justify

XIV IM BANN DER GESCHICHTE. 1990  1996

«Die Verteidigung der Kindheit». Öffentlichkeit und Gewissen. Reise ins Innere.

Am 28. August 1990 um zwölf Uhr mittags, exakt in der Stunde von Goethes Geburt, heirateten Siegfried Unseld und Ulla Berkéwicz. Martin Walser machte den Trauzeugen, ein Freundschaftsdienst, den er ohne große Begeisterung leistete. Frauen hatten in der frühen «Männerfreundschaft» stets eine große Rolle gespielt. Doch die Ehe stand niemals in Frage. Käthe Walser und Hilde Unseld, die geduldigen, duldenden und starken Frauen an der Seite ihrer Männer – das war doch eine Selbstverständlichkeit! Auch in Walsers Romanen sind die Ehefrauen stets die Elemente der Verläßlichkeit und der Stärke. In «Jenseits der Liebe» kann man es als verstecktes Kompliment an Hilde Unseld lesen, wenn Franz Horn die Gattin seines Chefs «für ihr tapferes Ausharren an der Seite ihres Mannes» bewundert. «Ohne sie wäre ihr Mann überhaupt nicht zu rechtfertigen», heißt es dort.1 Im Theaterstück «Kaschmir in Parching» mußte Unseld 1995 dann den Satz ertragen: «Ich hasse jeden, der sich scheiden läßt.» Gemildert wurde dieses Bekenntnis allerdings durch den ironischen Zusatz: «Und dieser Haß wird erst aufhören, wenn ich geschieden bin.»2

Wenige Monate nach der Hochzeit ereignete sich der Bruch zwischen Unseld und seinem Sohn Joachim, der bis dahin als Kronprinz im Verlag galt und darauf wartete, die Geschäfte zu übernehmen. 1988 hatte Unseld ihn zum gleichberechtigten Verleger gemacht, jetzt drängte er ihn aus dem Verlag. Walser versuchte vergeblich zu vermitteln. Schon 1973 hatte er vorausahnend an Unseld geschrieben: «Vielleicht befreit Dich Joachim bald. Es ist übrigens nicht nötig, daß es zwischen Euch zum Krieg kommt.»3 Aber Unseld wollte sich nicht befreien lassen und konnte die Macht nicht abtreten. Sein Vorsatz, sich mit 65 aus dem Verlag zurückzuziehen, war nun hinfällig; seine junge Frau mag ihn in der Gewißheit bekräftigt haben, noch genug Jugendlichkeit und Energie zu besitzen. Als Walser 1994 vorsichtig anfragte, ob Unseld ein «Treffen mit JU im Juli in Nußdorf» wünsche, bekam er keine Antwort: Ob das auch eine Antwort sei?4

Nach außen hielt Walser die Treue. Als in der Zeit eine Suhrkamp-Verlagsgeschichte zum vierzigjährigen Bestehen als Unseld-Eitelkeit bespöttelt wurde, sprang er dem Verleger sofort bei und verteidigte dessen Eitelkeit als erlaubt und aus der Sache begründet. Intern aber zeigte er sich verärgert, weil er in diesem Jubiläumsbändchen nicht gebührend gewürdigt werde und nur eine «Statistenrolle» spiele. Unseld zählte ihm vor, er sei auf sechs Fotos zu sehen – ebensooft wie Frisch und Johnson. Walser meinte, es komme nicht auf die Anzahl der Bilder an, sondern auf die Schwerpunktsetzung: «So ist es auch bei mir nicht Eitelkeit, sondern sozusagen gekränkter Stolz, wenn ich sehe, daß dem Verlag, wenn ich mich recht erinnere, der ‹Körper des Kutschers› für 1960 wichtiger ist als ‹Halbzeit› usw. Lassen wir’s. Ich hätte von mir aus nicht davon angefangen.»5

Man kann solches Gezerre als unerträgliche Kleinlichkeit abtun. Es funktionierte aber auch als Ventil für grundsätzlichere Mißhelligkeiten. Das Geltungsbedürfnis, das sich hier zeigte, ist eine Variante des Zukurzgekommenseingefühls, das Walser offenbar nie ganz loswurde. Die Erfahrungen des Außenseitertums, wie er sie in den Siebzigern mit der Rollenzuschreibung als «Kommunist», seit Mitte der Achtziger als «Nationalist» machen mußte, hatten ihn manche Freundschaft gekostet. Von Unseld verlangte er bedingungslose Zustimmungsbereitschaft. Das sollte sich auch im Finanziellen ausdrücken. Unseld wollte, um seine Wertschätzung auszudrücken, für «Die Verteidigung der Kindheit» ein Honorar von 400 000 Mark garantieren, was 50 000 gebundenen Exemplaren und rund 100 000 Taschenbüchern entsprochen hätte. «Ich habe ein solches Angebot noch nie einem Autor gemacht», teilte er mit.6 Walser reagierte ungnädig. Auf solche Verkaufszahlen sei er doch immer gekommen, er verstünde nicht, warum nun hier so ein Geräusch gemacht werde. Doch ganz ohne Risiko war das Angebot für Unseld keineswegs. «Brandung» hatte diese Vorgaben eingelöst. «Dorle und Wolf» und «Jagd» waren zuletzt aber hinter diesen hohen Erwartungen zurückgeblieben.

Rund zwei Jahre hatte Walser an dem Roman «Die Verteidigung der Kindheit» gearbeitet, rund ein Jahr recherchiert, bevor er zu schreiben begann. Dieses Buch markiert den Beginn eines neuen Werkabschnitts, der sich mit «Finks Krieg» und «Der Lebenslauf der Liebe» fortsetzen wird – Romane, die vorliegendem Material als literarische Biographien nachgeschrieben sind. Damit verschiebt sich auch die Erzählperspektive. Nun ist der Erzähler weit genug von seinem Helden entfernt, um auch mal zwanzig Jahre in die Zukunft vorausblicken zu können.

Briefe und Fotografien der Figur, aus der im Roman Alfred Dorn werden würde, waren Walser von zwei Frauen – eine davon arbeitete bei der Telephonseelsorge – im Dezember 1988 ins Haus gebracht worden. Es seien noch Kartons voller Papiere in Wiesbaden. Sie würden alles verbrennen, sagten die Frauen, wenn sich nicht ein Schriftsteller dafür interessiere. Walser interessierte sich. Er ließ sich vom Juristendeutsch des Verwaltungsmenschen faszinieren, vom Sächsischen und von sächsischer Geschichte und von diesem Leben, das von einer Dresdner Kindheit im «Dritten Reich» und in der DDR zum Jurastudium ins West-Berlin der fünfziger Jahre und schließlich bis nach Wiesbaden ins «Landesamt für Wiedergutmachung und verwaltete Vermögen» führte. Ein Jahr lang zu recherchieren, um sich rein rezeptiv eine Figur anzuverwandeln, das war für den Schreibgewohnten eine Drill- und Disziplinübung, «schlimmer als Militär»7. Bei den Nachforschungen unterstützte ihn ein Arbeitskollege Alfred Dorns aus der Wiesbadener Ministerialverwaltung: Rudolf Wirtz. Er wurde nebenbei gleich zur nächsten Romanfigur: Stefan Fink in «Finks Krieg».

Alfred Dorn ist – im Unterschied zu den Zürns, zu Halm, Horn und Kristlein – nicht so leicht mit dem Autor verwechselbar. Dabei spricht auch er originären Walser-Text, etwa den Satz: «Wenn man von etwas nicht auch das Gegenteil sagt, sagt man nur die Hälfte.»8 Und an Mimosenhaftigkeit steht er seinen Vorläufern nicht nach. Aber er ist kein Anpassungsspezialist mehr, sondern – und darin entspricht er Walsers Stimmung der Zeit – ein Held der Beharrlichkeit, ein hartnäckiger Einzelkämpfer, einer, der sich durch nichts und niemanden von seinen Eigenarten abbringen läßt und dadurch zum Außenseiter wird. Walser hätte sich kaum für dieses deutsch-deutsche Schicksal eines Muttersöhnchens interessiert, wenn er nicht eine «tiefe Verbundenheit», ja eine «Leidensverwandtschaft» mit ihm empfunden hätte.9 Er und seine Mutter waren nach dem frühen Tod des Vaters ein ähnliches Paar wie Alfred und seine Mutter. Er erkannte sich wieder in dieser zärtlichen Abhängigkeit, doch bei den Walsers in Wasserburg hatte es dafür keinerlei Ausdrucksmöglichkeit gegeben. Das holte er jetzt im Roman nach.

Auch in seinem Sensorium für Geschichte ist er diesem Alfred Dorn verwandt. Kein Verlust ist Alfred so schmerzlich spürbar wie der Vergangenheitsverlust, und das um so mehr, als er die eigene Heimat verliert: Das alte Dresden geht im Bombenhagel unter – und mit ihm die Kindheit und alle Fotoalben und Erinnerungsstücke. Dresden verschwindet ein zweites Mal im Wiederaufbauprogramm und schließlich, nachdem Alfred in den Westen gegangen ist, hinter der Mauer. Er erlebt sein Dasein als eine «unendliche Verschwindenskapazität»10, so daß er alles sammeln und bewahren muß, um aus dem, was ihm von der Kindheit bleibt, ein Museum zu machen. Ganz anders als Alfred empfindet sein jüdischer Kommilitone George Weiler, dessen Eltern in Auschwitz ermordet wurden. Er will über die Vergangenheit nicht sprechen und ist «an nichts mehr als an Gegenwart interessiert»11. Alfreds Geschichtsbegeisterung wird dadurch als Privileg deutlich. Man muß sich den intimen Umgang mit der Vergangenheit auch leisten können. Das erinnert an die Kontroverse um Walsers Deutschlandrede ein paar Jahre zuvor, als Jurek Becker ihm entgegnete, keine so «kuschligen» Kindheitserinnerungen zu besitzen. Das Bedürfnis, die Kindheit vor dem Verschwinden zu retten, nimmt bei Alfred Dorn skurrile Züge an. Bei Walser führte dieses Bedürfnis zum Kindheitsroman «Ein springender Brunnen», der in den Notizbüchern bereits Konturen gewann.

Mit ihrem begeisterten und verzweifelten Geschichtsbezug stand ihm eine Figur zur Verfügung, die im Umgang mit der Vergangenheit ganz und gar aktuell tendierte. In der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hatte – nach der Phase der Umerziehung und Verdrängung in den fünfziger Jahren und der durch den Auschwitzprozeß eingeleiteten Phase der Rechtsprechung in den sechziger Jahren – die Phase der Historisierung begonnen. Walser war wieder einmal schneller als der Zeitgeist. Im Herbst 1997 löste ein Vortrag von W. G. Sebald die sogenannte Luftkriegsdebatte aus. Es ging um die Frage, warum in der deutschen Literatur nach 1945 so selten von der Zerstörung deutscher Städte die Rede war. Doch Deutsche als Opfer alliierter Angriffe zu zeigen hätte damals bedeutet, ihre Rolle als Täter zu relativieren oder doch zumindest unter den Verdacht zu geraten, dies tun zu wollen. Erst jetzt, nach dem Epochenbruch von 1989, schien es möglich, das eine zu beschreiben, ohne das andere zu verschweigen. «Die Verteidigung der Kindheit» ist ein Beispiel für diesen Wandel. Walser nahm ihn wahr, Jahre bevor das Thema zum Feuilletonknüller wurde.

Dabei wollte er keinen historischen oder politischen Roman schreiben, sondern bloß die Geschichte von Alfred Dorn erzählen. Es ging ihm um dieses eine konkrete Leben. Dresden und die sächsische Geschichte, der 17. Juni und der Mauerbau sind nur wichtig, weil sie sich in Alfred Dorn brechen. Dessen Trauer um die zerstörte Heimatstadt wird allenfalls darin zum Exempel, daß das Trauern zugelassen und erlaubt sein muß. Als «Opfer» würde Alfred sich nicht bezeichnen, weil er sich nicht politisch empfindet. Aber in ihm kommt Walsers Hoffnung zum Ausdruck, mit der Trauer ziehe «ein Ton in die Geschichte [ein], der ihre Trostlosigkeit mindert»12. Diese Trauer hat nichts mit Revanchismus zu tun. Sie hilft, mit einem Verlust fertig zu werden.

«Die Verteidigung der Kindheit» ist eine Liebeserklärung an Dresden. Es ist nicht verwunderlich, daß Walser im Februar 1994 die Ehrendoktorwürde der Technischen Universität erhielt, der Hochschule, an der einst Victor Klemperer unterrichtete. Mit Klemperer und der deutsch-jüdischen Geschichte hat es im Roman seine eigene Bewandtnis. Zu Alfred Dorns Kindheit gehört die Mahnung seines Vaters: «Juden gegenüber sei vorsichtig», und die Erinnerung daran, wie er an einer Gruppe Schnee schippender jüdischer Zwangsarbeiter vorbeiging, die sich zum Verschnaufen auf ihre Schaufeln stützten. Da sagte Alfred «unwillkürlich: He, Jude! Der Angesprochene fing sofort heftig zu schaufeln an. Das hatte Alfred nicht gewollt. Er rannte weg». Falls die Geschichte, die von der Alltagswirksamkeit des Faschismus erzählt, noch eine Pointe braucht, dann geht sie so: «Nach dem Krieg sah Alfred das Bild des Mannes, zu dem er He, Jude! gesagt hatte, in den Zeitungen. Er hieß Victor Klemperer und war wieder Professor für Romanistik an der Technischen Universität Dresden.»13

Über die Scham, die er empfindet, kann Alfred Dorn nicht reden. Er weiß, daß er in seiner Funktion als amtlicher Wiedergutmachungsbeauftragter, der jüdische Entschädigungsanträge zu prüfen hat, nichts anderes produziert als eine «Wiedergutmachungsillusion». Sein Gewissen ist im Amtsdeutsch nicht unterzubringen. Das Gewissen, schrieb Walser in einem Aufsatz, ist «das Antiöffentliche schlechthin. Nicht rechtfertigungspflichtig»14. In der Literatur ist es möglich, diesem «Antiöffentlichen» eine Öffentlichkeit zu geben. Das ist sein Thema für die neunziger Jahre bis hin zur Friedenspreisrede in der Paulskirche – dem großen, groß gescheiterten Versuch, das nichtöffentliche, persönliche Gewissen öffentlich zu machen, also ein literarisches Verfahren in einer politischen Rede anzuwenden. Schon 1994, in der Dankrede zur Verleihung des Dolf-Sternberger-Preises für öffentliche Rede, polemisierte er gegen den «Tugendterror der Political Correctness» und geißelte alle Versuche der «Formalisierung und Standardisierung der Sprache für das, was aus dem Gewissen stammt»15. Was in der Paulskirchenrede unter dem Schlagwort «Instrumentalisierung von Auschwitz» Skandal machte, formulierte er hier so: «Über Auschwitz kann es doch gar nicht zwei Meinungen geben. Aber man kann eine Art, auf die Frage nach Auschwitz zu antworten, so ritualisieren, daß jede andere Art zu antworten zur Blasphemie erklärt werden kann.»16

Walsers Einwände gegen das Gedenken, das wird hier deutlich, handeln von Sprachregelungen und von Religion. Gegen die öffentliche «Tabuzüchtung im Dienst der Aufklärung»17 setzt er das persönliche Gewissen als Raum der Aufrichtigkeit und Freiheit. Er kommt allerdings nicht umhin, über dieses Gewissen zu sprechen, denn nur dann – als Formuliertes, als Mitgeteiltes – ist es ein Gewissen. Walser als öffentlicher Redner ist immer ein Beichtender, der bekennt, wie es in ihm zugeht. Er hat damit die Religion der Kindheit säkularisiert. Die Öffentlichkeit hat die Stelle Gottes eingenommen. Vorteil: Über Glaubenssätze läßt sich in dieser Religion diskutieren. Nachteil: Die Öffentlichkeit ist weniger diskret als das Ohr des Priesters.

Die Wendung ins Innere begründete Walser 1990 in dem Essay «Vormittag eines Schriftstellers», der eine ähnliche Schlüsselfunktion einnimmt wie zehn Jahre zuvor der «Händedruck mit Gespenstern». Damals ließ Walser die deutschen Gespenster «Volk» und «Nation» herein, die freundlich winkend das Haus des Bewußtseins umlagerten. Jetzt räumte er mit dem «Meinungspack» auf, das in allen Ecken herumlungerte, um endlich Herr im eigenen Haus zu werden. Mein Bewußtsein gehört mir! – gilt jetzt als Maxime. Peter Handke, auf dessen «Nachmittag eines Schriftstellers» er sich bezieht, ist der Verbündete dieser erstrebten Haltung, die er so umreißt: «Dieses rechthabenmüssende Erwiderungsgespräch abbrechen. Meinungen meiden. Keine Beweisführung, keine Theorie, bloß kein Diskurs, nur eine persönliche Notwendigkeit, in der die Frage mitflüstern darf, ob es anderen auch so gehe. Entkommen, das wär’s.»18

Walser verabschiedete sich in diesem Text von jedem Utopiebedarf, setzt sich vom politischen Meinungskampf ebenso ab wie vom religiös strukturierten Intellektuellentum. Mit dem Ende der Blockkonfrontation hoffte er auf das Ende der «Lagerevangelien», die in Ost und West diensteifrige Glaubenssätze und Zugehörigkeitsbekenntnisse produziert hatten. Jetzt schien Freiheit des Denkens möglich, Ungebundenheit, Offenheit. Der «Meinung» setzte er die «Poesie» entgegen, dem Objektivitätsgestus das subjektive Empfinden, dem Eindimensionalen das Vieldeutige, dem Überzeugenwollen das Selbstgespräch. Das Feuilleton bezeichnete er als «Kirchenraum der kapitalistischen Welt», in dem Intellektuelle als eher peinliche Missionare agieren. Intellektuelle – das kennt man schon – sind immer die anderen. Er aber ist vor allem: er selbst. Öffentlichkeit konnte er nun nicht mehr – wie noch Mitte der achtziger Jahre – zum «Nervensystem der Demokratie» veredeln. Jetzt sah er darin bloß noch ein Unterhaltungsprinzip. Es ist nicht verwunderlich, daß er mit dieser Meinung über Meinungen im Feuilleton auf wenig Gegenliebe stieß. Von hier aus läßt sich sein öffentliches Agieren in den neunziger Jahren als vergeblicher Versuch begreifen, «sich zum Verstummen zu bringen». Er möchte statt Meinungen Stimmungen vortragen und Gewissensforschung betreiben. Aber was sich öffentlich ereignet, erscheint immer als Meinung.

Das ist das Mißverständnis zwischen Walser und der Öffentlichkeit. Entkommen kann ihr nur, wer schweigt. Aber Schweigen kommt für ihn nicht in Frage. Er muß sich wehren gegen jede Abhängigkeit. Die Abhängigkeit von der Öffentlichkeit ist die schlimmste, die lebenswichtigste für einen Schriftsteller. Wolfgang Hildesheimer wählte den anderen Weg und zog sich ganz und gar zurück ins Schweigen. Walser, darauf angesprochen, schloß diese Möglichkeit für sich aus: «Er [Hildesheimer] glaubt nicht mehr an ein Weiterexistieren der Menschheit. Da ich aber nie für die Menschheit, sondern immer aus eigener Notwendigkeit, (…) aus eigener Daseinsschwäche geschrieben habe, kann ich wohl nicht aufhören. (…) Außerdem habe ich das Schreiben als Handwerk immer ernst genommen. (…) Industriell gesagt: Mein Auftragsbuch ist voll.»19

1991 war Walser jedoch mit der Öffentlichkeit einig wie selten zuvor und selten danach. «Die Verteidigung der Kindheit» erhielt hervorragende Kritiken, wurde als Roman zur deutschen Einheit gefeiert und verkaufte sich bis zum Jahresende über 100 000mal. Er absolvierte wie üblich eine ausgedehnte Lesereise mit über vierzig Auftritten. Der Putschversuch in Moskau mit der Entführung Gorbatschows beunruhigte ihn allerdings so sehr, daß er die Reise ohne Gorbatschows Rückkehr nicht angetreten hätte. Gorbatschow war der Garant für eine glücklich verlaufende Geschichte.

Seine Freundin Ruth Klüger schickte ihm das Manuskript ihrer Erinnerungen, in denen sie von ihrer Wiener Kindheit, der Deportation nach Theresienstadt und Auschwitz, der Nachkriegszeit mit dem Semester in Regensburg und der Freundschaft zu Walser und von der Emigration nach New York berichtete. Walser pries Unseld den «ausgezeichnet geschriebenen» Text an, der zunächst den Titel «Aussageverweigerung» trug, und empfahl ihn seiner Aufmerksamkeit.20 Ohne Erfolg. Unseld fand, der Text bleibe zu sehr im Privaten. Ruth Klügers bedeutendes Buch erschien unter dem Titel «weiter leben» im Göttinger Wallstein Verlag.

Meinungsüberdruß, Monotheismus, Terror. Mediensatire I: «Ohne Einander».

Die ungünstigen Meinungen über Meinungen hielten Walser nicht davon ab, weiter an der Meinungsfront tätig zu sein. Es ist Koketterie, wenn er das als Schwäche abtun wollte. Zum Jahrestag der Fatwa gegen Salman Rushdie, gegen den der iranische Ajatollah Chomeini ein Todesurteil wegen «Gotteslästerung» verhängt hatte, schrieb er zum Auftakt einer ganzen Serie offener Briefe – unter anderem von Ilse Aichinger, Andrzej Szczypiorski und Norman Mailer – im Februar 1992 in der taz: «Gesten und Meinungen – mehr haben wir nicht. Die monotheistische Religion hat immer Täter, Mörder also und Folterer. Die monotheistische Religion hat immer die Wahrheit. Aber diese Wahrheit braucht zu ihrer Erhaltung und Propagierung offenbar den Terror.»21 Die Meinung geriet in dieser Gegenüberstellung auf die Seite des Guten, des Ohnmächtigen. Die Unbestimmtheit des Meinens war eine Qualität, die der Gewalt der wahrheitsbesitzenden Machthaber entgegenstand.

«Monotheismus» entwickelte sich in den neunziger Jahren zu einem häufig benutzten Kampfbegriff Walsers. Damit konnte er islamischen Fundamentalismus, christlich-abendländisches Missionarstum und marxismusfrommen Dogmatismus in einem Begriff zusammenfassen. Monotheismus ist ein auf das Bewußtsein, aufs Innere zielender Gegenbegriff zum politisch definierten Totalitarismus. Monotheismus, schrieb er an Rushdie, «ist der letzte Feind des Friedens. Daß man sich einer Art, die Welt zu erklären, anschließen soll, führt zum Terror. Wir können nicht darauf verzichten, diesen Terror mit Meinungen und Gesten zu beantworten». Walsers Geste bestand darin, Rushdie jederzeit bei sich zu Hause Unterkunft anzubieten. Seine Meinung bestand darin, den Fundamentalismus mit Toleranz zu bekämpfen. Damals wurde die Frage diskutiert, ob die Frankfurter Buchmesse iranische Verlage aus Protest gegen die Fatwa ausschließen solle. Walser hielt alle Arten von Boykott für kontraproduktiv: «Ich würde die Fundamentalisten immer zu jeder Buchmesse dieser Welt einladen. Mir kommt es vor, als nütze dem Fundamentalismus nichts so sehr wie die Einschließung und Ausgrenzung. Festung zu sein, Belagerungszustand, überhaupt Kriegsartiges, muß ihm nützen. Ich würde immer und überall das Gespräch mit Fundamentalisten suchen.» Aus demselben Grund war er auch für das Engagement von Sony, IBM und Siemens im Iran. Das, so meinte er, könne dem «Monotheismus» gefährlicher werden als «alle unsere Meinungen und Gesten».

Ähnlich argumentierte er zwei Jahre später, als eine fundamentalistische muslimische Gruppe gegen die Schriftstellerin Taslima Nasrin in ihrer Heimat Bangladesch ein Todesurteil verhängte, weil ihr Roman «Schande» blasphemisch sei. Walser, von der taz um einen offenen Brief an Nasrin gebeten, wandte sich statt dessen an Bundesaußenminister Klaus Kinkel: Die Regierung solle der bedrohten Autorin Asyl anbieten. Es sei an der Zeit, daß die europäischen Außenminister gemeinsam auf den Terror «fanatischer Monotheisten» antworteten.22 Tatsächlich reagierte der Minister. Er bestellte den Botschafter Bangladeschs ein, offizieller Protest erfolgte. Das ist nicht viel, zeigt aber doch, daß Intellektuelle – und Walser agierte als Intellektueller, auch wenn er so tat, als sei er bloß ein Privatmann – mit klug plazierten öffentlichen Stellungnahmen etwas bewirken können.

Meinungsabstinenz läßt sich ihm auch weiterhin nicht bescheinigen. Vielmehr werden seine Äußerungen in der Presse mit besonderer Inbrunst ausgebreitet, als bereite es den Redakteuren gesteigertes Vergnügen, ihn damit zu quälen. Während der andauernden Stasi-Debatte um Brandenburgs Ministerpräsidenten Manfred Stolpe wurde er mit der Meinung zitiert, Stolpe müsse der nächste Bundeskanzler werden, weil er wie kein anderer die deutsche Geschichte der vergangenen Jahrzehnte repräsentiere. Die Meldung, er habe den Gründungsaufruf des «Komitees für Gerechtigkeit» neben Gregor Gysi, Tamara Danz, Stefan Heym und Peter-Michael Diestel unterschrieben, dementierte er allerdings energisch. Er habe Gysi vielmehr geantwortet: «Es tut mir leid, daß ich die Komitee-Idee nicht nur für nicht gut, sondern ernsthaft für ungut halte.»23 Kein Dementi gab es gegenüber Meldungen, daß er die Ravensburger Bürgerinitiative «Ausländer – na klar!» unterstütze, die 1992 in Reaktion auf einen Skinheadüberfall auf die Jugendherberge und ein Messerattentat auf einen Angolaner entstand. Das war sein Beitrag als Bürger gegen den aufflammenden Ausländerhaß.

1992 wurden bundesweit vierzehn Menschen durch rechtsradikale Gewalttäter umgebracht, 452 wurden verletzt. In Rostock-Lichtenhagen griff ein aufgebrachter Mob das Wohnheim vietnamesischer Asylbewerber an und steckte es in Brand. Im November 1992 wurden in Mölln zwei Häuser angezündet, in denen seit Jahren türkische Familien wohnten. Drei Menschen starben. Im Mai 1993 kamen bei einem Brandanschlag auf das Haus einer türkischen Familie in Solingen fünf Bewohner ums Leben. Im ganzen Land gab es Lichterketten und Demonstrationen gegen Ausländerfeindlichkeit, auf seiten der Politik dagegen das beschämende Bemühen, das Asylrecht durch eine Grundgesetzänderung einzuschränken und damit dem Terror von rechts nachträgliche Legitimität zu verschaffen.

Walser ließ sich auch dadurch nicht provozieren, die Rolle des Beobachters aufzugeben. Er wollte sich von den aktuellen Unzumutbarkeiten nicht mehr wie einst, zu Zeiten des Vietnamkrieges, zu einem «bescheidenen Manuskriptchen» drängen lassen.24 Getragen vom tiefen Bedürfnis, daß die Einheit gelingen möge, mühte er sich darum, die Bedeutung der begleitenden «Scheußlichkeiten» als gering zu erachten. In den Skinheads sah er keine rechtsradikale Gefahr, sondern fehlgeleitete Jugendliche, die auf den spezifischen deutschen Mangel an nationaler Normalität reagierten. «Es ist die Schuld der Epoche», sagte er auf die Frage nach den von Skinheads zur Schau gestellten Aufnähern mit der Aufschrift «Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein». «Man wollte diesem Verband [Deutschland], der so viel Unheil angerichtet und keine Existenz mehr unter den Anständigen hatte, nicht angehören. Daraus ist natürlich ein Mangel entstanden und den bringen die Jugendlichen zum Ausdruck. Die übertreiben jetzt den Mangel, den wir produziert haben.»25 Walser nahm die «Skinheadbuben», wie er sie freundlich nannte, in ihrem Nationalbedürfnis ernst. In ihrem faschistischen Mummenschanz mit Fahnenschwenken und Uniformkostümierung sah er dagegen nur eine Reaktion auf das vierzigjährige Lippengebet des DDR-Antifaschismus: Jetzt taten die Jugendlichen das, was zuvor das Verbotenste gewesen war.26

Diese entdramatisierende Haltung behielt er durch die neunziger Jahre konsequent bei. Erregt, wütend reagierte er auf alle Stimmen, die vor einer neuen rechten Gefahr warnten, und nahm es in Kauf, für einen Schönfärber und Deutschlandverklärer oder einen «Brückenbauer zur Neuen Rechten» gehalten zu werden.27 In seinem gesamtdeutschen Harmoniebedürfnis konnte er es nicht ertragen, wenn von gegenwärtigen Mißständen auf die Wiederkehr der Geschichte geschlossen wurde: Es gibt kein deutsches Gen für Rassismus. Aber es existierte eine Bedrohung, die er einfach nicht wahrhaben wollte.

Der Bericht im ARD-«Kulturreport», den Tilman Jens über den «deutschen Dichter und seine Stammtischparolen» drehte, war allerdings ein Musterbeispiel der Demagogie. Aus dem Zusammenhang gelöste Zitate wurden mit Bildern rechtsradikaler Gewaltakte unterlegt. Ein Satz aus «Heimatlob», den Walser in Betrachtung des Bodensees geschrieben hatte, diente zum Beleg für seinen politischen Opportunismus: «Wie schön wäre es, wenn man sich allem anpassen könnte. Auf nichts eigenem bestehen. Nichts Bestimmtes sein. Das wäre Harmonie.»28 Dabei bemerkten die TV-Autoren noch nicht einmal, wie wenig dieser Satz zu Intoleranz und Rechtsradikalismus paßt. Er ist geradezu das Gegenteil von Fremdenhaß.

Siegfried Unseld protestierte bei ARD-Intendant Jobst Plog gegen den Beitrag und seine Machart. Walser schrieb eine Erwiderung im Spiegel. Da erklärte er noch einmal seine nationale «Mangel»-Theorie, die er mit Hinweisen auf die demütigende soziale Aussichtslosigkeit nach dem Zusammenbruch des Sozialismus ergänzte. Auch seine Kritik an den Medien, die mit ihrem Zoom auf jedes rechte Requisit dazu beitrügen, den Zulauf zu den Skinheads zu vergrößern, führte er noch einmal aus. Und er wiederholte die Forderung nach Dialog, wie er sie ganz ähnlich im Brief an Rushdie in bezug auf den islamischen Fundamentalismus erhoben hatte: «Ich halte nichts von Dämonisierung. Man muß die Kinder annehmen, auch wenn sie sich ins Unerträgliche entwickelt haben.»29 Schulen, Gewerkschaften und Kirchen wollte er vertrauen, nicht den Medienaufklärern, die «leere Waggons» über die «öffentlichen Meinungsschienen rumpeln» ließen.30

Ohne Tilman Jens und den «Kulturreport» beim Namen zu nennen, schrieb er an diese Adresse: «Es gibt welche, wie ich selbst erfahren habe, die benutzen ungeniert die in übleren Zeiten entwickelten Verleumdungstechniken, um ihnen Unangenehme zu erledigen, und das im Dienst so hehrer Wörter wie Aufklärung, Demokratie, Universalismus, Utopie. Könnte das daher kommen, daß Überzeugte auch davon überzeugt sind, daß sie alles dürfen?»31 Als wolle er das linke gute Gewissen so richtig in Wallung versetzen, lobte er nach Kräften Helmut Kohls «historisches Geschick» in der deutschen Einigung. Zum Verteidiger Kohls avancierte er auch bei einem Abendessen, zu dem der Kanzler einige Schriftsteller einlud. Als einer der Kollegen Kohls Verhältnis zur deutschen Sprache kritisierte, genierte Walser sich dafür so sehr, daß er sofort anfing, von Kohls Sprache zu schwärmen. Er habe sich angebiedert, wurde ihm später vorgehalten.

Es half also nichts: Walser war wieder einmal mitten ins Meinungsgelände geraten, wo er gar nicht hinwollte. Er ließ sich provozieren und provozierte zurück. Dabei ahnte er, daß Schweigen die elegantere Lösung wäre. Welch stille Schönheit konnte er produzieren, wenn es darum ging, Schweigen zu begründen! Als Tilman Spengler, Feuilletonchef der Zeitung Die Woche, ihn um Mitarbeit bat, lehnte er das ab und schickte statt dessen ein Gedicht. Nur so ließ sich formulieren, was nicht in eine Meinung paßte:

Abends wenn es hell wird,

wenn auf den Zähnen Vorsicht wächst,

Wildwasser vor Höflichkeit lispelt,

dann sind wir dran mit den Sprachen

voll von den Lauten des Schweigens.

 

Wer möchte nicht summend sein,

honigherzig, weltgewandt,

überirdisch kompatibel.

Und mir wachsen Zweige

aus dem vom besseren Wissen

verschlossenen Mund.

 

Stünde ein Wort am Ufer und überlegte

wohin es, falls das Wasser steigt,

schwimme, hieße das Wort vielleicht

BALD.32

Zwei gegensätzliche Seiten Martin Walsers kommen in diesen Versen zur Sprache: der weltgewandte Charmeur, der in Gesellschaft erblüht und erst im Disput über sich hinauswächst – und der Zweifler, der das Gefühl hat, was er zu sagen hätte, bliebe besser ungesagt, weil er sich damit doch nur Ärger einhandeln wird.

Verbergen und Entblößen, und am besten beides zugleich: darum geht es auch in dem Roman «Ohne Einander». Er packt das Dilemma der Öffentlichkeit und des Veröffentlichens von der objektiven und von der subjektiven Seite aus an, als Satire der Medienwelt und als Protokoll des Dramas persönlichster Empfindungen. Mit Sylvio Kern kommt Walser in der langen Reihe der Berufstätigkeiten seiner Romanhelden auf den Schriftsteller als ihren «Kern» zurück, für den doch alle Verkäufer, Makler und Privatgelehrten nur Stellvertreter sind. Schon Anselm Kristlein wurde zum Autor in eigener Sache. Und Gottlieb Zürn konnte nur mühsam verbergen, eigentlich ein Schreibender zu sein. Mit Sylvio Kern rückte Walser noch näher an sich heran. Nun zeigte er sich in der Maske der Maskenlosigkeit. Dieser ältere Herr, der etwas zuviel Rotwein trinkt, entsagt der äußeren Welt, so gut er kann, und ist damit beschäftigt, sie in seinen Romanen, der «Feigling»-Trilogie, zu verschönern, um sie für sich erträglich zu machen. Einen «weißen Schatten» soll sie werfen. Deshalb schreibt er. Und selbst dann, wenn sie nicht wirklich verbesserbar ist, ist er im Schreiben nicht länger leidendes Objekt des Geschehens, sondern Subjekt: der Autor. Das heißt nicht, daß er deshalb besonders gut wegkäme. Auch seine Frau Ellen, die gewissermaßen die journalistische, die medienzugewandte Seite Walsers vertritt, hat zu leiden. Sie arbeitet bei einem großen Magazin und scheitert damit, einen Artikel über den Film «Hitlerjunge Salomon» zu schreiben. Etwas Philosemitisches soll es sein, um einen anderen Artikel im aktuellen Heft, der in den Verdacht des Antisemitismus geraten könnte, abzufedern. Einmal mehr ist der Umgang mit der deutschen Vergangenheit der Knotenpunkt, an dem sich die Moral der Öffentlichkeit in ihrer geschäftsmäßig ausgewogenen Korrektheitsbalance offenbart.

Walser betrachtet die ihm nahen Figuren einschließlich des Schriftstellers Sylvio ohne Schonung und darf deshalb auch die exemplarischen Gestalten des Gewerbes – den Kritiker, den Verleger und den Zeitschriftenherausgeber – mit Sarkasmus behandeln. Der Kritiker Willi André König – ein Vorläufer des «Erlkönig» in «Tod eines Kritikers» – sieht zwar mit ewigem Dreitagebart und Pferdeschwanz Reich-Ranicki kein bißchen ähnlich. Die Art, wie er der deutschen Gegenwartsliteratur im allgemeinen ihre Langweiligkeit attestiert und Sylvio Kern im besonderen als «ermüdend umständlichen Plauderer» bezeichnet, zielt jedoch erkennbar auf das reale Vorbild. Reich-Ranicki nahm es mit Humor. Er spielte mit und bestätigte das Bild, das Walser von ihm entwarf. In der Kritik, die er zu «Ohne Einander» schrieb, nannte er Walser «Deutschlands gescheiteste Plaudertasche»33, gerade so, als habe er aus dem Roman zitiert oder sei selbst daraus entsprungen.

Auf die Pointe der Mediensatire ging Reich-Ranicki nicht ein. Denn es ist der Literaturkritiker, der in der Redaktionskonferenz mit seinem Artikelvorschlag den Herausgeber verängstigt, damit in Antisemitismusverdacht zu geraten. Willi André König kann sich erst durchsetzen, als er an seine jüdische Abstammung erinnert: Seine Großmutter habe Hilde Wasserfall geheißen. Walser spielt ein riskantes Spiel. Wie ein Derwisch das Feuer, umtanzt er das Thema Antisemitismus und probiert, wie weit er gehen kann, ohne sich zu verbrennen. Es mache ihm nichts aus, als Kommunist, Sadist oder Bestialist verunglimpft zu werden, läßt er den Zeitschriftenherausgeber sagen. «Nur in den trivialsten und uninteressantesten Verdacht, den des Antisemitismus nämlich, wolle er nicht geraten.»34

Als Walser das Manuskript im Januar 1993 im Verlag ablieferte, rief es dort eher gedämpfte Reaktionen hervor und einige Besorgnis, die «im engeren Sinn betroffenen» Figuren könnten empfindlich reagieren. Lektor Rainer Weiss, der sich nun verstärkt mit Walser befaßte, wurde beim Lesen das Gefühl nicht los, der Autor habe überall kleine Rechnungen offen. Er machte kein Geheimnis daraus, das Buch nicht sonderlich zu mögen. Seine langjährige Lektorin Elisabeth Borchers fand mehr Gefallen an dieser «herrlichen Suada». In ihrer verlagsinternen Beurteilung schrieb sie: «Selbst diese Gift-Exzesse, diese nicht zu überlesenden Bösartigkeiten (als bestehe des Autors ganzes Leben einzig aus Bösartigkeiten) könnte man – statt sich dagegen zu wehren – als eine Kunst der Bösartigkeit verstehen; wie andere poetisch oder meditativ oder humorvoll schreiben, so spezialisiert sich Walser auf Ranküne, auf den Racheakt.»35 Wenn das Publikum bejubele, wie Reich-Ranicki im «Literarischen Quartett» seine Pfeile verschießt, dann dürfe es bei Walser zu ähnlichem Genuß kommen, wenn er’s ihm heimzahlt. Soll der Autor sich doch wehren, so gut er kann. Anerkennend bemerkte sie: «Was Walser hier vollbringt, ist allerdings nicht zu schlagen: den ‹Erlkönig› unter Antisemitismusverdacht zu stellen, bis dieser seine Großmutter Hilde Wasserfall zitiert, das ist schonungslos, eine Inszenierung, wie sie erst jetzt, heute, möglich geworden ist: raus aus der Ecke der verschämten Deutschen und hinein in die Bedürfnisse eines Autors. Gut denn.» Als hätte sie damals schon geahnt, was noch folgen würde, prophezeite sie: «Im übrigen, das wird nicht das letzte Gefecht sein, das sich die beiden liefern.» Doch zugleich bemängelte sie, «daß Walser so wenig wie nur möglich von Frauen versteht». Was Ellen sage und denke, während sie sich auf der Schreibtischkante von einem geifernden Kollegen mißbrauchen läßt, das stimme ebensowenig wie die Figur der Tochter Silvi und ihre Reaktionen am Uferstrand.36 Es war schließlich der Walser-Vertraute Gottfried Honnefelder, der ihn in Nußdorf besuchte, um mit ihm noch einmal über Sujet und Figurenkonstellation zu sprechen.

Ende Mai begann der Vorabdruck in der F.A.Z. Bedenken wegen der Kritiker-Figur oder Antisemitismusverdächten gab es nicht. «Ohne Einander» wurde der zweite große Erfolg innerhalb weniger Jahre. Mit knapp 100 000 verkauften Exemplaren bis zum Jahresende gelang Walser erneut ein Bestseller. Eine Aufstellung des Verlages listete Ende Juli 1993 die Top ten in absoluten Auflagen seiner Bücher auf: «Das fliehende Pferd» führte mit 751 000 Exemplaren mit weitem Abstand, gefolgt von «Brandung» mit 292 000 und «Verteidigung der Kindheit» mit 286 000. Auf den Plätzen: «Ehen in Philippsburg» (258 000), «Schwanenhaus» (204 000), «Einhorn» (192 000), «Seelenarbeit» (185 000), «Halbzeit» (174 000), «Jenseits der Liebe» (145 000) und «Jagd» (105 000). Nicht berücksichtigt sind dabei Buchclublizenzen mit teilweise hoher Auflage und die Taschenbuchausgaben von «Ehen in Philippsburg», «Halbzeit» und «Einhorn» in anderen Verlagen.

Trotz des Verkaufserfolgs blieb Walser empfindlich genug, die verlagsinterne Begeisterungszurückhaltung zu spüren. Wenn die Beziehung zwischen Autor und Verlag sich tatsächlich mit einer Ehe vergleichen läßt, dann war es eine Ehe, die in die Jahre gekommen war, eine Beziehung, die Walser schon seit einiger Zeit nicht mehr monogam führte. Verleger Klaus Isele hatte ihm vorgeschlagen, einen Sammelband mit Gedichten und verstreuten Aufsätzen zu publizieren. Der Scheffelbund in Karlsruhe würde das Buch zur Jahresgabe für seine Mitglieder machen, so daß eine ordentliche Auflage zu erwarten wäre. «Zauber und Gegenzauber» hieß dieser Band, der 1995 erschien. Die Edition Isele war für Walser als Verlag aus der Bodenseeregion interessant. Und er hatte damit ein Druckmittel gegenüber dem Suhrkamp Verlag. Für Isele war es eine Ehre und ein Reputationsgewinn, einen berühmten Autor mit kleineren Nebenwerken veröffentlichen zu können. Zuletzt hatte er «Nero läßt grüßen» herausgebracht.

Unseld gefiel diese Nebenbeziehung gar nicht. «Der Schmerz wäre geringer, wenn Du mir sagen könntest, daß mit diesem ‹Freigang› für längere Zeit es sein Bewenden hätte. Und bitte gib Isele nur nicht-exklusive Rechte», klagte er37, und Walser ärgerte sich. Schließlich hatte er sich nicht aus freien Stücken zum «Freigang» entschlossen. «Wenn Du, was mich betrifft, Schmerzpunkte notierst – immer so, als sei ich schlechthin der Veranlasser, Du schlechthin der, dem sie zugefügt werden –, dann solltest Du jedesmal auch noch überprüfen, ob Du bei der Veranlassung selber mitgewirkt hast. Du bzw. der Verlag», schrieb er zurück. «Seit 30 Jahren publiziere ich Verse. Sicher keine Gedichte. Aber wieviel Verse werden heute als Gedichte ausgegeben. In diesen 30 Jahren hat NIE jemand vom Verlag gesagt: Könnte man die sammeln? Herr Isele hat das gesagt. Und jetzt klagst Du. Ist das begründet? Vielleicht hätte ich ja lieber im Suhrkamp Verlag veröffentlicht. Bei ‹Nero› war es dasselbe. Ich habe ihn Euch (Du warst dabei!!) vorgelesen. Kein Wort, daß man das drucken könnte. Also Isele. Zum Glück gibt es Isele. Mein Schmerzpunkt: daß Ihr nichts sagt, aber dann meine Handlungsfreiheit einschränkt. Überleg das, bitte! Und laß mich wissen, ob ich mich verständlich gemacht habe.»38 Unseld salutierte: «Du hast Dich verständlich gemacht. Mein Brief sollte keine Vorwürfe mehr enthalten haben.»39

Ein Reisetag. Herzrhythmusstörungen. Deutschlandgespräch mit Trauerweide.

Der 29. April 1994 war ein frühlingshaft warmer, sonniger Tag. Walser betrat um 7.46 Uhr den Bahnhof in Brüssel, pünktlich wie immer, der Zug nach Köln fuhr um 7.52 Uhr. Nie kam er selbstverschuldet zu spät. Sein ganzes Leben lang, so kam es ihm vor, war er ununterbrochen unterwegs, ohne den mutterbedingten Pünktlichkeitszwang jemals loszuwerden. Am Tag zuvor hatte er in Amsterdam den Reisepaß im Hotel vergessen, und der Zug nach Brüssel war stundenlang auf offener Strecke stehengeblieben, was eine gewisse Nervosität und Unheilserwartung in ihm produziert hatte. Aber der Stillstand hatte auch eine Erkenntnis reifen lassen, der er jahrzehntelang hinterhergereist war: «Es ist doch völlig gleichgültig, wo du bist.» – Acht Jahre später würde Michael Landolf, der Erzähler im Roman «Tod eines Kritikers», genau diese Erlebnisse mitteilen. Walser konnte auf dieses Material zurückgreifen, weil er den Verlauf dieses Tages protokollierte, um herauszufinden, wie das Berichterstatten das Erleben verändert.40

Im Zug las er in den Zeitungen von den Ereignissen in Ruanda und in Bosnien, gequält vom Gefühl, den Kriegen ebensowenig unbeteiligt zuschauen zu können, wie es ihm unmöglich wäre, nach Sarajevo zu reisen, um dort wie Susan Sontag ein Theaterstück von Beckett zu inszenieren. Er bewunderte diese Aktionsfähigkeit, die er nicht besaß, und blickte in die idyllische Landschaft, die vor dem Fenster vorbeizog. Um 12.30 Uhr traf er in Schloß Ernich in der Nähe von Bonn ein, in der Residenz des französischen Botschafters, der ihn zum «Officier de l’ordre des arts et des lettres» ernannte. Im Garten standen die Gäste in losen Grüppchen beisammen, unter ihnen auch der befreundete Schriftsteller Hans Bender, der aus Köln gekommen war. Walser hielt eine kleine Rede über Pascal. Im Zug hatte er das Manuskript noch einmal überarbeitet, jetzt aber in der Aufregung zur unredigierten Fassung gegriffen. Dann, nach einem Blick auf die Armbanduhr, rascher Aufbruch, weil er um 16.00 Uhr für ein Interview in Bonn im Studio des Fernsehsenders n-tv sein mußte. Thema: Die Medien. Den Text konnte er auswendig. «Es geht seit einiger Zeit in Deutschland nicht mehr darum, was ein Autor schreibt und publiziert, sondern nur noch darum, wie er auf die tabuhaft normierten Denk- und Sprachschablonen reagiert, die man ihm so oft als möglich vorlegt. (…) In Deutschland muß zur Zeit andauernd öffentlich nachgemessen werden, wo einer auf der Links-Rechts-Skala gerade steht. Und das wird mit einem konfessionellen Eifer betrieben, der einen an frühere katholisch-evangelische Feindseligkeiten erinnert.»41 Er nahm sich vor, dies sollte sein letztes Interview für lange Zeit sein. Den Vorsatz faßte er immer wieder. Durchhalten konnte er ihn nie.

Abends fuhr er weiter nach Aachen, wo er den Kongreß des Schriftstellerverbandes besuchte. Acht Jahre hatte er an keiner VS-Versammlung mehr teilgenommen. Jetzt, nachdem der Verband die Vereinigung mit seinem DDR-Pendant unter schmerzhaften Debatten vollzogen hatte, empfand er das Klima als kleine Erlösung: nicht mehr so rechthaberisch, weniger polemisch, weniger ideologisch als früher. Er fühlte sich im Kollegenkreis auch deshalb wohl, weil nach abendlichem Umtrunk die Autoren Peter Renz und Imre Török einen Casinobesuch anregten. Was für eine wundervolle Idee. Walser versorgte die weniger gut gerüsteten Kollegen mit Krawatten und lieh einem Feuilletonchef ein weißes Hemd.42 Auf dem Kongreß selbst meldete er sich nur einmal zu Wort, um zu sagen, warum er sich nicht zu Wort melde. Nach so vielen Jahren stehe ihm das Mitdiskutieren gar nicht zu.

Die ständigen Reisen, die Termine und nicht zuletzt die anhaltenden Auseinandersetzungen um seine deutschlandpolitischen Äußerungen: dieser Lebensstil konnte nicht gesund sein. Außerdem mußte er sich in zwölfmonatigen Exerzitien mit Rechts-, Politik-, Kirchen- und Medienfragen vertraut machen, die er für seinen nächsten Roman benötigte. Diesem Buch, das zunächst den Arbeitstitel «Die Mißhandlung», dann «Sein Kampf» trug, lag erneut ein realer Fall zugrunde: die Entlassung des für Kirchenfragen zuständigen Ministerialrats in der hessischen Staatskanzlei, Rudolf Wirtz, und dessen erbitterter Kampf um Rehabilitierung. Es ist, als habe sich die Verbissenheit dieser Michael-Kohlhaas-Figur auf den Autor übertragen, während er das in fünfzig Aktenordnern gesammelte Protokoll des Kriegszuges eines gekränkten Beamten gegen das Land Hessen durcharbeitete. Oder war es umgekehrt so, daß er mit dieser Figur einen Stellvertreter gefunden hatte, mit dem er seinen eigenen Kampf gegen die Windmühlen der Medienöffentlichkeit durchleiden und darstellen konnte? Bis ins Körperliche hinein teilte er mit Fink und Fink mit ihm die witternde Gekränktheitsbereitschaft, die aufbrausende Empfindlichkeit, die Dauererregung des ungerecht Behandelten.

Walser litt unter Herzattacken, die ihn zwangen, einen Arzt aufzusuchen. Zweimal mußte er sich einer Dilatation am Herzen unterziehen, beim zweiten Mal wurde ihm ein Stent eingesetzt, um die Infarktgefahr zu verringern. Ein Treffen mit Lektor Rainer Weiss sagte er ab, weil er sich nicht wohl fühlte. Am Telephon klang er bedrückt und reizbar. Zu einem morgendlichen Interview für die F.A.Z. in einem Hotelfoyer erschien er unausgeschlafen und mißgelaunt und griff sich nach den ersten Fragen («Warum sind Sie politisch immer so umstritten?» – «Das frag ich Sie!») ans Herz. Den Cognac, den der herbeigerufene Kellner brachte, habe er wie eine Medizin zu sich genommen, berichtete sein Gesprächspartner Gustav Seibt Jahre später.43 Walser beschwerte sich über den unqualifizierten Verriß, den Seibt über das erste Buch der Tochter Alissa geschrieben habe, eine Kritik, die in ihrer Prüderie in einer Tradition stehe mit dem Verriß, den Friedrich Sieburg 1960 über «Halbzeit» schrieb. Sieburg und dann Reich-Ranicki: Die F.A.Z. hatte Walser die tiefsten Wunden geschlagen. Das mußte erst einmal gesagt werden, bevor das Interview erneut beginnen und sogar noch einen freundlichen Verlauf nehmen konnte. Beim Mittagessen bewarf er den Mann von der F.A.Z. neckisch mit der Serviette, so vertraulich ging es dann zu.

Es ist erstaunlich zu sehen, wie die eigenen Kämpfe und Verwundungen sich in den Büchern der Töchter fortsetzten. «Alissa schreibt mit ihren Erzählungen ‹Ehen in Philippsburg› weiter», sagt der Vater. Und es kommt mit ihren Texten zu ähnlichen Fehlschlüssen auf die verborgene Wirklichkeit. In «Geschenkt», dem Text, mit dem sie 1992 den Bachmann-Preis gewann, telephoniert die Erzählerin mit ihrem Vater. Sie berichtet ihm, wie sie von dem Geld, das er ihr zum Geburtstag schenkte, einen Callboy kaufte, während der Vater mit einem drahtlosen Telephon durch Wohnung und Garten streift. Die autobiographische Fiktion wirkte so stark, daß auch geübte Leser darauf hereinfielen: Ihr habt ja gar kein schnurloses Telephon, soll Arnold Stadler, zu Besuch in Nußdorf, überrascht ausgerufen haben. Johanna betreibt die Verbergungs-Entblößungs-Manöver ihres Vaters in einer auch für ihn selbst atemraubenden Konsequenz weiter und versucht wie er, die Zumutungen des Daseins durch die Schönheit des Ausdrucks zu besiegen. Und in den Stücken von Theresia, sagt Walser, sei über jede Familie alles enthalten. Die Töchterliteratur bezeichnet er stolz als «Fortsetzung der biologischen Dialektik, die durch mich und meine Frau hervorgebracht wurde».

Neben diesen doch mehr als biologischen Triumphen verblaßten äußere Anerkennungen, und wurden doch genossen. Im Sommer 1994 überreichte Baden-Württembergs Ministerpräsident Erwin Teufel das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern. Die Zeremonie fand im Schloß Maurach am Bodensee statt und war extra auf den Juli gelegt worden, damit Unseld, der in diesen Wochen seine jährliche Abspeckkur in Überlingen absolvierte, dabeisein konnte. «Wer Walser liest, der atmet Bodenseeluft», sagte der Ministerpräsident, als sei auch die Literatur ein Kuraufenthalt. Fotos halten den Augenblick fest, in dem er dem Dichter das Kreuz anheftet. Walser lächelt mit gespitzten Lippen. Man kann in seinem Gesicht sehen, wie der Stolz auf die Anerkennung und die Scham darüber, stolz darauf zu sein, miteinander streiten. Vielleicht fürchtete er auch bloß, daß ihm am nächsten Tag irgend jemand vorhalten würde, er wolle sich zum Nationaldichter des vereinigten Deutschlands hochheiligen lassen.

Brauchbar war er aber schon für die Regierenden in seinem verzweifelten Bedürfnis, schlechte Nachrichten durch Erklärungen zu mildern und unschädlich zu machen. Intellektuelle, die verkündeten, daß alles falsch läuft, konnte er nicht mehr ertragen. «Das hält mein Kreislauf nicht aus», gestand er, als er in Dresden zum Ehrendoktor ernannt wurde.44 Daß der Einigungsprozeß mißlinge, daß die Deutschen ausländerfeindlich seien, daß der Rechtsextremismus die Demokratie gefährde: alles bloß Schwarzmalerei. Der Kapitalismus der Bundesrepublik war doch immerhin sozial gezähmt und hatte gerade deshalb eine solche Anziehungskraft entwickelt. Konnte man den Ländern Sachsen und Thüringen nicht mit selbem Recht wie die ökonomische Verelendung ein Silicon-Valley-Schicksal prophezeien? In Dresden wird man Walsers Trostrede gerne gehört haben.

Als Schwarzmaler konnte auch gemeint sein: Günter Grass. Grass wurde nicht müde, die kapitalistische Kolonisierung des Ostens zu kritisieren und darauf zu beharren, daß eine Konföderation zweier Staaten, aus der sich etwas Neues entwickelt hätte, besser gewesen wäre als der schnelle Anschluß der DDR. Im September 1994 trafen Grass und Walser im Studio des Norddeutschen Rundfunks zum Gespräch über Deutschland zusammen.45 Die Sendung nahm einen seltsamen Verlauf, denn eigentlich redete immer nur einer, Grass. Er prangerte die barbarische Praxis der Abschiebung Asylsuchender an, forderte ein neues Einwanderungsrecht und Wahlrecht für in Deutschland lebende Ausländer und machte sich für eine neue Verfassung stark, so wie es das Grundgesetz im Vereinigungsfall vorsehe. Walser, in klagendem Tonfall, versuchte vergeblich, zu Wort zu kommen. «Nein, nein, nein», rief er immer wieder aus und versuchte händeringend, den «lieben Günter» zu beschwichtigen. Eine neue Verfassung sei doch nicht nötig, die bestehende habe sich bewährt. Daß die Abschiebungen in Deutschland laut Grass «tägliche, barbarische Praxis» seien, die «schreckliche Erinnerungen wachriefen», dem müsse er einfach widersprechen. Doch er hatte Grass’ geballter Überzeugungskraft nicht viel mehr entgegenzusetzen als sein Bedürfnis nach einem gelingenden Deutschland. Er wollte sich die Freude über die Wiedervereinigung, die Grass schon längst verloren hatte, nicht kaputtmachen lassen.

Walser präsentierte sich als zutiefst Verwundeter, dem «die Linke» so übel mitgespielt hat, daß er nun trotzig Positionen der Rechten verteidigte. Gegen Grass’ ökonomische Rationalität setzte er sein patriotisches Gefühl. Es war fatal und politisch naiv, wie weit er, getrieben durch Grass’ Anklagen, in seinem Legitimierungsdrang zu gehen bereit war. Nichts, aber auch gar nichts, wollte er auf Kohls politisches Geschick und auf die Politik der Treuhand kommen lassen. Wie sonst als mit einem radikalen kapitalistischen Konzept wären die Betriebe im Osten konkurrenzfähig zu machen? Verzweifelt verteidigte er das fragwürdige Wirken der Treuhand mit dem Argument, wenn nicht sofort gehandelt worden wäre, wäre das Kapital über uns hinweg nach Polen abgewandert. «Ach Martin!» rief da Günter Grass kopfschüttelnd aus. «Jetzt muß ich mich doch an dich in den siebziger Jahren erinnern. Wohin ist deine Einschätzung des Kapitalismus als Raubtier verflogen?»

Ziemlich hilflos versuchte Walser, Grass’ wütende Treuhand-Kritik mit Erfahrungen zu beantworten, die er in Magdeburg gemacht hatte. Da ging er vom Bahnhof zum Hotel, dreißig Minuten zu Fuß, den Rollkoffer hinter sich herziehend, durch eine zerfallene DDR-Stadtlandschaft. Dann das Hotel in einem Gebäude mit blitzenden Firmenschildern. Rechtsanwälte, Zahnärzte und so weiter. Ähnlich die frisch renovierte, westlich wirkende Buchhandlung, in der er abends las. Solche «kapitalistisch plombierten Zähne in DDR-Umgebung» lobte er als den richtigen Weg. Es würde aufwärtsgehen. Eine neue Spaltung des Landes konnte er nicht entdecken.

Am Ende dieses eigentümlichen Dialogversuches stand ein merkwürdiger Streit über den Begriff «Aufklärung». Walser zeigte sich genervt vom inflationären Gebrauch des Wortes. «Aufklärung», erklärte er barsch, das sei doch 18. Jahrhundert, bürgerliche Frühzeit, Entstehung von Öffentlichkeit und Toleranz. Das sei geleistet und ein für allemal gelaufen. Grass hielt dagegen: Nichts ist jemals endgültig erreicht. Nichts ist gelaufen, nichts überwunden. Nicht die Aufklärung, nicht Auschwitz. Alles bedarf fortgesetzter Aufmerksamkeit und Kritik. Walsers «Geschichtsgefühl» hatte bis dahin immer auf der Offenheit der Geschichte bestanden. Seine Zweifel an der Teilung Deutschlands beruhten auf der Gewißheit, daß es keinen Endzustand der Geschichte gibt. Nun verteidigte er gegen Grass das Erreichte als etwas, das nicht mehr zu verlieren sei. Das ist nur scheinbar ein Gegensatz. Denn Walser war immer auch ein hegelianischer Fortschrittsoptimist und wollte daran glauben, daß die Vernunft sich im historischen Prozeß durchsetzt. Auch literarisch vertrat er stets das Prinzip, jede Geschichte möglichst gut enden zu lassen. Er ist alles andere als ein Utopist, aber doch ganz sicher, daß die Zukunft besser sein wird als die Vergangenheit. Rückfälle in barbarische Zeiten können also ausgeschlossen werden.

Am Ende revidierte Grass sein hartes Urteil, auf der Einheit liege kein Segen. «Noch kein Segen», sagte er da. Walser war glücklich über diese Wendung. Er hatte selbst gemerkt, daß Grass «politisch muskulöser» war. Er bewunderte ihn für seine dreißig Jahre währende Unanfechtbarkeit, wo er selbst von einer Anfechtung in die nächste stolperte. Zu Grass hatte er Vertrauen, obwohl der «des öfteren, nach mir befragt, den Blick zum Himmel gerichtet und geseufzt» hat. Die Sympathie überdauerte die politischen Meinungsunterschiede. Das war für Walser «eine Sache von Haut und Haar und Sprachgebrauch. Weil ich ihn mag. Und wenn ich jemanden mag, ist es mir völlig egal, was er sagt und denkt»46. Auch die literarischen Unterschiede zwischen dem kalkuliert schreibenden, politischen Autor Grass und dem ins Ungewisse aufbrechenden Ich-Forscher Walser konnten diese empfundene Nähe nicht stören. Walser hatte Grass’ Roman «Ein weites Feld» nicht gelesen, als Marcel Reich-Ranicki das Buch auf dem Cover des Spiegel demonstrativ verriß und in einem offenen Brief an Grass seine Trauer über den seiner Ansicht nach mißlungenen Roman ausbreitete. Er konnte also nur die Geste beurteilen und hielt Reich-Ranicki immerhin zugute, sein Bedauern, das Buch nicht gut finden zu können, sei echt: «Von mir aus könnte er daraus eine Gewohnheit machen, solch einer Melancholie nachzugehen. Jede Rezension eine Ranickische Trauerweide über dem Grab eines Buches. Die Literaturlandschaft als herrlicher Friedhof, auf dem es ungeheuer still ist. Wo möchte man lieber liegen als da?»47

Tugendterror, Gerechtigkeitsfuror, Kränkungen. «Finks Krieg».

Rainer Weiss, Programmchef bei Suhrkamp, kam Anfang Mai 1995 in seiner Funktion als Walsers Lektor zu Besuch nach Nußdorf. Er wurde Zeuge eines Telephonats mit Reich-Ranicki. Der wollte Walser für 1996 zu einer Lesung aus dem neuen Roman ins Jüdische Gemeindezentrum nach Frankfurt einladen. Den gewagten Titel «Sein Kampf» goutierte er überraschenderweise, ganz im Gegensatz zu Weiss. Aber Walser wollte von Einwänden nichts wissen. Er steckte mitten in der Arbeit, und es war abzusehen, daß der Roman, in dem viele Personen aus der hessischen Landespolitik vorkommen, einigen Wirbel verursachen würde. Gelassen versuchte er es hinzunehmen, daß sein gerade publiziertes neues Stück «Kaschmir in Parching» – Teil drei der «Deutschen Chronik» – bei den Theatern auf wenig Interesse stieß.

Die «Szenen aus der Gegenwart», wie das Stück im Untertitel heißt, handeln von den üblichen Ehe- und Geliebtenverwicklungen, vom Wahlkampf in der Provinz, vor allem aber von der Macht der NS-Vergangenheit. Dabei werden dem Bürgermeisterkandidaten in Parching die Untaten des Großvaters zum Verhängnis, der in der Reichspogromnacht einem Rabbiner den Bart angezündet haben soll. Sein Konkurrent macht das zum Wahlkampfthema, «instrumentalisiert» also die deutsche Vergangenheit zu «gegenwärtigen Zwecken» – wie Walser 1998 in der Paulskirchenrede formulieren würde –, und bringt ihn damit in Schwierigkeiten. Dann taucht jedoch ein mysteriöser Fremder auf, ein Dichter und Zauberkünstler, der für den derart in Not geratenen Kandidaten eintritt. Was er sagt, hat moralisches Gewicht, denn die Stadtgesellschaft hält den Fremden für einen Juden, und jeder will sich möglichst gut mit ihm stellen. Ihren Reiz bezieht diese Komödie daraus, daß alle Wahlkampfmanöver tatsächlich nur taktische Winkelzüge im erotischen Hin und Her zwischen den sich kreuzweise betrügenden Paaren sind. Darf eine Frau ihren Mann verlassen, wenn der gerade eine Wahl verloren hat? Kann die Geliebte sich mit einem Sieger liieren, ohne als Opportunistin zu erscheinen?

Die Motivation für diese Wahlkampf-Kabbale um die deutsche Vergangenheit bezog Walser aus dem Stück «Die schöne Fremde» von Klaus Pohl, das er in München sah. Weil er entsetzt war über das Bild der fremdenfeindlichen Deutschen, das da gezeichnet wurde, antwortete er mit einer eigenen Version: Dieses Land und seine Bewohner sind so gut und so schlecht wie andere Völker auch. Das Stück vermittelt jedoch den ungünstigen Eindruck, Walser habe es nur geschrieben, um seine hinlänglich bekannten Ansichten über das reglementierte Vergangenheitsbewältigungssprechen noch einmal in Dialogform zu erhitzen und im Schutz verschiedener Rollen zuzuspitzen. Erst zwei Jahre später fand «Kaschmir in Parching» eine Uraufführungsbühne am Staatstheater Karlsruhe.

Im September 1995 bekam Unseld den neuen Roman zu lesen. Nun war auch der Titel gefunden: «Finks Krieg». Das läßt sich schlecht sprechen, monierte der Verleger und schlug vor: «Auf der Goldwaage». Oder: «Ums Leben kämpfen». Er war nicht gerade ein Meister packender Überschriften. Walser bot die Variante «Die Entzweiung» an, mit der Finks Zustand der Zerrissenheit betont worden wäre. Das Buch schildert minutiös, wie Finks Kampf um Recht und Gerechtigkeit allmählich ins bloße Rechthaben umschlägt und dabei immer stärker pathologische Züge annimmt. Fink, der über sich teils in Ich-Form, teils in der dritten Person als «der Beamte Fink» spricht, ist sich in seinem tobenden Wahn selbst zuwider, aber er kann nicht anders. Walser erzählt die Tragödie einer Bewußtseinsspaltung. «Die Entzweiung» wäre kein schlechter Titel gewesen. Aber er kehrte zu «Finks Krieg» zurück. Unseld fand die Lektüre «nicht schwierig, aber auch nicht leicht». Er entdeckte «wundervolle Passagen, aber insgesamt natürlich ein schwer zu ertragendes Schicksal». Das klingt so, als habe er sich durch diesen entsetzlichen Leidensweg des gedemütigten Beamten durchkämpfen müssen. Telephonisch gratulierte er. Er habe «einen vollendeten Roman von Martin Walser» gelesen. Walser sofort: Das ist doch wohl eine Einschränkung aus deinem Munde.48

Unselds Bedenken lagen weniger im Literarischen als auf der diplomatischen Ebene. Die Frotzeleien gegen die F.A.Z., die Fink permanent als «Edelmistblatt» bezeichnet, hielt er für antiquiert, Äußerungen über «die Alkoholproblematik» des einstigen hessischen Ministerpräsidenten für unpassend, und die Art, wie über Ignatz Bubis, den Vorsitzenden des Jüdischen Zentralrats, gesprochen wurde, mißfiel ihm zutiefst. Schließlich waren Ulla Berkéwicz und er mit Bubis und dessen Frau befreundet. «Ich weiß, daß das kein Argument für Dich ist, aber ich möchte Dich doch herzlich bitten, dies mit in Erwägung zu ziehen», beschwor er seinen Autor. «Er hat eine große und bedeutende Stellung in der Bundesrepublik, und es ist von großer politischer Bedeutung, daß gerade ein Mann wie Bubis diese Stellung einnimmt. Wir wollen doch alle, gerade im Punkt der Versöhnung zwischen Deutschen und Juden, jegliche Störung vermeiden.» Dabei hatte Walser ein eher zurückhaltendes und gar nicht unfreundliches Bild von Ignatz Bubis gezeichnet. Doch Unseld ging in seiner Vorsicht so weit, noch den Fink-Satz «Herr Bubis, ein netter Mann, klar» verdächtig zu finden, denn gemeint sei damit doch wohl genau das Gegenteil. Die Episode über Bubis’ Gewohnheit, dem Kirchenbeauftragten Fink stets zu Weihnachten drei Flaschen Champagner zukommen zu lassen, und zwar den besten, hätte er am liebsten gestrichen, weil sie als Anspielung verstanden werden könnte.49 Walser kam ihm entgegen. Zwar blieb die Champagner-Szene stehen, dafür entfiel eine andere Bubis-Passage. Aber es ärgerte ihn, daß das Gelände der Political Correctness bis in den Verlag und bis in die Literatur hineinreichte. Er entkam den Korrektheitspostulaten nicht, noch nicht einmal in einem Roman. Vergeblich berief er sich darauf, es handle sich um Rollenprosa. Nicht der Autor rede, sondern seine Figuren.

Unseld ließ das nicht gelten. Schließlich ist es der Autor, der seine Figuren reden läßt. Seine Befürchtung, die F.A.Z. werde einen Roman nicht vorabdrucken, in dem sie als «Edelmistblatt» vorkommt, bewahrheitete sich nicht. Vielmehr kündigte die F.A.Z. das Buch auf Seite 1 an, als habe sie gerade ein Staatsgeheimnis enthüllt: «Das Vorhandensein eines solchen Werkes war bis vor wenigen Wochen unbekannt, der Titel war nicht im Frühjahrsprogramm des Suhrkamp Verlages aufgeführt.»50 Im Feuilleton stellte Frank Schirrmacher «Finks Krieg» vor. «Wie oft haben wir den Roman unserer Zeit und unserer Verhältnisse gefordert», heißt es da. «Wie oft wurde in der Literaturkritik ein Realismus gewünscht, der dem Leser die Augen öffnet und ihn nicht nur zum Raum-, sondern auch zum Zeitgenossen des Autors macht. Walser ist das gelungen.» Und weiter: «Seit Koeppens ‹Treibhaus› 1953 erschienen ist, hat es ein besseres Buch über das leise Verhältnis von Macht und Wahn nicht gegeben.»51 Ein paar Tage später offenbarte sich der Herausgeber der Märkischen Allgemeinen Zeitung, Alexander Gauland, der bis 1991 die Hessische Staatskanzlei geleitet hatte. «Ich war Tronkenburg», schrieb Gauland in der F.A.Z. und versuchte, verärgert darüber, als «Prototyp der Unterdrückung» dargestellt worden zu sein, den Roman politisch zu diskreditieren.52 Im Spiegel gab er sich humorvoller: «Da sitzt man nun auf einem Eckbänkchen der Weltliteratur und wundert sich ein bißchen.»53 Hessens ehemaliger Ministerpräsident Walter Wallmann, ebenfalls wenig schmeichelhaft gezeichnet, polemisierte hinter den Kulissen der F.A.Z. gegen den Vorabdruck. Auch die katholische Bischofskonferenz wollte sich mit dem «Fall Walser» befassen.

Schirrmacher war es gelungen, die Erwartungen und Ängste dadurch anzuheizen, daß er einen «Schlüsselroman» ankündigte. Walser wehrte sich gegen diese Einordnung, weil damit eine Nebensache – das Milieu der hessischen Verwaltungselite – zur Hauptsache würde, während die Hauptsache – der Kampf gegen Machtausübung und Abhängigkeit, Walsers ewiges Thema – ins Hintertreffen geriete. Der Roman würde so von literarischer Allgemeinheit auf die Ebene der Tagespolitik abstürzen. Doch genau das geschah. Das Buch verkaufte sich in den ersten Wochen rund 40 000mal und erreichte die unteren Regionen der Bestsellerliste. Doch als die Schlüsselromanneugier befriedigt war, gingen die Verkaufszahlen schlagartig zurück. Bald war klar: «Finks Krieg» entwickelte sich zum Flop. Und schon flackerten in Walser die alten Existenzängste wieder auf, irrational, doch unüberwindlich. Wenigstens hatte er verbesserte Konditionen durchgesetzt: 14 Prozent Tantiemen bis zum 50. Tausend, darüber hinaus dann 15 Prozent. Doch jetzt warf er dem Verlag vor, sich für den Roman nicht heftig genug eingesetzt zu haben. Die Werbeausgaben waren hoch, das gab er zu, aber man habe dabei nicht die richtigen Schwerpunkte gesetzt. Der Steidl-Verlag zeige mit Grass, wie man das richtig mache. Überall in den Buchhandlungen gab es Dekomaterial für Grass. Für ihn, Walser, gab es nichts. Da mußte er sich durchaus überlegen, wie es beim nächsten Roman weitergehen würde. Konnte er bei einem Verlag bleiben, der ihn schlechter behandelte, als Grass bei Steidl behandelt wurde? Also. Bitte.

Die Lesetour, die er im April begann und im Herbst wiederaufnahm, konnte am schlechten Verkauf nichts ändern. In Frankfurt trat er zusammen mit Gastgeber Marcel Reich-Ranicki in der Jüdischen Gemeinde auf. Nach der Lesung signierten sie nebeneinandersitzend. Weil Reich-Ranickis eigene Bücher wohl nicht in ausreichender Zahl vorhanden waren, setzte der Kritiker seine Unterschrift eben in «Finks Krieg». Was soll’s. Was wäre der Autor ohne seinen Kritiker! Walser, eingedenk der Relationen, schrieb seinen Namen ganz klein in den Bauch des ausladenden R. Da saß er wie Jonas im Bauch des Walfischs.

Die Nachbarschaft auf dem Podium hinderte Reich-Ranicki keineswegs, den Roman im «Literarischen Quartett» schlecht zu finden. Unseld, mit Autor und Kritiker befreundet, versuchte zu trösten: «Ich bin der Überzeugung, und meine Mitarbeiter unterstützen dies, daß die Diskussion durchaus für das Buch förderlich war. Es waren eindeutig drei Stimmen gegen eine, und Marcel Reich-Ranicki war so schlecht wie noch nie. Freilich, sein Versuch, Dich als Essayisten zu definieren und als Erzähler abzumelden, ist grotesk und unverschämt. Irgendwo hat er ja auch gesagt, er wolle sich an Schirrmacher für dessen ‹Lobhudelei› rächen. So sind Kritiker.» Und er fügte hinzu: «Wir werben weiter; ich schicke Dir die Anzeigen.»54

Zu «Finks Krieg» kam eine Flut von Leserbriefen. Es waren Leser, wie er sie zuvor noch nicht gehabt hatte: Bundeswehroffiziere, Industrieleute, Treuhandmitarbeiter und Angestellte aus anderen Behörden und Verwaltungen. Das Wiedererkennungspotential der Figur Fink war groß. Eine Leserin schrieb: «Ich bin Finks Schwester», ein französischer Lehrer behauptete, er sei seit sieben Jahren Fink. Walser wünschte sich zu seinem 70. Geburtstag, einen Band mit Leserbriefen unter dem Titel «Der Leser hat das Wort» herauszubringen. Er hätte gerne öffentlich gemacht, wie seine Bücher gelesen werden, denn er fand es großartig, wenn er das Gefühl bekam, die Leser hätten seine Romane selbst schreiben können und ihm die Niederschrift nur überlassen, um daraus dann in ihrem Kopf ihr eigenes Buch zu formen.55 Er fühlte sich dadurch aufgenommen in eine große Erfahrungsgemeinschaft. Deshalb schrieb er doch – um zu entdecken, daß er mit seinem Denken und Fühlen nicht alleine war. Verwirklicht wurde der Briefband nicht.

Die andere Seite der Öffentlichkeit bekam er dann wieder zu spüren, als er Ende November in München die Laudatio auf Victor Klemperer56 hielt, der posthum mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurde. Da geriet er erneut in Konflikt mit den Gesetzen des richtigen Gedenkens. Klemperer ist zu widersprüchlich, als daß man es leicht haben könnte mit ihm. Walser näherte sich als Leser, emphatisch wie immer, wenn er über einen Schreibenden sprach. Klemperer wurde ihm zu einer Symbolfigur deutsch-jüdischer Symbiose, ja, zur «idealen Menschenfigur für den deutschen Erinnerungskonflikt»57. Als Sohn eines Rabbiners, getauft und doch jüdisch geblieben, verteidigte er das Deutschland Goethes gegen die Nazis, die er schlichtweg für «undeutsch» hielt. Aber erst die Nazis machten aus ihm, der vom «Willen zum Deutschsein» angetrieben war, den Juden. Den Stern tragen zu müssen war für ihn das Zeichen, aus dem Deutschtum ausgestoßen zu sein. In Klemperer verfolgten die Deutschen nicht das Fremde, sondern sich selbst. Klemperers Tagebücher legen davon Zeugnis ab.

Walser kämpfte auch in dieser Rede gegen ein Geschichtsbild an, wonach das deutsch-jüdische Zusammenleben zwangsläufig und unausweichlich in Auschwitz enden mußte. Klemperer ist sein Zeuge dafür, daß 1933 ohne 1918 nicht möglich gewesen wäre: ohne die «Mutterkatastrophe» des Ersten Weltkriegs keine Machtergreifung durch die Nazis. Walsers Wunschdenken, das deutsch-jüdische Zusammenleben hätte sich auch anders entwickeln können, soll einen Möglichkeitsraum für eine gelingende Geschichte öffnen. Das Schreckliche an der Geschichte ist ja, daß sie ein für allemal feststeht. Daß man sie nicht so gut enden lassen kann wie einen Roman. Man kann nur sagen: Ein anderer Verlauf wäre unter etwas glücklicheren Umständen möglich gewesen. Diese Sehnsucht treibt ihn um. Weil er nicht zurückkann, um die Geschichte anders, besser verlaufen zu lassen, kommt er nicht los davon. Aber die Möglichkeit einer Alternative, auch wenn sie verpaßt wurde, ist die Bedingung dafür, daß es wenigstens in der Zukunft ein besseres Ende geben kann.

Die Rede in München führte zum Bruch mit Jürgen Habermas. Ein Neffe Klemperers habe ihn dort freundschaftlich umarmt, Habermas aber habe auf der abendlichen Festveranstaltung demonstrativ an ihm vorbeigeblickt. Er warf Walser vor, zu einseitig Klemperers Deutschtumssehnsucht herausgearbeitet, ihn aber nicht gebührend als Opfer des Naziterrors gewürdigt zu haben. Auch in der Presse gab es kritische Reaktionen; das praktizierte Wunschdenken wurde ihm als «Schönschreibung der deutsch-jüdischen Geschichte» ausgelegt. Sogar der auf Auschwitz bezogene Topos vom «Wegschauen», der später in der Paulskirchenrede von zentraler Bedeutung sein sollte, kam in einer Glosse in der Süddeutschen Zeitung schon ins Spiel.58 Das Themenfeld der Paulskirchenrede war geebnet. Die medialen Reizworte waren herausdestilliert. Walser mußte sie nur noch kombinieren und zur Anwendung bringen. Den Zwiespalt, in dem er sich befand, formulierte er 1996 in seiner Laudatio auf Joachim Fest: «Wenn ich etwas begreife, dann ist es die Abneigung, sich mit den Scheußlichkeiten der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert zu beschäftigen. Wenn ich etwas begreife, dann ist es der Zwang, sich mit den Scheußlichkeiten der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert zu beschäftigen.»59