrossen seines Kritiker-Amtes. Zum stillen Zuhören war er nicht geschaffen. So kam es, daß Walser ihm beim Gruppentreffen in Göhrde zu vorgerückter Stunde und nach einigen Flaschen Wein einen Vortrag über den Satz «Die Literaturkritiker aller Zeiten und Länder sind Lumpenhunde» hielt. Er konnte dabei auch auf Goethes berühmten Ausspruch «Schlagt ihn tot, den Hund, er ist ein Rezensent» verweisen.

Alle Versuche, die Entwicklung rückgängig zu machen, mußten vergeblich sein. Als es Richter 1961 noch einmal gelang, die Einladungsliste von 140 auf siebzig Teilnehmer zu halbieren, gratulierte Walser zur «versuchten Rettung der Gruppe durch Ausladung der Zaungäste. Wenn es Dir jetzt noch gelänge, die törichte Presseberichterstattung abzubauen, dann könnte man tatsächlich offen reden»7. Doch Walser wollte längst nicht mehr den netten Freundeskreis von früher, sondern voran zu etwas Neuem. Schon seine 1961 vorgetragene Idee, ein «Gruppenhaus» für in Not geratene Autoren einzurichten, zeigte ein soziales Interesse an und deutete voraus auf die Entwicklung, die 1969 zur Gründung des gewerkschaftlich orientierten Verbandes deutscher Schriftsteller (VS) führte. Erst der VS übernahm die sozialpolitischen Funktionen, die Walser gerne schon in der Gruppe 47 angeregt hätte. Er sah nicht, daß die von Richter eher monarchisch regierten Zusammenkünfte dafür nicht geeignet gewesen wären, und handelte sich mit seinen Vorstößen regelmäßig dessen Ärger ein. Abschätzig sprach Richter von Walsers «Altersheim», das er sich nicht auf den Buckel binden lassen wolle.8 Alles Politische hielt Richter für gefährlich, weil es den Gruppenzusammenhalt gefährden würde. Alles, was die Gruppe einer Organisation angenähert hätte, war ihm suspekt. Als Walser ihm einmal, flott auf eine Postkarte notiert, Vorschläge in diese Richtung unterbreitete, ärgerte er sich tagelang darüber.9

Demnach mußte er es auch als feindlichen Akt empfinden, als Walser für die Tagung im Herbst 1963 in Saulgau eine abendliche «Diskussion über Politisches» anregte. Thema: «Was wollen wir nicht mehr so machen, wie wir es gemacht haben!» Er wollte aus diesem Gespräch Interessierte herausfiltern, die «Freude hätten an kontinuierlicher Berührung mit Politischem»10. Die Bundestagswahl 1965 war nicht mehr fern. Adenauer hatte für den Oktober 1963 seinen Rücktritt angekündigt. Am 16. Oktober wurde mit Ludwig Erhard ein neuer Kanzler vereidigt, der Gesprächsbereitschaft signalisierte und Richter eine «heimliche Zuneigung» gestand.11 Darauf war Richter stolz, doch das von Walser gewünschte politische Gespräch machte ihm Sorgen. Er wollte sich lediglich auf ein fast schon heimliches Treffen in seinem Hotelzimmer einlassen. Walser war damit einverstanden. Tatsächlich kam er dann nur zu einer kurzen Stippvisite nach Saulgau, weil er durch Theaterproben in Stuttgart festgehalten wurde. Hellmuth Karasek, den er aus Stuttgart mitbrachte, vergaß er Richter vorzustellen, so daß der Kritiker – Walser war schon wieder verschwunden – als uneingeladener Gast des Raumes verwiesen wurde.12 Zunächst also viel Wind um nichts. Kein Wunder, daß Richter in Walser einen Querulanten sah, der bloß Unruhe stiften wolle.

Dieser Eindruck verfestigte sich, als Walser im Juli 1964 in der Zeit dazu aufrief, die Gruppe 47 zu sozialisieren. Mit bösen Worten, deren Ironie nicht jedermann deutlich wurde, belegte er das, was aus ihr geworden war, sprach von einer «literarischen Monopolgesellschaft», einer «Dauerverschwörung», einem «Markenartikel»13. Er reagierte damit auf ein Pamphlet von Hans Habe14, einem jüdischen Publizisten, der aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland zurückgekehrt war. Habe hatte der Gruppe 47 «Meinungsterror», ja «Diktatur» vorgeworfen, hatte sie als «HJ – eine literarische Halbstarken-Jugend» bezeichnet und behauptet, man sei dort bereit, «jeden alten Herrn, jeden Juden, sogar jeden alten Juden ans Herz zu drücken, wenn er nur nicht besser schreibt als die 47er». Aus seinen Zeilen sprach die Verbitterung darüber, daß er und die Generation der Exilanten in der Gruppe 47 keine Rolle spielten. Tatsächlich wäre Richter niemals auf die Idee gekommen, Thomas Mann oder Ernst Jünger einzuladen. Die Gruppe war 1947 als Gegenentwurf zu allem Früheren entstanden. Es war die junge, sich als unbelastet empfindende Generation, die da zusammenkam. Inzwischen aber waren die 47er selbst die Etablierten und zogen damit den Neid all derer auf sich, die nicht dazugehörten.

Walser nahm die Polemik von Hans Habe auf, brachte sie aber von dem falschen Faschismusvorwurf in einen ökonomischen, rein organisatorischen Zusammenhang. Er gestand, darüber zu erschrecken, wenn er auf einem Plakat, das eine Lesung von ihm ankündigte, unter seinem Namen die Zeile «Mitglied der Gruppe 47» finde. Von innen betrachtet, sei die Gruppe aber ein eher bescheidenes Wesen. Um alle Cliquenvorwürfe zu entschärfen und das Kartellhafte zu «entflechten», empfahl er Transparenz und Entreglementierung. In Zukunft sollten alle Interessierten teilnehmen können, um jeden Klüngeleiverdacht auszuräumen. Und eine Jury sollte darüber entscheiden, wer lesen darf. Diese Reform wäre einer Entmachtung Richters gleichgekommen, obwohl auch Walser die Gültigkeit des Grundsatzes «ohne Richter keine Gruppe» anerkannte. Richter war entsetzt. Er hielt die Vorschläge für «dumm» und «gefährlich», sprach von «Verrat» und «hellem Wahnsinn». «Wer wird den Hypochonder Walser zurechtweisen?» fragte er und lamentierte: «Siebzehn Jahre habe ich viel kostbare Zeit in diese Sache hineingesteckt, und nun kommt ein Bodensee-Narr und will sie mit einem Federstrich liquidieren. Ich begreife es nicht, und weil ich es nicht begreife, schlafe ich nicht mehr.»15

Doch damit nicht genug. Walser war – und das wog schwerer als die ungefähren Reformüberlegungen – gegen Richters Plan, die nächste Tagung im schwedischen Sigtuna abzuhalten. Im Ausland würde die Gruppe noch schneller in die Rolle einer nationalen Repräsentanz geraten, fürchtete er. Zehn Jahre zuvor, als die Gruppe 47 auf Ingeborg Bachmanns Betreiben in Cap Circeo/​Italien zusammenkam, hatte Walser gegen ein Auslandstreffen noch nichts einzuwenden gehabt. Jetzt kam es ihm so vor, als ob die CSU nach Spanien reisen würde, um dort als Regierungspartei zu erscheinen.16 Was würde man denn sagen, wenn eine Gruppe französischer Schriftsteller nach Tübingen käme, nur um sich französische Literatur vorzulesen?17 Die Teilnahme für Schweden sagte er frühzeitig ab.

Richter fühlte sich von Walser-Intrigen umstellt, weil der reihum dafür warb, die Auslandsreise zu boykottieren. Er wünschte den «alemannischen Querulanten» in die Hölle und versicherte, er hätte sich mit ihm geschlagen, wenn er ihm in diesen Wochen begegnet wäre.18 Daß es gelang, die Tagung in Sigtuna durchzuführen, verbuchte er als einen Erfolg gegen Walser, der sich nun «in den Schmollwinkel» gespielt habe und nicht mehr ernst genommen werde.19 Walser aber, so sah es Richter im Rückblick, habe seine Niederlage gar nicht bemerkt, sondern nur eine Art Spiel gespielt und seinen Spaß daran gehabt.20

Doch Walser war es ernst. Im Dezember 1964 traf er sich noch einmal mit Richter, um über den «Abbau der Show-Elemente» zu sprechen. Grass und Johnson begleiteten ihn. «Die Gruppe ist zu wichtig geworden, als daß wir die Entwicklung allzu sehr sich selbst überlassen dürften», meinte er.21 Die Gruppe 47 war ihm schon deshalb unentbehrlich, weil er keine andere Möglichkeit gemeinsamer politischer Aktivitäten sah. Die Gewerkschaft war keine Alternative, höchstens ein organisatorischer Rahmen. Sich parteipolitisch zu engagieren kam für ihn – im Gegensatz zu Grass, der keine Berührungsängste gegenüber der SPD hatte – nicht mehr in Frage. Die Erfahrungen, die er als Herausgeber der «Alternative» und im Bundestagswahlkampf 1961 gemacht hatte, standen dagegen. Er hatte gelernt, daß er dafür nicht geeignet war, und hatte die erste, gewissermaßen «naive» Phase des Engagements hinter sich. Als im Wahlkampf 1965 Grass und Richter zusammen mit Klaus Wagenbach und Klaus Roehler in Berlin das «Wahlkontor deutscher Schriftsteller» zur Unterstützung Willy Brandts und der SPD gründeten, gehörte Walser nicht dazu. Auch an dem von Richter herausgegebenen Band «Plädoyer für eine neue Regierung» beteiligte er sich nicht. Die SPD war für ihn unmöglich geworden, weil sie wie die CDU den Krieg der USA in Vietnam vernünftig finden wollte. Auch von Brandt selbst ließ er sich nicht mehr umstimmen. Als er Brandt bei einer Bootsfahrt auf dem Bodensee mit anschließendem Abendessen begegnete, befragte er den Kanzlerkandidaten nach seiner Haltung zu Vietnam. Brandt wimmelte ihn mit allgemeinen Beschwichtigungen ab.

Walsers distanzierte Haltung gegenüber Parteien geht auch aus seiner Antwort auf eine Umfrage der Westberliner Zeitung Der Abend zum Thema «Warum sind Sie in einer oder keiner Partei?» hervor. Er schrieb: «Was soll ich in einer Partei? Die Statuten besser formulieren? Propaganda machen? Kandidat werden? Also politisch handeln? Schriftsteller handeln in der Sprache (versuchen sie sonstwo zu handeln, werden sie zu Dilettanten). Politiker handeln in Organisationen. Organisationen müssen sich taktisch verhalten. Das ruiniert die Sprache. Sie ist zum Gegenteil da. Sie will nicht den richtigen Eindruck machen, sondern den rechten Ausdruck finden. Gehören Zeitungen oder Schriftsteller einer Partei an, verkommt ihre Sprache zum Jargon. Je ferner ein Schriftsteller einer Partei ist, desto mehr kann er ihr nützen. Distanz berechtigt zu Kritik.»22

Dennoch scheute er sich nicht, im März 1964 den Parteitag der CDU zu besuchen. Dort nahm er an einer Podiumsdiskussion zum Thema «Ist der Geist ein Stiefkind der Nation?» teil. Was heißt hier Nation, gab er forsch zurück: Stiefkind der CDU! In keinem anderen Land sei die Politik so wirtschaftsabhängig wie in der Bundesrepublik. Zum Vergleich verwies er auf Frankreich, das in de Gaulle einen Präsidenten habe, der politisch und nicht nur wirtschaftlich zu denken vermöge. Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier erlebte er an diesem Abend als einen Mann, mit dem man reden konnte. Sich mit jemandem zu verstehen und Sympathie entwickeln zu können war für Walser wichtiger als politische, gar parteipolitische Differenzen. Als Verteidiger eines Lagers war er nicht geeignet. Er wollte den Gegensatz zwischen Regierung und Linksintellektuellen auflockern, um das politische Denken in Bewegung zu halten. Sein eigentlicher Gegner an diesem Abend war nicht die CDU, sondern der Soziologe Arnold Gehlen. Gehlen beklagte den wachsenden Einfluß der Linksintellektuellen, die es geschafft hätten, Strauß nach der Spiegel-Affäre zu stürzen. Im Rundfunk sei der Begriff «Zone» kurzerhand durch «DDR» ersetzt worden, weil die Linken die Macht hätten. Solche Reden gehörten jahrzehntelang zum Repertoire paranoischer Rechter. Walser konnte darüber nur lachen: Es gebe im Rundfunk keine Linksintellektuellen an maßgeblicher Stelle – höchstens im Nachtprogramm. Auch Gehlen wußte ihm auf Nachfrage peinlicherweise keinen zu nennen.23

Die Macht der Vergangenheit: Auschwitz. Der deutsche Hamlet.

Am 20. Dezember 1963 begann in Frankfurt am Main der Auschwitz-Prozeß. Angeklagt wurden 24 einstige KZ-Wärter, unter ihnen der letzte Lagerkommandant Richard Baer, der jedoch noch vor Prozeßbeginn starb. Zur Vorbereitung des Prozesses waren bereits über 1000 Zeugen gehört worden. Im Gerichtssaal traten noch einmal 359 Zeugen aus neunzehn Ländern auf, deren Berichte den Angeklagten ihren individuellen Anteil am Holocaust nachweisen sollten. Die Angeklagten aber leugneten die ihnen zur Last gelegten Taten. Sie beriefen sich auf Erinnerungslücken oder verweigerten die Aussage. Als nach zwanzig Monaten, am 19. August 1965, die Urteile verkündet wurden, lagen die Strafen deutlich unter den Anträgen der Staatsanwaltschaft. Sechs Angeklagte erhielten «lebenslänglich», drei wurden freigesprochen, die anderen bekamen Haftstrafen zwischen drei und vierzehn Jahren.24

Das Bemühen, Schuld in eine angemessene Strafdauer umzurechnen oder gar zu sühnen, mußte angesichts des ungeheuerlichen Straftatbestandes vergeblich sein. Nicht die Urteile machten die Bedeutung des Auschwitz-Prozesses aus, sondern die Tatsache, daß er überhaupt stattfand und daß damit knapp zwanzig Jahre nach Kriegsende die juristische Auseinandersetzung mit Schuldigen und mit der historischen Schuld in Deutschland offiziell aufgenommen wurde. Die Nürnberger Prozesse unmittelbar nach Kriegsende hatten zwar die Führungsschicht des Nationalsozialismus abgeurteilt, waren aber in der deutschen Öffentlichkeit eher als Kriegstribunal wahrgenommen worden und hatten längst nicht die Wirkung des Auschwitz-Prozesses. Der Fall des NS-Bürokraten Adolf Eichmann, der im Mai 1962 in Israel zum Tode verurteilt wurde, hatte eine Diskussion in Gang gebracht, die besonders durch die Berichte Hannah Arendts über die «Banalität des Bösen» geprägt war. In Frankfurt aber befaßte sich erstmals ein deutsches Gericht mit der deutschen Schuld, auch wenn dort nur Handlanger des Massenmord-Systems angeklagt waren, die eher am unteren Ende der Befehlskette standen. Der Prozeß griff tief in das Bewußtsein der Zeitgenossen ein und veränderte das deutsche Selbstverständnis.

Kurz zuvor hatte Walser die Romanberichte des Auschwitz-Überlebenden Elie Wiesel gelesen und das Vorwort für die deutsche Übersetzung dieser Erinnerungen geschrieben, die 1963 unter dem Titel «Die Nacht zu begraben» erschienen. In diesem Text umkreiste Walser das Problem des Überlebens, des Weiterlebens nach der Katastrophe. Das Skandalöse sah er darin, daß die Henker vermutlich leichter weiterleben konnten als die Opfer. Einer wie Elie Wiesel müßte, «um wieder Anteil nehmen zu können am Leben von Menschen (…) Auschwitz vergessen. Dazu müßte man Vater und Mutter vergessen und zuallererst sich selbst. Verzeihen, bewältigen, das ganze sozialhygienische Vokabular einer auf säuberliche Erledigung bedachten Gesellschaft wirkt grotesk, wenn man in Elie Wiesels Aufzeichnungen Kenntnis erhält von dem verzweifelten und immer scheiternden Versuch des überlebenden Opfers, das bloße Leben wieder mitzumachen. Das Opfer bleibt an Auschwitz gekettet»25. Elie Wiesels Zeugenaussage konterkarierte den Auschwitz-Prozeß. Dort, im Gerichtssaal, standen die Zeugen, die von ihren Erinnerungen überwältigt wurden, Angeklagten gegenüber, die sich an nichts erinnern zu können vorgaben.

Walser gehörte – ebenso wie Peter Weiss und Max Frisch – zu den regelmäßigen Besuchern im Gerichtssaal. Er wollte wissen, was das für Menschen sind, die zu solchen Taten fähig sind. Mehrmals besuchte er den Prozeß, so z. B. am 19. November 1964, als Staatsanwalt Georg Friedrich Vogel in seinem Tageskalender vermerkte: «Gast: Martin Walser (‹Halbzeit›)». An diesem Tag wurde u. a. Hedwig Höß, die Witwe des Lagerkommandanten Rudolf Höß, angehört. Die Sitzung endete mit «Vorhaltungen» des Staatsanwaltes an die Angeklagten Boger, Mulka und Höcker und mit einer Erklärung des Angeklagten Kaduk.

Ähnlich wie Hannah Arendt beharrte Walser angesichts von Presseberichten über die «Bestien» von Auschwitz auf der Gewöhnlichkeit der Täter. Wären sie die «Teufel», als die sie geschildert wurden, dann, so Walsers Argument, müßte man sich mit ihnen nicht länger befassen. Erschreckend sind die sadistischen Taten, Folterungen, Quälereien, Morde nicht deshalb, weil sie von «Unmenschen» begangen wurden, sondern weil es sich um ganz normale Bürger handelte, die sich dazu fähig zeigten. «So ist unser Gedächtnis jetzt angefüllt mit Furchtbarem», schrieb er. «Und je furchtbarer die Auschwitz-Zitate sind, desto deutlicher wird ganz von selbst unsere Distanz zu Auschwitz.»26 Wer gar nichts begreifen will, kann Walser hier schon eine Tendenz zum «Wegschauen» unterstellen – die Vokabel, die ihm seit seiner Friedenspreisrede 1998 anhaftet. Seinem Bedürfnis, die drastische Schilderung der Brutalitäten in Frage zu stellen, lag jedoch 1964 ebenso wie 1998 der Wille zugrunde, Auschwitz eben nicht als das Unbegreifliche, Unmenschliche abzutrennen und loszuwerden, sondern es als etwas von Menschen Gemachtes zu begreifen. Seinen fundamentalen Essay über den Auschwitz-Prozeß nannte er mit Bedacht «Unser Auschwitz». Die Betonung lag auf «unser». Die zentrale Aussage lautete: «Auschwitz ist überhaupt nichts Phantastisches, sondern eine Anstalt, die der deutsche Staat mit großer Folgerichtigkeit entwickelte zur Ausbeutung und Vernichtung von Menschen.»27

«Unser Auschwitz» erschien unter der Überschrift «Teufel von Auschwitz sind eher arme Teufel» am 13. März 1965 in der Frankfurter Abendpost. Der Autor wurde als «unbequemer Mann» angekündigt, der über ein «unbequemes Thema» schreibt. Ein Foto zeigte ihn neben Staatsanwalt Vogel vor einem Lageplan des Konzentrationslagers. Mehr als zwei Seiten füllte sein Text. Und das in einer Boulevardzeitung! Daran läßt sich ablesen, welches Beunruhigungspotential und welche Massenwirksamkeit der Prozeß besaß. Die Zitate, die von der Redaktion fett herausgestellt wurden, wirken jedoch eher beruhigend: «Was Auschwitz war, wissen nur die Häftlinge.» Und: «Ganz ohne Zweifel ist auch, daß wir Deutschen von diesen Brutalitäten keine Ahnung hatten.» Wer nur die gefetteten Zitate liest, könnte schlußfolgern, daß da weniger ein «unbequemer Mann» als ein Verharmloser zu Wort kommt. Damals allerdings scheinen die Menschen auch das Kleingedruckte gelesen zu haben, denn es gibt keine Indizien dafür, daß Walsers komplexer Essay in ähnlicher Weise auf kurzschlüssige Formeln reduziert worden wäre, wie es nach der Friedenspreisrede 1998 geschah.

Die Freundin Ruth Klüger nahm es ihm übel, daß er über Auschwitz schrieb, ohne vorher mit ihr darüber gesprochen zu haben. Stimmte es denn, daß man von den dortigen Brutalitäten zuvor nichts gewußt habe, wo er sie doch nur hätte fragen müssen? Walser reagierte Klüger zufolge mit Erstaunen: «Er habe nicht gewußt, daß ich dort inhaftiert gewesen sei. Theresienstadt ja, Auschwitz nicht. Das ist unwahrscheinlich und glaubwürdig zugleich. Unwahrscheinlich, denn gesagt habe ich es ihm bestimmt, denn es war schon damals ein Wort, das aufhorchen ließ. Glaubwürdig ist es aber deshalb, weil so ein deutsches KZ etwas für Männer war, nichts für kleine Mädchen (…)»28

Walser ging es um etwas anderes. Er fürchtete, daß die Greueltaten in Auschwitz dazu instrumentalisiert werden könnten, die komplizenhafte Mitwisserschaft der Deutschen klein zu reden. Sein Argument: «Wir vergessen, sozusagen vom Ergebnis betäubt, daß wir zumindest geduldige Zeugen waren, als sich von 1933 bis 1943 ein Schritt nach dem anderen sichtbar vor uns vollzog. (…) Und tatsächlich: die monströse Wirklichkeit von Auschwitz darf wohl auch über die Vorstellungskraft jenes Bürgers gehen, der geduldig zusieht, wie Juden und Kommunisten aus seiner Umgebung verschwinden. Andererseits wäre aber der Auschwitz-Prozeß doch ein fatales Ereignis, wenn die Ungeheuerlichkeit der Prozeß-Materie dazu führte, daß wir in Zukunft das sogenannte Dritte Reich nur noch aus der Distanz sähen, aus der wir die Scheußlichkeiten von Auschwitz zur Kenntnis nehmen. Man muß leider vermuten, daß wir jenem Staat näher waren, als wir seiner Manifestation in Auschwitz gegenüber wahrhaben wollen.»29

Walser erkannte deutlich die Grenzen des bürgerlichen Individualstrafrechts, das, indem es einzelne Täter verurteilt, alle anderen freispricht. Die Profiteure der Wirtschaft und die politischen Verantwortlichen waren eben nicht so leicht auf justitiable Taten festzulegen wie ihre Büttel im KZ. Ihr Anteil am Massenmord war in einem Rechtssystem nicht nachzuweisen, das, so Walser, «am liebsten auf die Hände schaut». «Und die sind einfach nicht blutig beim politischen oder wirtschaftlichen Verursacher.» Andererseits: Wie könnte Rechtsprechung anders vorgehen?

Zwischen Kollektivschuld und Individualethik verankerte Walser als dritte Möglichkeit die kollektive Verantwortung. Er fragte: «Wenn in Auschwitz etwas Deutsches zum Ausbruch kam, was ist dann in mir das Deutsche, das dort zum Ausbruch kam?»30 Diese Frage beunruhigte ihn fortwährend. Wenn Begriffe wie «Staat» und «Volk» noch einen Sinn haben sollten, schrieb er unter Vermeidung des belasteten Begriffs «Nation», der da eigentlich besser passen würde, dann sei es keinem Deutschen möglich, auf seiner Unschuld zu beharren. Dann gehörten eben alle dazu, auch die, die sich keiner persönlichen Schuld bewußt sind. «Gewissen» und «Schamgefühl» kommen da ins Spiel. Es gibt keine Entlassung aus der deutschen Geschichte. Das Urteil, das Walser sich selbst spricht, lautet: lebenslänglich. Als Deutscher muß er Auschwitz auf sich nehmen. Es ist seine persönliche Angelegenheit.

Die Schwarzweißmalerei, wie sie Rolf Hochhuth in seinem Furore machenden Drama «Der Stellvertreter» betrieb, war nicht Walsers Sache. «Nazi-Dämonisierung» nannte er das. Dennoch beeindruckte ihn die dramatische Kraft Hochhuths, und er gratulierte Rowohlt-Lektor Fritz J. Raddatz am Tag nach der Premiere im Berliner Schillertheater zu diesem Autor, der «reinster Rowohlt» sei.31 Auf der anderen Seite der künstlerischen Möglichkeiten stand Peter Weiss, der an der «Ermittlung» arbeitete, einem «Oratorium», das er aus dokumentarischem Prozeß-Material montierte und als ersten Teil eines «Dante-Projekts» bezeichnete. Walser störte sich an der Mystifizierung der KZ-Greuel zum höllischen «Inferno». Dantes Inferno mit Auschwitz zu vergleichen konnte er nur als «Frechheit» oder als «Unwissenheit» begreifen: «Im Inferno werden schließlich die ‹Sünden› von ‹Schuldigen› gesühnt.»32 Auschwitz dagegen bedeutete Vernichtung um der Vernichtung willen. Im Rückblick allerdings erklärte Walser später «Die Ermittlung» für den wichtigsten Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Das aber sei damals niemandem klargeworden.33 Während Walser mit seinem Essay die sprachliche Thematisierbarkeit von Auschwitz gegen diejenigen behauptete, die Auschwitz als «Unerklärliches» und «Unsagbares» ins Metaphysische auslagerten, fand Weiss im Dokumentartheater eine künstlerische Ausdrucksform, die ganz und gar auf sprachlichen Ausdruck setzte und auf alles Bildhafte verzichtete. Weiss’ «Ermittlung» wurde am 20. Oktober 1965 in einer szenischen Lesung gleichzeitig in verschiedenen Theatern uraufgeführt, unter anderem in der Volkskammer der DDR. Im Anschluß an die Ausstrahlung im DDR-Fernsehen las der Schauspieler Ekkehard Schall aus Walsers Essay «Unser Auschwitz». Die DDR versuchte, Weiss und Walser für sich und ihren Antifaschismus zu instrumentalisieren.

In seinem Stück «Der Schwarze Schwan», das er vor dem Hintergrund des Prozesses vollendete, ging Walser einen ähnlichen Weg. Die Repräsentanten der Tätergeneration, der Chirurg Goothein und der Psychiater Liberé, beide ehemalige KZ-Ärzte, sind keine völlig negativ gezeichneten Figuren. Weil sie nicht von vornherein verurteilt werden, erlaubt Walser auch dem Publikum keine billige Entlastung. Die Verfremdungstechnik Brechts, der die Identifikation mit den positiven Helden erschweren wollte, erfährt eine Umkehrung: Walser will die Distanzierung von den negativen Helden erschweren. Er besichtigt verschiedene Varianten, wie mit der Vergangenheit umgegangen wird. Alle sind fragwürdig, aber nicht unbedingt falsch oder verwerflich, weil es einen richtigen Umgang mit der Schuld nicht gibt. Goothein, Repräsentant des guten Gewissens der Verdrängungsakrobaten, hält seine Taten nach vierjähriger Haftstrafe für abgebüßt. Liberé hat für sich und seine Tochter eine Tarnidentität aufgebaut und sich in ein persönliches System der Buße verwickelt. «Der Schwarze Schwan» – Kürzel: SS – ist ein Stück über Schuld, das Weiterleben mit der Schuld, Verdrängung und, erstaunlich für diese frühe Phase bundesdeutscher Erinnerungsübungen, die Instrumentalisierung des Gedenkens. Das Stück könnte auch «Gedächtnisarten» heißen, ließ Walser wissen.34

Im Mittelpunkt stehen nicht die Täter, die sich in der neuen Gesellschaft wieder eingerichtet haben, sondern ihre Kinder. Die Versuche der sogenannten Vergangenheitsbewältigung werden als Generationskonflikt dargestellt. Walser bringt erstmals das Thema der 68er-Generation auf die Bühne: Die Väter sind Täter, und die Söhne versuchen vergeblich, sie zum Sprechen zu bringen. Hauptfigur ist Rudi, der Sohn Gootheins. Er findet eines Tages einen Brief, der die Schuld seines Vaters belegt. Identifikatorisch nimmt er dessen Tat auf sich und erhöht sich zum Schuldigen, sei es, um den Vater zu provozieren, sei es, um ihn zu entlasten und selbst die Rolle des Erlösers zu spielen. Am Ende macht Rudi bitteren Ernst. Er bringt sich um. Letztes, äußerstes Mittel, das Schweigen der Alten zu durchbrechen. Geradezu prophetisch arbeitete Walser ein Verhaltensmuster heraus, das für die weitere Entwicklung der Bundesrepublik von zentraler Bedeutung ist. Die 68er waren die Generation, die die Schuld der Väter auf sich nahm und sie in politische Aktion umwandelte. Das ist, wie Walser in dem Aufsatz «Hamlet als Autor» zeigte, ein shakespearesches Muster. Rudi, der neue Hamlet, hat es allerdings nicht mit einem ermordeten Vater zu tun, sondern mit einem, der gemordet hat.35

Wie nah ihm diese Figur war, läßt sich daran ablesen, daß Rudi am selben Tag Geburtstag hat wie Walser selbst: am 24. März – allerdings im Jahr 1942 und an dem Tag, an dem der von seinem Vater zu verantwortende Häftlingstransport in Groß-Rosen ankommt. «Allein dein Geburtsdatum macht dich zu einem fabelhaften Kerl», sagt der Psychiater Liberé zu ihm. Rudi wird in die Psychiatrie eingewiesen, weil einer, der die historische Wahrheit darstellen und aussprechen und auf sich nehmen will, verrückt sein muß. In der Klinik inszeniert er zusammen mit anderen Patienten ein Theaterspiel, das von der Zähmung der Erinnyen handelt. Dieses Stück im Stück zeigt einen ehemaligen KZ-Arzt, der seine Schuld- und Bußbereitschaft so demonstrativ ausstellt, daß die Rachegöttinnen an ihm arbeitslos werden. Seine Logik lautet: Es muß ihm gut gehen, damit er sich seiner Schuld stellen kann. Stürbe er zu früh, bliebe die Schuld ungesühnt zurück. Das Gewissen zwingt ihn zu rastloser Tätigkeit. Die Wiedergutmachungspflicht nötigt ihm den eigenen Wohlstand auf. Denn was könnte er als Armer, Schwacher wiedergutmachen? Walser steigert dieses Produktivitätsprinzip der Bundesrepublik bis zu dem bitterbösen Satz: «Laßt uns von Zeit zu Zeit daran denken, daß wir für immer schuldig sind.» Da gibt es längst nichts mehr zu bedauern. Die Schuld ist so kostbar, daß sie gehegt und gepflegt werden muß. Das Gedenken dient der eigenen moralischen Kräftigung.

Es ist nicht schwer, den Autor des «Schwarzen Schwans» von 1964 mit dem Martin Walser zu verbünden, der dreißig Jahre später das Holocaust-Mahnmal in Berlin mit Worten wie «fußballfeldgroßer Albtraum» ablehnte und der in seiner Friedenspreisrede 1998 darauf beharrte, daß das Gewissen eine persönliche, von jedem einzelnen mit sich selbst auszumachende Angelegenheit sei, die sich nicht delegieren lasse. Die vielzitierte «Instrumentalisierung von Auschwitz» bedeutete ja nicht, wie Walser unterstellt wurde, daß endlich ein Schlußstrich gezogen werden solle. Er beklagte vielmehr die Ritualisierung des Gedenkens. Der «Schwarze Schwan» belegt, daß sich an seiner Haltung in diesem Punkt seit 1964 nicht viel geändert hat. Er sah damals, wie die Schuld gewissermaßen ökonomisch nutzbar gemacht wurde. Vergangenheitsbewältigung ging im Wirtschaftswunder auf und Wiedergutmachung im Wiederaufbau.

«Der Schwarze Schwan» hatte am 16. Oktober 1964 in Stuttgart unter der Regie von Peter Palitzsch Premiere. Als Dramaturg arbeitete dort Hellmuth Karasek, der einen Aufsatz in der Zeit beisteuerte, um das Anliegen des Stückes zu unterstützen.36 Walser war schon Wochen vorher unruhig und konnte sich auf nichts anderes mehr konzentrieren. Zum ersten Mal waren seine Schubladen leer. Und er hatte Schulden in Höhe von 92 000 Mark. Einen neuerlichen Mißerfolg konnte er sich nicht leisten. «Je weniger Hoffnungen ich mir mit dem Stück mache, um so weniger Hoffnung habe ich», schrieb er an Unseld37, dessen skeptische Haltung zu seinen Theaterbemühungen er zur Genüge kannte. Auch Uwe Johnson sandte er das Manuskript und bat um Kritik.38 Doch als der dann zurückschrieb, ihm mißfalle, «daß die Sache der Väter an den schizophrenen Kindern ausgetragen» werde, und meinte, daß die Darstellung insgesamt «des reicheren Flechtwerks einer epischen Form» bedürfe39, war Walser gekränkt: «So war das nicht gedacht, daß Du Dich noch zum Gutachter machen sollst. Es ist halt wie immer. Jetzt kann ich nur hoffen, daß Du nicht ganz und gar recht hast, daß die Kinder nicht ganz und gar schizophren sind, daß es nicht darauf ankommt, die Taten der Väter genauer zu erfahren, daß es genügt zu sehen, wie es jetzt zugeht.»40

In den Tagen nach der Uraufführung kam es dann zu einem schweren Zerwürfnis zwischen Walser und Johnson. Es war der erste fürchterliche Streit, den sie wie alte Eheleute führten. Es endete meistens damit, daß Johnson türenschlagend davonlief. Die Gekränktheitsbereitschaft war auf beiden Seiten hoch; beim empfindlichen Johnson ließ sich nicht immer ergründen, was ihn verletzte, und so war es auch hier. Käthe Walser, die den Streit miterlebte, betätigte sich hinterher als Schlichterin, schockiert und traurig darüber, wie die beiden Männer auseinandergegangen waren. «Der Streit mit Martin ist schlimm», schrieb Johnson an sie. «Ich war keiner Freundschaft so sicher wie seiner.»41 Doch die Freundschaft hatte ihre Unschuld und ihre Leichtigkeit verloren.

Glaubt man den Presseberichten, lagen die Reaktionen auf das Stück zwischen Betroffenheit, Verwirrung und Ratlosigkeit. Die genierte Zurückhaltung des Publikums entlud sich in einem herzlichen, anhaltenden Beifall.42 Die Kritik vermißte wie in allen Stücken Walsers das Dramatische, weil nur Haltungen gezeigt, aber keine Konflikte vorangetrieben würden, weil die Figuren keine Charaktere ergäben, sondern nur aus Sprache bestünden, weil der Autor sich um «Theaterwahrscheinlichkeit»43 nicht kümmere. Einmal mehr wurde Walser bestätigt, kein Dramatiker zu sein. Unseld schickte ein tröstendes Telegramm: «Lasse Dich von den Kritiken nicht irritieren. Du hast mit dem Schwarzen Schwan Dein bestes Stück geschrieben.»44 Walser sah es anders, wie er ein paar Jahre später gestand: «Der ‹Schwarze Schwan› ist mein schlechtestes Stück. Das Problem lag vor, ich habe lediglich eine Verschärfung der Bewußtseinslage versucht. Beim Schreiben war schon alles klar. Das ist aber der Weg des Wissenschaftlers, während für den Autor das Schreiben ein Mittel ist, die Realität erkennen zu können. Andernfalls schreibt man schon besser einen Vortrag.»45 Die Theater aber waren nicht seiner Ansicht. Achtzehn Inszenierungen in Ost und West listete er in den nächsten vier Jahren in seinen Notizbüchern auf. Wieder, wie schon bei «Eiche und Angora», gab es im Ausland ein starkes Interesse an diesem Stück über die Deutschen und ihre Vergangenheit. Der ostdeutsche Schriftsteller Johannes Bobrowski, der Walser von den Treffen der Gruppe 47 kannte, sah ihn 1964 in einem Vierzeiler mit dem Titel «Auftritt Walser» so:

Seht ihn, er naht: bedächtig neigt er sich dorthin und wieder

dorthin, schlägt wieder ein Blatt Sündenregister uns auf,

Sünden der Väter vornehmlich, – erhebt euch, vornehmlich ihr Söhne,

täuschend gebildet in Wachs seht – überlebensgroß – euch!46

Die Provokation der Gegenwart: Vietnam. Kursbuch und kürbiskern.

Ende des Auschwitz-Prozesses, Vietnam-Proteste, Bundestagswahl: Diese drei Ereignisse des Jahres 1965 sind eng miteinander verknüpft. Daß die CDU im Oktober noch einmal die Bundestagswahl gewann und Ludwig Erhard als Kanzler bestätigt wurde, verschärfte die innenpolitischen Gegensätze. Für die Intellektuellen links der SPD und für die Studenten um den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) war damit erwiesen, daß vom parlamentarischen System keine grundlegenden Veränderungen mehr zu erhoffen wären. Der Sieg der CDU führte zum Erstarken der außerparlamentarischen Opposition (APO). Mit lautstarken «Ho-Ho-Ho-Chi-Minh»-Rufen wurde der Protest auf den Straßen erprobt, als US-Präsident Lyndon B. Johnson im Februar 1965 «Vergeltungsangriffe» gegen den Vietcong befahl. Aus dem seit Jahren schwelenden Konflikt wurde ein offener und brutal geführter Krieg gegen das kommunistische Nordvietnam, um das korrupte Satellitenregime im Süden zu stützen. Die Demonstrationen in Berlin mit Sitzblockaden auf dem Ku’damm und den berühmten Eierwürfen gegen das Amerikahaus am 5. Februar 1966 erschütterten die Bundesrepublik, weil sie gegen die Schutzmacht USA gerichtet waren und den antikommunistischen Konsens der Nachkriegsordnung in Frage stellten.

Die nervöse Stimmung wurde auch durch Bundeskanzler Ludwig Erhard angeheizt, der schon lange nicht mehr das Gespräch mit den Intellektuellen suchte. Als Rolf Hochhuth im Spiegel einen angriffslustigen Essay veröffentlichte, in dem er die Sozialpartnerschaft verurteilte und gegen die «totale Machtergreifung» der Reichen polemisierte, polterte Erhard zurück: «Neuerdings ist es ja Mode, daß die Dichter unter die Sozialpolitiker und Sozialkritiker gegangen sind. (…) Dann müssen sie sich aber auch gefallen lassen, so angesprochen zu werden, wie sie es verdienen, nämlich als Banausen und Nichtskönner, die über Dinge urteilen, von denen sie einfach nichts verstehen. (…) Ich meine, das ist alles dummes Zeug. Die sprechen von Dingen, von denen sie keine Ahnung haben. (…) Nein, so haben wir nicht gewettet. Da hört der Dichter auf, da fängt der ganz kleine Pinscher an.»47

Walser konterte: «Da hört der Kanzler auf, da fängt der Erhard an»48, und fand damit den richtigen Ton. Das blieb die Ausnahme. Die helle Empörung, die Erhard auslöste, war nicht ganz ehrlich. Schließlich war Wahlkampf, und Hochhuths Wort von der «totalen Machtergreifung» war nicht weniger polemisch. Der bald schon inflationär gebrauchte Faschismusvorwurf im politischen Tagesgeschäft wäre vielmehr einer ernsthaften Kritik wert gewesen. Es gehörte zum Alltag der Bundesrepublik seit Mitte der sechziger Jahre, politische Auseinandersetzungen aller Art stets mit Bezug auf die deutsche Vergangenheit auszufechten. Die Linke sah unentwegt die Wiederkehr des «Dritten Reiches» dräuen. Erhard seinerseits gab sich alle Mühe, die Vorurteile zu bestätigen, als er gegen Grass gerichtet erklärte, er wolle im Wahlkampf darauf verzichten, die «Blechtrommel zu rühren», und könne die unappetitlichen «Entartungserscheinungen der modernen Kunst» nicht mehr ertragen. Danach erschien sein Pinscher-Satz als Beweis für eine kurz bevorstehende Intellektuellenverfolgung.

Auch Walser argumentierte mit der deutschen Geschichte, wenn er kolportierte, der Regierungschef Südvietnams habe erklärt, sein einziges Vorbild sei Hitler. Heinar Kipphardt verlas auf einer Vietnam-Veranstaltung in München Auszüge aus den Protokollen des Eichmann-Prozesses und sagte: «Bisher zweifelte ich, eine Parallele zu sehen zwischen Eichmann und Vietnam, doch die Schande unserer Geschichte wird dort in Vietnam fortgesetzt.»49 Walser sprach im Fernsehen mit milder, pastoraler Stimme über das Gewissen. Wie einfach wäre es doch, auf die schlimme Vergangenheit zu verweisen und darüber die Gegenwart zu vergessen. Aber, sagte er, «das Gewissen kennt keine Vergangenheitsform». Eine Gewissensprüfung, die die Gegenwart ausschließt, ist keine. Die Aufrichtigkeit der Vergangenheitsbewältigung – was für ein Wort! – hatte sich an der Haltung zu Vietnam zu beweisen. Starke Worte: «Ich glaube keinem ein Wort, der nach rückwärts bedauert und vorne die nächsten Tötungen gutheißt. Ich fürchte, wer bei uns zur Zeit kein schlechtes Gewissen hat, hat keins.»

Kein Zweifel: Auschwitz lag direkt neben Vietnam. Der Protest gegen den Krieg der USA war ein verlagerter Antifaschismus. Für Walser war die Frage «Wie hältst du’s mit Vietnam?»50 das wahlentscheidende Kriterium. Damit kam keine der drei im Bundestag vertretenen Parteien in Frage. So gesehen gehörte auch er zur APO, allerdings nicht zu ihren studentischen Ausläufern. Im SDS und im Sozialistischen Hochschulbund (SHB) versammelte sich eine jüngere Generation. Der anarchische, spontane Aktionismus der Studenten blieb ihm fremd, auch wenn er ihre Ziele teilte. Es handelte sich eher um eine ästhetische als eine politische Differenz. Er fand seine Bündnispartner in der linken Szene Münchens: im Umfeld der Ostermarschbewegung, in den Gruppen, die sich im Protest gegen die Notstandsgesetze gebildet hatten, und im Spektrum der verbotenen KPD. Sie alle arbeiteten in der entstehenden Anti-Vietnam-Bewegung zusammen.

Die Gesellschaft, die Walser aufsuchte, war eine linke Boheme Münchens, eine städtische Gegenwelt zur Bodenseeprovinz, eine Welt erotischer Eskapaden und politischer Aktivität. Wenn er anreiste, dann bestellte er die Freunde zum Stammtisch, und es war fast so, als hielte er Hof. Walser war der unbestrittene Mittelpunkt dieser Gesellschaft. Da lebte er auf, da brillierte er und berauschte sich und seine Zuhörer, vor allem dann, wenn Frauen anwesend waren und an seinen Lippen hingen. Die Studentin Marianne Oellers, damals noch mit Tankred Dorst liiert, gehörte anfangs dazu. Sie übersiedelte aber bald mit Max Frisch nach Rom und nach Berlin. Corinne Pulver wohnte inzwischen in München. Maria Carlsson, die Updike-Übersetzerin, die später Rudolf Augstein heiratete, gehörte zum Freundeskreis. Sie war damals mit dem Feuilletonchef der Süddeutschen Zeitung, Hans-Joachim Sperr, verheiratet, einem Freund, der im Dezember 1963 plötzlich starb. Über Peter Hamm, seinen treuen Adlatus, lernte Walser den Augsburger Maler Carlo Schellemann kennen, der zu einem seiner engsten Freunde wurde: auch er ein energisches Temperament, ein leidenschaftlicher Künstler, der sich in der Bewegung «Künstler gegen den Atomkrieg» engagierte.

Bei seinen Ausflügen wurde Walser in diesen Jahren häufig von Uwe Johnson begleitet. Fast wie ein Ehepaar traten sie auf, anhänglich und zänkisch. Nach einer gemeinsamen Lesung in München fuhren sie zusammen zum Bodensee zurück. Walser handelte dem Freund den Besuch einer Party in Grünwald ab, versprach dafür aber, pünktlich um 24 Uhr aufzubrechen. Johnson haßte es, irgendwo festzusitzen. Er pflegte früher schlafen zu gehen. Walser blühte wie immer in Gesellschaft auf und war ganz in seinem Element, während Johnson in seiner schwarzen Lederjacke mürrisch in der Tür stand und mahnend auf die Uhr klopfte. Walser flirtete unbeeindruckt weiter und bemerkte nicht, wie der Freund erbost das Haus verließ und zu Fuß in der Nacht verschwand. Vergeblich suchte er nach ihm und beschloß, alleine nach Hause zu fahren – was hätte er auch tun sollen? Ein paar Kilometer weiter stand eine winkende Gestalt am Straßenrand: Uwe Johnson. Von vorn gegen die blendenden Scheinwerfer blickend, konnte er nicht erkennen, wessen Auto er da anhielt. Er stieg ein und sagte bis nach Hause kein einziges Wort.

Auf Vermittlung von Carlo Schellemann kamen eines Tages Frieder Hitzer und Yaak Karsunke, die eine neue Zeitschrift gründen wollten und Rat und Hilfe suchten, zu Walser nach Friedrichshafen. Hitzer hatte in den USA und in Moskau Amerikanistik und Russistik studiert, arbeitete nun als freier Autor und Übersetzer und agierte im Umfeld der verbotenen KPD. Karsunke hatte eine Ausbildung als Schauspieler und einige Jahre als Hilfsarbeiter hinter sich. Beide standen ganz am Anfang ihrer schriftstellerischen Laufbahn. Zu ihnen gesellten sich der Schriftsteller Christian Geissler und andere. Gegensatz sollte die neue Zeitschrift heißen, für die zunächst Peter Hamm als Chefredakteur vorgesehen war. Doch Hamm lehnte ab, nachdem ihn die kommunistischen Geldgeber nach Ost-Berlin beorderten, wo er sich vorstellen sollte. Man fuhr ihn in einer verhängten Limousine zum Gespräch mit dem Genossen Neumann, als komme da ein Spion im konspirativen Auftrag.

Gegensatz schien Walser als Titel viel zu dröge. Man muß doch eine breitere Leserschicht ansprechen und nicht bloß adornitische Dialektiker! Der Kleinbürger schlug er zum Entsetzen seiner Besucher vor, die als marxistisch geschulte Linke doch eher auf das Proletariat als revolutionäres Subjekt setzten. Walser verteidigte Kleinbürger als programmatisches Bekenntnis. Intellektueller zu sein war nur eine Spezialausbildung, die an der Klassenzugehörigkeit nichts änderte. Mit seiner Arbeit, mit seinen Büchern wollte er dazu beitragen, dem Kleinbürgertum zu verschaffen, was ihm am meisten fehlte: Selbstvertrauen. Als Schriftsteller wollte er erfolgreich sein, ohne sich von seinen Wurzeln zu trennen. Er war überzeugt davon, daß diese gedemütigte Klasse die historische Entwicklung im 20. Jahrhundert entscheidend geprägt hatte. Sie hatte im 19. Jahrhundert viel geleistet, aber keine politische Heimat, keine Partei gefunden. Als sie das im 20. Jahrhundert nachholen wollte und eine Revolution von rechts inszenierte, ging das völlig daneben. Daß das Kleinbürgertum den Nationalsozialismus gestützt hatte, führte zu seiner weiteren Diskreditierung nach 1945.51

In gewisser Weise war Walsers Programm, das Kleinbürgertum mit Selbstvertrauen auszustatten, also eine antifaschistische Initiative. Gerade dessen schlechter Ruf – geschmacklich, intellektuell, politisch und vielleicht sogar erotisch – zog ihn an. Es machte ihm Freude, sich kokett und provozierend zum eigenen Kleinbürgertum zu bekennen.52 In seinem Archiv legte er sogar eine Schublade an, in der er «kleinbürgerliche Bekundungen Intellektueller, die sich für das Gegenteil halten», sammelte. Eine Zeitschrift so zu nennen wäre dann aber doch zu weit gegangen. Da könnte sie ja auch gleich Kürbiskern heißen, meinte Karsunke. Walser verschluckte sich am Wein und schlug seinem Gast vor Begeisterung auf die Schulter: «Kerle! Des isch es – ein harter Kern in einem riesigen Wasserkopf!» Hitzer ergänzte: «Gedeiht besonders gut auf Misthaufen.»53 So ging der Augenblick der Titelfindung in den Legendenbestand der kürbiskern-Geschichte ein.

Das erste Heft, das im September 1965 erschien, versammelte ein breites linkes Spektrum mit Texten von Pablo Neruda, Heinar Kipphardt, Hermann Kant, Karl Mickel, Erich Fried, Hans Heinz Holz, Harun Farocki, Yaak Karsunke und Frieder Hitzer. Man befaßte sich mit Peter Weiss und Ernst Bloch. Martin Walser war mit einem Auszug aus dem Dialog «Erdkunde» vertreten, einem «Übungsstück für ein Ehepaar», das unter dem Titel «Die Zimmerschlacht» zu seinem größten Theatererfolg werden würde. Mit diesem bis zur gegenseitigen Vernichtung geführten Ehekrieg steuerte er das kleinbürgerliche Element bei, wenn schon der Titel nicht mehrheitsfähig war.

Auch in der ersten Nummer des neuen Kursbuch, das Hans Magnus Enzensberger im Suhrkamp Verlag herausgab, war Walser vertreten. Da erschien sein Auschwitz-Essay in einer erweiterten Fassung. Das Kursbuch entwickelte sich rasch zu einem Zentralorgan der Studentenbewegung und der revoltierenden Linken. Es machte gleich in der ersten Nummer mit Frantz Fanon und dem Antikolonialismus bekannt, stellte Michel Foucault dem deutschen Publikum vor, befaßte sich mit französischem Strukturalismus und griff in die Debatte zur «deutschen Frage» mit einem «Katechismus» ein. Der kürbiskern hielt mit einer Neigung zu Dokumentar- und Arbeiterliteratur dagegen. Er war zunächst das literarischere Blatt, war stärker am Marxismus orientiert, suchte Gewerkschaftsnähe, geriet aber nach 1968 zunehmend unter den Einfluß der DKP. Beide Zeitschriften hatten ihre große Zeit in den sechziger und frühen siebziger Jahren. An ihnen läßt sich das geistige Klima einer Republik im Aufbruch ablesen, deren Intellektuelle und Studenten außenpolitisch durch Vietnam und innenpolitisch durch die Große Koalition radikalisiert wurden.

Doch schon bevor das erste Heft des Kursbuch herauskam, gab es Probleme. Grass hatte sein Stück «Die Plebejer proben den Aufstand» zum Abdruck eingereicht, in dem er sich mit Brecht und seiner Rolle beim Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 auseinandersetzte. Unseld war alarmiert: Er verhandelte gerade mit den Brecht-Erben um eine Verlängerung der Lizenzen und plante eine große Brecht-Ausgabe. Brechtkritische Beiträge in einer Zeitschrift aus seinem Haus konnte er da überhaupt nicht gebrauchen. Doch wie sollte man das Grass beibringen? Enzensberger schaltete auf stur. Er wollte sich nicht gleich in die erste Nummer hineinregieren lassen. Walser wurde kontaktiert. Was tun? Er rief bei Johnson an und bat ihn, mit Grass, der um die Ecke wohnte, zwei, drei Biere trinken zu gehen, um ihn unauffällig zum Rückzug zu bewegen. Johnson traf Grass in niedergeschlagener Stimmung. Die Proben am Schillertheater hatten gezeigt, daß weitere Änderungen am Stück nötig wären. Er überlege, den Vorabdruck im Kursbuch zurückzuziehen. Aber wie sollte er es Enzensberger sagen? Glückliche Fügung: Damit konnte Johnson nach zwei Stunden Vollzug melden, den Walser nach Frankfurt weitergab. So ging es zu in der diplomatischen Abteilung des Hauses Suhrkamp.54

Daß Johnson nicht viel von Grass’ Drama hielt, brauchte er ihm nicht unter die Nase zu reiben. An Walser schrieb er: «ein Stück gegen den wirklichen Bertolt Brecht, es ist darüber hinaus ein Stück gegen intellektuelles Verhalten überhaupt, mit unredlichen Ansätzen. (…) Zudem ist dem Stück, zumindest hier, das antikommunistische Mißverständnis sicher. Es ist auch der Umgang mit Grass heikler geworden. Er bringt es nicht über sich, Argumente anzuhören, benimmt sich schroff und parental, offenbar in der Meinung, die Konturen seines persönlichen Zustands seien die des repräsentativen Lebens, das der Berühmte vom Dienst zu führen hat.»55 Walser antwortete kurz und knapp: «Daß Grass an literarischem Stalinismus leidet, wird mit jedem Jahr deutlicher. Mir gingen nachts im April in Frankfurt bei Siegfried die Augen auf, als Grass [Reinhard] Baumgart wegsäbelte, weil der nicht gleich anbetete.»56 Noch waren Johnson und Walser Verbündete. Ein paar Jahre später, als Walser mit der DKP sympathisierte, schlug Johnson sich mehr auf die Seite von Grass. Der Vorwurf, den Antikommunisten zu nutzen, konnte ihn dann nicht mehr schrecken.

Kollaps am Schreibtisch. Umzugspläne: Berlin, Bodensee. Brief an Ulbricht.

Unterdessen hatte Walser seine lange Prosaabstinenz überwunden. Er schrieb an dem Roman «Das Einhorn», in dem er die Bedingungen untersuchte, unter denen so etwas wie Liebe möglich ist. Unseld gab er die Zwischenmeldung: «Ansonsten arbeite ich eher brav als heftig. Ich bin auf S. 342, aber zur Zufriedenheit ist momentan kein Anlaß. Es kommt mir jeden Tag so vor, als sollte ich rasch ein Stück über die Entfernung von hier bis Vietnam schreiben. Das stört natürlich.»57

Vielleicht hatte es etwas mit dieser doppelten Inanspruchnahme zu tun, daß ihm am 23. August 1965 am Schreibtisch der Atem ausging. Er war an der Stelle angelangt, an der Anselm Kristlein, der nun Schriftsteller geworden ist und ein Auftragswerk über die Liebe verfaßt, im Zelt auf Orli wartet, die aus dem Wasser des Bodensees steigt, im nichts als knappen Bikini auf ihn zukommt und ihr Haar löst: Urbild des Weiblichen, göttliches Wasserwesen, Urerlebnis des Begehrens. Walser hatte die Angewohnheit, beim Schreiben bis zum Ende des Satzes den Atem anzuhalten. Als Konsequenz des Schwächeanfalls übte er sich darin, kürzere Sätze zu bilden, aus Angst, es könnte ihm wieder einmal die Luft ausgehen.

Zwölf Wochen verbrachte er in Krankenhäusern und Sanatorien, begab sich zur Kur nach Bad Wörrishofen. Johnson machte sich Sorgen: «Es ist schwierig, jetzt mit Frau Walser zu telefonieren, und ich wäre Dir dankbar, könntest Du mir immer mitteilen, was Du Neues über Martins Zustand erfährst», schrieb er an Unseld.58 Walser versuchte zu beruhigen. «Lassen Sie sich nicht einreden, ich lebte unvernünftig», ließ er seinen Lektor Walter Boehlich wissen. «Noch kenn ich keinen, der so sorgsam richtig lebt wie ich momentan. Und mit Erfolg. Der Spuk verliert sich, die Arbeit hab ich wieder.»59 Mit Boehlich verstand er sich hervorragend. Hochgebildet und streng ironisch ging es zwischen ihnen zu. Neckische Rechthabereien und abseitige Belehrungen gehörten zu ihren Lieblingsspielen. Auf Boehlichs Urteil konnte er sich stets verlassen.

Der Zusammenbruch steht am Anfang einer Phase des Suchens und Experimentierens, die bis Mitte der siebziger Jahre andauerte. Erst dann fand Walser zu einem verläßlichen Stil und zu ungebremster Produktivität zurück. Die Brandreden vom Ende der Literatur, die 1968 anschwollen, hielten ihn zwar nicht vom Schreiben ab. Schreibblockaden, unter denen andere Autoren litten, blieben ihm unbekannt und unvorstellbar. Doch es war lange Zeit ungewiß, in welche Richtung die stilistische Entwicklung gehen würde. Plötzlich fürchtete er zudem, am falschen Ort zu sein – auch das Ausdruck der Verunsicherung. Er zweifelte an der Richtigkeit seiner Bodensee-Existenz. Berlin als Zentrum der Revolte entfaltete Mitte der sechziger Jahre eine enorme Anziehungskraft. Enzensberger übersiedelte 1965 nach Berlin-Friedenau, auch Frisch zog dorthin, Grass und Johnson wohnten gleich um die Ecke. Johnson versuchte, Walser zum Umzug zu bewegen: Er fehle in Berlin. Es gehe nicht an, daß er noch länger in der Provinz am Bodensee versauere. Er müsse schon deshalb nach Berlin, damit seine Töchter (die vierte Tochter Theresia wurde 1967 geboren) nicht mit diesem scheußlichen süddeutschen Dialekt aufwüchsen. Walser war nicht abgeneigt. Im Verlagsalmanach «Dichten und Trachten» veröffentlichte er 1966 einen offenen Brief Anselm Kristleins an seinen Verleger und ließ die in die Realität drängende Romanfigur über den fiktiven Autor reden: «Ihr Einfall, den W. immer noch in Friedrichshafen wohnen zu lassen, liefert der W-Figur ein zu Herzen gehendes Hellgrau als Hintergrund. Trotzdem, als Fachmann für Werbung muß ich sagen: ein wenig Berlin könnte ihm nichts schaden. Bitte überlegen Sie doch, ob wir ihn nicht auch einmal umziehen lassen.»60

Als die Gruppe 47 im Herbst 1965 in Berlin tagte, mußte Walser aus gesundheitlichen Gründen passen. Er war nach seinem Zusammenbruch noch nicht wieder reisefähig. Aber er war oft genug in Berlin gewesen, um die Stadt einigermaßen zu kennen und sich dorthin zu imaginieren. Christoph Müller, Sohn eines Tübinger Freundes und Redakteur beim Tagesspiegel, übernahm bei seinen Besuchen die Rolle des Stadtführers. Er holte Walser vom Bahnhof ab, lieh ihm bei Bedarf seinen Alfa Romeo, knüpfte Kontakte, ermöglichte Begegnungen aller Art, besorgte Theaterkarten für den Berliner Osten. Als sie dort Benno Bessons Inszenierung der antistalinistischen Satire «Der Drache» von Jewgenij Schwarz besuchten – eine Aufführung, die Walser wunderbar fand –, mußten sie lange auf den Beginn warten. Erst als Kulturminister Klaus Gysi, begleitet von Sohn Gregor, mit enormer Verspätung in der ersten Reihe Platz nahm, öffnete sich der Vorhang.

Als ständiger Kulturkorrespondent hatte Christoph Müller auch in Ost-Berlin viele Bekannte in Autorenkreisen. Günter de Bruyn war einer von ihnen. Walser kannte seine Bücher, mußte aber überredet werden, ihn in seiner Hinterhauswohnung in der Auguststraße zu besuchen. Als Müller eines Tages mit Walser dort aufkreuzte, hatte de Bruyn noch andere Gäste eingeladen, vorwiegend Frauen, vorwiegend blonde Frauen, so daß Walser sich mehr mit denen als mit dem Gastgeber befaßte. De Bruyn hatte Verständnis dafür. Walser schickte hinterher ein Kärtchen mit «herzlichen Grüßen für die Damen und für unseren Christoph». Das war alles.61

Müller und Johnson begaben sich auf Wohnungssuche für die Familie Walser. Die Umzugspläne wurden konkret. Häuser waren in den Jahren nach dem Mauerbau in Berlin konkurrenzlos billig, da konnte man durchaus von einer geräumigen Havel-Villa träumen. Johnson schickte Immobilienanzeigen nach Friedrichshafen, um die Phantasie anzuregen. Walser suchte sich eine baumbestandene Villa mit Türmchen am Seeufer aus. Johnson machte Fotos vom Anwesen und schickte sie nach Friedrichshafen. Doch Ende 1965, als Walser wieder einmal für den mit zeremonieller Regelmäßigkeit übersandten Kalender dankte, war ihm klar geworden, daß aus einem Berlin-Umzug nichts werden würde. Monatelanges gedankliches Berlin-Training blieb erfolglos, so daß er nun kapitulierte: «Wir schaffen es nicht ganz. In Berlin kann ich mich schon hinuntergehen sehen, aber die Entfernung zwischen Stadtrand Berlin und etwa Bodenseeufer ist einfach nicht unterzubringen in meinem Kopf. Die Entfernung von hier nach München macht keine Schwierigkeit, die ist sozusagen längst erobert. Die Strecke nach Berlin ist wie Feindesland. Der Rückzug, der gesichert sein muß, scheint da fraglich. (…) Und wenn ich so tue, als sei ich jetzt ganz fest entschlossen und teile das in Wasserburg mit, dann löse ich bei meiner Mutter einen Schrecken aus, der mich sofort zwingt, alles zurückzunehmen und den Umzugsplan als bloßen Scherz zu deklarieren etc. Es fällt mir selber schwer, mir einzugestehen, daß wohl nichts werden wird aus ‹unserem› Berlin. Ich wäre schon froh, wenn es mir bis München reichen würde. (…) Ich halte es hier sehr gut aus. Auch wenn weniger herauskommt dabei als in Berlin und sonstwo herauskommen könnte. Vielleicht wird alles anders, wenn meine Mutter einmal nicht mehr lebt. Auf jeden Fall: Vorerst bleiben wir hier und studieren Tagesspiegel-Immobilien, als wären es Nachrichten aus dem Paradies, für das wir nicht taugen.»62

Vermutlich waren die Umzugspläne nicht viel mehr als ein Spiel, das Johnson ein bißchen ernster nahm als Walser. Auch später schaffte er nie den Absprung. Irgendeine Schwere hielt ihn in der Heimat. Vielleicht war ihm damals schon klar, daß er als Erzähler auf sein Milieu und auf seine Landschaft angewiesen war. «Das Einhorn», an dem er schrieb, wäre ohne Bodenseenähe gar nicht denkbar. Oder könnte Orli etwa auch aus dem Wasser des Wannsees auftauchen? Unvorstellbar, was aus Walser als einem Berliner geworden wäre, wie seine Romane aussähen, wenn er den Bodenseebezug verloren hätte und zum Großstädter mutiert wäre. Nein, ohne Bodensee ging es nicht.

Berlin beschäftigte ihn aber auf andere Weise. Nach dem berüchtigten 11. Plenum des Zentralkomitees (ZK) der SED im Dezember 1965 drängte Johnson seine Freunde dazu, die Maßregelungen kritischer Intellektueller in der DDR nicht widerspruchsfrei zu dulden. Ulbricht hatte auf diesem Plenum die «Neue Ökonomische Politik» verkündet und Kunst und Literatur zu propagandistischer Unterstützung der wirtschaftlichen Bemühungen verpflichtet. Den Literaten – namentlich Stefan Heym, Wolf Biermann und Werner Bräunig – warf er Morallosigkeit und Sittenverfall vor. Die betroffenen Autoren erhielten de facto ein Publikationsverbot. Der Chemiker und Politologe Robert Havemann war schon 1964 aus der Partei ausgeschlossen und mit einem Lehrverbot belegt worden.

Walser wollte sich zunächst nicht auf Johnsons «DDR-Aufgabe» verpflichten lassen, weil die Arbeit am Roman ihn forderte. Dann aber formulierte er einen Brief an Ulbricht, der auch von Inge Aicher-Scholl, Ingeborg Bachmann, Erich Fried, Rolf Hochhuth, Walter Jens, Robert Jungk, Erich Kästner, Hans Werner Richter, Peter Weiss, Siegfried Unseld und anderen unterzeichnet wurde. In diplomatischem Tonfall forderte er mehr Öffentlichkeit und Meinungsfreiheit in der DDR und protestierte gegen die Maßregelungen des 11. Plenums. Robert Havemann habe der DDR nicht geschadet, sondern versucht, «Möglichkeiten anzubieten, die nach seiner Auffassung bisher nicht oder nicht genügend wahrgenommen und genutzt worden sind». Havemann habe dabei niemals «seine kommunistische Überzeugung und Perspektive verhehlt»63. Diese Stelle des Briefes wurde von den Empfängern im ZK rot angestrichen und mit einer Randbemerkung versehen: «Woher diese Weisheit?»

Walsers Empörung gründete darauf, daß «gegen Machtlose Macht gebraucht» wurde. Das war sein Thema in der westdeutschen Gesellschaft, und das konnte ihn auch in der DDR nicht gleichgültig lassen. Er schrieb: «Wir Unterzeichnete wenden uns an Sie, Herr Vorsitzender, und nicht an die Öffentlichkeit, mit der Bitte, alle Ihre Möglichkeiten zu nutzen, um diesen verhängnisvollen Wirkungen Einhalt zu gebieten. Nur wenn Ihnen das auf Ihrer Seite gelingt, ist es uns auf unserer Seite möglich, weiterhin mit überzeugenden Argumenten für Annäherung, klärendes Verständnis und Versöhnung der Staaten und Völker in unserer gefährlich geteilten Welt zu wirken.» Auch dieser Satz wurde im ZK rot angestrichen und kommentiert: «Heyms Formulierung! (Erpressung!)»

Der Brief löste einige Unruhe und hektische Arbeit hinter den Parteikulissen aus. Walser galt als «Linker» und potentieller Bündnispartner unter den Intellektuellen der Bundesrepublik. Man konnte ihn also nicht einfach ignorieren. Alfred Kurella, für Kultur zuständiges ZK-Mitglied, besprach den Fall mit Walter Ulbricht und stanzte das achtseitige Antwortschreiben in klassenkämpferischem Amtsdeutsch. Unterzeichnet war das Schreiben von Siegfried Wagner, Leiter der Abteilung Kultur im ZK der SED. Er lobte Walsers Friedens- und Vietnam-Engagement als «besonders wertvoll», gab sich jedoch enttäuscht über dessen «Irrtümer», die «wohl darauf beruhen, daß Sie die kulturelle Entwicklung der DDR vom Standpunkt der bürgerlichen Demokratie aus betrachten, in der Sie leben, und den Unterschied der Gesellschaftsordnungen außer acht lassen». Der Aufbau des Sozialismus werde durch «halbanarchistische Elemente» gestört, die sich «in grenzenloser Überheblichkeit sehr klug vorkommen, objektiv aber nur den westdeutschen Machthabern in die Hände arbeiten»64.

Dieses Lagerdenken war für Argumente nicht erreichbar. Die Briefaktion mußte als gutgemeint, aber vergeblich abgebucht werden. Oder doch nicht ganz? Die DDR-Machthaber wollten Walser nicht verloren geben. Im Sommer 1966 erhielt er am Bodensee kaderartigen Besuch von Hermann Kant, dessen Erfolgsroman «Die Aula» gerade auch in der Bundesrepublik erschien. Da vereinbarten sie eine dreiwöchige DDR-Reise und einen Vorabdruck aus dem «Einhorn» in der Zeitschrift NDL nebst Dokumentation eines Briefwechsels Walser – Kant über die «Rolle des Schriftstellers»65. Ein paar Wochen später sagte Walser die Vereinbarungen ab. Er zweifelte wohl doch am politischen Sinn dieser Reise. Er gehe im Herbst auf Lesereise im Westen, schrieb er, der DDR-Besuch müsse deshalb verschoben werden.

Berlin rückte damit wieder in die Ferne. Die Immobiliensuche beschränkte sich jetzt auf die Heimatregion um Lindau herum. Auf seinen immer dringlicheren Erkundungsfahrten begleitete ihn gelegentlich Josef W. Janker. Einmal kamen sie nach Schreggsberg bei Grünkraut in der Nähe von Ravensburg, wo Walser sehr entschlossen war, einen Hof zu erwerben. Er lenkte erst ein, als Käthe Walser ihn darauf hinwies, daß es in dieser Gegend keine Haltestelle und keinen Bus gäbe, mit dem die Töchter zur Schule fahren könnten.66 Der Kauf eines 200 Jahre alten Bauernhauses zwischen Oberstaufen und Immenstadt scheiterte daran, daß die Türen so klein und die Decken so niedrig waren, wie es für Menschen des 19. Jahrhunderts paßte. Sich als moderner Mensch beim Betreten des eigenen Hauses jedesmal bücken zu müssen wäre aber nicht in Frage gekommen.

Die alte Spielerleidenschaft wirkte sich auf neuem Terrain aus. Den richtigen Moment abpassen, aufs richtige Objekt setzen, das waren Herausforderungen, die ihn mehr infizierten, als es der schlichte Kauf eines Hauses tun könnte. Ein Grundstück günstig erwerben und gewinnbringend weiterverkaufen – das war fast wie früher beim Roulette, nur berechenbarer. Die Erfahrungen, die er dabei machte, gingen später in den Roman «Das Schwanenhaus» ein. Die Figur des Maklers Gottlieb Zürn nahm in den Notizbüchern schon damals Gestalt an. Der Makler ist der natürliche Verwandte des Vertreters Anselm Kristlein, und so ist es nicht erstaunlich, daß er sich neben ihm zu entwickeln begann. Ein Haus im höher gelegenen Zeisertsweiler bei Lindau hatte es Walser angetan. Dann in Bad Schachen ein neugotisches Schlößchen mit Grundstück und eigenem Hafen, das abgerissen werden sollte. Es sei groß genug, um den ganzen Suhrkamp Verlag im linken Seitenflügel unterzubringen, scherzte er gegenüber Unseld. Der sah sich schon als alten Herrn neben Walser auf der Veranda sitzen und ferngesteuerte Boote auf dem See dirigieren.67

Unseld riet, die Immobilienfrage wenigstens so lange zurückzustellen, bis der Roman fertig sei. Kaum war das Manuskript aus dem Haus, teilte Walser Johnson mit, sich in einer «beispiellosen Immobilienschlacht» zu befinden. Da hatte er schon den Vorvertrag für ein Grundstück am See unterzeichnet und lud den Freund auch gleich zum Baden im nächsten Jahr ein. Ob dann dort das fehlende Haus stehen werde, sei allerdings davon abhängig, ob das «Einhorn» mindestens 100 000 Käufer finde.68 Der Spieler Walser hatte das Geld verbucht, bevor es eingenommen war. Er mußte sich aus dem Vertrag wieder herauswinden.

Als er im August in Sylt eintraf, wo er sich für vierzehn Tage mit der Familie und mit Augsteins Frau Maria Carlsson in der Augstein-Villa erholte, wollte er gleich wieder etwas kaufen und schrieb an Walter Boehlich: «In mir schlägt die Immobilien-Ader. Ich bin gierig nach Sylter Grund. Der liebe arme Bodensee. Es ist zum Traurigwerden. Das Meer ist einfach der größere Boxer. Und dann akklamiert man halt.»69 Aber nur vorübergehend: Am Ende blieb eben doch immer der Bodensee der Sieger. In Sylt versammelte sich in den Sommern 1966, 67 und 68 eine illustre Gesellschaft. Neben den Walsers, Maria Carlsson und Rudolf Augstein kamen konkret-Chefredakteur Röhl mit Ulrike Meinhof, die Ehepaare Baumgart, Unseld und Dohnanyi, Freimut Duve mit Freundin, Peter Hamm und andere. Hier, am Strand von Sylt, wurden Freundschaften besiegelt. Als Unseld, auf Wasserskiern hinter Augsteins Boot geseilt, versuchte, sich auf die Wasseroberfläche hochzuarbeiten, das nicht schaffte, aber auch nicht aufgeben wollte und angestrengt weiterkämpfte, sagte Walser, der diesen Kampf vom Strand aus beobachtete, zu Baumgart: «Da schau, deswegen ist er mein Verleger.»70