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Pescia, nördliche Toskana,

Dienstag, 22. September

Er ahnte, nein, er wusste, dass in dem steinernen Labyrinth etwas Unheimliches, Böses auf ihn wartete. Trotzdem ging er weiter, setzte einen Fuß vor den anderen wie unter einem geheimen Zwang. War es Neugier, die stärker war als seine Furcht und ihn vorantrieb? Er kannte die Antwort nicht, und ihm war auch nicht danach, länger darüber nachzudenken. Der verschlungene Pfad, der mal durch enge Gänge, dann wieder über geländerlose, kühn geschwungene Steinbrücken führte, beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit. Einmal blieb er mitten auf einer schmalen Brücke stehen und sah hinab in die Tiefe. Schon in dem Augenblick, als er den Kopf nach unten wandte, wusste er, dass es ein Fehler war. Der gähnende schwarze Schlund unter ihm schien kein Ende zu kennen. Ein falscher Schritt, ein Stolpern nur, und er würde unrettbar in die Tiefe stürzen und nach langem Fall zur Unkenntlichkeit zerschellen. Ihm war plötzlich sehr warm, aber er unterdrückte das drängende Gefühl, sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn zu wischen.

Geh weiter und sieh nicht nach unten!

Das flüsterte eine Stimme direkt in seinem Kopf. Er gehorchte der Stimme. Sie war es gewesen, die ihn in dieses Labyrinth gelockt hatte. Die Stimme war einerseits sanft, fast verlockend, andererseits aber schwang in ihr etwas mit, das keinen Widerspruch duldete. Sie bat nicht, sie befahl.

Um ihn herum gab es nur Felsgestein, kein Gras, keine Bäume, kein Wasser und schon gar keinen Himmel. War er in einem Berg oder unter der Erde? Er wusste es nicht. Er konnte nicht einmal sagen, wie er in dieses Labyrinth geraten war, an welcher Stelle er es betreten hatte. Er wusste nur, dass er der Stimme folgte. Etwas anderes gab es für ihn nicht. Nicht mehr lange, gleich bist du am Ziel! Die Stimme war jetzt laut und klar. Wem immer sie gehörte, er konnte nicht mehr fern sein.

Ein letztes Aufflackern des eigenen Willens ließ ihn stehen bleiben und darüber nachsinnen, was – wer – ihn erwartete und warum. Augenblicklich verspürte er einen sanften, doch zugleich starken Druck in seinem Rücken, wie die Hand eines unsichtbaren Riesen, die ihn weiterschob.

Gleich wirst du alles erfahren, was du wissen willst. Hab nur noch ein wenig Geduld!

Vor ihm machte der Weg eine Kurve, flankiert von steilen, hoch aufragenden Felswänden. Die Wärme wurde stärker, entwickelte sich immer mehr zu einer wahren Hitze, während er monoton einen Fuß vor den anderen setzte. Er konnte kaum noch atmen, was sowohl an der Hitze als auch an seiner Beklemmung liegen mochte, an seiner Furcht vor dem Ungewissen.

Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir, mein Sohn!

Langsam, mit zögernden Schritten nahm er die Biegung, hinter der sich unvermutet ein weites Tal öffnete. Nein, das war nicht einfach ein Tal, es war Wasser. Ein großer unterirdischer See.

Ganz still lag der See vor ihm. Kein noch so kleiner Lufthauch rief das Kräuseln einer Welle hervor. Es sah einladend aus, und er wollte sich dem See schon nähern, da spritzte das Wasser unvermutet in alle Richtungen wie von der Schwanzflosse eines Riesenwals aufgepeitscht. Vor ihm, neben ihm und rings um ihn fielen schwere Tropfen auf den Boden. Und wo das Wasser –

oder was immer es war – das Felsgestein berührte, ätzte es tiefe Löcher hinein.

Unwillkürlich machte er ein paar Schritte zurück, während er ungläubig auf den so plötzlich zum Leben erwachten See starrte.

Aus dessen brodelnder Mitte tauchte etwas auf, das seine Augen blendete, seinen Verstand überforderte und sein Innerstes mit Schrecken erfüllte. Er wandte sich zur Flucht und rannte davon.

Und in seinem Kopf war die unheimliche Stimme. Bleib hier und ängstige dich nicht! Ich bin bei dir, mein Sohn!

Schweißgebadet erwachte Enrico und benötigte einige Zeit, um herauszufinden, wo er war. Anfangs kam ihm der hohe, große Raum mit dem nackten Mauerstein und den schweren Holzbalken an der Decke fremd vor, wie ein Bild aus seinem Traum – aus dem immer wiederkehrenden Alptraum, der schon seit frühester Kindheit auf ihm lastete. Und doch war etwas anders, stellte Enrico bei genauerem Nachdenken fest. Noch nie war das Erlebnis so intensiv und trotz des surrealistischen Ambientes so real gewesen. Real? Der Begriff erschien ihm paradoxerweise nicht unpassend. Ihm war wirklich, als hätte er nicht nur geträumt, sondern als sei er tatsächlich in einer unterirdischen Welt gewesen, in einem Labyrinth aus Stein.

Der Teil seines Verstands, der sich mit seinem derzeitigen Aufenthaltsort beschäftigte, identifizierte den seltsamen Raum, dessen Konturen im durch die hölzernen Fensterläden einfallenden Mondlicht gut zu erkennen waren, als das Hotelzimmer in Pescia, das er heute bezogen hatte. Wirklich heute? Mit einer fahrigen Bewegung fischte er seine Armbanduhr vom Nachttisch und drückte auf den winzigen Lichtknopf. Es war schon vier Uhr morgens, also Dienstag, sein zweiter Tag in der Toskana.

Enrico wollte ins Bad gehen, um sich etwas zu erfrischen.

Aber sobald er aufstand, begann sich das Zimmer um ihn zu drehen. Er ließ sich rücklings aufs Bett fallen, schloss die Augen und atmete tief und gleichmäßig durch. Der Schwindelanfall kam für ihn nicht überraschend. Er hatte so etwas häufig nach diesem Alptraum.

Nach fünf Minuten ging es ihm besser. Der Schwindel war verflogen, aber er fühlte sich ausgedörrt, als hätte die Hitze der Traumwelt seinen Körper wahrhaftig umschlungen gehalten. Er zog seinen schweißnassen Pyjama aus und ging nackt ins Bad, wo er den Mund unter den Wasserhahn hielt, bis sein brennender Durst gestillt war. Anschließend stellte er sich für eine kleine Ewigkeit unter die Dusche. Er ging nicht wieder ins Bett, dazu war er viel zu aufgewühlt. Stattdessen zog er sich an, stellte einen Stuhl an eins der Fenster, das er weit öffnete, und wartete auf den Sonnenaufgang. Die kühle Nachtluft tat ihm gut, und er dachte daran, was er hier in den norditalienischen Bergen finden mochte. Aber vielleicht sollte er sich erst einmal darüber klar werden, was er überhaupt suchte. Irgendwann bemerkte er den rötlichen Lichtschimmer zu seiner Linken. Allmählich wurde daraus ein stärkeres Leuchten, und die Sonne schob sich über den Horizont, um ihr Licht auf die Landschaft zu werfen, die Enrico in aller Ruhe betrachtete. Irgendwo weit vor ihm, im Süden, begann jener Teil der Toskana, den man in Fotokalendern und auf den Abbildungen unzähliger Reisebücher fand: grüne Wiesen, die sich zu sanft geschwungenen Hügeln wölben, in die Felder voller roter oder gelber Blumen eingewoben sind, um dem Auge des Betrachters die nötige Abwechslung zu bieten; dazwischen Weinstöcke, Olivenbäume und Zypressen. Die Gegend um Pescia war anders, markierte den Übergang zum toskanischen Bergland. Das Hotel »San Lorenzo« stand inmitten einer weitläufigen Anlage nördlich der Stadt. Er konnte von Pescia nur ein paar Dächer und Kirchtürme erkennen. Dort war das Land noch Verhältnismäßig flach. Wenn er aber nach rechts und links blickte, türmten sich schroff die Berghänge auf, als wollten sie sagen: Bis hierher und nicht weiter!

Das helle Licht der mediterranen Sonne vertrieb die Erinnerung an seine schlechte Nacht und erfüllte Enrico mit Optimismus. Sein Magen knurrte, und er beschloss, frühzeitig in den Frühstücksraum zu gehen, bevor Scharen von Touristen dort einfielen. Aber der Raum, der tagsüber als Cafe und Weinlokal diente, war nur klein und schon jetzt überfüllt. Er konnte auch nicht einen freien Tisch entdecken.

»Wenn Sie möchten, können Sie sich zu mir setzen. Ich erwarte niemanden mehr.«

Enrico lächelte. Die Sonne der Toskana schien es wirklich gut mit ihm zu meinen. Eine junge Frau, die allein an einem Tisch saß, hatte ihn angesprochen. Und was für eine Frau! Ihr Anblick brachte das italienische Blut in seinen Adern zum Wallen. Sie war außerordentlich hübsch und trug, als wolle sie ihr schönes Gesicht niemandem vorenthalten, das dunkle Haar kurz geschnitten. Enge Jeans betonten ihre langen, schlanken Beine, und unter dem weißen Top zeichneten sich frauliche Formen ab. Als er an ihren Tisch trat, zwang er sich, sie nicht mit seinen Blicken zu verschlingen.

»Enrico Schreiber, Tourist«, stellte er sich vor. »Gestern erst angekommen und noch vollkommen fremd in dieser schönen Gegend. Ach ja, und ich erwarte auch niemanden mehr.«

»Sie sehen aus wie ein Italiener und sprechen wie ein Italiener«, stellte die schöne Unbekannte fest. »Aber der Name Schreiber klingt deutsch, österreichisch oder meinethalben auch schweizerisch. Jedenfalls nicht italienisch.«

»Das ist er auch nicht. Ich bin deutscher Staatsbürger, und mein Vater war Deutscher. Aber meine Mutter war eine waschechte Italienerin. Sie stammte aus dieser Gegend. Und mit wem habe ich das unerwartete Vergnügen?«

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. »Ich heiße Elena, bin auch Touristin und auch erst gestern hier angekommen. So ein Zufall, nicht?«

»Ein überaus willkommener und angenehmer Zufall«, sagte Enrico, als er ihre Hand ergriff. »Elena also, und wie weiter?

Müller, Meier oder Schmidt? Aus Berlin oder aus Hamburg?«

Sie lachte, und das stand ihr sehr gut. »Weder noch. Ich heiße Elena Vida und komme aus Rom.«

Enrico bestellte sich einen Cappuccino und bediente sich am kleinen Büfett mit frischem Brot, Schinken und Melonenspalten.

Während er hungrig zulangte, fragte seine neue Bekannte, ob er die Familie seiner Mutter besuchen wolle.

»Soweit ich weiß, gibt es keine Familie in diesem Sinne mehr, jedenfalls keine näheren Angehörigen. Aber Sie haben trotzdem nicht ganz Unrecht, Elena, ich möchte mir das Dorf ansehen, aus dem meine Mutter stammt. Seltsam, dass mich diese Idee ausgerechnet jetzt packt.«

»Wieso seltsam?«

»Weil meine Mutter im letzten Monat gestorben ist. Man könnte doch meinen, dass ich mich schon früher für ihre Heimat hätte interessieren sollen.«

»Ich finde das gar nicht seltsam. Sie haben Ihre Mutter verloren. Da ist es nur natürlich, dass Sie hier etwas von ihr wiederzufinden hoffen.«

»Vielleicht«, sagte Enrico nachdenklich und sah durch die großen Fenster hinaus auf die grün bewaldeten Berge. »Als Erwachsener macht man sich nicht so viele Gedanken, was einem die Eltern bedeuten. Erst wenn sie nicht mehr da sind, merkt man es.«

»Ihr Vater ist auch schon tot?«

»Ja.«

»Und früher sind Sie nie hier gewesen, auch nicht mit Ihrer Mutter?«

Er schüttelte den Kopf. »Meine Mutter ist als sehr junge Frau von hier weggegangen und niemals wieder zurückgekehrt, auch nicht zu einem kurzen Besuch. Sie war der Meinung, nun sei Deutschland ihre Heimat.«

»Wenigstens hat sie Ihnen perfekt Italienisch beigebracht.«

Enrico grinste. »So sehr deutsch war sie nun auch wieder nicht. Sie hat die ihr fremde Sprache nie hundertprozentig gelernt und sich mit mir immer auf Italienisch unterhalten.«

»Wie heißt der Ort, aus dem Ihre Mutter stammt?«

»Es ist nur ein winziges Nest hoch oben in den Bergen.

Borgo San Pietro.«

»Klingt interessant. Das sollte ich mir wohl auch ansehen.«

»Aber hier ist die Toskana! Wollen Sie nicht viel lieber Florenz und Pisa erkunden, Siena und Lucca?«

»Das meiste kenne ich schon, und wirklich schön finde ich nur das kleine, zumeist übersehene Lucca. Aber ich stehe nicht auf Menschenmassen, die einander auf die Füße trampeln. Dann hätte ich auch in Rom bleiben können. Nein, ich habe mir extra hier ein Zimmer genommen, weil ich die angeblich so malerischen Bergdörfer abklappern will. In einem Reisebuch habe ich viel darüber gelesen und bin regelrecht neugierig geworden.«

Enrico zögerte nur kurz, bevor er sagte: »Dann lassen Sie uns die toskanische Bergwelt doch gemeinsam erkunden, Elena!«

Sie strahlte. »Einverstanden! Aber nur unter einer Bedingung: Sie müssen mir unbedingt dieses winzige Nest zeigen, aus dem Ihre Mutter stammt. Wie heißt es doch gleich?«

»Borgo San Pietro.«

»Ja, Borgo San Pietro.«

Im Radio, das den Frühstücksraum mit Adriane Celentano und Zucchero beschallt hatte, begannen die Nachrichten. Enrico fiel auf, dass Elena plötzlich hellhörig wurde.

»… gibt es Neuigkeiten aus Neapel, wo die neu gegründete Heilige Kirche des Wahren Glaubens ihren Sitz hat. Wie soeben vom Pressesprecher der neuen Kirche bekannt gegeben wurde, soll noch heute im Laufe des Tages die Amtseinführung des so genannten Gegenpapstes erfolgen. Natürlich werden wir live darüber berichten, wie Kardinal Tomás Salvati zum Papst gekrönt wird. Im Anschluss an diese Nachrichten erfahren Sie in einer Sondersendung Näheres zu der abgespaltenen Kirche und ihren jüngsten Verlautbarungen. Zum Sport: Die beiden römischen Fußballvereine …«

»Das scheint Sie sehr zu interessieren, Elena«, stellte Enrico fest.

»Ich bin katholisch.«

»Ich auch. Na und?«

»Sie haben wohl Recht, Enrico, zwischen katholisch auf dem Papier und gläubig im Herzen liegt ein gewaltiger Unterschied.

Mich interessiert das alles sehr, mehr noch, ich fürchte mich vor dem, was daraus erwachsen kann. Eine gespaltene Kirche ist eine geschwächte Kirche, und gerade in diesen Zeiten sollte die Kirche stark sein.«

»Spielen Sie auf den neuen Papst an, den richtigen?«

»Ganz recht. Papst Custos. Ich finde es gut, wie er die Kirche reformieren will. Er braucht jede Unterstützung, die er kriegen kann. Es ist nicht schön, dass ihm ausgerechnet jetzt Knüppel zwischen die Beine geworfen werden.«

»Verzeihen Sie, Elena, aber sehen Sie die Sache nicht etwas einäugig? Sie kennen sich mit der katholischen Kirche wohl besser aus als ich, aber selbst mir ist nicht entgangen, dass der Papst die Kirchenspaltung erst durch seine Reformen ausgelöst hat. Da trägt er nach meiner Meinung zumindest eine Mitschuld an den Knüppeln, über die er jetzt zu stolpern droht.«

Elena machte ein ernstes Gesicht, jede Heiterkeit schien aus ihren Zügen verflogen zu sein. Sie schob die Schale mit dem erst halb gegessenen Fruchtjoghurt von sich weg. »Seien Sie mir nicht böse, Enrico, aber aus unserem Ausflug in die Berge wird nichts. Sie werden das sicher nicht verstehen, aber ich werde diesen sonnigen Tag im Fernsehraum des Hotels verbringen. Die Amtseinführung des Gegenpapstes will ich mir nicht entgehen lassen.«

Als Enrico eine Stunde später in den Fernsehraum trat, war er überrascht, wie voll es hier war. Er hatte gedacht, Elena allein anzutreffen. Aber er hatte nicht mit der tief verwurzelten Religiosität der Italiener gerechnet. Ganze Familien saßen dicht gedrängt in den Sitzgruppen und verfolgen gespannt die Live-

Übertragung aus Neapel. Auf dem Bildschirm des umlagerten Fernsehers sah man eine große Kirche, um die sich Tausende von Menschen drängten.

»… sehen wir den Dom von Neapel, wo in wenigen Minuten die Amtseinführung des Gegenpapstes stattfinden wird«, berichtete eine Stimme aus dem Off. »Hier im Dom wird das Blut des heiligen Gennaro aufbewahrt, und vor drei Tagen fand hier, wie an jedem neunzehnten September, das so genannte Blutwunder statt. Wenn das Blut sich an diesem Tag verflüssigt, was meistens geschieht, ist alles in Ordnung. Verflüssigt es sich aber nicht, drohen große Katastrophen. In diesem Jahr ist das Blut nicht flüssig geworden. Die neue Glaubenskirche führt das auf die nach ihrer Meinung frevlerischen Reformen des Vatikans zurück, die Gott verärgert hätten. Aus dem Vatikan wiederum war zu hören, dass an dem negativen Ausgang des diesjährigen Blutwunders die Kirchenspaltung und der damit verbundene Verrat vieler Geistlicher an der Amtskirche schuld sei.«

»Gehören solche ›Blutwunder‹ auch zu Ihrem Glauben, Elena?«, fragte Enrico im Flüsterton, als er neben sie trat. Sie saß in einem weichen Sessel. Da kein Sitzplatz mehr frei war, ließ er sich einfach neben ihr im Schneidersitz auf dem Boden nieder.

Elena blickte ihn mit hochgezogenen Brauen an. »Sie hier?«

»Wie Sie sehen.«

»Aber Sie wollten doch in die Berge!«

»Sie auch. Jetzt haben wir beide unsere Pläne geändert. Ein Vorschlag zur Güte: Heute machen wir unseren Fernsehtag, und morgen geht’s hinaus in die freie Natur. Was halten Sie davon?«

»Ein ganz und gar hervorragender Vorschlag«, sagte sie mit einem breiten Lächeln, das Enrico sehr gefiel. Der Fernsehreporter, der jetzt eingeblendet wurde, berichtete, dass die neu gegründete Glaubenskirche, wie sie kurz genannt wurde, gerade im südlichen Italien viele Anhänger gefunden habe. Ein Großteil der neapolitanischen Geistlichen war zu ihr übergewechselt. Der Reporter führte das als Grund dafür an, dass die Amtseinführung des Gegenpapstes in Neapel stattfand.

Plötzlich wirkte der Reporter verwirrt, er hatte anscheinend über den Miniempfänger in seinem Ohr eine wichtige Nachricht erhalten. »Meine Damen und Herren, wie ich gerade erfahre, steht der erste öffentliche Auftritt des Gegenpapstes kurz bevor.

Wir schalten deshalb zum Hauptportal des Doms.«

Dort stand vor dem mittleren der drei Tore ein abtrünniger Kardinal in seiner purpurnen Amtstracht und verkündete:

» Habemus papam! — Wir haben einen Papst!«

Die drei Tore wurden geöffnet, und Hellebardenträger in alten Uniformen traten im Paradeschritt ins Freie, um auf dem Vorplatz Aufstellung zu nehmen.

»Das sieht ja aus wie eine Travestie der Schweizergarde«, platzte Enrico heraus.

»Es sind tatsächlich Schweizer, aus denen die Gegenkirche ihre Papstgarde gebildet hat«, erklärte Elena. »Die Abtrünnigen geben sich alle Mühe, authentischer zu wirken als die authentische Kirche.«

Den Hellebardieren folgten Musikanten in den gleichen, an die richtige Schweizergarde erinnernden Uniformen. Mit einem Trommelwirbel begleiteten sie den Auftritt des Gegenpapstes, der in seinem weißen Gewand aus dem Dunkel des mittleren Portals auftauchte und von großem Jubel empfangen wurde.

Offenbar waren viele Anhänger der Glaubenskirche zu dem großen Ereignis nach Neapel gekommen.

»Wir haben einen Papst«, sagte der abtrünnige Kardinal erneut. »Kardinal Tomás Salvati, der den Namen Lucius IV.

gewählt hat.«

»Ausgerechnet Lucius«, sagte Elena leise.

»Was ist dagegen einzuwenden?«, fragte Enrico.

»Nichts, es ist aus der Sicht des Gegenpapstes ein sehr sinnvoller Name. Der Lichte, der Klare. Das behauptet der Gegenpapst ja zu sein. Die klare Alternative zu dem aus seiner Sicht frevlerischen Papst.«

»Das alles kann ich nicht beurteilen. Aber rein äußerlich gibt dieser Lucius eine gute Figur ab.«

Der Gegenpapst war schlank und hoch gewachsen und für einen Papst noch relativ jung. Enrico hätte ihn als einen agilen Mittfünfziger bezeichnet. Lucius lächelte gewinnend in die Kameras und erteilte den Segen urbi et orbi. Bislang war es im Fernsehraum verhältnismäßig ruhig geblieben. Jetzt aber schieden sich die Geister in Befürworter und Gegner des Gegenpapstes.

»Der Stadt und dem Erdkreis, dass ich nicht lache!«, spottete einer der Gegner. »Dieser Lucius ist doch gar nicht in der Stadt Rom. Nur dort hat ein Papst seinen rechtmäßigen Sitz, aber nicht in Neapel!«

»Nur Geduld, Lucius wird schon noch nach Rom kommen!«, erwiderte jemand aus der anderen Ecke des Raums. So ging es eine ganze Weile hin und her, und der Streit überlagerte einen Teil von Lucius’ Ansprache. Elena rutschte in ihrem Sessel ganz weit nach vorn, um sich nichts von der Rede entgehen zu lassen.

Auch Enrico konzentrierte sich auf den Fernseher, aber er konnte die Worte des Gegenpapstes nicht hören. In seinem Kopf war wieder diese seltsame Stimme, die ihn rief.

Hörst du mich? Das ist gut. Du musst mir folgen, darfst nicht vor mir davonlaufen. Folge mir! Sosehr Enrico sich auch bemühte, er konnte die Stimme nicht aus seinem Kopf verdrängen. Wieder sah er die Traumbilder vor sich, spürte er die Hitze und den Schrecken. Erneut packte ihn Schwindel, und der ganze Raum mit dem Fernseher und den vielen Leuten verwandelte sich in ein Karussell, das sich drehte und drehte und drehte …

Hände packten ihn, stützten ihn auf dem Weg in sein Zimmer, und erleichtert sackte er auf das vom Zimmermädchen frisch gemachte Bett. Über ihm erschien ein besorgtes Gesicht mit grünen Augen und hohen Wangenknochen. Elena.

»Wie geht es Ihnen, Enrico? Soll ich einen Arzt rufen?«

»Nicht nötig, danke. Ich kenne diese Anfälle schon. In ein paar Minuten ist alles vorüber. Ich muss mich nur ausruhen.

Gehen Sie ruhig wieder zum Fernseher!«

»Und Sie?«

»Ich werde versuchen zu schlafen. Letzte Nacht habe ich sehr schlecht geschlafen. Vielleicht kann ich das jetzt nachholen.

Wollen wir uns heute Abend zum Essen treffen? Das Restaurant hier im Hotel soll sehr gut sein.«

»Einverstanden«, sagte Elena.

Als Enrico allein war, klangen seine Beklemmung und das Schwindelgefühl langsam ab. Er schämte sich für den jämmerlichen Eindruck, den er bei Elena und den anderen Gästen hinterlassen haben musste. Mehr noch aber wunderte er sich über den Vorfall. Sicher, er kannte diese Traumbilder, die seltsame Stimme in seinem Kopf und die Schwindelanfälle.

Aber bislang hatte ihn all dies immer nur nachts heimgesucht, im Schlaf. So schlimm ein Alptraum auch sein mochte, man konnte ihm immer entfliehen, indem man aufwachte. Wie aber sollte man vor Alpträumen fliehen, die in den Wachzustand einbrachen, in die Realität?

Obwohl Enrico sich hundemüde fühlte, legte er sich nicht zum Schlafen hin. Er hatte Angst vor dem Schlaf, einem Zustand, in dem er seinen Träumen erneut ausgeliefert war.

Stattdessen kramte er in seinem Koffer, bis er das Buch fand, das seine Mutter ihm auf dem Sterbebett gegeben hatte. Sie hatte nicht mehr viel sagen können, aber ihre wenigen, leisen, brüchigen Worte klangen ihm noch im Ohr: »Lies das, Enrico, und versteh!«

Es war ein altes Tagebuch, zweihundert Jahre alt, und der lederne Einband war an vielen Stellen brüchig. Enrico hatte arge Mühe, die altertümliche, teilweise schon arg verblichene Handschrift zu entziffern. Bisher hatte er nur die Eintragung auf der ersten Seite gelesen und herausgefunden, dass es sich um die Aufzeichnungen eines gewissen Fabius Lorenz Schreiber handelte, eines Vorfahren des Mannes, den Enrico fast sein ganzes Leben lang für seinen leiblichen Vater gehalten hatte.

Sosehr er auch darüber gegrübelt hatte, ihm war nicht klar geworden, warum seine Eltern ihm die Wahrheit verschwiegen hatten, so lange, fast bis zum Tod seiner Mutter. Vielleicht sollte er ihren Rat befolgen und tatsächlich diese alten Aufzeichnungen lesen, um zu verstehen. Sie handelten von einer Reise nach Oberitalien, also in die Gegend, in der er jetzt war.

Deshalb hatte Enrico das Buch in sein Gepäck gesteckt, bevor er in Hannover zum Flughafen fuhr.

Er machte es sich im Bett bequem, stopfte das Kissen in seinen Rücken und konzentrierte sich auf die altertümlichen, kunstvoll geschwungenen Buchstaben, die sich allmählich zu Silben und Worten formten …

Das Reisebuch des Fabius Lorenz Schreiber, verfasst

anlässlich seiner denkwürdigen Reise nach Oberitalien im