28
Das Warten machte mich wahnsinnig. Unter anderen Umstän den hätte ich vielleicht das Beste daraus gemacht und mich so oft wie möglich mit Bones hinter verschlossene Türen zurück gezogen. Allerdings hätte ich es überhaupt nicht prickelnd ge funden, jedes Mal erst einen misstrauischen Blick in die Runde werfen zu müssen, wenn wir aus dem Schlafzimmer kamen. Für Bones war die Situation noch schlimmer, das war mir klar. We nigstens war ich mit dem Verräter nicht befreundet, wer immer er auch sein mochte.
An diesem Morgen warf Bones beim Frühstück einen Köder aus. Während ich meinen Toast verdrückte, sagte er beiläufig zu Zero, er könnte eine Luftveränderung vertragen und hätte dabei an Reno gedacht. Alle unsere Verdächtigen waren nah ge nug, um es zu hören. Und da dachte ich, ich wäre aus dem Alter raus, in dem man Cluedo spielt. Ist es vielleicht Zero mit dem Handy in der Küche? Oder Doc mit dem Revolver im Salon?
Apropos Doc. Der benahm sich in letzter Zeit auch ziemlich seltsam. Mehrmals hintereinander hatten wir ihn in der Nähe des Korridors zu Tates Zelle herumlungern sehen. Dabei hatte er seine Waffen getragen, auf einer unangezündeten Zigaret te herumgekaut und alles mit Argusaugen beobachtet. Immer wenn Bones nicht da war, schien er hinter mir aufzutauchen, geräuschlos wie ein Schatten. Zeigte sich Bones, verzog er sich höflich, aber ohne Hast und blieb in der Nähe.
Mir war das unheimlich.
Bones gefiel sein Verhalten auch nicht, aber aus naheliegen den Gründen konfrontierte er Doc weder damit, noch ließ er sich sein Missfallen anmerken. Er lächelte einfach nur und sag te Sachen wie: »Oh, da bist du ja, mein Freund.« Das allerdings so heiter und gelassen, dass ich kurz davor war, ihm zu applau dieren. Vielleicht waren meine schauspielerischen Fähigkeiten in ein paar Jahrhunderten auch so gut, vorausgesetzt, ich lebte überhaupt so lange.
Tick Tock und Rattler, die wir ebenfalls mit Argwohn beäug ten, erledigten ihre Aufgaben hingegen so unbekümmert, dass ich sie im Geiste schon als weniger tatverdächtig einstufte. Ver mutlich spürten sie, wie unwohl ich mich in Docs Nähe fühl te, und versuchten, ihn manchmal von mir fernzuhalten, wenn Bones ausnahmsweise nicht an mir hing wie eine Klette. Ich gewöhnte mir an, Messer unter meiner Kleidung zu tragen, auch wenn das nicht sonderlich zu meiner Beruhigung beitrug.
So verdammt schnell, wie Doc mit seinen Revolvern war, wäre ich mit Kugeln vollgepumpt, bevor ich sie überhaupt hätte zie hen können.
Kurz nach seiner Bemerkung über Reno machte Bones sich auf, um seinen Morgendrink zu sich zu nehmen. Ich ging nach draußen auf die Veranda. Weil ihr Körper sich im Gegensatz zum menschlichen nicht selbst wärmen konnte, hatten Vampire gemeinhin eine Abneigung gegen klirrende Kälte. Mencheres hatte nicht aus Jux und Tollerei darauf bestanden, dass wir uns mitten im Dezember hier in den kanadischen Bergen versteck ten. Er wusste, dass die Untoten solche Orte für gewöhnlich mieden. Zu dieser Jahreszeit war Florida voller pulsloser Ur lauber. Die traten sich dort regelrecht gegenseitig tot.
Als ich zwischen den Bäumen links von mir eine einsame Gestalt erblickte, stieg daher leise Angst in mir auf. Die große, schlanke und todbringende Erscheinung, die ich gesehen hatte, war mir inzwischen vertraut. Etwas blitzte auf, und die Kälte, die sich in mir breitmachte, ließ die Außentemperatur im Vergleich dazu mild erscheinen. Es war das Blitzen von Sonne auf Metall.
Ohne offenkundige Hast drehte ich mich um und ging in Richtung Tür, wobei ich mich beherrschen musste, damit mein Puls nicht anfing zu rasen. So etwas klang in den Ohren ei nes Vampirs wie ein Angstschrei. Im Gehen dachte ich darüber nach, ob ich den Kugeln schnell genug würde ausweichen kön nen, um zu verhindern, dass sie lebenswichtige Organe trafen.
Allerdings würde Doc wohl auf meinen Kopf zielen. Warum sich mit etwas anderem aufhalten?
Bevor ich bei der Tür angekommen war, öffnete sie sich, und Vlad trat heraus, genau zwischen mich und den bevorstehen den Kugelhagel. Ich hatte mich wohl noch nie so gefreut, ihn zu sehen.
Im Geist schickte ich ihm ein Danke, ohne mich noch einmal umzusehen, auch wenn ich es am liebsten getan hätte.
»Eiskalt hier draußen«, sagte Vlad mit einem sinisteren Grin sen. »Du holst dir noch den Tod.«
»Halte dich von Doc fern, Kätzchen«, beschwor mich Bones, kaum dass wir in unserem Zimmer waren und ich ihm erzählt hatte, was passiert war.
»Du solltest ihn dir einfach schnappen und ausquetschen«, murmelte ich, wütend auf mich selbst, weil ich es Doc so leicht gemacht hatte.
»Na ja, es würde länger dauern, es aus ihm rauszuprügeln, als abzuwarten, bis er sich selbst verrät«, antwortete Bones mit betont drohendem Unterton. »Glaub mir, wenn es nach mir ginge ... Du weißt, was ich machen würde.«
Ja, das konnte ich mir gut vorstellen. Und falls mich mei ne Fantasie im Stich ließ, wäre er sicher auch zu einer kleinen Demonstration bereit, um mir auf die Sprünge zu helfen. Au ßerhalb unseres Zimmers spielte er stets den Unbekümmerten.
Drinnen allerdings fiel die Maske von ihm ab. Fast gereizt rieb er sich die Schläfen. Wie schwer es für mich auch sein mochte, für ihn war es auf jeden Fall noch viel schlimmer.
»Du sehnst dich bestimmt nach echter Ruhe«, sagte ich. »Ich meine, für dich ist es doch nie ganz still, oder? Entweder ma chen die Leute um dich herum einen Heidenlärm oder du musst dir all den Mist anhören, der in meinem Kopf vor sich geht.«
Er lächelte mit einem Anflug von Bitterkeit.
»Keine Sorge, Süße, vor nicht allzu langer Zeit hatte ich es richtig schön ruhig. Die Stille wird ziemlich überschätzt, wenn du mich fragst.«
Er setzte sich auf den Lehnstuhl neben dem Bett. Roter Samt, Mahagoniholz, Goldfäden, vielleicht stammte er tatsächlich aus der Zeit Ludwigs des Achtzehnten. Bones passte zu dem ele ganten Möbelstück.
Ich setzte mich auf den Boden und legte ihm den Kopf auf den Schoß. »Es ist nicht deine Schuld«, sagte ich leise, aber nicht nur in Gedanken, sodass er es auf beide Arten hören konnte.
Er seufzte. »Wessen Schuld ist es dann, Kätzchen?«
Was ich auch hatte sagen wollen, es war wie weggewischt, als Bones mich im Bruchteil eines Herzschlags auf den Teppich riss und sich auf mich warf. Allerdings nicht, weil ihn die Lei denschaft übermannt hatte. Plötzlich waren Schüsse zu hören.
Er zerrte mich ins Badezimmer, rief mir noch ein »Bleib hier«
zu und war verschwunden. Das alles geschah so schnell, dass ich erst mal wieder zu mir kommen musste, bevor ich, seine Anwei sung missachtend, hinter ihm herjagen konnte. Aber einfach auf dem Wannenrand sitzen und hoffen, dass alles gut ging, konnte ich wirklich nicht. Immerhin benutzte Doc ausschließ lich Silberkugeln. Die Situation war für Bones also nicht weni ger gefährlich als für mich.
Ich machte mir nicht die Mühe, die Treppe zu benutzen, son dern sprang die drei Stockwerke nach unten und folgte dann den vielen rennenden Gestalten. Wieder wurden Schüsse abge feuert, so schnell hintereinander, dass ich nicht mitzählen konn te. Begleitet wurden sie von einem Schrei, der mir erst recht Beine machte. Der Radau kam aus Tates Verließ. Er war es auch, der geschrien hatte.
Ich jagte an den anderen Vampiren vorbei den engen Gang entlang durch die zerstörte Tür und stürzte mich geradewegs auf den Mann, der das Messer in dem Augenblick erhob, als ich mit ihm zusammenstieß. Durch die Wucht des Aufpralls krach ten wir beide in einem Betonbrockenhagel gegen die Wand. Be vor ich mir erlaubte, genauer nachzudenken, rammte ich eins meiner Silbermesser in die davonhastende Gestalt. Ich hatte keine Zeit, mich zu fragen, was für einen Körperteil ich getrof fen hatte oder warum zum Teufel es nicht Doc war, denn der wurde gerade von Bones zurückgerissen. Ebenso hastig packte jemand meine Beine und zog mich aus dem neu entstandenen Loch in der Wand.
Voller Panik rief Täte immer wieder meinen Namen, und dazu hörte ich Vlads kühle Stimme.
»Du hast den Falschen erwischt, Bones, und Cat hat dir das Leben gerettet.«
»Kätzchen, alles in Ordnung mit dir?«
Als ich sah, wie Bones Doc gepackt hatte, blieb mir die Ant wort im Hals stecken. Vielleicht lag das aber auch daran, dass mir allmählich doch ein bisschen schwummerig wurde. Schließ lich hatte ich gerade mit dem Kopf eine massive Betonwand eingerannt. Ich schüttelte mir ein bisschen Blut von der Stirn und griff nach der Hand, die Spade mir entgegenstreckte, um mir aufzuhelfen. In dem kleinen Raum war alles voller Leute.
»Mir geht's gut«, presste ich hervor. »Er wollte dich erste chen.«
»Nein, Doc wollte noch einmal auf Rattler schießen, so war es doch, mein Freund?«
Bones' Tonfall war sanft und drohend, und sein Griff wurde fester. Ich schauderte und richtete mich instinktiv zu meiner vollen Größe auf. Was Doc nicht konnte; den hatte Bones näm lich in der Mitte zusammengefaltet, allerdings verkehrt herum.
»Bones!« Mein scharfer Tonfall ließ ihn aufsehen. »Rattler wollte dich erstechen.«
»Sie hat recht«, sagte Täte, der an seinen Fesseln zerrte. »Er hat auf Annette eingestochen. Ist alles okay mit ihr?«
»Ich habe sie«, hörte man Mencheres außerhalb der Zelle antworten. »Zero, hol einen Sterblichen. Sie braucht Blut. An nette, nicht bewegen. Gleich tut es weh ...«
Über den Lärm hinweg hörte ich ihre leise, schmerzverzerrte Stimme, abgehackt, aber gut vernehmbar. Und als sie allmählich deutlicher sprach, verstummte die Menge.
»... Crispin ... es war Rattler - ah! Gott, tut das weh! Doc hat auf ihn geschossen ... als er mich erstechen wollte ... Ist das verdammte Messer endlich draußen, Mencheres? Ich kann nicht hinsehen ...«
Bones ließ Doc los. Vlad hatte Rattler in den Schwitzkasten genommen, eine Hand an dem Silbermesser, das ich ihm in die Brust gestoßen hatte, ziemlich nah am Herzen übrigens. Bones bahnte sich einen Weg durch die dicht gedrängte Menge, bis er schließlich im Gang neben der zusammengesunkenen Annette niederkniete.
»Nicht bewegen, Liebes«, sagte er so sanft, als wollte er ein Kind beruhigen. »Da, spürst du meine Hand? Es ist fast vorbei, drück sie ganz fest ...«
Sehr vorsichtig zog Mencheres die martialisch anmutende Silberklinge aus Annettes Brust. Ein Laser hätte weniger prä zise gearbeitet. Warum er so behutsam zu Werke ging, war of fensichtlich - Annette war direkt ins Herz getroffen worden, und jede Seitwärtsbewegung hätte ihr Ende bedeutet. Ich hielt den Atem an, als der letzte Zentimeter aus ihrer Brust glitt, denn trotz allem, was zwischen uns gewesen war, bewunderte ich die Vampirin. Als das Messer draußen war und sie sich mit einem gequälten Stöhnen aufsetzte, atmete ich auf. Alle ande ren auch, wie es schien. Sogar die, die nicht aufs Atmen ange wiesen waren.
Als Zero zurückkam, hatte er einen benebelt dreinschauen den Teenager unter dem Arm. Bones trat beiseite, damit der junge Mann vor Annette abgelegt werden konnte, die gleich darauf ihren Mund an seine Kehle heftete. Mit einer Hand hielt sie immer noch die von Bones umfasst, der sie kurz an die Lip pen führte, bevor er sie losließ und mit grimmiger Entschlos senheit aufstand.
Auch Doc erhob sich, sein Rücken war inzwischen wieder heil. Er ging zu Annette, die sich gerade ein letztes Mal die Lip pen leckte und dann von dem Teenager abließ. Zero stützte ihn, als er davonwankte. Die hatten hier hoffentlich ausreichend Ei senpräparate vorrätig.
Doc reckte sich, und sein Rücken gab ein gut vernehmbares Knacken von sich. »So, jetzt sind wohl alle wieder eingeras tet. Und wehe, du spielst noch einmal Chiropraktiker mit mir, Bones. Ich bin schließlich der einzige ausgebildete Mediziner hier.«
»Du warst bloß Zahnarzt, und ein grottenschlechter noch dazu, habe ich gehört. Aber du bist zweifellos der schnellste Schütze, der mir je untergekommen ist, und ich werde dir den Rest meines Lebens dankbar sein.« Schließlich warf Bones Vlad einen Blick zu. »Zieh Rattler das Messer raus, sobald meine Frau weit genug von ihm weg ist.« An Spade gewandt, sagte er nur: »Mach Tate los.«
Dann hörte man eine Weile nur noch Kettengerassel, als Spade Tate die Fesseln abnahm. Als er endlich frei war, streckte Tate sich ganz ähnlich, wie Doc es getan hatte, allerdings sehr viel weniger elegant. Er hatte die grobe Behandlung offensicht lich nicht so gut weggesteckt.
»Ich habe doch gesagt, dass ich es nicht gewesen bin.«
»Ich weiß, dass du mich im Verdacht hattest«, wandte sich Doc an mich. »Tut mir leid, dass ich dir heute Morgen Angst eingejagt habe, aber Rattler ist hinter dir her ums Haus geschli chen. Als er gemerkt hat, dass ich ihn beobachte, ist er nervös geworden. Ich bin ihm nach hier unten gefolgt und habe gerade noch gesehen, wie er auf Annette eingestochen hat. Wenigstens konnten meine Kugeln ihren Tod verhindern.«
Bones legte Doc die Hand auf die Schulter. »Bring Annette von hier weg, und noch einmal vielen Dank.«
Als die beiden fort waren, wandte sich Bones kalt lächelnd an Vlad. »Dann wollen wir die Wand mal wieder besetzen, was?«
Der einstige Fürst reagierte mit einem ganz ähnlichen Lä cheln, und dann legten die beiden Rattler die Fesseln an, die eben noch Tate gehalten hatten.
»Du hast bestimmt Hunger«, sagte ich zu Tate, der sich gleich nach seiner Befreiung zu mir gesellt hatte. »Die sind hier gut eingedeckt, glaub mir. Lass dir von einem der anderen Vampire zeigen, wo's langgeht.«
Tate rieb sich die Arme, als könnte er immer noch spüren, wie sich ihm die Handschellen ins Fleisch gruben. »Das kann warten. Du blutest am Kopf.«
»Ich kümmere mich um sie.«
Als Rattler fixiert war, kam Bones zu mir und presste mir die Lippen auf den blutenden Scheitel.
»Du hättest dir den Kopf zerquetschen können, als du vor hin gegen die Wand gedonnert bist, und erschossen worden wärst du auch beinahe. Stures Frauenzimmer, wenigstens hast du nicht nur bildlich gesprochen einen Dickschädel. Habe ich mich schon bei dir dafür bedankt, dass du meine Anweisung, oben zu bleiben, so leichtsinnig missachtet hast?«
»Nein«, sagte ich, ein leises Lächeln auf den Lippen.
Bones schob mich ein Stück von sich weg und zog ein Messer aus der Hosentasche. »Ich hol's nach. Versprochen.«
Er schnitt sich die Handfläche auf und legte sie mir auf den Kopf. Das Kribbeln setzte beinahe sofort ein, als die Wunde heilte. Noch einmal streiften mich seine Lippen, dann ließ er mich los und wandte sich dem Vampir zu, der die ganze Auf regung verursacht hatte.
»Warum?«
In seinem Tonfall schwang die Androhung von Strafe genauso mit wie der Schmerz über den Verrat. Rattler senkte den Blick.
Spade rammte ihm den Ellenbogen mit solcher Wucht in den Brustkorb, dass sein halber Arm von der Bildfläche verschwand.
»Er hat dich was gefragt, Walter!«
Walter beziehungsweise Rattler keuchte vor Schmerz, und Bones legte Spade eine Hand auf die Schulter.
»Schon in Ordnung, Kumpel. Bevor wir gewalttätig werden, soll er erst mal die Chance bekommen zu gestehen.« An Rattler wandte er sich in viel schärferem Tonfall.
»Du weißt, wie das laufen wird. Wie tapfer du dich auch ein schätzt, jeder gibt irgendwann auf. Du hast also die Wahl: Ent weder erzählst du uns haarklein, wann, wie und warum du dich auf Patras Seite geschlagen hast - dann hast du wenigstens noch all deine Körperteile und deine Haut am Leib ... Oder wir rei ßen sie dir so schnell ab, wie sie nachwachsen können.«
Die düstere Drohung ließ ausnahmsweise kein Mitgefühl in mir aufkommen. Ich musste mich sogar schwer zusammenrei ßen, damit ich mich nicht selbst auf Rattler stürzte und ihn ge nüsslich in Stücke riss.
»Ging es dir ums Geld?«, zischte ich. »Die unermesslichen Reichtümer, die Patra versprochen hat? Warst du einfach nur habgierig?«
»Geld interessiert mich nicht.« Ob er es zu mir oder Bones gesagt hatte, wusste ich nicht; Rattler sah uns beide an. »Was ich getan habe, geschah aus Liebe.«
»Aus Liebe?«, fragte ich. »Du liebst Patra? Dann bist du nicht nur ein mieser Verräter, sondern auch noch ein Vollidiot.«
»Nicht Patra. Vivienne.«
»Patra hat Vivienne umgebracht, warum solltest du ...«, warf Bones ein, dann unterbrach er sich. Er schüttelte den Kopf und stieß dabei einen Laut aus, der so eiskalt klang, dass er sich schon nicht mehr wie ein Lachen anhörte.
»Ah, jetzt verstehe ich. All die Zeit über also? Angeblich ist Vivienne doch schon vor Monaten ermordet worden. Ich habe dich bedauert, du Mistkerl, und du hast die ganze Zeit über nur auf deine Chance gewartet!«
Da dämmerte es mir. Mir kam der Abend in den Sinn, an dem Mencheres' Haus von Selbstmordattentätern in die Luft gejagt worden war, die dadurch ihre Lieben schützen wollten. Patra hatte Rattler anscheinend auf die gleiche Art dazu gebracht, Bones in den Rücken zu fallen. Ihre Bosheit kannte wirklich keine Grenzen. Falls möglich, war mein Hass auf sie gerade noch größer geworden.
»Woher willst du überhaupt wissen, dass Vivienne noch am Leben ist?«, fragte Bones.
Rattler sah auf einmal noch gequälter drein als in dem Au genblick, in dem Spade ihm den Ellenbogen in den Brustkorb gerammt hatte.
»Weil Patra mich jede Woche anruft... und mich ihre Schreie hören lässt.«
Bones fing an, hektisch auf und ab zu laufen.
»Von mir weiß sie nur das mit dem Zug«, fuhr Rattler fort.
»Mit den Anschlägen auf deine Frau habe ich nichts zu tun.
Vorhin wollte ich Cat in meine Gewalt bringen und dir drohen, sie umzubringen, wenn du dich nicht vor meinen Augen tötest.
Aber dann hat Doc mich gesehen, und ich wusste, dass er mich erschießen würde, bevor ich sie in meine Gewalt bringen kann.
Also bin ich zu der einzigen anderen Person gegangen, für die die Gevatterin Tod sich noch in Gefahr bringen würde, aber ich habe versagt. Ich weiß, dass du mich zur Abschreckung für an dere bestrafen wirst, aber um eins bitte ich dich ...«
»Du wagst es, mich um etwas zu bitten?« Bones' Tonfall war schroff.
»Ich bitte nicht um Nachsicht. Ich weiß, was mit mir gesche hen wird, aber zuvor ... Bones, mein Herr, bitte ich dich um Vergebung.«
Bones blieb stehen. Es herrschte gespannte Stille. Dann trat er vor Rattler.
»1867 sind wir Freunde geworden. Fünf Jahre später habe ich dich verwandelt. Und was habe ich dir gesagt, was das schlimms te Verbrechen darstellt, das ein Vampir begehen kann?«
Rattler sah weg. »Den eigenen Meister zu verraten.«
»Genau. Du hast in den Augen deines Volkes das schlimmste aller Verbrechen begangen, und doch bittest du mich um Ver gebung. Weißt du, was ich dazu zu sagen habe, Walter Tannen baum?«
Völlig reglos stand Bones da, und das hätte mir vielleicht eine Warnung sein sollen. Womöglich lag es an meinem Zusam menstoß mit der Betonwand, dass ich so träge war. Vielleicht hatte Bones sich aber auch tatsächlich so schnell nach vorn ge stürzt, selbst an Vlad und Spade vorbei, die noch versucht hat ten, sich ihm in den Weg zu stellen.
»Da hast du sie.«
Das Messer, mit dem er sich vorhin die Haut aufgeritzt hat te, war noch in seiner Hand. Mit einer mörderischen Drehung stieß er es Rattler ins Herz, kaum dass er die Worte ausgespro chen hatte.
Während des Sekundenbruchteils, in dem die Blicke der beiden Vampire sich trafen, ich vergeblich an Bones' Arm zerr te und die Umstehenden in Protestgeschrei ausbrachen, hätte ich schwören können, dass Rattler ein Lächeln auf den Lippen hatte. Es verschwand, als er starb. Sein Körper sank in sich zu sammen, und seine Haut fing vor meinen Augen an zu ver dorren.
»Bones, warum?«
Nun stellte ich ihm die verzweifelte Frage. Mit einem Ruck drehte er sich zu mir um.
»Weil ich an seiner Stelle das Gleiche getan hätte, deshalb habe ich ihm vergeben.«
In der kurzen betretenen Stille, die dann eintrat, meldete ich mich noch einmal zu Wort. »Aber ich habe ihm nicht ver geben.«
Nur der Schmerz in Bones' Stimme hielt mich davon ab, ihn anzuschreien. Stattdessen sprach ich, genau wie er es in solchen Augenblicken tat, besonders leise.
»Ich habe dieses Miststück lachen hören, als sie mir die Nach richt von deinem Tod überbrachte. Und als sie mir gesagt hat, es wäre meine eigene Schuld, habe ich ihr Gesicht gesehen. Bin ich es nicht wert, gerächt zu werden? Zählt mein Schmerz nichts im Vergleich zu Rattlers? Was du getan hast, war vielleicht barmherzig, aber es war falsch, Bones. Du hast mich das ge lehrt. Du hättest Rattler nicht umbringen sollen, egal wie sehr du mit ihm fühlen konntest. Ich habe dir Max überlassen. Und du hättest mir Rattler lassen sollen.«
Und damit verließ ich den kleinen Raum durch die Gasse, die die anderen Vampire für mich freimachten.
2 9
Weil Bones vorgegeben hatte, noch geschwächt zu sein, bevor wir wussten, wer der Verräter war, hatte er nicht viel Zeit bei dem Gefangenen verbracht, zu dessen Festsetzung er während des Überfalls am Bahnhof selbst beigetragen hatte. Anubus war Patras Stellvertreter, und den hatten wir in dem ganzen Durch einander nach Bones' Rückkehr fast vernachlässigt, obwohl ich nicht glaubte, dass er etwas dagegen einzuwenden hatte. Er wirkte sogar beinahe ein bisschen überrascht über unseren Be such.
Im Grunde sah ich ihn zum ersten Mal. Meine Begegnung mit ihm, als Ian, Rodney und Spade ohne Bones eingetroffen waren, konnte man schließlich nicht mitrechnen. Anubus war groß für einen Ägypter, fast einen Meter neunzig, und sein lan ges glattes Haar und die markanten Gesichtszüge ließen seine Herkunft klar erkennen. Er wirkte auch gar nicht wie ein Ge fangener, dem eine schwere Strafe bevorsteht. Genau genom men machte er sogar einen recht entspannten Eindruck, obwohl er angekettet an einer Stahlwand hing.
Er musterte mich mit finsterem Blick, genau wie ich ihn.
Eiskalt. So etwas wie Beunruhigung sah ich erst in seinen Au gen aufflackern, als ich beiseitetrat, damit er sehen konnte, wer hinter mir stand.
»Ah, hallo Anubus. Ist bestimmt fünfzig Jahre her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Du erinnerst dich sicher noch. Damals hatte ich gerade dieses kleine Flittchen kennenge lernt, das mich in sein Landhaus abgeschleppt und sich dann im Bett als solcher Flop erwiesen hat, dass ich beinahe keinen hoch gekriegt hätte. Kann mich nicht erinnern, dass sie sich unter mir auch nur einmal bewegt hätte. Stundenlang ging das so, nicht wahr? Mann, wenn in der Matratze ein Loch von halbwegs pas sender Größe gewesen wäre, hätte ich meinen Schwanz wohl lieber da reingesteckt ...«
Der Rest des Satzes ging in wütendem Gebrüll unter. Ich schaffte es, ein unbewegtes Gesicht zu machen. Bones hatte mich vorgewarnt. Er wollte Anubus provozieren, der Patra für eine Gottheit hielt. Ich hatte trotzdem dabei sein wollen. An scheinend war es ihm ernst gewesen, als er gesagt hatte, er wür de sich recht derb ausdrücken müssen, um den anderen aus der Reserve zu locken.
»Schweig, Abschaum! Ich kann nicht glauben, dass du immer noch am Leben bist, aber das wird nicht mehr lange so bleiben.
Das Höllenfeuer ist noch zu gut für dich.«
»Oho«, gluckste Bones. »Hat sie dich also immer noch nicht rangelassen? Ist auch besser so, glaub mir, mein Freund. Mit telmäßig ist noch die schmeichelhafteste Umschreibung des sen, was ich über den Sex mit dieser Frau sagen kann. Da fragt man sich doch, was Mencheres dazu getrieben hat, eine solche Tranfunzel zu heiraten, aber Liebe macht ja bekanntlich blind.
Und enthaltsam. Mir ging's zumindest so, wenn das meine An getraute wäre. Aber vor dir steht ausnahmsweise mal eine rich tige Frau, und das in jeder erdenklichen Hinsicht.« Bones schob mich nach vorn. »Die ist im Schlaf leidenschaftlicher als dieser ägyptische Tonklumpen, den du verehrst. Patra weiß, dass sie gegen sie blass aussieht. Ist das nicht auch der Grund, warum sie ihr so hartnäckig nach dem Leben trachtet? Weil sie weiß, dass niemand sie mehr anbeten wird, der je einen Blick auf Cat geworfen hat?«
»Ihr werdet alle sterben«, knurrte Anubus. »Patra ist die Reinkarnation von Isis und die Göttin dieser Welt. Sie herrscht seit über zweitausend Jahren und lässt sich nicht von einem Ge schmeiß zu Fall bringen, das geringer ist als Heuschrecken!«
»Du brauchst einen Fick, Kumpel«, bemerkte Bones jovial.
»In all den Jahren durftest du dir nicht mal einen runterholen, stimmt's? Patra will, dass ihre Leibwächter rein bleiben, nicht wahr? Deine Eier sind doch schon so dick, dass es dir den Ver stand vernebelt hat. Wann hast du das letzte Mal eine nackte Frau auch nur angesehen, hmm? Vor oder nach der Bekehrung Konstantins?«
Solche Verbalattacken waren normalerweise nicht Bones'
Stil, aber er fand, dass es einen Versuch wert war. Ian, Rod ney und Spade hatten es bereits mit anderen Mitteln versucht, keins davon angenehm, aber entweder wusste Anubus wirklich nichts oder er wollte keine brauchbaren Informationen heraus rücken. Bones' Schmähreden über den Sex mit Patra wirkten auf Anubus ungefähr so, als würde er sich vor dem Papst damit brüsten, die Jungfrau Maria genagelt zu haben. Patra war zwar alles andere als jungfräulich, aber falls sie außer der berüch tigten Affäre mit Bones noch andere Abenteuer gehabt hatte, war sie äußerst diskret vorgegangen. Und es war allgemein be kannt, dass sie überall verbreitete, sie würde von einer Göttin abstammen. Viele ihrer Leute verehrten sie auch wie eine. Anu bus zum Beispiel.
»Kannst du es vor dir sehen? Meine Hände auf ihrem Kör per. Mmmm, an wie vielen Morgen hast du dir das vorgestellt, hast wachgelegen und mich dafür umbringen wollen? Und jetzt musst du herausfinden, dass ich mich mit Patra bestenfalls ...
gelangweilt habe.«
Junge, jetzt hatten wir aber Anubus' ganze Aufmerksamkeit.
Seine Augen leuchteten grün und hasserfüllt. »Du bist es nicht einmal wert, ihr geopfert zu werden. Patra hat sich dir nur hin gegeben, um dich dem Tod zu weihen, aber nicht einmal in die ser Hinsicht konnte Mencheres sie zufriedenstellen. Sie hätte mir damals einfach erlauben sollen, dich umzubringen, wie ich es von Anfang an vorhatte.«
Bones lachte erneut auf, diesmal aber leiser.
»Glaubst du, sie war die Erste, die mit mir ins Bett gestiegen ist, weil sie dachte, es wäre mein Verhängnis? Beileibe nicht.
Das haben schon ganz andere vor ihr und nach ihr versucht.
Ich muss dich also enttäuschen. Daran liegt es nicht, dass sie so schlecht in der Kiste war. Es liegt daran, dass sie eine Schwind lerin ist, eine Betrügerin, und ihrer ganzen Lügen - und Kla motten - beraubt, war sie nichts als eine verzogene Rotzgöre mit übersteigertem Ego, das von Idioten wie dir auch noch be stärkt wird.«
»Das Grab wird dich holen«, brüllte Anubus, der nun end gültig die Fassung verloren hatte. »Sie hat es herbeigerufen, und es wird dich finden und mit unermesslichem Hunger ver schlingen ...«
Dann unterbrach er sich. Ich musste Bones' Lächeln nicht se hen, ich konnte es spüren. Er richtete sich zu voller Größe auf und war plötzlich gar nicht mehr zum Scherzen aufgelegt. Anu bus machte ein nichtssagendes Gesicht, aber es war zu spät. Du hast's vermasselt, Freundchen, und das weißt du auch.
»Also, Kumpel«, sagte Bones, als er zu Anubus ging und ihm mit trügerischer Leichtigkeit den Zeigefinger aufs Gesicht legte.
»Was soll das heißen?«
»Sollen wir den Champagner aufmachen oder warten, bis wir die Jungs damit vollspritzen können?«, fragte Denise.
Wir saßen im Wohnzimmer, einem pompös ausgestatteten Raum in Erdtönen voller antiker, vergoldeter Möbelstücke. Der massige Tisch sah aus, als wäre er aus einem einzigen riesigen Baum geschnitten worden. Darauf stand ein Festessen, auf mas sivem Messing- und Silbergeschirr angerichtet, aber kaum je mand aß. Bevor ich auf Denises Frage hin den Kopf hob, hatte ich mit den Fingern auf die polierte Tischplatte getrommelt.
»Hmm? Oh, lass ruhig die Korken knallen. Die werden noch ein Weilchen brauchen.«
Ich war aus zwei Gründen hier und nicht bei den Männern.
Erstens wollte ich Denise und meine Mutter am Silvesterabend nicht mit lauter Unbekannten allein lassen, und zweitens wuss te ich, dass Bones mich unten nicht dabeihaben wollte, auch wenn er es nicht ausdrücklich gesagt hatte. Jetzt, wo ihnen klar war, dass Anubus etwas verschwieg, würden die Vampire auf jeden Fall härtere Bandagen anlegen. Ich fand es schrecklich, dass Bones noch immer glaubte, es würde meine Gefühle zu ihm ändern, wenn ich ihn so sah, aber ich wollte ihn auch nicht ablenken. Nicht, wenn Leben davon abhingen, wie schnell er die Informationen aus Anubus herausbekam.
Denise goss den Champagner ein. »Das Zeug ist super«, freu te sie sich. »Mann, hier gibt's ja echt alles. Hast du den ganzen Brandy gesehen? Wenn wir noch lange hierbleiben, brauche ich bald eine neue Leber!«
Ihre Fröhlichkeit brachte mich zum Lächeln, aber es war auch ein bisschen Wehmut dabei. Nein, sie hatte keine Ahnung, was da unten gerade Entsetzliches vor sich ging. Wenn du dich länger unter Vampiren aufhältst, dachte ich, wirst du's noch lernen. Bei denen gibt es nicht nur Vergnügen und edle Spirituosen.
»Hoch die Tassen«, sagte ich allerdings nur. »Bis Mitternacht sind es noch zwei Stunden, da können wir ruhig schon mal an fangen zu feiern. Das Letzte, was ich von Zero gehört habe, war, dass sie Fortschritte machen, was immer das auch bedeu ten mag.«
Während Bones, Mencheres, Spade, Vlad, Rondey und Ian unten waren, hielten Tick Tock und Zero bei uns Wache. Mann, wir würden uns nicht mal die Zehen stoßen können, ohne dass uns einer von ihnen zu Hilfe geeilt käme.
»Es schneit nicht mehr so stark«, bemerkte meine Mutter.
»Wenigstens kann man jetzt wieder was erkennen, wenn man aus dem Fenster sieht. Ich kann es kaum erwarten, von diesem öden Flecken wegzukommen. Und nur, damit ihr's wisst: Lange reicht meine Geduld nicht mehr.«
Oh-oh, jetzt geht das wieder los. Manche Wünsche gingen eben auch am Neujahrsabend nicht in Erfüllung.
Ich seufzte. »Wenn dir die Gesellschaft dieser Vampire und Ghule nicht behagt, stell dir einfach vor, wie schlimm du es fän dest, wenn es Patras Vampire und Ghule wären.«
»Ich bin kein Kind mehr, Catherine«, erwiderte sie in ge wohnt scharfem Tonfall. »Also sprich nicht so mit mir.«
Die Anspannung der letzten Tage forderte nun auch von mir ihren Tribut, obwohl gerade ich mich hätte zusammenreißen müssen.
»Du bist kein Kind mehr? Das ist ja mal was ganz Neues.
Schließlich hast du dich den größten Teil meines Lebens über wie eines aufgeführt.«
Auf meine Erwiderung hin fiel Denise die Kinnlade herunter.
Sie kippte ihren Champagner und lehnte sich auf dem Stuhl zu rück, um besser sehen zu können.
»Jetzt reicht's«, verkündete meine Mutter wütend. »Ich gehe!«
Wieso konnte ich nicht einfach lernen, die Klappe zu halten ?
Resigniert ging ich ihr hinterher, als sie auf die Haustür zumar schierte und sich ihren Mantel schnappte.
»Mom, sei vernünftig. Draußen hat es fünfzehn Grad minus, du holst dir den Tod. Wo willst du überhaupt hin?«
»Ich habe es so satt«, zischte sie. »Geh dahin, mach dies, sei still, dumme kleine Sterbliche, das ist doch Kinderkram! Ich lasse mich nicht mehr einfach so rumschubsen, nur damit du zufrieden bist.«
Während ihrer Schimpftirade hatte sie sich an mir vorbei gedrängt und war geradewegs auf den Rasen hinausmarschiert.
Ich hielt sie nicht auf, teils, weil ich nicht handgreiflich werden wollte, teils, damit wir unseren Zwist wenigstens halbwegs un ter uns ausmachen konnten. Ein solcher Familienstreit gehörte einfach nicht ins Wohnzimmer.
»Du siehst das alles ganz falsch, Mom«, sagte ich, während ich versuchte, den beißenden Wind zu ignorieren. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, einen Mantel anzuziehen, und die Kälte drang mir sofort durch Sweatshirt und Hose. »Nervst du manch mal? Ja. Will ich ohne dich leben? Natürlich nicht. Und jetzt lass uns endlich wieder reingehen, hier draußen ist es eiskalt...«
»Ich gehe jetzt, bis ich ein Haus, eine Straße, eine Ortschaft oder etwas Ähnliches erreiche«, zischte sie, nicht im Mindes ten besänftigt.
Wir waren bei den Bäumen angekommen, der Schnee glänzte silbrig im Mondlicht. Mein Atem kam in Wölkchen. »Hier gibt es im Umkreis von mindestens dreißig Kilometern gar nichts«, sagte ich in ruhigem Tonfall. »Glaub mir, ich weiß es. Menche res hat diesen Ort nicht ohne Grund ausgesucht. Du kannst un möglich laufen, nach ein paar Kilometern wärst du unterkühlt.
Wir sind hier am Arsch der Welt, ehrlich, hier ist absolut tote Hose ...«
Und dann hielt ich inne, wie erstarrt, aber nicht vor Kälte. Der eiserne Griff, mit dem ich meine Mutter gepackt hatte, hinderte sie daran, auch nur einen weiteren Schritt zu tun. Sie wollte mir gerade wieder die Hölle heißmachen, da bemerkte sie meinen Gesichtsausdruck.
»Was ist?«, flüsterte sie.
»Pst.«
Obwohl meine Stimme so leise gewesen war, dass sie für sie vermutlich kaum zu verstehen war, klang sie in meinen Ohren viel zu laut. Andererseits war unser Gekeife auch nicht zu über hören gewesen. Genauso wenig wie die schweren Schritte in der Ferne, die durch die nächtliche Stille hallten.
Meine Augen wurden schmal, als ich all meine Energie in Richtung des Geräuschs aussandte. Kein Herzschlag, keine At mung, aber wie ein Kraftfeld fühlte es sich auch nicht an. Wer immer es war, näherte sich langsam. Und es waren viele. Wa rum spürte ich sie nicht? Vampire oder Ghule hatten immer eine Aura, aber da war nichts. Was kam da auf uns zu?
Ohne mich näher darum zu kümmern, schnappte ich mir meine Mutter und rannte aufs Haus zu. Zero und Tick Tock standen schon in der Tür. Meine Hast hatte ihnen angekündigt, dass es Ärger gab.
»Alle in den Keller, sofort«, rief ich und drängte meine Mut ter zur Bekräftigung schon mal in die richtige Richtung. »Da kommt irgendwas.«
»Was?«, fragte Denise und wollte von ihrem Stuhl aufsprin gen.
Randy begriff schneller, was Sache war, ging zu ihr und zog sie hoch. Zero wies auf die Treppe, respektvoll, aber mit Nach druck.
»Hier entlang bitte.«
Als meine Mutter daraufhin nicht reagierte, warf ich ihr ei nen bösen Blick zu. »Du gehst mit ihnen, auch wenn ich dich dazu k. o. schlagen muss.«
Sie murmelte etwas, folgte den beiden aber, die Schultern steif.
»Tick Tock«, keuchte ich, während ich noch immer auf die Geräusche von draußen lauschte. »Hol Bones und die anderen.«
Zwei Minuten später erschien Bones, dicht gefolgt von Spade und Rodney. Ich ignorierte die Blutspritzer, mit denen er be deckt war, und deutete aufs Fenster.
»Hörst du das? Ich spüre nichts, aber es sind viele. Sie kom men direkt hierher.«
Bones starrte angestrengt in die Dunkelheit, grüne Fleckchen erschienen in seinen Augen. Einige Augenblicke später stieß er ein Schnauben aus.
»Ich spüre auch nichts, Kätzchen, aber bei dem Getrampel könnte man meinen, es wäre eine Elefantenherde. Was es auch ist, Menschen sind es auf keinen Fall. Charles?«
»Ich habe keine Ahnung, Crispin. Das rollt mir die Fußnägel auf.«
Rodney warf Spade einen düsteren Blick zu. »Geht mir ge nauso, Kumpel.«
»Also gut.« Bones ließ die Fingerknöchel knacken, seine Au gen waren jetzt ganz grün. »Dann machen wir uns mal zur Begrüßung bereit. Wir brauchen Messer, Schwerter, Armbrüs te, Pistolen ... und zwar schnell. Ein paar von denen scheinen vorausgeeilt zu sein. Bald werden wir wissen, wer uns da be suchen kommt.«
»Warum hauen wir nicht einfach ab?« fragte ich auf dem Weg zur Waffenkammer.
»Weil wir nicht genug Helikopter haben, um alle auszuflie gen, und wenn wir mit dem Auto fahren, geraten wir vielleicht in einen Hinterhalt. Wir werden uns gegen sie zur Wehr setzen, Süße. Herausfinden, mit wem wir es zu tun haben. Für alle Fälle halten wir trotzdem den Hubschrauber bereit. Dann kannst du zur Not deine Mutter, Denise und Randy in Sicherheit bringen.«
»Ich lasse dich nicht im Stich«, sagte ich »Egal, was passiert.«
Bones gab einen beruhigenden Laut von sich, während er schon dabei war, sich kiloweise Silber umzuschnallen. »Kätz chen, die Menschen sind leichte Beute. Wir anderen können ...«
»Nein, verdammt«, sagte ich und fuhr dann in dem gleichen vernünftigen Tonfall fort, den er benutzt hatte. »Juan kann auch einen Helikopter fliegen, und ich bin stärker als er, also wäre es am besten, wenn er das übernimmt, falls sie ausgeflogen wer den müssen. Und wenn du auch nur in Erwägung ziehst, mich zu überlisten, indem du mich zum Beispiel bewusstlos schlägst und in den Heli steckst, fange ich wieder an, Vollzeit zu arbei ten. Und dann nehme ich Aufträge an, die dein Haar noch wei ßer werden lassen, als es schon ist.«
Bones gab mir einen schnellen, leidenschaftlichen Kuss.
»Verdammtes Weibsstück. Hast wohl selbst ein bisschen Ge dankenlesen gelernt, was? Also schön, schnall dir die Waffen um und zieh dir was anderes an. Dein Sweatshirt ist zu weit, darin kannst du dich nicht bewegen.«
Ich zog es einfach aus, sodass ich nur noch in BH, Joggingho se und Turnschuhen dastand. Es war keine Zeit mehr, um nach oben zu laufen und ein geeigneteres Oberteil zu holen. Mit ei ner Geschwindigkeit, wie nur viel Übung sie mit sich bringt, fing ich an, mir die Bein-, Hüft- und Armscheiden mit den Sil bermessern anzulegen.
»Du hörst mir überhaupt nicht zu, oder?«, fragte mich Bones, als er mir ein Schwert reichte. »Nimm auch eines von denen mit, wir wissen schließlich nicht, mit wem wir es zu tun be kommen, und Silber funktioniert vielleicht nicht. Du wirst zum Eiszapfen, wenn du so rausgehst, Kätzchen.«
»Sollte das im Augenblick nicht dein geringstes Problem sein?« Ich sagte es mit einem Auflachen, das eher angestrengt als heiter klang. »Jetzt kann ich mich wenigstens ungehindert bewegen, das ist die Hauptsache.«
»Stimmt.« Bones zog sich ebenfalls das Sweatshirt aus und warf es zu meinem auf den Boden. Die meisten Vampire und Ghule taten es ihm gleich. Nackte Oberkörper glänzten im Licht des Kronleuchters, als alle ihre Waffen anlegten. Die ganze Zeit über hörte man die Fußtritte näher kommen.
Mencheres kam nach unten. Ich sah ihn erst jetzt, aber er hatte offenbar auch mitbekommen, was da im Gange war, denn er war praktisch völlig mit Waffen zugepflastert.
»Los raus, wir verteilen uns ums Grundstück und ziehen uns wenn nötig weiter zurück«, sagte Bones. »Zero, ruf die Sterb lichen zusammen und bring sie in die Arrestzellen, da sind sie am sichersten. Wenn sich jemand weigert, dürft ihr gern hand greiflich werden, insbesondere bei ihrer Mutter.«
Ich hätte zu einer scharfen Erwiderung ansetzen können, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. In geordneten Reihen gingen wir nach draußen und bezogen ums Haus herum Stellung. Jetzt verständigten wir uns nur noch mit Handzei chen, alles lief zügig ab. Jeder Militärführer hätte sich glücklich geschätzt, eine solche Truppe befehligen zu dürfen. Anderer seits hatten die Untoten ja auch schon einige Feldherren über lebt, und Übung macht bekanntlich den Meister.
Der eisige Wind ließ mich frösteln. Ja, es war bitterkalt, aber das würde mich nicht umbringen, und über Unterkühlung brauchte ich mir auch keine Sorgen zu machen. Immerhin war ich eine Halbvampirin, sodass mein Blut gar nicht gefrieren konnte. Was mich allerdings nicht davon abhielt, mir zu wün schen, ich könnte der Kälte genauso unbekümmert trotzen wie meine Gefährten. Vampire und Ghule mochten kaltes Wetter zwar nicht, aber ich war die Einzige, deren Zähne klapperten.
»Alles in Ordnung, Süße?«, erkundigte sich Bones, ohne da bei den Blick von den Bäumen vor sich abzuwenden. Wir stan den jetzt direkt vor dem Haus.
Ich presste die Kiefer aufeinander, damit das Geklapper auf hörte. »Das gibt sich, wenn wir erst angefangen haben.«
Neben mir nahm ich eine Bewegung wahr. Tate drängte Spade beiseite und trat wortlos neben mich.
»Lass ihn«, mischte sich Bones ein, als Spade ihn wieder zu rückdrängen wollte. »Er ist hier in seinem Element.«
Was Tate darauf erwidern wollte, würde ich nie erfahren. Er hatte schon den Mund geöffnet... da traten die ersten der mys teriösen Gestalten zwischen den Bäumen hervor, sodass ihm das Wort auf den Lippen erstarb. Bones erstarrte, wurde kalt und hart wie die Eiszapfen am Dach. Spade stieß ein leises Zischen aus, und irgendjemand murmelte etwas, das sich wie ein Gebet anhörte.
»Allmächtiger«, flüsterte ich, und der kalte Schauder, der mich jetzt packte, war von ganz anderer Art. »Was ist das?«
Mencheres antwortete. Er war hinter uns getreten und hatte die Stimme erhoben, damit man sie trotz des plötzlichen Knur rens der Kreatur hören konnte, die in diesem Augenblick mit schnappenden Kiefern unter schauderhaften, halb verrotteten Lippen auf uns zuzurennen begann.
»Das«, antwortete er, »ist das Grab.«
3 o
In alten Filmen wirkten Zombies fast lächerlich. Die neueren trafen sie schon besser - die schauderhaft aus dem Kopf quel lenden Augen und das in verwesenden Lappen herabhängende Fleisch, die ganze Gestalt vom Hunger gebeugt. Einige waren in einem fortgeschritteneren Verwesungszustand als andere, blan ke Knochen stachen hervor, während sie sich vorwärtsschlepp ten. Nur in einem Punkt waren alle gleich; sie waren ausgehun gert und wir die Nahrung.
Als der Erste aufgetaucht war, hatte Mencheres genauso per plex gewirkt wie wir. Dann allerdings begann er, auf eine für ihn so untypische Weise zu fluchen, dass ich für einen Augenblick gar nicht mehr auf die näher rückende Horde achtete.
»In meinen kränksten Alpträumen wäre ich nicht auf die Idee gekommen, dass sie etwas Derartiges tun würde«, schloss er.
»Sie wird ihre Strafe bekommen, vielleicht nicht durch mich oder irgendjemanden sonst hier, aber eines Tages wird sie für ihre Tat geradestehen müssen.«
Das hörte sich gar nicht gut an. Genau genommen sogar wie eine Grabinschrift.
Bones packte Mencheres bei der Schulter und rüttelte ihn.
»Wir haben keine Zeit, uns Gedanken über das Ausmaß von Patras Boshaftigkeit zu machen. Diese Kreaturen da«, er wies mit einem knappen Kopfnicken auf die Zombies in etwa zehn Meter Entfernung, »kann man die umbringen?«
Der glasige Ausdruck verschwand aus Mencheres' Augen. Er legte seine Hand auf die von Bones.
»Nein.«
Sein Tonfall war völlig ungerührt. Während er Bones' Hand drückte, schien er sich innerlich zu wappnen. Schließlich ließ er sie wieder los.
»Man kann sie nicht umbringen«, fuhr er fort und zog mit einem zischenden Geräusch das Schwert aus der Scheide. »Sie fühlen weder Schmerz, noch brauchen sie Augen, um uns zu sehen. Patras Wille allein treibt sie an.«
Während er vortrat, befahl er allen anderen zurückzublei ben. Die Kreaturen waren nun fast bei ihm angekommen; sie bewegten sich in einer Art hoppelndem Trab. Mencheres' Nähe schien sie anzustacheln. Man hörte ihr scheußliches Grunzen.
»Sie wurden aus dem Grab geholt«, fuhr Mencheres fort, während er behänd einer der schwerfälligen Gestalten auswich.
»Und sie werden erst wieder dorthin zurückkehren, wenn der Zauber aufgehoben ist. Wir können ihnen nicht entkommen.
Im Umkreis von hundert Kilometern würden sich Gräber auf tun, und die Toten würden uns nachjagen und alles töten, was sich ihnen in den Weg stellt.«
Mencheres schwang sein Schwert so schnell, dass ich den Bewegungen nicht folgen konnte. Ungläubig sah ich, wie die Monster sich fast genauso schnell auf ihn stürzten. Eben waren sie doch noch so schwerfällig gewesen. Oh, Scheiße!
Mencheres hackte munter weiter. Körperteile flogen in alle Richtungen, als sein Schwert die Zombies traf. »Wir müssen sie auf Abstand halten und nach dem Gegenstand suchen, den Patra für ihren Zauber benutzt hat«, sagte er, noch immer in diesem nüchternen Tonfall. »Es muss ein persönlicher Gegen stand von ihr sein; vielleicht hat einer der Gefangenen ihn da beigehabt, oder Rattler hat ihn versteckt. Wenn wir den Gegen stand finden und zerstören, sterben sie. Bis dahin werden sie keine Ruhe finden, egal welchen Schaden wir ihnen zufügen.«
Was er damit gemeint hatte, wurde noch im selben Augen blick mit aller Grausamkeit offenbar. Heilige Muttergottes, so gar die Körperteile, die Mencheres den Zombies abgeschlagen hatte, kamen weiter auf uns zugekrochen. Ein geköpfter Körper wankte in unsere Richtung während der abgetrennte Kopf sich wie besessen in Mencheres' Fuß verbiss, bis der ihn wegkickte.
Igitt, war das gruselig. Zerhackt waren die Kreaturen dann aber wenigstens nicht mehr ganz so gefährlich. Vielleicht hatten wir ja doch noch eine Chance.
»Drei Leute sollen das Haus durchsuchen«, rief Mencheres, während er herumwirbelte, um noch ein paar der heranrücken den Gestalten aufzuhalten. »Es muss etwas Kleines sein, etwas, das leicht zu übersehen ist. Es muss gründlich zerstört werden.«
»Tick Tock, Annette, Zero, ihr geht«, befahl Bones mit einem Kopfrucken, während er seinerseits das Schwert zog.
Tick Tock und Zero leisteten dem Befehl unverzüglich Folge, nur Annette zögerte. Ich sah, wie sie stehen blieb und Bones an sah, bevor auch sie im Haus verschwand. Auch ich richtete den Blick auf Bones, aus demselben Grund wie Annette. Ich glaubte, ich würde ihn zum letzten Mal sehen.
»Wenn ich einen Augenblick geglaubt hätte, du würdest auf mich hören, wärst du jetzt da drinnen«, sagte er, und es klang fast wie ein Seufzer. »Aber ich weiß ja, dass ich gegen dich kei ne Chance habe. Ich liebe dich, Kätzchen. Nichts auf oder unter der Erde kann daran etwas ändern.«
Ich hatte keine Zeit, etwas darauf zu erwidern, aber das war auch nicht nötig. Jede Faser meines Körpers schrie ihm meine Liebe entgegen, als er sich mit lauter Stimme an die vier Dut zend Leute wandte, die jetzt ebenfalls ihre Schwerter zogen.
»Patra hat das Grab auf uns gehetzt, meine Freunde. Lasst uns die Geste mit gleicher Herzlichkeit erwidern!«
Mit gemessenen, tödlich entschlossenen Schritten trat Bones einer Horde der schaurigen Angreifer entgegen. Vier Dutzend gegen Hunderte und Aberhunderte? Ich wusste, wie unsere Chancen standen, genau wie alle anderen, die jetzt zu ihren Schwertern griffen und wie ich mit ihm vorrückten.
»Wir sind nicht hilflos.« Bones' Stimme hatte noch nie be herrschter geklungen. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gesagt, sein Tonfall wäre heiter. »Oft im Leben waren wir machtlos, aber nicht heute Nacht. Wir können uns frei ent scheiden, wie wir sterben wollen. Im Leben wart ihr vielleicht ohnmächtig, aber jetzt seid ihr Herr des Augenblicks. Ich jeden falls werde dieser Beleidigung auf eine Art und Weise begeg nen, dass alle, die heute nicht an meiner Seite waren, es bitter bereuen werden!«
Am Ende stieß Bones ein Gebrüll aus, in das alle anderen einfielen. Bebend vor Rachdurst standen wir in der vormit ternächtlichen Kälte, und plötzlich fror ich nicht mehr. Auch meine Angst war verflogen. Ich hatte dem Tod schon zuvor ins Auge geblickt, verdammt, ich hatte ihn sogar gesucht. Heute Nacht hatte ich Seite an Seite mit Bones die Chance, jede falsche Entscheidung, jeden Augenblick der Feigheit und alle schmerz vollen Jahre aus meinem Leben zu tilgen. Nur das Jetzt zählte.
In diesem Augenblick wurde ich, was ich schon immer hatte sein wollen. Stark. Furchtlos. Loyal. Jemand, auf den sogar ich stolz sein konnte.
Die erste Kreatur sprang mich an, und ich zog mein Schwert, mein Haar flog, während ich auswich und auf das Wesen ein hackte. Ein grüner Schein traf sein deformiertes Gesicht, und da lachte ich, wild und glücklich.
»Siehst du das? Meine Augen leuchten, und ich werde dir zeigen, was ich sonst noch drauf habe ...«
Meinen ersten Kampf auf Leben und Tod hatte ich im Alter von sechzehn Jahren ausgestanden. Damals hatte ich nichts als ein silbernes Kreuz mit einem schmalen Dolch daran gehabt und nicht einmal gewusst, ob man damit überhaupt einen Vampir umbringen konnte. Aber es hatte funktioniert, und seither war das Töten meine Mission. Seit diesem ersten Kampf hatte ich Hunderte überstanden, aber keiner, wirklich keiner war mit die sem hier zu vergleichen.
Gott sei Dank war es draußen dunkel. Durch ihre leuchtend grünen Augen konnte man die Vampire von den Zombies un terscheiden, die immer noch in Scharen aus den Wäldern ge strömt kamen. Die Ghule waren etwas schwerer zu erkennen; man macht sich ja keine Vorstellung, wie schlecht man sieht, wenn einem andauernd Blut, Fleisch und verrottende Körper teile vor den Augen herumfliegen. Und die abgehackten Kör perteile waren überall; widerliche Fleischstücke krochen über den Boden, abgetrennte Finger hefteten sich einem wie Blut egel an den Körper oder hingen noch an den Monstern, die aus den Wäldern geströmt kamen.
Ich war im Blutrausch, hackte auf alles ein, was in meiner Nähe war. Inzwischen war ich innerlich völlig abgestumpft, so dass ich meine Verletzungen gar nicht bemerkte. Überall hatte ich Bisswunden - an Armen, Schultern, Beinen. Ich war mir nicht mal mehr sicher, ob ich überhaupt noch Kleider am Leib trug; ich sah nur noch rot, sowohl vor Wut als auch wegen des Blutes, das ich ständig in den Augen hatte. Auch dabei halfen mir die grün leuchtenden Augen meiner Gefährten. Wenn ich sie sah, wusste ich, dass ich nicht allein war. Denn allein kam ich mir vor, zwischen all diesen wahnsinnigen Zombies und den Schreien, die zur konstanten Geräuschkulisse geworden waren, während ich wieder und wieder das Schwert auf die unbesieg bar scheinende Armee der lebenden Toten niedersausen ließ.
Vlad hatte uns gegenüber einen Vorteil. Wenn er genug Zeit hatte, konnte er sich einen Zombie schnappen und ihn in Flam men aufgehen lassen. Die Betreffenden rannten dann herum wie makabre Fackeln, jedenfalls das, was von ihnen übrig war.
Damit der Trick funktionierte, musste er sie allerdings eine Weile festhalten, was bedeutete, dass seine Art der Verteidi gung nicht die effektivste war.
Ab und zu allerdings sah ich aus dem Augenwinkel ein oran gefarbenes Flackern, hörte entsetzliches Geschrei und wuss te, dass Vlad noch lebte. Weit wichtiger allerdings war mir die Stimme mit dem britischen Akzent, die ich von Zeit zu Zeit über die Geräusche von Tod und Verderben hinweg hören konnte, wie sie uns anfeuerte und die Kreaturen verhöhnte.
Auch Bones lebte noch. Wer sonst noch in meiner Nähe war, wusste ich nicht.
»Rückzug, Rückzug!«, brüllte jemand. Die Kreatur vor mir wurde plötzlich in der Mitte durchgehackt. Zwischen den bei den Hälften kam Bones zum Vorschein. Beinahe hätte ich ihn nicht erkannt, und er musste mein Schwert packen, um zu ver hindern, dass ich ihm den Kopf abschlug.
»Komm mit«, knurrte er. Er zerrte an meinem Arm und ließ ihn dann wild fluchend sinken. »Verdammte Scheiße, warum hast du nicht um Hilfe gerufen?«
Ich wusste nicht, was er meinte, und diskutieren hätte nichts genützt, weil er mich schon mit einem Arm an seine Brust ge drückt hatte und mit dem anderen verbissen auf alles einschlug, was sich uns in den Weg stellte. Meine Füße baumelten knapp über dem Boden und schwangen bei jedem Schritt, als er mich mit sich schleppte und ich Übelkeit in mir aufsteigen spürte.
Schließlich lichtete sich der Nebel um mich herum ein wenig, und als wir ins Haus kamen und schnurstracks in den Keller hinabstiegen, konnte ich endlich wieder klar sehen.
Drinnen war alles kurz und klein geschlagen. Ich war ver wirrt, schließlich hatte der Kampf draußen stattgefunden, aber dann dämmerte es mir. Da Annette, Tick Tock und Zero nicht gewusst hatten, wonach sie suchen sollten, hatten sie einfach al les dem Erdboden gleichgemacht. Selbst die Möbel hatten sie zu Kleinholz verarbeitet. Die noch lebenden Vampire und Ghule hasteten in den Trümmern umher und wehrten die unablässig eindringenden Zombies ab. Das Haus verfügte über drei un terirdische Stockwerke mit nur zwei Eingängen. Definitiv ein Vorteil. Der Nachteil war, dass wir darin eingeschlossen waren.
Bones übergab mich an Tate, der zwischen den blutüber strömten Gestalten aufgetaucht war. »Bring sie ins dritte Un tergeschoss«, befahl Bones knapp und machte kehrt. »Ich muss unseren Rückzug decken.«
»Bones, nein!«, protestierte ich, aber weder er noch Tate kümmerten sich darum. Tate hatte sich bereits umgedreht und rannte mit mir die Treppe hinunter. Er drängte sich an allen möglichen Leuten vorbei und murmelte dabei immer wieder etwas, das sich anhörte wie »dein Arm, dein Arm«.
Als wir schließlich durch eine Tür kamen, starrten uns da hinter mehrere ängstliche Gesichter an. Die Kids, dachte ich. Sie haben Angst. In der Werbebroschüre für angehende Blutspen der stand wohl nichts von derartigen Vorkommnissen.
»Macht Platz«, herrschte Tate die jungen Leute an, und sein Aussehen oder sein Tonfall brachte sie dazu, umgehend zu ge horchen. Sie drängten sich aneinander, während Tate mich auf den Fußboden legte und ein Messer hervorzog.
»Lass mich, ich muss wieder raus ...«, rief ich und verstumm te dann. Oh. Kein Wunder, dass die beiden mich so angesehen hatten.
»Gib mir ein bisschen Blut von dir, wenn du's verschmerzen kannst«, sagte ich, während ich meinen Arm in Augenschein nahm. Besser gesagt das, was noch davon übrig war. Immer der linke, dachte der nüchterne Teil von mir finster. Erst sengt Max ihn mir an, und jetzt das. Wenn er reden könnte, würde er mir wohl einige Vorhaltungen machen.
Ein paar Bänder hatten zäh durchgehalten, aber der größte Teil war bis auf den Knochen abgenagt. Jetzt sehe ich selbst aus wie ein Zombie, dachte ich. Manche hatten Gliedmaßen, die meinem Arm durchaus nicht unähnlich waren.
»Die Heilung wird wehtun«, krächzte Tate, während er sein Messer und meine Lippen an seine Kehle presste. »Nimm einen ordentlichen Schluck. Ich kann wieder auftanken.«
Unter normalen Umständen hätte ich nicht von ihm getrun ken, nicht den kleinsten Schluck, aber die Umstände waren eben nicht normal. Es kam nur darauf an, dass ich wieder kämpfen konnte, und zwar schnell, weil draußen so bald keine Pause an stehen würde. Das sagte ich mir auch vor, während ich die Zäh ne in Tates Hals schlug und immer wieder zubiss, um die Wun de offen zu halten.
Tate stieß einen Laut aus, den ich lieber nicht näher ergrün den wollte. Ich hatte in dieser Hinsicht so meine Erfahrungen gesammelt. Kühles Blut füllte meinen Mund, und ich schluck te, saugte stärker und spürte, wie stechender Schmerz sich in meinem Arm ausbreitete. Tate drückte mich fester an sich, bis schließlich mein ganzer Oberkörper an ihn gepresst war. Er leg te den Kopf in den Nacken, als ich stärker saugte. Beim vierten Schluck waren die Schmerzen in meinem Arm noch unerträg lich, beim sechsten waren sie schon in ein beißendes Kribbeln übergegangen. Beim neunten schließlich hatte ich schon wieder so viel Kraft, dass ich ihn keuchend mit beiden Händen von mir stoßen konnte, als die Gier nach mehr in mir aufstieg.
Tates Augen waren grün, als ich ihn ansah, sodass ich noch weiter zurückwich. Sein Gesichtsausdruck sagte mir deutlich, dass er nicht vom Kampf so erregt war.
Ich sprang auf und beobachtete voller Staunen, wie die Haut an meinem Arm nachwuchs und sich wie in einem Science Fiction-Film wieder zusammenfügte.
Durch das frische Blut in meinem Kreislauf fühlte ich mich wilder, weniger menschlich. Bei der Menge, die ich verloren hatte, hatte ich wohl auch nur noch vierzig Prozent mensch liches Blut in mir.
»Na los, Soldat«, sagte ich. »Wir müssen noch ein paar Mons ter umlegen.«
Ohne mich noch einmal umzusehen, rannte ich die Treppe hinauf auf die wilden Kampfgeräusche zu.
Die Vampire hatten sich im Eingangsbereich vor der Treppe versammelt, wo sie eine Art untotes Spalier bildeten. Jedes der kreischenden Monster, das versuchte, sich mit Klauen und Zäh nen einen Weg nach drinnen zu bahnen, wurde von allen Seiten angegangen. Bisher funktionierte die Strategie, aber ein Blick genügte, und mir wurde die bittere Wahrheit bewusst. Die Bar rikade würde nicht lange genug halten. Immer mehr der Krea turen kamen herbeigeströmt.
Ich war gerade losgerannt, um den Vampiren beizustehen, als ich mit Annette zusammenstieß. Sie hatte mich nicht gesehen, als sie hektisch und mit wildem Blick eine kleine Glasfigur an die Wand geschmettert hatte. Die Figur ging zwar zu Bruch, aber das war auch schon alles, woraufhin sich Annette mit ei nem wütenden und verzweifelten Aufschrei sofort wieder auf die Suche machte.
»Annette!« Ich musste sie schütteln, um ihre Aufmerksam keit auf mich zu lenken. »Wo sind Tick Tock und Zero?«
Sie machte eine ausladende Handbewegung. »Tick Tock ist am anderen Ende des Hauses, und Zero ist auf dem Weg zu Anubus, um zu versuchen, die Antwort aus ihm herauszuprü geln, aber ich habe gesehen, wie sechs dieser ... Wesen ihm nachgerannt sind, sie sind hier drinnen! Ich habe Zero schreien hören, und dann bin ich hierher gelaufen. Oh Cat, ich finde es einfach nicht, ich finde es einfach nicht!«
Was es war, brauchte ich nicht zu fragen. Hier war inzwi schen alles kurz und klein geschlagen.
»Gib nicht auf, Annette, wir werden es schon finden. Wir drängen sie zurück ...«
Sie versetzte mir einen Stoß. »Du hast ja keine Ahnung. Es ist schon in den Nachrichten! Gräber leeren sich, Kreaturen kommen hervorgekrochen, heißt es, und alle wollen hierher.
Die Gegend ist abgelegen, aber so abgelegen auch wieder nicht.
Kapierst du es denn nicht? Patra braucht sie gar nicht alle, um uns zu töten; schon sehr bald wird sie genau wissen, wo wir sind, weil all diese Zombies es ihr zeigen wie ein Wegweiser!«
Scheiße! Hörte das denn nie auf? Unsere Lage war also nicht mehr nur schlimm, sondern hoffnungslos. Überraschenderwei se war ich vor allem wütend. Dieses Miststück verdiente den Sieg nicht. Wir waren vielleicht keine Unschuldslämmer, aber sie hatte weit mehr auf dem Kerbholz.
Hinter mir brach Radau los. Er kam aus dem Keller. Schreie, immer mehr Schreie. Und bröckelnde Wände. Das ist es, dach te ich. Das Ende. Nein, ich konnte es nicht aufhalten, aber ich konnte frei entscheiden, wie ich untergehen wollte.
Mit neuer Entschlossenheit hob ich das Schwert. »Such wei ter, Annette, was auch passiert. Ich stürze mich in den Kampf.
Wenn diese Schlampe uns haben will, muss sie uns schon selbst holen.«
»In den Keller, Leute, Bewegung!«, hörte ich einen gebrüll ten Befehl. Zwei Dutzend unserer verbliebenen Kämpfer zogen sich zurück. Ich kämpfte mich vor und sah Bones und Menche res an der Spitze der allmählich vom Eingang zurückweichen-den Truppe. Die beiden wirkten fast wie Kampfmaschinen, wie sie in atemberaubender Geschwindigkeit umherwirbelten und voll entfesselter Rohheit auf unsere Feinde einhieben. Ich hatte immer schon vermutet, dass Mencheres ein tödlicher Gegner war, wenn er erst seine verfeinerten Manieren ablegte. Und ich hatte mich durchaus nicht geirrt. Er war ein fleischgewordener Alptraum.
Vlad packte mich und drängte mich zurück. Seine Hände wa ren erhitzt, nicht kalt, wie sie es bei den eisigen Temperaturen draußen eigentlich hätten sein sollen.
»Los weg hier, die anderen kommen bald nach«, brüllte er und drängte mich unter vollem Körpereinsatz weiter.
»Nein, ich will da hoch!«, schrie ich, während ich versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien.
»Bones ist der Anführer seiner Sippe, er gehört zu seinen Leuten«, war seine Antwort. »Aber du kommst mit mir.«
Es krachte ordentlich, als seine Faust mein Schädeldach traf.
Ich sah zwar Sternchen, duckte mich aber trotzdem unter sei nem Arm hindurch und wollte nach vorn preschen, was er ver hinderte, indem er mir die Hand ins Haar krallte.
Plötzlich schien alles um mich herum in Zeitlupe abzulaufen.
Vlad riss mich zurück, meine Beine glitten unter mir weg, über all den anderen Lärm hinweg hörte ich schwach ein boshaftes, zufriedenes Lachen.
Ich habe gesehen, wie sechs dieser Wesen ihm nachgerannt sind, sie sind hier drinnen!, hatte Annette gesagt. Ich habe ihn schreien hören ...
Sie hatte von Zero gesprochen, der zu Anubus' Zelle unter wegs gewesen war. Von Zero hatte man seither nichts gehört, aber Anubus war es, von dem das boshafte Lachen kam. Anubus.
An eine Wand gekettet, umgeben von einem halben Dutzend mordgieriger Bestien und doch völlig unversehrt? Wie war das möglich? Mir fiel nur eine Antwort ein.
»Vlad, musst du jemanden anfassen, um ihn in Flammen auf gehen zu lassen?«
Meine Frage verblüffte ihn so sehr, dass er aufhörte, an mir zu zerren. »Der Betreffende muss zumindest vorher schon ein mal mit mir in Kontakt gekommen sein, und es dauert länger.
Es ist schwierig, jemanden zu entzünden, den ich nicht direkt berühren kann.«
»Schwierig«, keuchte ich. »Aber nicht unmöglich?«
»Nein, nicht unmöglich, warum?«
»Es ist Anubus.« Unter dem Adrenalinschub hob ich die Stimme. »Der Gegenstand, den Patra benutzt hat, ist gar kein Gegenstand. Kapierst du es denn nicht? Anubus ist das ultima tive Trojanische Pferd, und Bones hat sich beinahe umbringen lassen, um ihn zu schnappen! Sie wollte Bones schon bei dem Anschlag erledigen - und den Rest von uns später. Wir haben Anubus schließlich selbst hergebracht. Patra war klar, dass wir ihn nicht umbringen würden. Wer macht schon seine wert vollste Geisel kalt?«
Ein Lächeln erschien auf Vlads Gesicht. Er ließ mich los und hielt die ausgebreiteten Arme über den Kopf. Um uns herum tobte das Chaos.
»Wenn ich zu ihm gehe, werde ich niedergemetzelt, bevor ich da bin, aber mal sehen, ob sich das auch anders erledigen lässt.«
»Mach schon«, antwortete ich, hektisch bemüht, ihm den Rücken freizuhalten. »Beeindrucke mich!«
Seine Hände begannen zu glühen, nicht rot, sondern blau. Sie tauchten die Eingangshalle in ein unheimliches blauviolettes Licht. Funken stoben hervor und gingen auf mein Haar nieder, während ich weiter auf die näher rückenden Zombies einhieb.
Jemand schrie auf, schrill und gequält. Als ich die Stimme erkannte, schenkte ich Vlad ein kaltes Lächeln.
»Du hast seine Aufmerksamkeit erregt, Dracula.«
»Er ist stark«, antwortete Vlad in angestrengtem Tonfall. Sei ne Hände standen jetzt voll in Flammen. »Und muss ich dich schon wieder daran erinnern, wie ich heiße?«
»Du arrogante ...«, ich stieß einem geifernden Zombie das Schwert in den Magen, drehte es und versuchte mit aller Macht, ihn in der Mitte zu spalten, »... mediengeile ...«, es wollte nicht klappen, die Kreatur krallte sich an der Schwertklinge fest, und, mein Gott, die Viecher waren echt zäh, »... aufgedonnerte alte Fledermaus ...« Krach! Da hatte es auch schon meinen Schä del gegen die Wand gedonnert. Wenn er noch heil war, wäre es ein Wunder gewesen. »Worauf wartest du noch? Bist du nicht der König aller Schreckgestalten? Der schwarze Mann, vor dem sich die Kinder fürchten, wenn sie nicht brav waren?«
Wieder schlüpften zwei Zombies an Bones und Mencheres vorbei, die jetzt beinahe Rücken an Rücken versuchten, sie ab zuwehren.
»Komm schon, Vlad, du musst doch deinem Ruf gerecht wer den! Wenn du nicht mal einen angeketteten ägyptischen Vam pir entzünden kannst, wie hast du es dann geschafft, die Türken aus Rumänien zu vertreiben?«
Es gab einen lauten Knall, als wäre ein Trafo explodiert, und urplötzlich fielen die Zombies mitten im Sprung zu Boden. Aus den nun leblosen Gestalten formte sich Erde, die sie zu bedecken begann, sich über ihnen ablagerte, bis nur noch Erdhügel an zeigten, wo sie gelegen hatten. Aus der Erde sind sie auferstan den, dachte ich, und zur Erde sind sie zurückgekehrt.
»Du hast es geschafft«, keuchte ich, ließ das Schwert fal len und lief los, nicht zu Vlad, sondern in die entgegengesetzte Richtung.
»Natürlich«, hörte ich ihn antworten, während starke Arme mich hochhoben und an eine blutige Brust drückten. »Ich bin Vlad Tepesch, was dachtest du denn?«
Etwa dreißig Sekunden lang hielt ich Bones einfach nur in den Armen, spürte seinen Mund in meinem Haar, seine Hände auf meinem Rücken und war vollkommen glücklich. Dann hörte ich ein Geräusch, ein ersticktes Stöhnen, das über die Freuden schreie der Vampire hinweg zu mir durchdrang. Es schien aus meinen eigenen Körperzellen zu kommen, was ja auch irgend wie stimmte.
»Mom.«
Ich rannte durch den Eingangsbereich ins Haus wie an einer Schnur gezogen. Bones war immer dicht hinter mir, konnte aber bei meinem Tempo nicht ganz Schritt halten, diesmal nicht. Als ich bei meiner Mutter angekommen war, fiel ich auf die Knie. Denise hatte sie auf ihren Schoß gezogen und presste ihr die Hände auf den Bauch. Neben den beiden lag ein Haufen Erde, die Überreste eines Zombies, und meine reglose Mutter war bleich wie der Tod.
»Nein!«
Der Schrei entfuhr mir einfach so. Ohne nachzudenken nahm ich eins meiner Messer, schnitt mir ins Handgelenk, hob ihren Kopf und ließ mein Blut in ihren Mund laufen. Das Mes ser war durchgegangen bis zum Knochen, und die rote Flüssig keit ergoss sich über ihre Lippen.
Ein kurzes Würgen, dann schluckte sie schwach, Blasen liefen ihr aus dem Mund. Ich bewegte ihren Kiefer, zwang sie, noch einmal zu schlucken.
Denise weinte und betete gleichzeitig. Bones schob sie beisei te und ging neben meiner Mutter in die Hocke. Er nahm mein Messer, brachte sich ebenfalls einen Schnitt am Handgelenk bei und hielt es ihr über den Mund. Mir gab er die Anweisung, eine Herzdruckmassage bei ihr durchzuführen, damit sein Blut in ihren Kreislauf gelangen konnte.
Tränenblind gehorchte ich, drückte mit dem Gewicht meines Oberkörpers auf ihr Brustbein. Ausgerechnet in dem Augen blick, in dem Bones ihr sein Blut verabreichen wollte, hatte ihr Herz aufgehört zu schlagen. Immer wieder drückte ich zu, wäh rend Bones sie beatmete.
»Dieses Wesen ist ins Zimmer gekommen«, keuchte Denise; auch sie hatte mehrere Verletzungen davongetragen. »Es hat sich einfach auf sie gestürzt! Ich habe versucht, es von ihr run terzuzerren, aber es war so stark ... Komm schon, Justina, nicht aufgeben!«
Denise hatte so laut geschrien, dass es einen Augenblick dauerte, bis ich das leise Pochen unter meinen Händen wahr nahm. Als ich meine Mutter husten hörte, setzte ich mich auf den Boden und weinte.
»Widerliche ... Bestie ... mach bloß, dass du ... wegkommst«, krächzte sie in Richtung Bones.
Ich lachte, als Bones ein Schnauben ausstieß und ebenfalls zurücksank. Er schlitzte sich noch schnell die Handfläche auf, um sie mir auf die Schnittwunde am Handgelenk zu legen.
»Hallo Justina. Wie's aussieht, müssen wir noch ein Weilchen miteinander auskommen.«
Auch Denise lachte, dann rieb sie sich die Augen und sah sich um.
»Wo ist Randy? War er nicht bei euch?«
Mein Lächeln erstarb. Zu spät fiel mir auf, dass Randy gar nicht im Zimmer war. Der Anblick meiner verblutenden Mutter hatte mich so abgelenkt, dass ich es zuvor nicht bemerkt hatte.
Ich sah Bones an, der stirnrunzelnd aufstand.
»Wieso bei uns?«, wandte er sich in scharfem Tonfall an De nise. »Er sollte doch hier bleiben?«
Nun erhob sich auch Denise, ihr Gesicht war fahl. »Er wollte helfen, den Gegenstand zu suchen, den Patra für ihren Zauber benutzt hat. Er hat gesagt, er würde das Haus nicht verlassen.
Er ist jetzt schon seit zwanzig Minuten weg ...«
Bones machte auf dem Absatz kehrt und lief aus dem Zim mer. Ich ging zu Denise und ergriff ihre Hände. Trotz des im mensen Blutverlustes, den ich erlitten hatte, waren meine warm im Vergleich zu ihren.
»Du bleibst hier«, sagte ich zu ihr. »Wir suchen ihn.«
Denises haselnussbraune Augen blickten in meine, und die Entschlossenheit darin ließ mich einen Schritt zurückweichen.
»Auf gar keinen Fall«, sagte sie und drängte mich beiseite.
Ich ließ sie gehen. Der Adrenalinrausch der Schlacht hatte nachgelassen, und mir war ein bisschen schwummrig. Meine Mutter setzte sich auf und starrte all das Blut und die zerfetzte Kleidung über ihrem Bauch an, wo die tödliche Wunde gewe sen war.
»Mom«, sagte ich.
»Mach dir keine Sorgen um mich«, fiel sie mir ins Wort.
»Lauf Denise hinterher.«
Ich warf ihr einen dankbaren Blick zu und ging. Sehr viel langsamer als zuvor bewegte ich mich durch das zerstörte Haus.
Knapp eine Minute später hörte ich Denise schreien, laut und schrill. Und da rannte ich los, obwohl ich schon Sternchen sah.
Bones kniete in der Küche auf dem Boden und hielt Denise in den Armen. Neben ihnen lag eine rote und schmutzige Masse ...
»O Jesus«, flüsterte ich.
»Mach ihn wieder gesund!«, schrie Denise und trommelte mit den Fäusten auf Bones' Rücken. »Mach ihn wieder gesund, mach ihn wieder gesund, MACH IHN WIEDER GESUND!«
Aber das war unmöglich. Meine Mutter hatte sich noch ans Leben geklammert, als Bones und ich ihr das Blut gegeben hat ten; es hatte also seine heilende Wirkung noch entfalten kön nen. Randys Körper aber war zerstückelt, teilweise von Erde be deckt, wo einer oder mehrere Zombies verrottet waren, die ihn so zugerichtet hatten.
»Er ist tot, Liebes«, sagte Bones, an Denise gewandt, und drängte sie von dem schrecklichen Anblick ihres toten Mannes fort. »Es tut mir so leid.«
Denise hatte ihn vermutlich gar nicht gehört. Sie schrie und schluchzte immer weiter, während sie mit den Fäusten auf Bones einschlug. Ich ging zu ihr, versuchte vergeblich, sie zu trösten, obwohl ich wusste, dass ich nichts tun konnte, um ih ren Schmerz zu lindern.
Spade kam mit grimmigem Gesichtsausdruck in die Küche und kniete neben uns nieder.
»Crispin, ich bringe Denise von hier weg. Du musst Cat und die anderen in Sicherheit bringen. Uns bleibt nicht viel Zeit.«
Bones nickte wortlos. Spade löste Denise sanft aus Bones'
Armen und trug sie aus der Küche.
Alle, die noch aufrecht stehen konnten, befanden sich im Aus nahmezustand. Hastig sammelten sie die Toten und Lebenden ein, um sie rasch wegzuschaffen. Wir alle mussten uns so weit wie möglich von hier entfernen, bevor Patra auftauchte, um uns den Rest zu geben.
Bones hob mich hoch, und ich versuchte ihn nicht einmal da von zu überzeugen, dass ich noch laufen konnte. Genau genom men war ich mir da auch gar nicht so sicher. Während er sich einen Weg durch den zertrümmerten Hausrat bahnte, stellte ich überrascht fest, dass ein Fernseher noch lief.
»... drei... zwei... eins ... frohes neues Jahr!«, rief der Spre cher gerade, woraufhin der übliche Lärm der Feiernden, explo dierende Feuerwerkskörper und die ersten Akkorde von »Auld Lang Syne« zu hören waren. Ich konnte kaum glauben, dass in nerhalb von nur zwei Stunden so viel passiert war.
Dann sah ich alles nur noch verschwommen. Vielleicht mach te sich der Blutverlust allmählich bemerkbar, denn als ich das nächste Mal die Augen öffnete, waren wir draußen auf dem Rasen. Inmitten von seltsam verfärbtem Schnee und Erdhü geln lagen Leichen. Die einstigen Vampire und Ghule waren nur noch schrumplige Überreste. Ich spürte Freude in mir auf steigen, als ich Tate umherirren sah, und betete, dass Juan und Dave es ebenfalls geschafft hatten.
Ian kniete am Boden; sein kastanienbraunes Haar machte ihn leicht erkennbar, sogar von hinten. Seine Schultern bebten.
Bones setzte mich ab und wollte auf ihn zueilen. Mencheres packte ihn, Bitterkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Wie viele?«, erkundigte sich Bones heiser.
Mencheres' Blick wanderte zu einigen der Gestalten.
»Wir wissen es noch nicht.«
Bones kniete neben Ian nieder. »Ian, mein Freund, wir müs sen sie einsammeln und machen, dass wir hier wegkommen. Sie hätten bestimmt nicht gewollt, dass der Feind uns niedermet zelt, weil wir uns in unserer Trauer nicht von ihnen losreißen können. Patra hat uns heute Nacht schon so vieles genommen.
Wir dürfen ihr nicht noch mehr überlassen.«
Immer undeutlicher sah ich, wie die drei sich daranmachten, die sterblichen Überreste ihrer Freunde zu bergen.
3 2
Daves Gesicht war das Erste, was ich sah, als ich die Augen öff nete. Er lächelte.
»Hallo Cat. Hast du Hunger? Durst?«
»Durst«, krächzte ich und leerte in einem Zug das Glas Was ser, das er mir hinhielt. »Wo sind wir?«
Er nahm mir das Glas ab. »In South Dakota, zumindest bis alle sich wieder gesammelt haben.«
Ich sah nach links, wo helles Sonnenlicht durch die Spalten zwischen den schweren Vorhängen fiel.
»Mein Gott, wie spät ist es?«
»Drei Uhr ungefähr. Du hast eine ganze Menge Blut ver loren und zwei Infusionen gebraucht. Bones wollte nicht, dass du aufwachst und dich zu sehr anstrengst, deshalb hat er dir ein paar von den Schlaftabletten gegeben, die Don für dich zu sammengebraut hat. Du kannst dich wohl nicht daran erinnern, dass du sie nicht nehmen wolltest und versucht hast, sie aus zuspucken?«
Nein, überhaupt nicht. Ich setzte mich auf und merkte, dass ich nicht länger voller Blut war und ein sauberes T-Shirt trug.
»Don hatte die letzten paar Stunden über ganz schön zu tun«, fuhr Dave fort. »Er hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um zu verhindern, dass irgendwelche Aufnahmen von leeren Grä bern und umherirrenden Toten an die Öffentlichkeit gelangen.
Überhaupt musste er den ganzen Presserummel eindämmen, den die Sache nach sich gezogen hat. Die kanadische Regierung kooperierte. Zum Glück hat auch sie kein Interesse daran, dass sich die Sache mit den Zombies herumspricht.«
Ich stöhnte. Ich konnte mir unschwer vorstellen, wie Don sich abgemüht haben musste, um alles unter den Teppich zu kehren.
»Was für eine Geschichte will er der Öffentlichkeit auf tischen?«
»Er hat sich etwas von einem kleinen Erdbeben und einer da mit verbundenen Lawine zurechtgelegt, die einige Gräber auf gerissen haben soll, aber für die Boulevardpresse ist das natür lich trotzdem ein gefundenes Fressen. Zum Glück ist alles in einer abgelegenen Gegend passiert... Wäre das in einer Groß-
Stadt geschehen, hätte selbst Don nichts mehr ausrichten kön nen.«
»Ein Erdbeben und eine Lawine? Das will er den Leuten weismachen?«
Dave zuckte mit den Schultern. »Was Besseres ist ihm wohl in der kurzen Zeit nicht eingefallen, nehme ich an. Ist zumin dest eine halbwegs plausible Erklärung für die verwüsteten Friedhöfe. Er behauptet außerdem, einige der vermeintlichen Zombies wären traumatisierte Überlebende gewesen, die völ lig verwirrt und in zerlumpten Klamotten herumgeirrt sind.
Du weißt doch, wie das ist. Die Leute wollen gar nicht glauben, dass das, was sie gesehen haben, die Wahrheit ist. Der Durch schnittsbürger ist glücklicher, wenn er von übernatürlichen Phänomenen nichts weiß.«
»Wo ist Denise?« Der arme Randy. Wäre ich nicht gewesen, hätte er mit der ganzen Sache nie etwas zu tun gehabt.
»Sie schläft. Spade hat ihr das gleiche Beruhigungsmittel wie dir gegeben, nur niedriger dosiert. Schlaf ist im Augenblick das Beste für sie.«
»Dave ... wen hat es noch erwischt?«
Sein Gesicht wurde finster. »Von Randy weißt du ja. Zero ist auch tot, und Tick Tock ...«
Er sprach immer weiter, und jeder neue Name traf mich mit unverminderter Härte. Einige kannte ich, andere nicht. Aber jeder Einzelne war ein unersetzlicher Verlust. Am Ende hatte Dave über achtzehn Vampire und Ghule aufgelistet, eine be trächtliche Zahl. Neben Randy waren noch vier weitere Sterb liche umgekommen. Bones war bestimmt am Boden zerstört.
»Wo ist Bones?«, fragte ich und schwang die Beine aus dem Bett.
»Unten. Aber willst du dir nicht erst was anziehen?«
Als ich an mir heruntersah, wurde mir klar, was er meinte; schließlich waren meine Beine die ganze Zeit über zugedeckt gewesen. »Oh, entschuldige, ist mir gar nicht aufgefallen ...«
Er lächelte schwach. »Macht nichts, du bist wie eine Schwes ter für mich. Und weil ich dein Freund bin, sage ich dir noch et was ... Putz dir die Zähne. Du hast schrecklichen Mundgeruch.«
Ich befolgte Daves Ratschlag, wusch mir auch das Gesicht und zog mich fertig an. Bis auf die Schuhe, die hatte ich in der Eile nicht gefunden. Dave begleitete mich bis vor die geschlossene Salontür, dann ging er.
Bones kam zu mir, und ich hielt ihn lange Zeit umarmt. Wie leid es mir tat, brauchte ich nicht erst zu sagen, es hätte ihn nicht getröstet.
Ian war ebenfalls anwesend. Seit der Schlacht hatte er weder geduscht noch die Kleidung gewechselt, sein nackter Oberkör per war voller Erde und anderem Schmutz.
»Wäre schön gewesen, wenn du das Rätsel früher gelöst hät test, Gevatterin«, sagte er bitter. »Die beste Idee bringt nicht mehr viel, wenn man vorher schon die halbe Truppe verloren hat.«
Ich stutzte. Mit solcher Feindseligkeit hatte ich nicht gerech net. Bones reagierte schneller. Er hatte Ian am Schlafittchen gepackt, bevor mir eine passende Erwiderung eingefallen war.
»Noch ein böses Wort zu ihr, und mir reißt endgültig der Geduldsfaden«, knurrte er. »Wäre sie nicht gewesen, wären wir alle tot, schon vergessen?«
Ians türkisblaue Augen loderten grün.
»Was ich nicht vergessen habe, ist, wem wir diesen Krieg überhaupt zu verdanken haben. Ihr! Was sie erlitten hat, war wiedergutzumachen, Crispin. Aber für unsere Freunde, die auf gebahrt im Nebenzimmer liegen, ist es jetzt zu spät. Wie viele Leben müssen noch geopfert werden, bis dem gekränkten Stolz einer einzigen Frau Genüge getan ist?«
»Bones, nicht!«
Wie aus dem Nichts war Mencheres aufgetaucht, und das kei nen Augenblick zu früh. Man hörte ein Knirschen, sah unscharfe Bewegungen, dann wurde Bones rückwärtsgestoßen, und ihm fehlte ein Arm. Mein Schrei übertönte die Rufe von Spade, der gerade noch rechtzeitig kam, um alles mitzubekommen.
Völlig perplex starrte Ian die bereits verdorrende Hand an, die noch immer um seine Kehle gekrallt war. Ich wollte zu Bones gehen, aber der wich mir aus und trat vor Mencheres.
»Gab es einen Grund dafür, dass du mich davon abgehal ten hast, angemessen auf diese Beleidigung zu reagieren, Ahn herr?«
Ich erstarrte. Wenn Bones und Mencheres aneinandergerie ten, wäre hier der Teufel los.
»Du wolltest Ian den Kopf abreißen«, antwortete Menche res. »Später hättest du es bereut, aus vielen Gründen. Ich glau be, wir haben Patra schon ausreichend Grund zum Feiern ge liefert. Da brauchen wir nicht noch mehr unserer Leute umzubringen.«
Ian war ein wenig verwirrt von dem, was gerade geschehen war. Er schüttelte den Kopf, als wollte er seine Gedanken ord nen, und starrte dann Bones und mich ungläubig an.
»Gott, Crispin, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist«, keuchte er. »Ich hatte keinen Grund, euch so anzufahren. Ver zeiht mir.«
Bones wollte sich mit der Hand durchs Haar fahren und hielt inne, als er merkte, dass sein Arm erst halb nachgewachsen war.
Er schnaubte ungläubig.
»Zweihundertsiebenundvierzig Jahre lang hatte ich diesen Arm. Hätte mir nicht träumen lassen, dass ich ihn bei dem Ver such, dir den Kopf abzureißen, verlieren würde. Scheiße, ich muss mich zusammenreißen.«
»Das gilt im Augenblick für uns alle«, pflichtete Mencheres ihm bei.
»Ja«, sagte Bones und sah ihn mit einem Blick an, der mir die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. »Du ganz besonders, Ahn herr, denn das muss aufhören.«
Vlad kam ins Zimmer. Er sah sich um, merkte, wie Bones und Mencheres sich ansahen, und setzte sich.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte Mencheres schließlich düs ter. »Und ich sage dir, ich bringe es nicht über mich.«
In Sekundenschnelle war Bones bei ihm. »Du oder sie, einer von euch wird in nächster Zeit sowieso dran glauben müssen.
Egal, was Patra dir einmal bedeutet hat, wie sehr du dir viel leicht insgeheim wünschst, das Schicksal möge im letzten Au genblick eingreifen und alles zum Besten wenden - gerade du solltest es besser wissen. Du warst es doch, der mir gesagt hat, du würdest mit deinen Visionen nie falschliegen, und doch zau derst du in der Hoffnung, dich diesmal geirrt zu haben. Aber das hast du nicht, und deshalb musst du es beenden, denn das bist du deinen und jetzt auch meinen Leuten schuldig.«
Ich war verwirrt. Soweit ich wusste, hatte Mencheres Patra nicht in irgendeinem Hinterzimmer versteckt, wie sollte er die Sache also beenden können?
Vlad hatte meine Gedanken gelesen und beugte sich vor.
»Begreifst du es denn nicht, Cat? Als Patra dich in diesen töd lichen Alptraum eingesperrt hat - wer wusste da, wie man den Zauber auflösen konnte? Bei dem Angriff der Zombies letzte Nacht - wer hat da gewusst, dass man sie nur besiegen kann, indem man das zerstört, was sie anlockt? Mencheres. Wenn er sich also so gut mit Zauberei auskennt, dass er weiß, wie man sie bekämpft... dann kann er auch selbst einen Zauber bewirken.«
Ein Blick auf Mencheres' aschfahles Gesicht bestätigte alles, und schon stand ich auch vor ihm.
»Du musst es tun. Sie wird nicht aufhören! Willst du, dass all deine Leute sterben? Denn genau dazu wird es kommen, wenn du nichts unternimmst.«
»Könntest du so etwas tun?«, fragte Mencheres mich hitzig.
»Könntest du Bones umbringen? Würde dir das leichtfallen?«
Er unterbrach sich, in seinem Blick standen so viele unver hüllte Emotionen. So kannte ich ihn gar nicht. Er liebt sie im mer noch, selbst nach allem, was sie getan hat. Armes Schwein.
Ich wählte meine Worte sorgfältig. »Ich will nicht so tun, als wüsste ich, wie schwer das für dich ist, Mencheres. Und gin ge es um Bones, würde es mir auch das Herz brechen. Aber«, ich unterbrach mich, um dem Mann, den ich liebte, direkt in die Augen zu sehen, »solltest du dich je dazu hinreißen lassen, Menschen, die mir lieb sind, zu töten, und mir zuvor tausend mal klargemacht haben, dass du erst aufhören würdest, wenn alle, die mir etwas bedeuten, tot sind, dann ja. Dann würde ich dich umbringen.«
Als Bones meinen Blick erwiderte, lag ein leises Lächeln auf seinen Lippen. »So kenne ich mein Mädchen.«
Dann wandte er seinen Blick wieder Mencheres zu. »Ich kann dir nur einen Trost anbieten: Wir bescheren Patra einen schnel len Tod. Sie hat ihn nicht verdient, und ich habe mir geschwo ren, jeden, der gegen meine Frau intrigiert hat, weit grausamer zu behandeln. Aber um deinetwillen werde ich davon absehen.
Wenn du es jetzt tust.«
Mencheres' Augen loderten grün, sie strahlten so viel Macht aus, dass ich zusammenfuhr. »Willst du mir drohen?«
Bones zuckte mit keiner Wimper. »Ich bin dein Mitregent und stelle lediglich klar, was ich mit einer Feindin zu tun ge denke, die unsere Leute abgeschlachtet hat. Bedenke, auf wessen Seite du stehst. Begreifst du denn nicht, dass Patra darauf zählt, dass du es nicht übers Herz bringst, sie zu töten?«
Mencheres schwieg. Die Augen aller im Raum waren auf ihn gerichtet. Schließlich stand er auf und zog die wütende Macht um sich zusammen wie ein Vogel, der die Flügel anlegt.
»Nun gut. Gestern hat Patra das Grab auf uns gehetzt. Heute wird sie die Rache der Toten zu spüren bekommen.«
Die Sterne funkelten am immer dunkler werdenden marine blauen Firmament. Mencheres saß mitten auf der Wiese. Wir hatten den Schnee weggeräumt, damit das große Tischtuch, das auf dem Boden ausgebreitet war, nicht völlig durchnässt wur de. Er saß im Schneidersitz davor, und wenn ich mir die Sze nerie mit ihm im Zentrum, den anderen Vampiren im Hinter grund und den Knochen, die im Vordergrund auf dem weißen Stoff ausgebreitet waren, so ansah, wirkte sie auf mich wie eine schaurige Version des Letzten Abendmahls.
Keiner von uns wusste, was geschehen würde. Nach seiner rätselhaften Ankündigung hatte Mencheres uns lediglich ange wiesen, bei Abenddämmerung bereit zur Schlacht zu erschei nen, und war dann in seinem Zimmer verschwunden. Ich hat te schon befürchtet, er würde sich durch irgendein Fenster im oberen Stockwerk davonmachen, aber Bones schien darauf zu vertrauen, dass Mencheres sein Versprechen halten würde, und er war ja auch erschienen.
Ich hatte Don angerufen, um ihm zu sagen, dass heute Nacht wieder etwas passieren würde. Wenn er vorgewarnt war, konnte er sich vielleicht eine bessere Geschichte einfallen lassen als beim letzten Mal. Das Problem war, dass ich ihm nicht sagen konnte, wo die Party steigen würde. Auch nicht wann. Oder was überhaupt geschehen sollte. Und auch sonst nichts, was ihm hätte helfen können, Eingriffe von menschlicher Seite und ein riesi ges Medienspektakel zu verhindern, wie er mir gereizt mitteilte.
Naja, ich wusste eben selbst nichts Genaues und konnte ihm nur die Informationen weitergeben, die ich hatte. Dons Frus tration war durchaus verständlich. Da ließ ich ihn einerseits wissen, dass die Untoten in der zweiten Nacht in Folge einen schwarzmagischen Angriff starten würden, und konnte ihm andererseits nicht sagen, ob dabei Leichen aus ihren Gräbern steigen ... oder vom Himmel regnen würden. Er hatte wirklich allen Grund auszurasten. Ich für meinen Teil hatte noch ande re Probleme, als die Existenz von Untoten zu vertuschen. Ich musste am Leben bleiben. Über meinem üblichen Kampfoutfit aus schwarzem Stretchstoff trug ich also mehrere Messer, ein Schwert und einige Pistolen mit Silbermunition; sogar ein paar Handgranaten hatte ich dabei.
»Ihr dürft nicht sprechen«, waren Mencheres' erste Worte, seit er sich vor Bones niedergelassen hatte. »Nicht, bevor ich fertig bin.«
Und wann soll das sein?, dachte ich. Wenn du dich verneigst?
Wenn sich die Erde auftut und irgendwelche Kreaturen her vorgekrochen kommen? Unwillkürlich erinnerte ich mich an die widerlichen, halb verrotteten Gestalten der letzten Nacht und schauderte. Igitt, so was wollte ich wirklich nicht noch mal erleben.
Ein Knistern in der Atmosphäre lenkte meine Aufmerksam keit wieder auf den ägyptischen Vampir. Er hatte den Kopf ge senkt, das lange Haar verbarg seinen Gesichtsausdruck, aber durch Lücken zwischen den schwarzen Strähnen konnte ich er kennen, dass seine Augen grün leuchteten. Neben mir erschau derte Bones, und ich warf einen kurzen Blick auf ihn. Er schien völlig auf Mencheres fixiert zu sein. Ich nahm seine Hand -
und hätte sie beinahe wieder losgelassen, als mich etwas wie ein Stromschlag traf. Was Mencheres auch tat, es hatte Auswirkun gen auf Bones. Nach der Machtübertragung war anscheinend noch eine Art dünne Verbindung zwischen ihnen erhalten ge blieben. Das beunruhigte mich, obwohl ich nicht hätte sagen können, warum.
Und da erhoben sich urplötzlich die Gebeine der am Vorabend Getöteten vom Tischtuch. Um Mencheres herum bildeten sie in der Luft einen Kreis, der sich schließlich zu drehen begann.
Erst langsam, als hingen die Knochen an unsichtbaren Fäden, dann aber immer schneller. Und noch schneller, bis man bald nur noch die morbid grinsenden Schädel mit ihren schwingenden Kiefern in dem tornadoartigen Wind erkennen konnte. Men cheres' Haar flatterte, und meine Haut kribbelte, als würde eine Million unsichtbare Ameisen sie bevölkern. Die Macht, die Men cheres umgab, wuchs und wuchs, bis es mich nicht einmal mehr gewundert hätte, wenn der Blitz bei ihm eingeschlagen wäre.
Mit einem Krachen zerstoben die wirbelnden Gebeine und regneten als feiner weißer Puder auf Mencheres herab. Ich pack te Bones' Hand ganz fest, ohne mich um die sengende Energie zu kümmern, die mir dabei in den Arm schoss, und starrte un gläubig die staubigen Überreste seiner Freunde an. Staub zu Staub, dachte ich wie betäubt. Mencheres hatte alles, was von diesen tapferen Männern noch übrig war, einfach vernichtet.
Warum ? Warum hatte er das getan ?
Ohne den Kopf zu heben, ergriff Mencheres ein Messer, das auf seinem Schoß gelegen hatte, und rammte es sich ins Herz.
Ungläubig staunend keuchte ich auf, als er die Klinge in der Wunde drehte. Ist wohl Stahl, kein Silber, schoss es mir durch den Kopf. Sonst wäre er so tot gewesen wie die pudrigen Über reste der Männer, die ihn wie grauer Schnee bedeckten.
Dunkles Blut ergoss sich als steter Strom aus der Wunde, als würde sein Herz noch schlagen. Die düster karmesinrote Flüssigkeit bedeckte das Messer, seine Hände und seine Kleidung.
Bald allerdings war mein Blick nicht mehr darauf gerichtet. Mit zunehmendem Unverständnis starrte ich die klebrig rote Masse aus zerstäubten Gebeinen an, die sich nun aufspaltete, ausdehn te ... und schließlich einzelne Gestalten bildete.
»Madre de Dios«, hörte ich Juan murmeln und damit gegen Mencheres' Schweigegebot verstoßen.
Meine eigenen Gedanken waren weniger andächtig: Was zum Teufel ist hier los?
Vor meinen Augen formten sich geisterhafte Körper, die Mencheres einzuhüllen schienen. Er murmelte etwas in einer mir unbekannten Sprache, und die vagen Formen nahmen deut licher Gestalt an. Sie dehnten sich aus, bis sie schließlich wie zum Leben erwachte Schatten wirkten. Ich konnte zwar noch durch sie hindurchsehen, aber sie hatten dreidimensionale Ge stalt. Es waren plastische, trübe Abbilder nackter Männer. Eins davon drehte sich um, und Bones stieß ein leises Stöhnen aus.
Randy, dachte ich entsetzt. Das ist Randy!
Immer mehr solcher Gestalten bildeten sich aus dem Kno chenstaub, der Mencheres bedeckte. Er ließ das Messer in sei ner Brustwunde stecken, die immer weiter blutete, bis ich mich fragte, wie überhaupt noch Saft in ihm sein konnte. Je mehr Blut er allerdings verlor, desto weniger nebelhaft wirkten die Gestalten, bis ich schließlich jede der geisterhaften Erscheinun gen klar erkennen konnte. Da war Tick Tock, dicht neben Zero, oh Gott, Randy ...
Erst als alle dreiundzwanzig Getöteten versammelt waren, zog Mencheres sich das Messer aus der Brust und begann zu sprechen.
»Das sind nicht unsere Freunde. Sie erkennen uns nicht und haben keine Erinnerung an ihr früheres Leben. Sie bestehen aus der blinden Wut, die in allen Ermordeten schlummert, und ich habe diese Wut aus ihren Gebeinen heraufbeschworen und ihr Form verliehen. Kalte Rachsucht wird sie zu ihrer Mörderin treiben. Habe ich sie losgelassen, müssen wir ihnen nur folgen.
Sie werden uns direkt zu Patra führen, wo sie sich auch verste cken mag.«
Ich hatte die Information noch nicht richtig verdaut, da sprach Mencheres ein mir unverständliches Wort aus, und die Geister schössen in die Nacht davon wie der geölte Blitz. Wow, die waren schnell. Wie sollten wir da mitkommen?
Mencheres stand auf, hob die Arme - und ich schrie auf. Der Erdboden war plötzlich fünf Meter unter mir ... zehn ... fünf zehn ... noch tiefer ...
»Wir müssen uns beeilen«, hörte ich ihn sagen, während ich hektisch den Kopf herumwarf und sah, dass alle, die zuvor auf der Wiese versammelt gewesen waren, mit mir durch die Nacht sausten, als hätte ein Jetstream sie aufgesogen. »Sie werden sie bald gefunden haben.«
Patra hatte sich in einem leer stehenden Hotel in etwa hun dert Kilometer Luftlinie Entfernung verkrochen. Bones hielt mich fest umklammert, was allerdings nicht notwendig gewe sen wäre, da Mencheres uns in seiner wahrhaft atemberauben den Machtfülle nach wie vor alle mit sich riss. In meinen wil desten Träumen wäre ich nicht auf die Idee gekommen, dass ein Vampir zu so etwas fähig sein könnte. Aber hier waren wir und sausten auf Mencheres' Energie wie auf einem fliegenden Tep pich durch die Luft, hinter den rachsüchtigen Geistern her, die er gerufen hatte. Ich würde mir später darüber Gedanken ma chen, wie das genau zu bewerten war. Wenn ich meinen Bericht für Don geschrieben hatte und er beim Lesen in Ohnmacht ge fallen war, zum Beispiel.
Das Hotel lag in einem heruntergekommenen Stadtviertel.
Den Geräuschen nach zu urteilen, lebten hier nicht viele Men schen. Vermutlich würde sogar bald das gesamte Viertel abge rissen und neu aufgebaut werden, denn ich sah flüchtig Bull dozer und anderes schweres Gerät herumstehen. Mencheres landete mit uns etwa hundert Meter vom Hotel entfernt. Wo her er wusste, dass Patra dort war? Weil die Geister zielstrebig das Gebäude ansteuerten und hineinflogen, durch die Wände hindurch, als existierten sie gar nicht. Guter Trick. Auf jeden Fall besser, als die Treppe zu nehmen.
»Ihr müsst euch allein an ihren Leuten vorbeikämpfen«, keuchte Mencheres, an Bones gewandt, und deutete auf das Ge bäude. »Ich kann nicht mit euch kommen. Werde ich getötet, verschwinden auch die Geister, und nur sie halten Patra davon ab, gegen euch vorzugehen.«
Irgendetwas taten sie auf jeden Fall, das war mir klar, denn Augenblicke nachdem sie im Hotel verschwunden waren, er tönte ein schauderliches, ohrenbetäubendes Geschrei.
»Warum bringst du sie nicht einfach selbst um?«, entfuhr es mir. »Wenn du eine Horde zorniger Geister auferstehen lassen und uns hundert Kilometer durch die Luft befördern kannst, sollte das doch ein Kinderspiel für dich sein.«
Es schien, als wollte Mencheres auf dem Bürgersteig zusam mensinken. »Ich bringe es nicht über mich«, flüsterte er. »Selbst jetzt nicht.«
Kurz stieg Mitgefühl in mir auf, aber dann unterdrückte ich es. Er liebte Patra vielleicht noch, aber das beruhte bestimmt nicht auf Gegenseitigkeit. Und erst wenn diese Frau unter der Erde war, konnten wir uns unseres Lebens wieder sicher sein.
Bones warf ihm einen kühlen und knappen Blick zu. »Ich halte mein Versprechen. Wir holen dich, wenn es vorbei ist.
Juan, Dave, ihr bleibt bei ihm. Passt auf, dass niemand in seine Nähe kommt.«
Juan wollte schon dagegen protestieren, dass man ihn zu rückließ, da wies ihn ein drohender Blick von Bones in die Schranken.
»In Ordnung, Leute. Bringen wir es hinter uns.«
Patra hatte zwar mehrere Wachen um das Hotel herum auf stellen lassen, auch hinter den Fenstern, auf dem Dach, im Keller und vor dem Eingang, aber die urplötzlich aufgetauchte Horde stinkwütender Geister hatte sie gründlich abgelenkt. Man hörte jetzt nicht mehr nur Patras unablässige Schreie - was machten die bloß mit ihr? -, sondern auch das Fußgetrappel mehrerer Leute, die Treppen hinaufrannten, weiteres Geschrei, Geschütz feuer und immer wieder ein seltsames Ploppen. Häh?, dachte ich und warf Bones einen Blick zu. Die Geister hatten nicht ein mal eine feste Gestalt. Was machten die bloß, dass es sich an hörte, als wäre da drinnen der dritte Weltkrieg ausgebrochen?
Bones zuckte mit den Schultern. »Wir können es nur auf eine Art herausfinden.«
Als wir an der Eingangstür angekommen waren, gab es dort keine Wachen mehr. Spade schüttelte stirnrunzelnd den Kopf.
Falle, formulierte er in Gedanken. Ich nahm vier der Handgra naten, die ich am Gürtel trug, zündete sie und warf sie in den Flur. Man hörte berstendes Glas, und das Gebäude bebte, als sie explodierten. Wer immer uns dort drinnen aufgelauert haben mochte, war jetzt ausradiert.
Als wir das Hotel stürmten, schwärmten die Vampire nach links und rechts aus. Bones und ich hasteten geduckt weiter. Das Geschrei und der schreckliche Lärm von oben wurden lauter.
Plötzlich tauchte etwa ein Dutzend Vampire aus einer Tür un ter der Haupttreppe auf. Bevor sie auch nur die Chance hatten, den Rückzug anzutreten, gingen sie in einem silbernen Kugel hagel unter.
»Wo sind die anderen?«, fragte ich Bones leise. Abgesehen von dem kümmerlichen Häufchen, das wir gerade ausgeschaltet hatten, war das Erdgeschoss beängstigend leer.
Bones hob den Kopf. »Oben kann ich noch welche hören. Ir gendwas macht sie ganz kirre. Müssen die Geister sein, aber was Genaueres kann ich dir auch nicht sagen.«
Da oben war tatsächlich ein ziemlicher Radau. Man hörte Schreie, hin und her hastende Schritte, und immer wieder dieses Ploppen, ein sehr fremdartiges Geräusch. Was es auch war, Patra lebte noch. Sie schrie nämlich am lautesten von allen.
Bones hielt drei Finger in die Höhe zum Zeichen, dass sich die Gruppe aufteilen sollte. Acht von uns würden die Treppe neh men, weitere acht an der Gebäudeaußenseite hochklettern, und die letzten acht sollten die Fahrstuhlschächte benutzen. Den Geräuschen nach zu urteilen, fand das Hauptgeschehen etwa neun Stockwerke über uns statt, also fast ganz oben, und so machten wir uns auf den Weg dorthin.
Im dritten Stock kam uns eine kleine Gruppe Vampire ent gegengehastet. Sie waren voller Blut, ihre Kleidung zerfetzt...
und sie würdigten uns kaum eines Blickes. Was mich allerdings nicht davon abhielt, mit meinem M - 1 6 eine satte Salve auf sie abzufeuern. Sie brachen zusammen, die Herzen zerschreddert von Unmengen Silbermunition. Klar, Messer waren mir lie ber, aber wenn man auf Distanz töten musste, war es so ein fach leichter.
Über uns brach erneut Radau los. Irgendetwas hatte eine ausgewachsene Panik ausgelöst. Der Anblick der Geister allein reichte dazu doch wohl nicht aus, oder? Die waren zwar zuge gebenermaßen recht unheimlich, aber das hier war schließlich kein Kindergeburtstag. Hier hauste eine Meistervampirin, die bereits existiert hatte, als Jesus noch auf Erden gewandelt war.
Man hätte doch meinen sollen, die Untoten wären ein bisschen weniger schreckhaft.
»Das ist schon fast zu einfach«, flüsterte Ian und sprach da mit aus, was ich dachte.
Vlad warf ihm einen sardonischen Blick zu. »Unterschätze niemals Patras Fähigkeit, einen großen Auftritt hinzulegen.«
»Bleibt wachsam«, sagte Bones. »Was immer da vor sich geht, es findet oben statt. Lassen wir uns da mal blicken.«
Noch zweimal kamen uns auf dem Weg nach oben Vampire entgegen, und jedes Mal rannten sie, als wäre der Leibhaftige persönlich hinter ihnen her, weshalb wir sie eigentlich eher ab schlachteten, als wirklich mit ihnen zu kämpfen. Je näher wir kamen, desto hektischer klang der Radau über uns. Endlich er reichten wir das Stockwerk, in dem der Lärm am lautesten war, und folgten den entsetzlichen Schreien zu dem Raum, aus dem sie kamen.
Die Tür war unbewacht und stand offen. Vlad schickte einen Feuerball voraus, was allerdings gar nicht nötig gewesen wäre.
Wir betraten den Raum, ohne dass uns jemand angriff, und als wir drinnen waren, staunte ich nicht schlecht.
Patra, nun gar nicht mehr die elegante, beeindruckende Er scheinung, als die ich sie in Erinnerung hatte, wand sich am Bo den. Blut trat ihr aus Nase, Mund, Augen und Wunden an allen möglichen anderen Körperteilen. Überall um sie herum - Gott, sogar durch sie hindurch - schwirrten die Geister. Wie graue Schlangen wanden sie sich um ihren Körper, schleuderten sie hin und her, bohrten sich in sie, nur um auf der anderen Seite wieder herauszukommen und von vorn anzufangen. Unablässig schrie sie in den verschiedensten Sprachen um Hilfe, so hörte es sich zumindest an.
Vor unseren Augen wurde ein entsetzt dreinschauender Vampir, der bei seiner Verwandlung nicht älter als fünfzehn gewesen sein konnte, mit abgerissenen Armen von ihr weg geschleudert. Ein Geist in seiner unmittelbaren Nähe - war das Zero? - bohrte sich ihm in die Brust, bis er ganz verschwunden war. Der Vampir kreischte und wurde dann mit einem poppen den Geräusch in Stücke gerissen. Kopf, Beine und Rumpf flo gen in unterschiedliche Richtungen davon. Zwischen den Fet zen tauchte der Geist auf, zögerte kurz und machte sich dann wieder an Patra zu schaffen, bis man ihn zwischen den anderen grauen Gestalten nicht mehr erkennen konnte.
Überall um uns herum lagen die Leichen von Patras getöte ten Wachen. Es waren Unmengen, und alle wirkten, als wären sie von innen heraus in Stücke gerissen worden wie der Vampir eben. Teile ihrer Körper, ihrer Kleidung und ihre Waffen lagen überall verstreut. Uns ignorierten die todbringenden Schatten, die dieses ungeheuerliche Blutbad angerichtet hatten, allerdings völlig, nur Patra ließen sie keine Ruhe.
Sie wand sich vor Schmerzen, ihre Haut brodelte jedes Mal, wenn eine der Gestalten sich in sie bohrte oder wieder zum Vorschein kam. Ihre Eingeweide konnten eigentlich nur noch Matsch sein. Bedachte man, was die Geister den Wachen ange tan hatten, hätten sie Patra einfach töten können. Die Tatsache, dass sie noch am Leben war, zeugte allerdings davon, dass sie weit Schlimmeres mit ihr im Sinn hatten.
Bones streckte die Hand aus. »Alle zurückbleiben«, sagte er und ergriff sein Messer.
Ich warf einen verzweifelten Blick auf die niedergemetzel ten Wachen. »Wenn du da hingehst, reißen dich die Geister in Stücke!«
Er strich mir über das Gesicht. »Nein, nicht mich. Begreifst du denn nicht? Mencheres wusste, dass es so kommen würde. Er hat es vorhergesehen. Deshalb hat er seine Macht mit mir geteilt. Sie verbindet uns noch immer, und deshalb bin ich der Einzige, dem sie nichts tun werden. Ich kann sie spüren ... und gegen mich können sie sich genauso wenig wenden wie gegen ihn.«
Er ließ die Hand sinken und ging auf Patra zu. Sie bekam das wohl gar nicht mit, wirkte völlig teilnahmslos, obwohl ihre Augen offen waren. Immer mehr Blut trat aus ihren Wunden, während die erbarmungslosen und unermüdlichen Schatten der Männer, die sie mit ihrem Zauber ermordet hatte, von ihr Besitz ergriffen.
Als Bones noch etwa drei Meter von ihr entfernt war, trat eine der gräulichen Gestalten aus ihr hervor und schoss auf ihn zu. Ich wollte schon losstürzen, da ließ mich sein scharfer Tonfall innehalten.
»Bleib zurück!«
Nicht nur ich erstarrte. Auch die Gestalt tat es, die, so wurde mir schmerzlich bewusst, Tick Tock war. Beziehungsweise sein zorniger Schatten. Der allerdings blieb, wo er war, obwohl er ganz offensichtlich vor Angriffslust bebte.
Bones ging weiter. Wiederholt griff ich zu meinen Messern, um sie gleich darauf frustriert wieder loszulassen. Was hätten sie gegen die rachsüchtigen Geister schon ausrichten können?
Auch die anderen Gestalten ließen allmählich von Patra ab und richteten ihre feindseligen Blicke auf Bones. Wieder hielt er ih nen abwehrend die Hand entgegen.
»Bleibt. Zurück.«
Bones hatte die Worte knurrend ausgestoßen, und ich spür te, wie bei jeder Silbe Macht aus ihm hervorbrach. Jeder Schritt nach vorn, den er machte, ließ die Geister weiter zurückwei chen. Bald ließen sie endgültig von Patra ab, um in ihrer un mittelbaren Nähe in Lauerstellung zu gehen.
Einige Augenblicke später unterbrach Patra ihr wildes He rumgezappel, und ihr zerschundener Körper begann zu heilen.
Aus ihren großen, schönen, dunklen Kulleraugen wich Stück für Stück die Panik - doch als sie sah, wer über ihr stand, wei teten sie sich wieder.
»Du bist tot!«, rief sie, als könnte sie es durch ihre Worte wahr machen. Sie wollte vor Bones zurückweichen, hielt inne, als sie merkte, dass sie so nur näher an die leise fauchenden Geister heranrückte, und sah sich dann hilfesuchend um.
»Nein, Schätzchen«, sagte Bones ruhig und grimmig. »Du bist tot.«
Erkenntnis flackerte in ihrem Gesicht auf, als sie die Leichen ihrer getöteten Wachen und uns andere bemerkte, die wir mit gezückten Waffen in der Tür standen, dazu die Geister, die hin ter ihr eine undurchdringliche Barriere bildeten. Sie saß wirk lich und wahrhaftig in der Falle, und das wusste sie auch. Patra warf den Kopf zurück und stieß ein Wutgeheul aus.
»Verdammt sollst du sein, Mencheres! Hast du kein Mit leid?«
Die hatte echt Nerven. Nach allem, was sie getan hatte, er wartete sie noch, dass Mencheres eingreifen und sie retten wür de? Und das, obwohl sie mit Sicherheit jetzt schon vorhatte, ihn - falls er das tat - gleich darauf auch auszuschalten?
Bones schnappte sie sich, als sie gerade davonstolpern wollte.
Sie wehrte sich, versuchte, ihm das Messer zu entwinden ... da drängte sich Mencheres an Spade vorbei ins Zimmer.
Einen Sekundenbruchteil lang war Patra wie erstarrt. Ihr Blick - flehend und verzweifelt - traf sich mit seinem. Ich sah, dass Mencheres' Gesicht von blutigen Tränen überströmt war.
Schon machte ich mich bereit, mich zusammen mit den anderen auf ihn zu stürzen, um ihn davon abzuhalten, Patra zu Hilfe zu kommen, da senkte er den Kopf.
»Vergib mir«, flüsterte er.
Bones stieß Patra das Messer in die Brust und drehte es mit einem Ruck um, der sie erstarren ließ. Ihr Blick war noch immer auf Mencheres gerichtet, Schmerz und Unglauben standen ihr ins Gesicht geschrieben. Dann, unerbittlich wie die Zeit selbst, begannen sich ihre Züge zu verhärten. Ihre Haut verlor jenen makellos glänzenden Honigton, und als Bones sie zu Boden fal len ließ, hatte bereits der Verfall eingesetzt.
Hinter ihrem Leichnam wehte ein nicht vorhandener Wind.
Die dreiundzwanzig Geister lösten sich allmählich darin auf, bis schließlich von ihnen nur noch ein feiner Staubbelag auf dem Boden übrig war. Bones stieß einen langen Seufzer aus.
»Vielleicht könnt ihr jetzt in Frieden ruhen, meine Freunde.
Eines Tages sehen wir uns wieder.«