17

Östlich von Salerno,

Donnerstag, 1. Oktober

Schon seit Stunden fuhren Enrico, Vanessa, Elena und Alexander durch eine trostlose Landschaft, was nicht allein auf die Verwüstungen des schweren Erdbebens zurückging. Der Vesuv stieß in unregelmäßigen Abständen schwarze Rauchwolken ungeheuren Ausmaßes in den Himmel, und die Vormittagssonne war nur zu erahnen. Südlich der Abruzzen lag das Land unter einem düsteren Schleier, der es selbst dort, wo keine verlassenen Dörfer und eingestürzten Gebäude von dem Erdbeben kündeten, verdorrt und tot wirken ließ. Sie hatten Pescia mit zwei Fahrzeugen verlassen, da Fliegen zurzeit eine unsichere Sache war. Der zivile Flugverkehr war südlich von Rom vollständig zum Erliegen gekommen, und selbst die Flüge nach Rom waren wegen zahlreicher Änderungen infolge der Katastrophe sehr unzuverlässig.

Vorneweg fuhren Alexander und Elena im Mietwagen des Schweizers, Enrico folgte mit Vanessa in seinem gemieteten Fiat. Bis auf die Höhe von Rom waren sie gestern Abend gut durchgekommen, aber danach wurden die Straßen zusehends voller, und bald ging es, wenn überhaupt, nur noch mit Schrittgeschwindigkeit vorwärts. Flüchtlingskolonnen aus dem Süden, Hilfskonvois Richtung Süden und eine wahre Völkerwanderung an Katastrophentouristen verstopften das Fernstraßennetz. In einem Hotel nahe Latina hatten sie freie Zimmer gefunden, ein paar Stunden geschlafen und setzten heute Morgen bereits um halb sechs ihre Fahrt fort. Inzwischen waren sie auf Nebenstraßen ausgewichen, die einzige Möglichkeit, überhaupt noch voranzukommen. Enrico war froh, dass Vanessa neben ihm saß. Nicht nur, weil ihm die Unterhaltung mit ihr half, die Langeweile der ereignislosen Autofahrt zu vertreiben. Er mochte Vanessa, und je länger er mit ihr zusammen war, desto weniger dachte er an Elena und desto geringer wurde sein Schmerz über den Verlust von etwas, das er in Wahrheit nie besessen hatte. »Warum tun Sie sich das eigentlich an?«, fragte er seine Beifahrerin, während sie endlos lange vor der Schranke eines Bahnübergangs warteten.

»Alexander will den Papst retten, Elena wird am Monte Cervialto eine gute Story finden und ich vielleicht meinen Vater.

Aber warum machen Sie diesen Trip mit, Vanessa?«

»Mitgegangen, mitgefangen, um ein altes Sprichwort abzuwandeln«, sagte sie lächelnd. »Glauben Sie, ich hätte Theologie studiert, wenn mir der Konflikt zwischen Papst und Gegenpapst gleichgültig wäre? Außerdem ist die Prophezeiung von Borgo San Pietro ein wichtiger Komplex in dem Buch, das ich schreiben will. Wann hat man schon mal Gelegenheit, die Erfüllung einer Prophezeiung hautnah mitzuerleben?«

»Ich will nicht hoffen, dass die Prophezeiung über das Attentat auf Papst Custos in Erfüllung geht. Er ist ein außergewöhnlicher Mensch.«

»Nein, natürlich nicht. Obwohl …«

»Was?«, hakte er schnell nach, als Vanessa sich auf die Lippen biss.

»Ach, nichts, nur so ein Gedanke.«

»An was dachten Sie? Ich sehe Ihnen doch an, dass es wichtig ist.«

»So gut kennen Sie mich schon?«

»Eine gemeinsame Geiselnahme verbindet eben. Also, raus mit der Sprache!«

»Ich will Sie nicht beunruhigen, Enrico, aber warum gehen wir eigentlich so fest davon aus, dass Custos das Opfer des Attentats ist? Der Heilige Vater, um den es in den Prophezeiungen von Borgo San Pietro und Fatima geht, könnte doch auch der Gegenpapst sein.«

Enrico verstand sofort, warum Vanessa diese Überlegung für sich hatte behalten wollen. Sie wollte ihn nicht mit dem Gedanken belasten, er könne seinen Vater verlieren, bevor er ihn überhaupt gefunden hatte.

Aber es war eine wichtige Überlegung, und er betätigte die Lichthupe, um Alexander zum Anhalten zu veranlassen. Die beiden Fahrzeuge rollten an den Straßenrand, und die vier Insassen stiegen aus. Die Luft war schwer und drückend und machte einem das Atmen nicht gerade leicht. Ein Lkw-Konvoi mit Hilfsgütern fuhr an ihnen vorbei, und das Dröhnen der schweren Dieselmotoren unterband für kurze Zeit jede Unterhaltung. Als der hinterste Lkw um die nächste Kurve gebogen war, teilte Enrico den anderen mit, was Vanessa ihm gerade gesagt hatte.

Elena nickte Vanessa anerkennend zu. »Die Möglichkeit, dass der Gegenpapst das Ziel des Attentats ist, besteht durchaus.

Wir müssen Bretter vor dem Kopf gehabt haben, dass wir nicht eher daran gedacht haben. Allerdings halte ich persönlich Papst Custos für gefährdeter. Sein Ableben würde Totus Tuus Vorteile bringen, nicht das von Tomás Salvati.«

»Spekulieren bringt uns nicht weiter«, sagte Alexander ungeduldig und zückte sein Handy. »Ich werde noch einmal versuchen, Donati zu erreichen.«

Aber das Ergebnis war dasselbe wie gestern und heute Morgen schon, als Alexander vergeblich versucht hatte, den Commissario oder jemand Maßgeblichen im Vatikan anzurufen.

Niemand, der wichtig gewesen wäre, war zu sprechen, und nach Neapel bekamen sie erst recht keine Verbindung, weder übers Handy noch übers Festnetz.

»Wir könnten beim nächstbesten Polizisten Alarm schlagen«, schlug Vanessa vor. »An allen großen Kreuzungen stehen Streifenwagen.«

»Zeitverschwendung«, sagte Alexander kopfschüttelnd, während er sein Handy zurück in die Jacke steckte. »Sie würden uns kein Wort glauben, und das würde ich an ihrer Stelle auch nicht. Wahrscheinlich könnten wir froh sein, wenn sie uns nicht für durchgeknallt halten und festnehmen. Fahren wir lieber weiter, jede Minute zählt!«

Sie stiegen wieder in die Fahrzeuge und setzten die Fahrt durch das verschlungene Netz von kleinen und kleinsten Nebenstraßen fort. Enrico dachte an den gestrigen Tag, an die Begegnung mit Angelo und an die Auseinandersetzung mit Fulvio Massi. Er wunderte sich noch immer, dass Massi sie einfach hatte ziehen lassen. Vermutlich hatte der Commissario eingesehen, dass aus ihnen nichts herauszubekommen war. Ein anderer als er wäre wohl penetranter gewesen, aber Massi kannte die Leute von Borgo San Pietro und wusste um ihre Geheimnisse. Vielleicht gab er sich mit der Einsicht zufrieden, dass Borgo San Pietro nicht alle Geheimnisse preisgab. Falls nicht, würde er wahrscheinlich seine Schwester gehörig ins Gebet nehmen. Hinter einer weiteren Kurve war die Straße dicht, zugeparkt mit Autos, die auch rechts und links der Fahrbahn auf den Feldern standen. Militär hatte die Straße abgesperrt, und ein paar mit Schnellfeuergewehren und Maschinenpistolen bewaffnete Soldaten wachten darüber, dass niemand die Absperrung durchbrach. Ganz in der Nähe ragte der Monte Cervialto, ein Berg von über eintausendachthundert Metern Höhe, in den finsteren Himmel.

»Ende der Landpartie«, sagte Enrico, lenkte den Fiat an den Straßenrand und stellte den Motor ab, wie es vor ihm auch Alexander mit seinem VW Polo tat.

Sie stiegen aus und fragten ein junges Paar, das in der Nähe stand, was hier los sei.

Der Mann zeigte nach vorn, wo die Soldaten standen. »Da kommt doch der Papst vorbei, wissen Sie das nicht? Deshalb sind wir alle hier.«

»Papst Custos?«, fragte Elena.

Der Mann grinste. »Stimmt, heutzutage muss man das dazusagen. Ja, ich meine Papst Custos. Wir erwarten ihn in wenigen Minuten.«

Enrico und seine Begleiter entfernten sich ein Stück, bis sie unter sich waren, und hielten Kriegsrat.

»Die Soldaten werden uns niemals durchlassen«, meinte Alexander.

»Und wenn wir zurückfahren, an der nächsten Kreuzung abbiegen und es woanders versuchen?«, fragte Vanessa.

Alexander schüttelte den Kopf. »Das dauert zu lange und bringt wahrscheinlich nichts. Am besten gehen wir hier querfeldein und suchen eine Lücke in der Kette der Wachtposten. Wir müssen Custos warnen!«

Alexanders Vorschlag wurde angenommen. Sie gingen quer über das Feld zu einer hohen Hecke, die es begrenzte, und dann weiter an der Hecke entlang.

»Das Glück ist mit den Dummen!«, stieß Alexander halblaut hervor, als er in der Hecke eine Lücke entdeckte, durch die sie sich zwängten.

Jetzt sahen sie vor sich einen gewundenen Weg, der geradewegs in den Berg hineinzuführen schien.

»Diesen Weg muss Custos nehmen«, sagte Elena. Alexander stimmte ihr zu und zeigte auf eine kleine Ansammlung von Bäumen und Büschen, keine fünfhundert Meter vor ihnen. »Das ist ein gutes Versteck für uns für den Fall, dass hier Wachen patrouillieren.«

Sie liefen zu dem kleinen Wäldchen und hatten sich kaum ins Unterholz verdrückt, als auch schon ein Trupp Soldaten in ihrer Nähe erschien. Sie duckten sich zwischen Farn und Buschwerk und beobachteten, wie die Soldaten, zehn oder zwölf Mann, hinter einer niedrigen Grenzmauer zwischen zwei Feldern Stellung bezogen.

»Was tun die da?«, fragte Elena. »Das sieht nicht gerade nach einer Patrouille aus.«

Alexander kniff die Augen zusammen und blickte angestrengt zu den Soldaten. »Die bringen ihre Waffen in Stellung, Maschinengewehre und sogar zwei Raketenwerfer zur Panzerabwehr. Ich …« Er stockte und sah Vanessa an. »Die Prophezeiung von Fatima! Dort ist von Feuerwaffen und Pfeilen die Rede, oder?«

»Ja. Aber Custos hat das Kreuz auf dem Hügel noch längst nicht erreicht. Es muss noch kilometerweit weg sein.«

»Sie selbst haben gesagt, dass man die Prophezeiungen nicht wortwörtlich nehmen darf. Custos ist unterwegs zu dem Kreuz, und die Raketen, die man mit solchen Dingern da verschießt, haben die Form von Pfeilen. Ein Kind, das eine solche Waffe im Jahr 1917 gesehen hat, muss unweigerlich an Pfeile gedacht haben.«

Vanessa schaute ihn ungläubig an. »Aber das dort sind italienische Soldaten!«

»Sie tragen die Uniform der Armee, aber das muss nichts heißen«, sagte Alexander. »Vielleicht sind es sogar echte Soldaten. Wenn Totus Tuus die Schweizergarde unterwandern kann, warum dann nicht auch die italienische Armee?«

Während er noch sprach, tauchte auf dem Bergpfad zu ihrer Linken eine lange Prozession auf und kam langsam näher. An ihrer Spitze ging ein ganz in Weiß gekleideter Mann: Papst Custos.

»Es ist zu spät«, sagte Enrico, der beobachtete, wie die beiden Soldaten mit den Raketenwerfern ihre Waffen schulterten.

»Wir können nichts mehr unternehmen.«

»Doch!«, widersprach Alexander und zog seine Automatik aus dem Schulterholster.

»Eine Pistole gegen ein Dutzend schwer bewaffneter Soldaten?«, zweifelte Enrico. »Ist das nicht Selbstmord?«

»Was soll ich tun?«, fragte Alexander. »Zusehen, wie der Papst ermordet wird?«

Elena legte eine Hand auf seine Schulter. »Schieß, Alex!«

Kniend brachte er die Pistole beidhändig in Anschlag, zielte kurz und drückte ab. Einer der beiden Soldaten mit den Raketenwerfern sackte getroffen zur Seite und verschwand hinter der Mauer. Ehe Alexander einen zweiten Schuss abgeben konnte, schwenkte ein Soldat sein Maschinengewehr zu dem kleinen Wald herum und gab einen Feuerstoß nach dem anderen ab. Er schien nur auf gut Glück ins Unterholz zu schießen, aber das war gefährlich genug. Rings um sie zersplitterte Holz, flogen abgerissene Äste und Zweige durch die Luft. Ein Splitter riss Enricos linke Wange auf, und der spürte einen stechenden Schmerz. Er ließ sich flach auf den Boden fallen und riss Vanessa mit sich. Auch Alexander und Elena drückten sich platt auf den Boden.

Zu dem Rattern des MGs gesellte sich der Lärm weiterer Waffen: Schüsse und Explosionen. Es hörte sich gewaltiger an als das schlimmste Unwetter. Der Hauptteil galt vermutlich Custos und seinen Begleitern. Enrico fühlte sich elend, als er daran dachte, dass sie nur um wenige Minuten zu spät gekommen waren. Um Haaresbreite wäre es ihnen gelungen, den Papst zu warnen. Jetzt aber mussten sie hilflos mit ansehen, wie die Mitglieder der Prozession zu Boden gingen ob verwundet oder auf der Suche nach Deckung, ließ sich nicht erkennen.

Enrico strengte seine Augen an, um die Gestalt des Papstes zu suchen. Aber er konnte Custos nicht sehen. Der Papst musste irgendwo in dem hohen Gras liegen, vielleicht verletzt oder tot.

Eine trockene Explosion übertönte den Lärm der Schüsse und Schreie, und eine graue Rauchwolke hüllte das, was von der Prozession noch zu sehen war, ein.

»Was ist das?«, fragte Enrico.

»Eine Rauchgranate«, antwortete Alexander. »Sie haben die Prozession eingenebelt. Aber wozu? Es erschwert ihnen doch die Sicht beim Zielen.«

Eine weitere trockene Explosion war zu hören, ganz in ihrer Nähe, gefolgt von einem lauten Zischen. Ein ungewöhnlicher, scharfer Geruch drang in Enricos Nase, und seine Sinne begannen sich zu verwirren. Eine Stimme – gehörte sie Alexander? rief warnend: »Gas!«

Vergebens versuchte Enrico sich zu erinnern, was dieses Wort bedeutete. Er war viel zu müde, und das Nachdenken bereitete ihm Übelkeit.

Er sah noch, wie ein paar der Attentäter in geduckter Haltung auf den Bergpfad zuliefen. Wollten sie sich vergewissern, ob Custos auch wirklich tot war, zerfetzt von ihren Kugeln?

Die Bilder verschwammen vor Enricos Augen. Direkt vor ihm öffnete sich ein schwarzes Loch, ein immer größer werdender Tunnel, der Erlösung von Übelkeit und Müdigkeit versprach. Nur zu bereitwillig ließ Enrico sich in dieses Loch fallen.

Das Licht kehrte zurück, aber mit ihm auch Müdigkeit und Übelkeit. Enrico fühlte sich hundeelend und hörte die Stimme, die zu ihm sprach, wie durch einen dicken Wattebausch. Jemand hielt seine Hand und blickte ihn an. Er wusste, dass er das Gesicht kannte, obwohl er es nicht klar erkennen konnte. Seine Augen tränten stark, und er konnte alles um sich herum nur verschwommen sehen. Die Person neben ihm war eine Frau, und sie tupfte seine Augen mit einem weichen Tuch ab. Er sah jetzt besser, erkannte langes, rotes Haar, das ein schönes, ernst dreinblickendes Gesicht umspielte. »Wie geht es dir?«, fragte Vanessa, und er wunderte sich nur kurz darüber, dass sie ihn duzte.

Auf einmal sah er alles wieder vor sich, die schwer bewaffneten Soldaten und die Prozession mit dem Papst an der Spitze. Statt Vanessas Frage zu beantworten, wollte er wissen:

»Was ist mit Elena und Alexander? Und mit dem Papst?«

»Custos ist höchstwahrscheinlich tot. Alexander und Elena haben es mit ein paar Schrammen überstanden. Sie sind auch hier.«

Er lag in einer Art besserem Feldbett, um ihn herum standen dünne Trennwände. Jetzt erst bemerkte er die vielen Stimmen der anderen Patienten und ihrer Besucher jenseits der Trennwände. In diesem Raum mussten viele Menschen liegen.

»Wo sind wir?«, fragte Enrico.

Es kostete ihn wie schon eben einige Anstrengung, die Wörter deutlich zu formulieren. Seine Zunge war schwer und gehorchte ihm nur widerwillig.

»In einem Notlazarett der Armee, etwa fünf Kilometer von Salerno entfernt. Man hat diese Baracken ursprünglich für die Erdbebenopfer errichtet. Aber jetzt liegen hier auch viele, die bei dem Attentat verletzt wurden.«

»Erzähl mir bitte alles, was du weißt!«

Vanessa nickte und hielt wieder seine rechte Hand.

»Alexanders Schuss konnte den Papst nicht retten, aber vielleicht hat er wenigstens einigen Begleitern, die weiter hinten gingen, das Leben gerettet. Sie warfen sich in Deckung, und viele von ihnen liegen hier verletzt. Die hohen kirchlichen Würdenträger aber, die in Custos’ Nähe waren, sind zum großen Teil tot. Viele von ihnen hat man noch nicht identifizieren können. Die abgefeuerte Rakete soll sie regelrecht in Fetzen gerissen haben. Auch Custos hat man noch nicht identifiziert, aber da die Attentäter es auf ihn abgesehen hatten, wird davon ausgegangen, dass er tot ist.«

Enrico dachte an sein Gespräch mit dem Papst auf der Dachterrasse des Apostolischen Palastes, und Schmerz erfüllte ihn. Die Welt hatte mit dem so genannten Engelspapst einen großen, unersetzlichen Mann verloren.

»Wir vier haben das sprichwörtliche Glück im Unglück gehabt«, fuhr Vanessa fort. »Nachdem die Attentäter uns durch eine Betäubungsgasgranate außer Gefecht gesetzt hatten, ließen sie uns in Ruhe. Gott sei Dank, denn sonst wären wir wohl nicht mehr am Leben.«

»Die Attentäter – waren es wirklich Soldaten?«

»Die Armee bestreitet das. Es sollen Männer gewesen sein, die sich als italienische Soldaten verkleidet haben. Aber niemand kann sagen, woher sie kamen und wohin sie verschwunden sind.«

»Sie sind spurlos untergetaucht?«

»Ja. Bei dem Chaos, das zurzeit im Erdbebengebiet herrscht, ist das kein Wunder.«

Ein Gesicht lugte um eine Trennwand, eine Frau mit kurzem blondem Haar im weißen Kittel. »Ah, der Patient ist schon wieder guter Dinge. Fühlen Sie sich in der Lage, einen Besucher zu empfangen, Signore?«

»Ja, sicher«, sagte Enrico und war überrascht, als der Privatsekretär des Papstes an sein Bett trat.

Don Luu hatte ein großes Pflaster mitten auf der Stirn, und sein linker Arm steckte in einer Schlinge. Er nickte Vanessa und Enrico zu, bevor er sagte: »Heute ist ein schwarzer Tag für die Kirche und die ganze Menschheit. Wir haben den Heiligen Vater verloren, und Trauer erfüllt mein Herz. Trotzdem muss ich Ihnen beiden danken. Ohne Ihre Hilfe wären noch mehr Menschen gestorben.«

»Wir haben nichts getan«, erwiderte Enrico.

»Dank Ihnen und Alexander Rosin, der auf die Attentäter geschossen hat, konnten wenigstens diejenigen, die weiter hinten in der Prozession gingen, Deckung suchen. So auch ich.

Ich bin zurzeit nicht gut zu Fuß. Seit bei dem Erdbeben in Neapel ein Schrank auf mich gestürzt ist, habe ich Probleme mit meinem linken Bein. Wäre ich vorn gewesen, bei Seiner Heiligkeit stände ich jetzt nicht vor Ihnen.«

»Ich weiß wirklich nicht, ob Sie uns danken müssen«, sagte Enrico. »Eigentlich wollten wir alle retten. Vor allem wollten wir verhindern, dass der Papst stirbt.«

»Ich bin sicher, dass Sie getan haben, was in Ihren Kräften stand«, sagte Don Luu verständnisvoll. »Später müssen Sie mir Ihre Geschichte in allen Einzelheiten erzählen. Jetzt ist dafür zu wenig Zeit.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »In fünf Minuten habe ich ein Telefonat mit dem Vatikan. Mein fünftes oder sechstes seit dem Anschlag.«

Er verabschiedete sich, und Enrico blickte ihm voller Bewunderung nach. In Don Luu schien eine große Kraft zu stecken, dass er so kurz nach dem Verlust des Papstes wieder seiner Arbeit nachging. Wahrscheinlich fand er diese Kraft in seinem Glauben. Und es musste ein starker Glaube sein, wenn Luu auch angesichts der jüngsten Ereignisse Trost in ihm fand.

Enrico dachte an Papst Custos und stellte sich die Frage, warum Gott es zuließ, dass ein solcher Mann, der noch so viel für die Menschen und die Kirche hätte tun können, sterben musste.

Enrico und seine Begleiter sahen Don Luu erst am Abend des folgenden Tages wieder.

In der Zwischenzeit hatten sie mehreren hohen Offizieren und zwei Regierungsbeamten immer wieder ihre Geschichte erzählen müssen. Niemand wollte so recht glauben, dass sie aufgrund von Prophezeiungen am Ort des Attentats aufgetaucht waren. Aber wenn Enrico ehrlich war, so wäre ihm ihre eigene Geschichte auch seltsam vorgekommen, hätte er sie nicht selbst erlebt. Sie hielten sich noch immer in dem Militärkomplex auf, den man nahe Salerno aus dem Boden gestampft hatte, um den Opfern des Erdbebens und des Attentats zu helfen. Zwei enge Kammern in einer Baracke am Rand des Lagers dienten ihnen als Unterkunft. Als Don Luu zu ihnen kam, wirkte er erschöpft.

»Gibt es Neuigkeiten über den Papst?«, fragte Alexander.

»Hat man inzwischen seine Leiche identifiziert?«

Luu nahm dankbar auf dem Stuhl Platz, den Elena ihm anbot.

»Nein, vermutlich ist der Leichnam Seiner Heiligkeit von Sprenggeschossen zerrissen worden.«

Alexander wollte etwas sagen, schwieg dann aber und starrte betreten die Wand an.

Enrico konnte sich vorstellen, was in dem Schweizer vorging.

Im Mai hatte er Custos vor der Ermordung durch Totus Tuus bewahrt, nur um mitzuerleben, wie den Papst wenige Monate später doch noch sein Schicksal ereilte. In Alexander mussten die verschiedensten Gefühle brodeln: Trauer, Wut und Verbitterung.

Luu blickte in die Runde. »Ist Ihnen noch etwas eingefallen, was Sie mir mitteilen möchten? Ich fahre heute Abend nach Rom, um im Vatikan Bericht zu erstatten. Das ist keine leichte Aufgabe, glauben Sie mir!«

»Sie sind vermutlich besser informiert als wir, Don Luu«, meinte Vanessa. »Wie hat man im Vatikan auf die schreckliche Nachricht reagiert?«

»Natürlich war es ein Schock, aber unser aller Arbeit geht weiter, und zur Trauer bleibt wenig Zeit. Die wichtigste Frage ist jetzt: Was kommt nach Papst Custos?«

»Was oder wer?«, hakte Elena nach. »Laufen etwa schon die Vorbereitungen für die Wahl eines neuen Papstes?«

»So schnell geht das nicht. Außerdem steht noch gar nicht fest, ob wir tatsächlich einen Papst wählen müssen.«

»Jetzt sprechen Sie in Rätseln, Don Luu.« Elena sprach aus, was sie alle dachten.

»Es gibt schon einen Papst. Lucius. Nicht wenige Entscheidungsträger im Vatikan sind der Ansicht, er sei das passende Oberhaupt einer wiedervereinigten Kirche.«

Alexander starrte Luu fassungslos an. »Aber das würde alle Reformen, die Custos in den vergangenen Monaten in Angriff genommen hat, beenden. Es wäre fast so, als hätte es Papst Custos nie gegeben.«

»Mehr noch«, meinte Elena, »unter Papst Lucius wäre die Kirche vielleicht konservativer als jemals zuvor. Dann hätten im Vatikan Mächte das Sagen, deren Einfluss verheerend sein kann.«

Enrico, Vanessa und Alexander wussten, was sie meinte: den Einfluss von Totus Tuus.

»Das wäre der Nachteil dieser Lösung«, stimmte Luu zu.

»Der Vorteil läge in der Überwindung des Schismas.«

»Aber zu welchem Preis!«, rief Alexander, lauter vielleicht, als er beabsichtigt hatte.

»Manch einer meint, die Wiedervereinigung der Kirche sei jeden Preis wert.«

Elena fixierte den Geistlichen. »Und was meinen Sie, Don Luu?«

Der Privatsekretär holte tief Luft und schien sich unwohl in seiner Haut zu fühlen. »Ich war Papst Custos persönlich und auch in seinen Ansichten eng verbunden, sonst hätte er mich nicht in dieses Amt berufen. Aber inzwischen weiß ich nicht mehr, ob er in allem den richtigen Weg gegangen ist. Er kannte sein Ziel und ist geradewegs darauf losgegangen. Aber andere konnten ihm nicht folgen, jedenfalls nicht so schnell. Was in zwei Jahrtausenden Kirchengeschichte gewachsen ist, lässt sich nicht in wenigen Monaten ändern. Vielleicht brauchen wir jetzt einen konservativen Papst, um der Kirche das feste Fundament wiederzugeben, das ihr in jüngster Zeit zu entgleiten drohte.«

»Und was sagt die Gegenkirche dazu?«, wollte Vanessa von Luu wissen.

»Wir haben darüber noch nicht mit den Abweichlern gesprochen. Deshalb muss ich ja nach Rom. Morgen findet im Vatikan eine Konferenz statt, die uns bei der Entscheidungsfindung helfen soll.«

Als Henri Luu gegangen war, stieß Alexander einen heftigen Fluch aus. »Ich wünschte, statt Custos hätte es diesen Lucius erwischt!«

Enrico sah den Schweizer an und erwiderte: »Ich nicht.«