Rom
Der Quirinal, einer der sieben legendären Hügel Roms, lag unter einem dicken Wolkenschleier, als Alexander direkt vor dem Polizeihauptquartier einen Parkplatz fand. Er meldete sich beim Pförtner an und fuhr mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock, wo Stelvio Donatis Büro lag. Der Commissario saß hinter seinem Schreibtisch voller Papiere und blätterte, einen Zigarillo im Mundwinkel, durch einen dicken Terminplaner.
»Und ich dachte immer, ein Kriminalkommissar wartet im Trenchcoat und mit hochgeschlagenem Kragen an der Straßenecke, um den überraschten Verdächtigen mit einem genialen Bluff zum Geständnis zu bringen«, scherzte Alexander beim Eintreten.
»Die Situation habe ich auch schon erlebt, im Kino.« Donati breitete die Arme über dem Schreibtisch aus, als wolle er den Tisch mit sämtlichen Papieren zum Verkauf anbieten. »Na, Alexander, hast du nicht doch Interesse, in den Polizeidienst zu wechseln?«
»Nein danke.« Alexander legte eine Hand an die Stelle, wo seine Nieren noch ein wenig schmerzten. »Der Journalistenjob ist schon gefährlich genug.«
»Hast du gestern schlechte Erfahrungen gemacht?«
Alexander nickte, während er sich auf einen freien Stuhl setzte. »Mit einem Kampfmesser, einem Stein und zwei bloßen Fäusten. Alle bedrohten mich, und ich hätte ziemlich alt ausgesehen, wäre mir nicht Werner Schardt zu Hilfe gekommen.«
»Wer?«
»Der Gardeadjutant, der uns am letzten Freitag in den Vatikan gelassen hat«, antwortete Alexander und schilderte sein gestriges Abenteuer. »Tja, und jetzt spielt Werner für uns den Spitzel bei der Garde. Ich hoffe, es ist dir recht, dass ich ihn eingeweiht habe. Aber irgendjemandem müssen wir vertrauen.«
»Ich verlasse mich da auf dein Urteil. Außerdem stimmt es, wir müssen endlich mal vorankommen. Die beiden Priestermorde haben einiges Aufsehen erregt, und ich werde schon mit unangenehmen Fragen von ganz oben bedrängt, wann es denn erste Ermittlungsergebnisse gibt.«
»Und? Wann gibt es die?«
»Keine Ahnung. Ich wühle mich gerade durch Pfarrer Dottesios Papiere. Ich hatte keinen blassen Schimmer, mit was für einem Verwaltungskram der Hirte einer Kirchengemeinde beschäftigt ist. Mit fast mehr als die Polizei, und das will was heißen!«
»Irgendetwas von Belang dabei?«
»Kaum. Ich studiere gerade Dottesios Terminplaner von diesem Jahr. Hochzeiten, Taufen, Gemeinderatssitzungen, Beerdigungen, runde Geburtstage, christliche Gedenktage und und und. Wenn etwas von Belang ist, dann allenfalls dieser Eintrag vom sechzehnten.«
»Das war der Tag vor seiner Ermordung«, stellte Alexander fest.
»Ganz genau«, sagte Donati und drehte das in Leder gebundene Buch so, dass Alexander die Eintragungen lesen konnte. »Hier steht es, um vierzehn Uhr: ›V. Falk‹. Aber wer oder was ist ›V. Falk‹?«
Alexander überlegte, er hatte den Namen schon einmal gehört.
In Gedanken ging er die letzten Tage zurück, bis er beim Frei, tag war, im Vorzimmer des Kardinalpräfekten Renzo Lavagnino.
»Vanessa Falk!«, sagte er. »Das V steht für Vanessa.«
»Mir ist, als hätte ich den Namen schon mal gehört«, murmelte Donati.
»Aber Stelvio! Ein Mann in den besten Jahren und kein Auge für das schöne Geschlecht? Erinnerst du dich wirklich nicht an die Rothaarige, die in Kardinal Lavagninos Vorzimmer saß und reichlich düster dreinschaute, als wir vor ihr durchgelassen wurden?«
Donati schnippte mit Daumen und Mittelfinger. »Du hast Recht, die hieß Vanessa Falk! Die Dame scheint dich mächtig beeindruckt zu haben.«
Alexander grinste. »Wäre ich nicht schon vergeben, könnte mir ›die Dame‹ durchaus gefährlich werden – und ich ihr. Unter den gegebenen Umständen interessiert mich an ihr aber nur die Frage, was um alles in der Welt sie von Pfarrer Dottesio wollte.«
»Oder er von ihr.«
Alexander nickte. »Oder so.«
»Du hast auf Deutsch mit ihr gesprochen, nicht?«
»Korrekt.«
»Weißt du mehr über sie?«
»Bedaure. Wir haben uns ja nur kurz gesehen.«
»Dann hoffen wir mal, dass wir im Sekretariat des Kardinalpräfekten mehr über sie erfahren«, sagte Donati und griff zum Telefon. Das Gespräch war kurz und offenbar erfreulich. Mit zufriedenem Gesicht legte er den Hörer auf. »Die Dame ist Wissenschaftlerin und hat um die Erlaubnis gebeten, im vatikanischen Geheimarchiv zu recherchieren.«
»Und weiter?«
»Sie hat die Erlaubnis erhalten und sitzt zurzeit im Lesesaal der Bibliothek.« Donati stand auf, griff nach seiner Jacke und sagte mit breitem Grinsen: »Watson, rufen Sie uns eine Droschke!«
Die erste Aufregung um das Schisma hatte sich zwar gelegt, aber im Vatikan und rund um den Kirchenstaat war längst keine Ruhe eingekehrt. Noch immer waren auf den Straßen und Plätzen des Viertels mehr Kamerateams und Polizeiposten anzutreffen als unter normalen Umständen. Die Zahl der aufgebrachten Gläubigen auf dem Petersplatz war etwas zurückgegangen, woran das schlechter werdende Wetter vielleicht eine Mitschuld trug. Ganz so viele Überläufer zur Heiligen Kirche des Wahren Glaubens wie vor ein paar Tagen gab es auch nicht mehr. Nicht nur Kardinäle, Bischöfe und Priester hatten sich der neuen Glaubenskirche und ihrem Papst Lucius angeschlossen, manchmal hatten ganze Gemeinden, die ihrem Hirten besonders eng verbunden waren, die Seite gewechselt. In einem Zeitungskommentar, den Elena vor ihrer Reise in die Toskana geschrieben hatte, sprach sie von der größten Krise der Kirche seit ihrem Bestehen.
Das war sicher nicht übertrieben, dachte Alexander, als er seinen Peugeot am Petersplatz vorbei zur Porta Sant’ Anna lenkte. Die beiden Schweizer am Tor kannte er nicht und hielt sie für neue Gardisten, was in ihm unliebsame Erinnerungen an die gestrige Begegnung mit Martin Gloor und seinen Kameraden auslöste. Im Vorzimmer des Kardinalpräfekten wurden Alexander und Donati von dem Sekretär höflich begrüßt, der sie ohne Umschweife zu Kardinal Lavagnino ins Zimmer führte.
»Was ist das mit dieser deutschen Wissenschaftlerin?«, fragte Lavagnino nach der Begrüßung. »Was hat sie mit den Morden zu tun?«
»Ob und was, das müssen wir erst herausfinden«, antwortete Donati. »Bisher vermuten wir nur, dass sie sich mit Giovanni Dottesio getroffen hat, einen Tag vor seinem Tod. Können Sie uns etwas über die Frau erzählen?«
»Dr. Falk hat Theologie studiert und kommt aus München.
Sie hat um die Erlaubnis ersucht, Recherchen für eine wissenschaftliche Abhandlung in der Vatikanbibliothek durchzuführen.«
»Zu welchem Thema?«, erkundigte sich Alexander.
»Moment, das muss ich hier irgendwo haben.« Der Leiter der Glaubenskongregation blätterte in seinen Unterlagen. »Ja, hier ist es: ›Parapsychologische Phänomene und religiöse Erscheinungen vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs‹.
Darüber will sie ein Buch schreiben, sagt sie.«
»Wer liest denn so was?«, entfuhr es Donati. Der Kardinal lächelte nachsichtig. »Andere Wissenschaftler oder religiös Interessierte. Aber Dr. Falk kann Ihnen selbst wohl besser sagen, worum es in ihrer Arbeit geht. Wenn Sie möchten, führe ich Sie zu ihr.«
»Wir wollen Ihre Zeit nicht über Gebühr beanspruchen, Eminenz«, erwiderte Donati.
»Das tun Sie nicht. Auch ich bin sehr an der Klärung dieser Mordfälle interessiert, wie ich Ihnen bereits versicherte.«
»Am vergangen Freitag, ja«, sagte Donati. »Da sind wir Dr.
Falk kurz in Ihrem Vorzimmer begegnet. Hat sie an diesem Tag um die Erlaubnis nachgesucht, im Geheimarchiv zu recherchieren?«
»Sozusagen. Sie hatte den Antrag schon vorher gestellt und war am Freitag gekommen, um meine Antwort zu hören.«
»Ist es üblich, dass die Antragsteller persönlich bei Ihnen erscheinen, Eminenz?«
»Nein, Commissario. Aber Dr. Falk weilt ohnehin in Rom und hat ihre Angelegenheit als sehr dringend dargestellt, deshalb habe ich eingewilligt, sie persönlich zu empfangen.«
»Verstehe«, sagte Donati und erhob sich von dem hölzernen Besucherstuhl. »Wenn es Sie nicht stört, Eminenz, würden Signor Rosin und ich ganz gern allein mit Dr. Falk sprechen.
Ihre Anwesenheit könnte sie in der einen oder anderen Art befangen machen.«
»Ich habe nichts dagegen. Geben Sie mir einfach Bescheid, wenn es Neuigkeiten gibt!«
»Sie werden es als Erster erfahren, Eminenz«, versicherte Donati. Und Alexander ergänzte: »Zusammen mit Seiner Heiligkeit.«
Die Vatikanische Bibliothek lag im Gebäudekomplex der Vatikanischen Museen am anderen Ende des Kirchenstaats.
Dank Alexanders Ortskenntnis nahmen sie einen relativ kurzen Weg dorthin, der erst um den Petersdom herum und dann durch den schnurgeraden Stradone dei Giardini führte. Im Lesesaal fanden sie Dr. Falk über einen Stapel Bücher gebeugt. Sie machte sich eifrig Notizen und schien Donati und Alexander gar nicht zu bemerken. Vanessa Falk trug heute eine Brille, aber das tat in Alexanders Augen ihrer Attraktivität nicht den geringsten Abbruch.
Als Donati sie ansprach, zuckte sie erschrocken zusammen, und ihre grünen Augen blitzten die beiden Männer über den Rand der Brille an. »Ist das Ihr Hobby, nichts ahnende Frauen zu erschrecken, oder … Moment, kennen wir uns nicht?«
»Aus dem Vorzimmer von Kardinal Lavagnino, am Freitag«, bestätigte Alexander.
»Ja, stimmt, die beiden Herren mit dem schnellen Zutritt.«
»Nehmen Sie uns das immer noch übel?«, fragte Alexander.
Sie lächelte. »Nein. Was kann ich für Sie tun?«
Donati hielt ihr seinen Dienstausweis unter die schöne Nase.
»Kriminalpolizei. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen, die Ihr Verhältnis zu Pfarrer Giovanni Dottesio betreffen.«
»Ich hatte kein ›Verhältnis‹ zu Pfarrer Dottesio.«
»Aber Sie haben ihn gekannt?«
»Wir haben zweimal miteinander telefoniert, und letzte Woche am Mittwoch haben wir uns persönlich kennen gelernt.
Das einzige Mal übrigens, dass wir uns getroffen haben.«
»Ihm blieb ja auch nicht mehr viel Zeit zu weiteren persönlichen Treffen«, bemerkte Donati. Vanessa Falk nickte.
»Sie spielen auf seinen Tod an, nicht? Eine schreckliche Geschichte. Hat die Polizei schon nähere Hinweise auf den Täter?«
»Deswegen sind wir hier. Wir hoffen, dass Sie uns weiterhelfen können.«
Dr. Falk sah sich im Saal um und sagte noch eine Spur leiser als bisher: »Ich glaube, wir stören die anderen hier. Mein Magen knurrt schon seit einer halben Stunde. Wollen wir nicht irgendwo eine Kleinigkeit essen gehen? Rings um die Vatikanischen Museen gibt es doch wundervolle Pizzerias.«
»Wundervolle Touristenfallen«, sagte Alexander. »Aber ich kenne ein Lokal in der Nähe, wo es gute und preisgünstige Pizzas gibt.«
Das Lokal lag am Rand des Borgo Pio. Da es noch nicht Mittag war und der Regen zudem eine Menge Touristen verschreckte, fanden sie einen Tisch, an dem sie sich ganz ungestört unterhalten konnten.
Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, fragte Vanessa Falk: »Wieso sind Sie der Ansicht, dass ausgerechnet ich Ihnen bei Ihren Ermittlungen weiterhelfen könnte? Wo ich Pfarrer Dottesio doch kaum gekannt habe.«
»Dottesio hatte das Treffen mit Ihnen in seinem Terminplaner eingetragen, und wir konnten uns keinen Reim auf diesen Eintrag machen«, erklärte Donati. »Vielleicht sagen Sie uns ganz einfach, worum es dabei ging.«
»Ich hatte Dottesio um Hilfe gebeten, weil er früher in der Registratur des Geheimarchivs gearbeitet hat. Ich hoffte, er könnte mir bei meinen Forschungen helfen.«
»Wäre es nicht angebrachter gewesen, sich an den jetzigen Leiter der Registratur zu halten?«, fragte der Commissario. Dr.
Falk lächelte versonnen. »Nicht, wenn man Auskünfte haben möchte, die der Vatikan an Außenstehende nicht weitergibt. Ich hoffte, einen ehemaligen Vatikanmitarbeiter eher erweichen zu können.«
»Hatten Sie Erfolg bei Pfarrer Dottesio?«
»Leider nicht den geringsten. Es gibt tatsächlich noch katholische Geistliche, die ihre Pflichten sehr ernst nehmen.«
Sie zwinkerte verschwörerisch. »Einschließlich des Zölibats.« Die Getränke wurden serviert, und danach fragte Alexander: »Warum überhaupt der Kontakt zu Dottesio? Sie haben doch die Erlaubnis erhalten, im Geheimarchiv zu recherchieren.«
»Ja, aber selbst dann birgt das Geheimarchiv des Vatikans noch einige Geheimnisse, die der Forschung nicht zugänglich sind.«
Alexander beugte sich neugierig vor. »Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel die Weissagung von Fatima, mit der ich mich in der wissenschaftlichen Studie, die ich anfertige, beschäftige.
Ich weiß nicht, inwieweit Sie über meine Arbeit informiert sind?«
»Irgendetwas mit Parapsychologie und Religion im Ersten Weltkrieg«, meinte Donati und sah die dampfenden Pizzas an, die gerade gebracht wurden.
»Ganz recht. Ich beschäftige mich mit so genannten übernatürlichen Vorfällen, die von 1914 bis 1918 in Erscheinung getreten sind.«
»Wieso gerade die Zeit des Ersten Weltkriegs?«, wollte Alexander wissen.
»Weil in dieser Zeit besonders viele unerklärliche Phänomene und spirituelle Vorfälle wie Marienerscheinungen oder Weissagungen verzeichnet wurden. Nach meiner Theorie hängt das mit dem großen psychischen Druck zusammen, dem Menschen in Krisenzeiten ausgesetzt sind. In mystischen Erscheinungen, die ihnen ihre überforderte Psyche vorgaukelt, finden sie ein Ventil, eine zumindest zeitweilige Fluchtmöglichkeit aus der trostlosen Realität.«
»Sehr viel Psychologie«, sagte Donati, während er seine Pizza Funghi probierte. »Ich dachte, Sie haben Theologie studiert.«
»Ich habe beides studiert.«
»Und in welchem Bereich haben Sie promoviert?«
»In Theologie«, antwortete Dr. Falk und nahm einen Bissen von ihrer vegetarischen Pizza. »Und danach in Psychologie.«
Alexander grinste den staunenden Commissario kurz von der Seite an und fragte: »Was für übernatürliche Vorfälle sind das konkret, mit denen Sie sich beschäftigen, Dr. Falk?«
»Grob gesagt, kann man sie in zwei Teile gliedern, die weltlichen und die religiösen. Ein Beispiel für den weltlichen Bereich ist das angebliche Verschwinden von zweihundertsiebenundsechzig Soldaten eines britischen Regiments während der Schlacht um Gallipoli im Jahr 1915. Die Männer sind im Sturmlauf in einen Wald gerannt und dann nie wieder aufgetaucht. Jedenfalls ungefähr die Hälfte von ihnen.
Drei Jahre später entdeckte man die Leichen von einhundertzweiundzwanzig Soldaten auf einem türkischen Bauernhof, aber die restlichen blieben verschwunden.«
»Vielleicht hatten sie die Nase voll vom Krieg und haben sich abgesetzt«, schlug Donati vor. »Sie wären nicht die ersten Soldaten gewesen, die sich so weise entschieden haben.«
»Das könnte man annehmen, hätte sich der Vorfall mitten in Europa ereignet, unweit der Heimat jener Männer. Aber auf einer türkischen Halbinsel im Bereich von Mittelmeer und Schwarzem Meer?«
»Was denken Sie dann?«, entgegnete Donati. »Dass diese Männer von UFOs entführt wurden?«
Vanessa Falk sah ihn ernst an. »Es gibt einige UFO-Sichtungen gerade aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Einen Teil davon kann man problemlos auf die damals neuesten technischen Errungenschaften wie Flugzeuge und Luftschiffe zurückführen, die in diesem Krieg erstmals großflächig zum Einsatz kamen. Viele andere allerdings sind ungeklärt, und Mythen ranken sich um sie. Zielsetzung meiner Forschungsarbeit ist es nicht, das Unmögliche zu leisten und definitive Erklärungen für solche Vorkommnisse zu bieten. Ich will vielmehr die Muster herausarbeiten, nach denen solche Mythen entstehen, will aufzeigen, wie es überhaupt dazu kommt, dass die Menschen glauben, Außerirdischen oder Engeln gegenüberzustehen.«
»Mit den Engeln sind wir im religiösen Bereich«, stellte Alexander fest. »Sie erwähnten eben die Weissagung von Fatima, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich sei. Aber das stimmt doch nicht. Im Jahr 2000, anlässlich des Heiligen Jahres, ist auch der dritte und bislang unveröffentlichte Teil der Weissagung von der Kirche publiziert worden.«
»Für einen Polizisten sind Sie erstaunlich gutgläubig«, spottete die Wissenschaftlerin.
»Ich bin kein Polizist, sondern Journalist«, sagte Alexander und erläuterte kurz sein Verhältnis zu Commissario Donati. Dr.
Falk gestattete sich ein ironisches Lächeln. »Für einen Journalisten finde ich Ihre Gutgläubigkeit fast noch erstaunlicher, Signor Rosin.«
»Ich mache den Job erst ein Vierteljahr. Und warum, bitte, halten Sie mich für gutgläubig?«
»Weil Sie voraussetzen, dass der Vatikan die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit veröffentlicht hat.«
»Bestehen aus Ihrer Sicht ernsthafte Zweifel daran?«
»Als Wissenschaftlerin glaube ich nur das, was ich überprüfen kann. Wenn aber ein Text veröffentlicht wird, dessen Original weiterhin vor den Augen der Öffentlichkeit und der Wissenschaft verborgen im Geheimarchiv des Vatikans bewahrt wird, muss ich Zweifel an seiner Wahrheit beziehungsweise seiner Vollständigkeit haben. Alles andere wäre grob fahrlässig.«
»Ich bin nicht so schrecklich informiert über die Weissagung«, gestand Donati. »War es nicht so, dass drei Kindern die Muttergottes erschienen ist? In Spanien?«
»In Portugal«, berichtigte ihn Vanessa Falk. »Das Dorf Fatima liegt einhundertdreißig Kilometer nördlich von Lissabon.
Die drei Kinder, die Sie erwähnten, hüteten am Himmelfahrtstag des Jahres 1917 außerhalb des Ortes Schafe, als ihre Aufmerksamkeit von seltsamen Lichtern erregt wurde. Plötzlich stand eine Frau in einem weißen Umhang und mit einem funkelnden Rosenkranz in der Hand vor ihnen und eröffnete ihnen, sie komme vom Himmel. Die Frau erschien den Kindern noch mehrere Male. Bei diesen Gelegenheiten waren auch andere Menschen zugegen, die zwar die Lichter sahen, die Frau aber konnte nur von den drei Kindern wahrgenommen werden.«
»Ich habe mal etwas darüber gelesen«, erinnerte Donati sich.
»Die Weissagung dieser Frau, Muttergottes oder nicht, hatte etwas mit schrecklichen Kriegen zu tun, oder?«
»Die Weissagung gliedert sich in drei Teile«, erklärte Vanessa Falk. »Der erste Teil wird allgemein als Vision der Hölle gedeutet. Die Kinder sahen ein riesiges Feuermeer in den Tiefen der Erde, wo sie Gestalten erblickten, die sie für Teufel und sündhafte Seelen hielten. Der zweite Teil der Weissagung betrifft tatsächlich einen Krieg, der unter dem Pontifikat von Papst Pius XII. beginnen sollte, falls die Menschheit nicht aufhörte, Gott zu beleidigen. Ein unbekanntes Licht, das die Nacht erleuchtete, würden diesen Krieg ankündigen. Um die Bestrafung der Welt für ihre Missetaten zu verhindern, sollte Russland der Kirche geweiht werden. Andernfalls, so verkündete die Lichtgestalt, werde Russland seine Irrlehren über die Welt verbreiten und dabei Kriege und Kirchenverfolgungen heraufbeschwören.«
»Pius XII. war doch während des Zweiten Weltkriegs Papst«, warf Donati ein.
Dr. Falk nickte. »So ist es. Und ein seltsames rötliches Licht, das am fünfundzwanzigsten Januar 1938 die nördliche Hemisphäre erleuchtet hat, hält man für das vorausgesagte Kriegszeichen. Kurz darauf, im März, marschierten die deutschen Truppen in Österreich ein, und im Mai 1938 stattete Hitler seinem Bundesgenossen Mussolini einen großen Staatsbesuch ab, um die Einheit der so genannten Achse zu demonstrieren. Die Weichen für den Krieg waren gestellt.«
»Der Russland betreffende Teil der Weissagung ist auch nicht schwer zu entschlüsseln«, sagte Alexander. »Stalin und die unter ihm erfolgte Ausweitung der kommunistischen Einflusssphäre sprechen für sich.«
»So weit, so gut«, meinte Donati. »Aber was ist nun mit dem dritten Teil der Weissagung?«
»Der wurde vom Vatikan lange Zeit unter Verschluss gehalten, was natürlich die Spekulationen blühen ließ«, antwortete Vanessa Falk. »Bei uns in Deutschland erschien 1963
in der Stuttgarter Zeitschrift der angebliche Text der Prophezeiung, den ich aus heutiger Sicht für sehr interessant halte. Darin war von schlimmen Heimsuchungen für die Kirche die Rede. Kardinäle würden sich gegen Kardinäle wenden und Bischöfe gegen Bischöfe. Satan werde in ihrer Mitte marschieren, und in Rom werde es große Veränderungen geben.
Dunkelheit werde über der Kirche liegen und Terror die Welt erschüttern.«
Donati und Alexander starrten die Wissenschaftlerin verblüfft an. Alexander fand zuerst die Sprache wieder und sagte: »Das klingt wie eine Voraussage der aktuellen Kirchenspaltung!«