Neapel

Als das Telefon melodiös zu läuten begann, stand Papst Custos an einem der kleinen Fenster und blickte hinaus aufs Meer.

Das Franziskanerkloster, in dem er untergekommen war, stand auf dem Vomero, jenem Hügel in Neapel, den die Touristen am liebsten per Seilbahn besuchten. Hier gab es Sehenswürdigkeiten wie die Villa La Floridiana mit ihrem Keramikmuseum und einem großen Park oder das säkularisierte Kartäuserkloster San Marino mit vielen sehenswerten Gebäuden und einem Museum zur neapolitanischen Kunst und Geschichte.

Im Augenblick aber interessierte die Schaulustigen und vor allem die Journalisten, Fotografen und Kameraleute, die auf den Vomero kamen, nur das unscheinbare kleine Kloster San Francesco mit seinem hoch stehenden Gast. Draußen auf der Straße belagerten sie das Kloster in so großer Zahl, dass die Polizei den Verkehr umleiten musste. Die Unterkunft des Papstes lag im rückwärtigen Teil, und so blieb er von dem Trubel verschont. Fast wünschte er es sich anders, dann hätte er sich von den quälenden Überlegungen ablenken können. So aber kreisten seine Gedanken ununterbrochen um die Gegenkirche und um das seltsame Spiel, das der Gegenpapst und seine Anhänger mit ihm trieben. Bislang hatte Custos die Abtrünnigen für überzeugte Christen gehalten, nicht aber für Scharlatane. Die Weissagung des Gegenpapstes jedoch, dass Custos’

Anwesenheit in Neapel zu einem Unglück führen würde, ließ alles in einem neuen Licht erscheinen. War Tomás Salvati, der sich Papst Lucius IV. nannte, ein gewissenloser Machtpolitiker, der die Gutgläubigkeit seiner Anhänger schamlos ausnutzte?

Wenn ja, dann war Custos’ Reise nach Neapel zum Scheitern verurteilt gewesen, bevor er sie überhaupt angetreten hatte. Mit einem Betrüger würde er sich nicht einigen können, denn dem wäre am Wohl der Kirche nicht gelegen.

Natürlich gab es noch eine andere Erklärung, eine, die Custos persönlich noch weniger behagte: Salvati hatte tatsächlich eine Vision gehabt. Das würde bedeuten, dass finstere Mächte am Werk waren, Mächte, denen Custos möglicherweise hilflos gegenüberstand. Das Unwetter gestern war schlimm gewesen, aber er hielt es nur für ein Unwetter. Dass es genau zu der Zeit eingesetzt hatte, als sein Hubschrauber auf dem Flughafen landete, war ein Zufall gewesen, den Salvati und seine Anhänger wohl ebenso klug wie unverfroren ausnutzten.

Der Sturm hatte sich gelegt, und es regnete auch nicht mehr, aber der Golf von Neapel, auf den Custos blickte, lag noch immer unter einer dichten Wolkendecke. Der Seegang war rau, aber die Reedereien hatten ihre gestern unterbrochenen Dienste wieder aufgenommen. Ein großes Containerschiff schob sich gerade gemächlich aus dem Hafen und wurde von einer Fähre, einem schnellen Tragflügelboot, überholt, die unterwegs nach Procida, Capri oder Ischia war. Die Menschen vergaßen das Unheil schnell, wenn es um das Geschäft ging, und vielleicht war das der entscheidende Grund, warum die Menschheit auf diesem Planeten überlebt hatte.

»Soll ich rangehen, Heiligkeit?«

Henri Luus Stimme riss Custos aus seinen Gedanken. Er drehte sich um und nickte. Er hatte ganz vergessen, dass sein Privatsekretär anwesend war. Luu hatte auf einem unbequemen Stuhl gesessen und die regionalen wie auch die wichtigen überregionalen Tageszeitungen nach Beiträgen über die Ankunft des Papstes in Neapel durchgesehen. Dabei war Luu mit jener Akribie vorgegangen, die Custos so an ihm schätzte. Luu nahm den Hörer ab, und seine Miene veränderte sich schon nach wenigen Sekunden, wurde noch ernster. Custos kannte seinen Privatsekretär gut genug, um zu wissen, dass es keine guten Nachrichten waren, die der Anrufer übermittelte. Luu stellte nur wenige, einsilbige Zwischenfragen und sagte dann: »Ich werde Seine Heiligkeit informieren. Halten Sie uns bitte auf dem Laufenden, Eminenz!«

»Lavagnino?«, fragte Custos, nachdem Luu den Hörer aufgelegt hatte.

Luu sah ihn überrascht an. »Woher wissen Sie das, Heiligkeit?«

»Das war nicht schwer zu erraten. Wir selbst sind in Neapel, also kommen die neuesten Hiobsbotschaften vermutlich aus Rom. Was ist passiert?«

»Markus Rosin ist tot.«

»Wie?«, fragte Custos nur.

»Man hat ihn mit aufgeschnittenen Pulsadern in seiner Zelle gefunden.«

»Also Selbstmord.«

»Das zumindest behauptet Generalinspektor Tessari, sagt Kardinal Lavagnino. Alexander Rosin allerdings ist anderer Meinung. Er glaubt, sein Vater wurde ermordet. Irgendetwas mit einer Sonnenbrille, so ganz habe ich das nicht verstanden.«

»Der junge Rosin hat ein Gespür für solche Dinge. Nicht zuletzt deshalb habe ich ihn gebeten, zusammen mit der Polizei die Priestermorde zu untersuchen. Wenn er Recht hat, bedeutet das nichts Gutes. Ich habe schon lange den Verdacht, dass im Vatikan noch immer düstere Mächte zu Werke gehen.«

»Soll ich den Flughafen anrufen, damit unser Hubschrauber startklar gemacht wird, Heiliger Vater?«

Custos schüttelte nachdenklich den Kopf. »Noch habe ich Hoffnung, dass unsere Reise hierher nicht ganz vergebens war.

Es ist nur ein Gefühl, aber etwas Entscheidendes wird sich hier bald ereignen.«

»Ich bin nicht so optimistisch wie Sie, wenn ich ehrlich sein darf.«

»Sie sollen mir immer ehrlich Ihre Meinung sagen, Henri, ansonsten wären Sie für mich wenig hilfreich. Ich weiß …«

Ein plötzliches Zittern des Bodens unter seinen Füßen ließ Custos verstummen. Die Erde schien zu schwanken. Er verlor den Halt und wollte sich noch an einem kleinen Tisch abstützen.

Der aber kippte um. Auch Custos stürzte, und seine Stirn prallte gegen die aufragende Tischkante. Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Kopf, dann spürte er etwas Warmes auf seiner Wange. Er fasste mit der Hand an die Stelle und hatte Blut an den Fingern.

Ein neues, schwereres Beben erschütterte das Zimmer. Etwas prasselte auf Custos hernieder – Putz von der Decke. Ein Krachen und ein Aufschrei ließen ihn in Richtung seines Privatsekretärs sehen. Henri Luu lag am Boden, begraben unter einem umgestürzten Schrank.

In der Gegend von Borgo San Pietro

Die Schritte kamen näher. Enrico und Vanessa standen in dem unterirdischen Raum, in dem der Einsiedler wohnte und schlief, und richteten die Lichtkegel ihrer Taschenlampen auf die einzige Türöffnung, die hinaus auf den Gang führte. Ein rascher Seitenblick auf seine Begleiterin zeigte Enrico, dass ihr ebenso unwohl zumute war wie ihm. Die Schritte auf dem Gang stammten vermutlich von Angelo, und der würde wenig erfreut darüber sein, wenn er zwei Störenfriede an diesem intimen Ort vorfand.

Das Licht der Lampen erfasste eine hagere Gestalt, zu der ein bärtiges Gesicht gehörte: Angelo. Er hob die Hände schützend vor die Augen und sagte vorwurfsvoll: »Das Licht blendet mich.«

Enrico und Vanessa schalteten die Lampen aus. Enrico hörte ein kratzendes Geräusch, ein Zischen folgte, und die kleine Flamme eines Streichholzes flackerte auf. Angelo entzündete eine Kerze, die er in die Mitte des Raums stellte. Ihre unstete Flamme warf zuckende Schatten an die Wände, als wären die hier begrabenen Toten erwacht, um einen Geistertanz aufzuführen.

Das alte, runzlige Gesicht des Einsiedlers wirkte in dem schwachen Licht wie aus einer anderen Welt, und er bedachte seine ungebetenen Gäste mit einem abweisenden Blick.

Schließlich sah er Enrico an. »Du hast dein Wort gebrochen.«

»Ich hatte gute Gründe dafür.«

»Welche?«

»Diese Frau hier, Dr. Vanessa Falk aus Deutschland, hat Sie gesucht. Sie ist sehr hartnäckig und hätte Sie auf jeden Fall aufgespürt. Da hielt ich es für besser, sie zu begleiten. Zumal ich auch noch ein paar Fragen an Sie habe, Angelo.«

»Habe ich dir nicht gesagt, dass ich nicht gestört werden will? Und ich will auch keine Fragen beantworten!«

Vanessa trat einen Schritt vor. »Warum verstecken Sie sich vor der Welt, Signor Piranesi? Was haben Sie zu verbergen? Ist es die Prophezeiung, die Ihnen und Ihrem Bruder gemacht wurde, über die Sie nicht sprechen wollen?«

Angelo richtete seine Augen auf Vanessa, und jetzt erst schien er die Frau richtig wahrzunehmen. In seinem Blick lag eine Mischung aus Erstaunen, Verwirrung, Unsicherheit und Zorn.

»Wer bist du? Woher kennst du diesen Namen?«

»Den Namen Piranesi, Ihren Namen? Den habe ich aus alten Aufzeichnungen über Ihre Begegnung mit dem Engel.«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Bitte, geh!«

»Was fürchten Sie so sehr, Signor Piranesi?«, fragte Vanessa.

»Haben Sie Angst, Ihre besonderen Kräfte zu verlieren, wenn Sie darüber mit Fremden sprechen? Ist das der Handel, den Sie mit dem Engel getroffen haben?«

»Du weißt gar nichts!«, entgegnete Angelo. »Gott schickt uns seine Boten nicht, um zu handeln. Was sollten wir dem Allmächtigen schon zu bieten haben?«

»Gehorsam, Gefolgschaft, Liebe«, schlug Vanessa vor.

»Unseren Gehorsam und unsere Gefolgschaft kann der Herr erzwingen, wenn Ihm daran gelegen ist. Auf unsere Liebe ist Er nicht angewiesen, wir aber auf Seine.«

»Dann sagen Sie es mir«, verlangte Vanessa. »Welche Botschaft hat Ihnen der Engel damals überbracht?«

Angelo senkte den Blick und starrte in die Kerzenflamme.

»Ich darf nicht darüber sprechen.«

»Hat der Engel es Ihnen verboten, oder war es der Vatikan?«

fragte Vanessa.

Der Einsiedler schüttelte traurig den Kopf. »Ihr achtet meine Worte nicht, so wenig, wie ihr euer eigenes Wort achtet, das ihr anderen gebt.«

Enrico fühlte sich tief getroffen. Das Schlimmste war, dass Angelo Recht hatte. Enrico hatte sein Wort gebrochen, weil er gehofft hatte, mehr über den Einsiedler, über die seltsamen Heilkräfte und letztlich auch über sich selbst zu erfahren. Aber es sah ganz so aus, als hätten Enrico und Vanessa mit ihrem Ausflug in die Berge eher eine Tür zugestoßen statt eine geöffnet. »Es tut mir Leid, Angelo«, sagte er, während er dem Alten in die Augen sah. »Ich habe nicht in böser Absicht gehandelt. Wir werden Sie jetzt verlassen. Falls Sie es sich anders überlegen und mit uns sprechen wollen, finden Sie mich im Hotel ›San Lorenzo‹. Wenden Sie sich einfach an Ezzo Pisano, er wird Sie schon zu mir bringen. Verzeihen Sie, dass wir hier einfach eingedrungen sind.«

Vanessa schien nicht viel davon zu halten, so rasch aufzugeben, aber Enrico zog sie mit sanfter Gewalt mit sich. Als sie wieder zu ebener Erde und im Tageslicht standen, zischte sie: »Das war dumm von Ihnen, Enrico. Wir hätten den Mann mit Sicherheit zum Reden gebracht.«

»Ich bin mir da keineswegs so sicher wie Sie. Und jetzt kommen Sie, wir haben uns hier schon genügend lächerlich gemacht!«

Vanessa blickte ihn empört an. »Wer hat sich lächerlich gemacht? Ich etwa?«

»Wir beide.«

Wieder packte er sie an der Hand und zog sie mit sich.

Anfangs sträubte sie sich, aber dann fügte sie sich und folgte ihm freiwillig.

Sie hatten den größten Teil der Strecke zu der Lichtung mit Vanessas Wagen bereits zurückgelegt, als fremde Geräusche an ihre Ohren drangen. Erst hörten sie nur Schritte und das Knacken zertretener Äste, und sie dachten, Angelo habe es sich anders überlegt und folge ihnen, um mit ihnen zu sprechen.

Dann aber hörten sie auch Stimmen, die halblaut miteinander sprachen. Es waren mehrere Personen, durch das dichte Unterholz vor ihren Blicken verborgen. Aber die Unbekannten kamen näher und schienen darauf aus zu sein, Enrico und Vanessa einzukesseln.

»Laufen Sie!«, raunte Enrico Vanessa ins Ohr, und zeitgleich begannen sie zu laufen.

Die Lichtung mit dem Wagen konnte nach Enricos Schätzung höchstens noch zweihundert Meter entfernt sein. Sie hasteten durch das dichte Unterholz, so schnell es ging. Auch ihre Verfolger liefen jetzt, aber Enrico und Vanessa erreichten die Lichtung zuerst. Ihr Pech war nur, dass der Fiat verschwunden war. Heftig keuchend, standen sie auf der leeren Lichtung und blickten sich irritiert um, während es rings um sie im Unterholz knackte. Sie saßen in der Falle: Die Verfolger hatten sie umzingelt.