6
Eine knappe Viertelstunde nachdem ich Don angerufen hatte, traf er mit dem gesamten Team ein. Auf dem Weg zu uns hatten sie vermutlich gegen jede erdenkliche Verkehrsregel verstoßen, wofür die örtliche Polizei sie natürlich nicht belangen konnte.
Bones und Annette fixierten Max in der Kapsel. Don würde ihn übernehmen ... vorerst. In knappen Worten kündigte Bones an, er würde später jemanden vorbeischicken, der Max abholte, und als ich seinen Tonfall hörte, war ich froh, dass von meinem Onkel kein Widerspruch kam. Don hätte Max vermutlich oh nehin nicht länger als nötig am Hals haben wollen. Der Blick, den sich die Brüder zugeworfen hatten, als Max in der Kapsel festgeschnallt wurde, war so emotionsgeladen, dass Don schon wegsah, bevor Max dazu kam, ihn zu beschimpfen.
Mir selbst musste über ein Liter Blut verabreicht werden, um den Verlust auszugleichen. Bones hatte zwar meine Wun den geheilt, aber mein Puls war dennoch bedenklich niedrig gewesen.
»Das war knapp«, sagte ich mit zittrigem Lächeln zu Bones, nachdem ich meine letzte Infusion erhalten hatte. Ich saß in seinem Wagen. Mit einem Handtuch hatte er so gut wie mög lich das Blut von mir abgewischt. Wir würden bald losfahren.
Bones wollte nicht länger als nötig hierbleiben, weil wir nicht wussten, wem Max und Kalibos von ihrem geplanten Hinter halt erzählt hatten.
Als Bones meinen Blick erwiderte, lag ein unergründlicher Ausdruck in seinen Augen. »Ich hätte dich so oder so zurück geholt, Kätzchen. Entweder als Vampir oder als Ghul, selbst wenn du mich hinterher dafür gehasst hättest.«
»Wäre es nach Max gegangen, hättest du dir das sparen kön nen«, murmelte ich. »Er wollte mich zerstückeln.«
Bones stieß zischend die Luft aus, dass sich mir die Nacken haare aufstellten. Dann fing er sich anscheinend wieder.
»Das merke ich mir«, sagte er, jedes Wort einzeln betonend.
Eine ganze Flut von Emotionen stieg in mir auf. Erleichte rung, verspätete Panik, Wut, Glückstaumel und der Wunsch, Bones an mich zu drücken und loszuplappern, wie überglücklich ich war, ihn überhaupt noch einmal sehen zu können. Aber jetzt war keine Zeit für Rührseligkeit, und so verkniff ich mir mei nen Emotionsausbruch. Reiß dich zusammen, Cat. Du kannst jetzt nicht in Gefühlsduselei verfallen, es gibt zu viel zu tun.
Auf der Rückbank saß meine Mutter. Sie hatte sich gewei gert, den Stützpunkt zu betreten, obwohl sie dort nicht lange hätte bleiben müssen. Don würde ihn räumen lassen. Max hat te herausgefunden, wo meine Mutter wohnte, und so stand zu vermuten, dass er auch wusste, wo der Stützpunkt lag. Das Ri siko, Max könnte anderen Vampiren davon erzählt haben, war Don zu groß. Durch seine Aktivitäten hatten so viele Vampire ihr Leben gelassen, dass einige vielleicht Lust verspürten, uns einen Besuch abzustatten.
Meine Mutter wohnte also vorerst bei Bones und mir, und Don würde ihr später eine neue Bleibe verschaffen. Nachdem er unser gesamtes Team umgesiedelt hatte.
»Es tut mir leid, Catherine«, murmelte sie, ohne mir dabei in die Augen zu sehen. »Ich wollte dich nicht anrufen. Ich habe mich selbst reden hören und konnte trotzdem nichts dagegen tun.«
Ich seufzte. »Du bist nicht schuld. Max hat dich hypnotisiert.
Du musstest ihm gehorchen.«
»Schwarze Magie«, flüsterte sie.
»Nicht doch«, widersprach ihr Bones. »Max hat dir einge redet, alle Vampire wären Dämonen, nicht wahr? Du glaubst ihm immer noch, nach allem, was er getan hat?«
»Max hätte dir damals erzählen können, was er wollte«, fügte ich hinzu, »und du hättest es ihm glauben müssen, genau wie du ihm gehorchen musstest, als er dir vorhin befohlen hat, mich anzurufen. Vampire sind eine andere Spezies, Mom, aber Dä monen sind sie nicht. Warum solltest du noch am Leben sein, wenn es so wäre? Du hast schon zweimal versucht, Bones aus dem Weg zu räumen, aber er hat dir heute das Leben gerettet, statt tatenlos zuzusehen, wie du stirbst.«
Das Gesicht meiner Mutter spiegelte die unterschiedlichsten Emotionen wider. Sich darüber klar zu werden, dass man sich womöglich achtundzwanzig Jahre lang ein völlig falsches Bild von der Realität gemacht hat, ist schließlich kein Pappenstiel.
»Ich habe dir nicht die Wahrheit über deinen Vater gesagt«, gestand sie mir schließlich mit fast unhörbarer Stimme. »In je ner Nacht hat er mich nicht... Aber ich wollte mir nicht einge stehen, dass ich es zugelassen habe, obwohl ich wusste, dass er kein Mensch war ...«
Nach diesem Geständnis musste ich kurz die Augen schlie ßen. Ich hatte bereits vermutet, dass meine Mutter in der Nacht meiner Zeugung nicht vergewaltigt worden war, aber jetzt hatte ich die Gewissheit. Ich sah sie an.
»Du warst achtzehn. Max hat dir nur so zum Spaß einge redet, du würdest eine Art Neuauflage von Rosemarys Baby zur Welt bringen. Er ist und bleibt also ein Arschloch. Apropos ...«
Ich zog mir die Kanüle aus dem Arm und streifte die Jacke über, die Cooper mir netterweise als Ersatz für mein zerfetztes, blut-verschmiertes Oberteil dagelassen hatte. Als ich angezogen war, sprang ich aus dem Wagen. Schwindel und Benommen heit waren wie weggeblasen. Einfach erstaunlich, was ein biss chen Vampirblut und drei Beutel Plasma alles bewirken konn ten. Nicht der geringste Kratzer war an mir zu sehen, obwohl ich doch eigentlich in einem Leichensack hätte liegen müssen.
»Was soll das denn werden?«, wollte Bones wissen und er griff sacht meinen Arm.
»Ich will mich von meinem Vater verabschieden«, antwortete ich und ging auf die Kapsel zu, die wie ein riesiges silbernes Ei in der Einfahrt stand.
»Aufmachen«, befahl ich Cooper, der sie bewachte, bis sie in unseren Spezialtransporter geladen werden konnte.
Cooper gehorchte. Er wandte den Blick nicht ab, als die Tür sich öffnete und Max sichtbar wurde. Anscheinend hatte er sich auf dem Weg zu uns auch den einen oder anderen Schluck Vam pirblut genehmigt. Obschon mit Nebenwirkungen verbunden, war dies die einzige Möglichkeit, sich gegen vampirische Ge dankenkontrolle zu immunisieren.
An den verschiedensten Stellen waren Silberdornen in den Körper meines Vaters gebohrt. Ihr hakenförmiges Ende machte es ihm unmöglich, sich zu befreien, ohne sich dabei das Herz und noch ein paar andere wichtige Körperteile zu zerfetzen.
Die Kapsel war so konstruiert, dass er sich bei geschlossener Tür keinen Millimeter rühren konnte, während ihm durch die Dornen Blut und Energie entzogen wurden. Ich musste es wis sen, schließlich hatte ich sie entworfen.
»Liebster Papa«, wandte ich mich in strengem Ton an Max.
»Ich würde ja sagen, das hast du dir selber eingebrockt, aber das wäre noch zu milde ausgedrückt. Ich gebe dir also deinen eige nen Ratschlag zurück: Du hättest mich umbringen sollen, als du die Chance dazu hattest.«
Dann wandte ich mich an Bones. »Warum bringen wir ihn überhaupt weg? Ich könnte ihn auch gleich kaltmachen, dann müsste ich mir nicht mehr den Kopf über ihn zerbrechen.«
»Das musst du ohnehin nicht«, antworte Bones wieder in diesem eisigen, Unheil verkündendem Tonfall. »Nie mehr. Aber so leicht kommt er mir nicht davon.«
Bones streckte die Hand aus und strich Max über die Wange.
Ganz leicht nur, aber Max fuhr zusammen, als hätte Bones sie ihm mit dem Messer aufgeschlitzt.
»Bis bald, alter Freund. Ich kann's kaum erwarten.«
Annette gesellte sich zu uns. Ihre champagnerfarbenen Au gen blickten Max aus einem Gesicht an, in dem sich bereits erste Altersspuren abzeichneten. Bones hatte sie im Alter von sechs unddreißig Jahren zur Vampirin gemacht. Das Leben im sieb zehnten Jahrhundert war rauer gewesen als heute, und so wirk te sie eher wie fünfundvierzig, was ihr jedoch gut zu Gesicht stand. Im Augenblick war sie allerdings nicht die makellose Er scheinung, als die ich sie kannte. Ihr rotblonder Dutt hatte sich so gut wie aufgelöst, und ihr perfekt geschnittenes marineblau es Kostüm sah auch ziemlich mitgenommen aus.
»Meine Güte, was für ein Tag«, bemerkte sie.
Beinahe hätte ich losgeprustet. Typisch Annette. »Was für ein Tag« war das Einzige, was ihr zu einem solchen Horror einfiel.
»Schließ Max wieder ein«, wies ich Cooper an, weil ich mei nen Vater jetzt nicht mehr sehen wollte. Nie mehr, um genau zu sein.
Cooper gehorchte, und die Kapseltür schloss sich unter dem Klicken mehrerer Schlösser. Noch im selben Augenblick kam mir ein entsetzlicher Gedanke.
»Was ist aus Kalibos geworden? Da war doch noch ein Vam pir.«
»Sein Kopf ist da drüben«, antwortete Bones und wies mit einem Nicken auf die Bäume. »Der Rest von ihm liegt weiter hinten.«
Kalte Genugtuung überkam mich. »Woher wusstest du, dass du herkommen musst?«
»Annettes Gepäck ist nicht angekommen.« Bones klang bei nahe amüsiert. »Ich habe dich zweimal angerufen, um dir zu sagen, dass es länger dauern würde, weil wir noch ein paar neue Klamotten für Annette auftreiben mussten. Du hast dich nicht gemeldet. Normalerweise gehst du immer dran, deshalb bin ich sofort hergekommen. Als wir noch etwa anderthalb Kilometer entfernt waren, habe ich dich schreien hören. Wir haben den Wagen stehen lassen und sind ums Haus herumgeschlichen. Da haben wir den einen Typen gefunden. Weil wir nicht wussten, wie viele noch drinnen sind, sind wir beide gleichzeitig durch das geschlossene Fenster gesprungen.«
Ich lachte auf. Die Tatsache, dass Annettes Gepäck verloren gegangen war, hatte meiner Mutter und mir das Leben gerettet?
Welche Ironie des Schicksals.
»Jetzt wünschst du dir wohl, ihr wärt weitergefahren, was?«
Das konnte ich mir in Richtung Annette nicht verkneifen.
Ein feines Lächeln huschte über ihre Lippen. »Eigentlich nicht, Schätzchen. Gerade habe ich Ian angerufen«, fuhr sie, mehr an Bones als an mich gewandt, fort. »Er war fuchsteufels wild, als ich ihm erzählt habe, was Max sich geleistet hat. Er ver stößt ihn offiziell aus seiner Sippe.«
Das war die schlimmste Strafe, die ein Vampir über ein Mit glied seines Clans verhängen konnte. Kein Vampir würde mehr für Max einstehen, wenn ihm in Zukunft etwas zustieß, und was die Zukunft anbelangte, sah es für Max im Augenblick ziemlich düster aus.
»Mir hat Max auch gesagt, Ian hätte von nichts gewusst«, fügte ich hinzu, obwohl ich Ian nicht besonders mochte. »Er hat angeblich neue Freunde, die mich ebenso gern tot sehen wollen wie er.«
Bones nickte knapp. »Fahren wir heim, Süße. Dann ver suchen wir herauszubekommen, wer Max bei der Planung des Anschlags geholfen hat, und machen jeden Einzelnen kalt.«
Wir wohnten auf einem Hügel in einem großen Blockhaus mit kugelsicheren Fensterscheiben und einem atemberaubenden Ausblick auf die Blue Ridge Mountains. Es war so abgelegen, dass wir unseren Nachbarn bestimmt nie über den Weg laufen würden und sich auch niemand über den Helikopterlandeplatz und den Hangar im Vorgarten das Maul zerreißen musste.
Annette fuhr mit Don zum Stützpunkt, um wie geplant Tate beizustehen. Bones wollte sie allerdings nicht begleiten. Mei nem Onkel teilte er mit, dass für ihn jetzt andere Dinge im Vordergrund standen, was Don natürlich einsah. Drei Untote waren zu Tates Unterstützung völlig ausreichend. Nach allem, was Max gesagt hatte, schwebte ich im Augenblick in größerer Gefahr als er.
Als ich die Tür öffnete, kam mein Kater sofort angerannt und strich mir um die Beine. Eigentlich hatten wir eine Woche außer Haus sein wollen, und so hatte ich Futterspender und selbst reinigende Katzentoilette in Betrieb genommen. Nun würde er statt Trockenfutter etwas von unserem Essen abbekommen.
Kein Wunder, dass er sich so freute, mich zu sehen.
Meine Mutter war noch nie in unserem gemeinsamen Haus gewesen, aber ich hatte es so eilig, mir das Blut abzuwaschen, dass ich sie nicht herumführen konnte.
»Hier ist das Gästezimmer«, sagte ich und brachte sie die Treppe hinunter. »Ein paar Klamotten sind auch drin, also be diene dich ruhig. Ich nehme erst mal eine Dusche.«
Bones folgte mir nach oben. Ich zog die Jacke aus, die ich von Cooper bekommen hatte, und auch gleich meinen blutigen BH
und die Hose. Ich konnte die Klamotten nicht schnell genug los werden. Auch Bones streifte sein blutiges Hemd und die Hose ab, kickte sie in eine Ecke und gesellte sich zu mir unter die Dusche.
Erst war das Wasser eiskalt. Um diese Jahreszeit dauerte es immer ein paar Minuten, bis es die richtige Temperatur hatte.
Ich bibberte, als mich der eisige Duschstrahl traf. Bones schloss mich in die Arme und stellte sich so, dass er das meiste abbekam.
Selbst als es warm genug war und Bones sich wegdrehte, damit das heiße Wasser das Blut von mir abspülen konnte, hörte ich nicht auf zu zittern.
»Heute habe ich gedacht, ich würd's nicht überleben.«
Meine Stimme war leise. Bones nahm mich fester in den Arm.
»Jetzt bist du in Sicherheit, Kätzchen. Und so etwas wie heute wird nie wieder passieren, das verspreche ich dir.«
Ich sagte nichts, dachte aber, dass Bones wohl zum ersten Mal ein Versprechen nicht würde halten können. Wer konnte schon in die Zukunft sehen ? Hier ging es nicht nur darum, dass mein Vater sich an mir - beziehungsweise meiner Mutter - rächen wollte. Irgendjemand bezahlte und unterstützte ihn. Stellte sich die Frage, wer.
Ich behielt meine Gedanken allerdings für mich. Bones hatte recht - im Augenblick war ich in Sicherheit. Und er war hier.
Nichts anderes zählte.
Vorerst zumindest.
Wir waren erst eine knappe Stunde daheim, da tauchten schon die ersten Besucher auf. Den Anfang machten Juan und Cooper, die Don als zusätzlichen Schutz für mich hergeschickt hatte.
Die beiden hätten es mit einem Dutzend Vampiren aufnehmen können, so viele Silbermesser, Pistolen und Silbermunition tru gen sie bei sich.
Dann kam Bones' Schutztruppe in Gestalt dreier Vampire, die ich noch nie gesehen hatte. Der erste hieß Rattler und erinnerte mich an den jungen Samuel Elliott, der zweite nannte sich Zero und sah mit seinem langen weißblonden Haar und den glet scherblauen Augen fast wie ein Albino aus, ganz im Gegensatz zu Tick Tock mit seiner dunklen Haut, den kohlrabenschwarzen Haaren und tiefdunklen Augen. Im Geist hatte ich ihnen schon die Spitznamen Cowboy, Salz und Pfeffer verpasst.
Als Nächster traf Spade ein beziehungsweise Charles, wie Bones ihn nannte. Den Namen Spade hatte er gewählt, weil er während seiner Zeit als Strafgefangener in Australien immer mit dem Namen des Werkzeuges gerufen worden war, mit dem er seine Arbeit zu verrichten hatte. Der Name sollte ihm stets seine damalige Hilflosigkeit vor Augen halten. Bones hatte sich so genannt, weil er auf einer Begräbnisstätte der Aborigines auferstanden war. Die Untoten machten es einem wirklich nicht leicht, sich zu merken, wie sie hießen.
Dann kam Rodney der Ghul. Als er seine Kochkünste un ter Beweis stellte, schloss Juan ihn sofort ins Herz. Ich woll te nichts essen und ging ins Bett, schlief aber verständlicher weise unruhig. In meinen Träumen sah ich meine Mutter tot am Treppengeländer baumeln und meinen Vater grinsend auf mich schießen.
Kurz nach zwölf Uhr mittags kreuzte Don auf. Ich saß zu sammen mit Juan, Cooper, meiner Mutter und Bones am Kü chentisch. Wir hatten gerade über Gott und die Welt geredet, als mein Onkel hereinkam. Ich war ziemlich überrascht, ihn zu sehen. Eigentlich hatte ich gedacht, er hätte alle Hände voll damit zu tun, die Verlegung des Stützpunktes zu organisieren.
»Weiß dein Boss, dass du blaumachst?«, fragte ich ihn.
Don quittierte meine Bemerkung mit einem nüchternen Lä cheln. »Ich kann nicht lange bleiben, aber ich wollte ein paar Dinge mit dir besprechen und ... einfach mal sehen, wie es dir so geht.«
Da er alles Dienstliche auch telefonisch mit mir hätte durch gehen können, nahm ich an, dass er eher aus aus letzterem Grund hier war.
»Schön, dass du da bist«, sagte ich und meinte es auch so.
Wir hatten zwar leichte Anfangsschwierigkeiten miteinander gehabt - okay, ziemliche Anfangsschwierigkeiten wäre zutref fender -, doch meine Mutter und Don waren meine einzigen Verwandten.
»Willst du was frühstücken«, erkundigte ich mich bei Don und wies mit einer Handbewegung auf die vielen abgedeckten Speisen am Herd. »Hat alles Rodney gemacht. Ich wusste gar nicht, dass ich so viel Essbares im Haus habe.«
Don bedachte die Gerichte mit einem skeptischen Blick, der Rodney zum Lachen brachte.
»Alles rein vegetarisch, nach ghulischen Begriffen«, ver sicherte er Don. »Nur Zutaten, die man auch in jedem Super markt finden würde.«
Noch immer nicht ganz überzeugt, machte sich Don einen Teller zurecht und stellte ihn vor sich auf den Tisch. Ich sah zu, wie er einen ganz kleinen Bissen nahm, schluckte ... und sich dann eine größere Portion auf die Gabel lud. Ja, Rodney war ein ausgezeichneter Koch.
Bones' Handy klingelte. Er entschuldigte sich und ging ins Nebenzimmer, wo ich ihn mit leiser Stimme reden hörte. Ich bekam nur ein paar Worte mit, da Juan und Cooper sich inzwi schen mit Don über den neuen Stützpunkt unterhielten. Alles so kurzfristig über die Bühne zu bringen war eine ziemliche Herausforderung.
Bones kam zurück und klappte das Handy zu. Seine Schul tern wirkten plötzlich verspannt.
»Was ist denn?«, wollte ich wissen.
»Ich muss heute Abend noch weg, Kätzchen, aber es ist nichts Ernstes.«
»Mit wem hast du telefoniert? Und was genau ist eigentlich los?«
Bones schien seine Worte sorgfältig zu wählen. »Mein Ahn herr Mencheres hat angerufen. Er hat sein Kommen angekün digt.«
Ich seufzte. »Mach es nicht so spannend, Bones. Wohin will er kommen? Was passiert nachher?«
Alle anderen Vampire taten, als hätten sie plötzlich großes Interesse an unserem Mobiliar entwickelt. Bones machte ein undurchdringliches Gesicht.
»Ich ersuche alle Vampire aus meiner und Ians Sippe sowie anderer bedeutender Clans, Max' Folterung beizuwohnen.«
Ich stutzte. »Du trommelst Gott und die Welt zusammen, nur um meinen Vater öffentlich fertigzumachen?«
»Wer auch immer Max und Kalibos unterstützt hat, hatte keine Angst vor dem, was ich tun würde, wenn du gefoltert, er mordet und zerstückelt wirst. Es gibt also offensichtlich Leu te, die das alles nicht kümmert, oder die der Meinung sind, ich wäre verweichlicht. Aber bald wird jeder sehen, was denen wi derfährt, die versuchen, dir zu schaden.«
»Klingt ganz logisch«, bemerkte Don. »Ein warnendes Bei spiel zur Abschreckung für andere. Aber wenn du Max heute Nacht umbringst, Bones, zögerst du einen weiteren Anschlag nur hinaus, selbst wenn du ihn vorher buchstäblich durch die Hölle gehen lässt. Hinterher weißt du immer noch nicht, wer noch in die Sache verwickelt ist, und das solltest du wissen, wenn du verhindern willst, dass so etwas noch einmal geschieht.«
»Ganz richtig, alter Knabe«, pflichtete Bones ihm bei. »Aber ich werde Max nicht umbringen. Ich werde ihn am Leben lassen und den Ausdruck grausame und unübliche Bestrafung neu de finieren. Töten werde ich Max erst, wenn er völlig am Ende ist.
Und bis dahin wird er vermutlich jahrelang täglich leiden müs sen. Ich für meinen Teil hoffe, es dauert Jahrzehnte.«
Auf Bones' unbarmherzige Worte hin wurde Dons Gesicht aschfahl. Rodney, Spade und die drei anderen Vampire wirkten unbeeindruckt.
Meine Mutter starrte Bones an. Dann lächelte sie. »Also das muss ich mir ansehen.«
»Du bist ja wohl ...«, begann ich, aber Bones hob die Hand.
»Warte, Kätzchen, das ist eine Sache zwischen deiner Mutter und mir. Justina, falls du kommst, bist du die einzige Sterbliche dort, das ist dir hoffentlich klar. Beleidigen darfst du lediglich den Delinquenten. Schaffst du das?«
Meine Mutter warf ihr Haar zurück. »Darauf habe ich lange gewartet. Ich schaff's. Hand drauf.«
Bones schlug ein, und so berührte sie zum ersten Mal aus freien Stücken einen Vampir. Zu ihrer Ehrenrettung sei gesagt, dass sie die Hand hinterher nicht an ihrer Kleidung abwischte.
»Also abgemacht. Juan oder Cooper, einer von euch muss auch mitkommen. Ihr könnt den anderen Teammitgliedern be richten, was sie erwartet, wenn sie je Lust verspüren sollten, Cat zu hintergehen. Don, du gehst nicht hin. Du musst der Be strafung deines Bruders nicht beiwohnen.«
Oh-oh, dachte ich gerade, doch da war meine Mutter auch schon aufgesprungen. »Max ist dein Bruder?«, wandte sie sich in ätzendem Tonfall an Don.
Der zuckte mit keiner Wimper. »Ja. Seinetwegen habe ich meine Abteilung gegründet. Ich wollte meinen Bruder und sei ne Artgenossen töten. Selbst meine Nichte habe ich dazu miss braucht und ihr verschwiegen, wer ich bin. Bones hat sie auf geklärt, als er dahintergekommen ist. Wenn überhaupt, solltest du deinen Zorn daher gegen mich, nicht gegen Cat richten.«
Mutig von ihm, so etwas in einem Raum voller Untoter zu sagen. Spade warf Don einen entrüsteten Blick zu, während Rodney sich nur die Lippen leckte. In Gedanken würzte er Don wohl schon mit Salz und Pfeffer.
»Als du Catherine gefunden hast, war dir also bereits klar, dass sie deine Nichte ist?«, hakte meine Mutter ungläubig nach.
Don seufzte. »Ich hatte die Anzeige wegen Vergewaltigung gelesen, die du in der Nacht erstattet hattest, in der Max dir be gegnet ist. Anhand deiner Beschreibung wusste ich, dass er der Täter war, und dann hast du ein Kind mit seltsamen genetischen Anomalien zur Welt gebracht. Ja, ich habe die ganze Zeit über gewusst, dass Cat eine Halbvampirin ist... und meine Nichte.«
Meine Mutter ließ ein bitteres Auflachen hören. »Wir haben sie also beide ausgenutzt. Der Vampir dort hat sie besser behan delt als ihre eigenen Familienangehörigen.«
Bones zog die Brauen hoch. »Justina, das war wohl das Net teste, was du je über mich gesagt hast.«
Auch ich war verdutzt, aber wir waren vom Thema abge kommen.
»Ich komme heute Abend auch mit«, sagte ich, als mir auf fiel, dass Bones mich gar nicht eingeladen hatte.
Sein Gesichtsausdruck wurde hart. »Nein, Kätzchen, auf kei nen Fall.«
Ich konnte es nicht fassen. »Ich bin es, die zusammengeschla gen, angeschossen, aufgeschlitzt und angesengt worden ist, schon vergessen? Um mich geht es doch eigentlich.«
»Du bleibst da«, beharrte Bones, diesmal in strengerem Ton fall. »Du kannst Max gern selbst eine wohlverdiente Strafe zu kommen lassen, aber ein anderes Mal. Nicht heute Abend.«
Da ging mir ein Licht auf. Bones glaubte, ich wäre zu zart be saitet, um den Anblick des gefolterten Max ertragen zu können.
Seit meinem sechzehnten Lebensjahr steckte ich buchstäblich bis zum Hals in Blut und Gedärmen, und plötzlich musste man mich vor der grausamen Seite der Untoten beschützen ?
»Bones, ich bin nicht aus Zucker, ich halte das schon aus.«
»Das bezweifle ich«, antwortete Bones. »Wenn du hingehst, wirst du entsetzt sein, weil ich mir alle Mühe geben werde, mich von meiner entsetzlichsten Seite zu zeigen, sonst wäre der Zweck verfehlt. Nein, Kätzchen. Dein Mitgefühl ist eines der Dinge, die ich am meisten an dir schätze, aber in diesem Fall würde es unserer Beziehung schaden. Du bleibst hier, und damit basta.«
Ich traute meinen Ohren nicht. Kränkung und Zorn kämpf ten in mir um die Oberhand. Wie kam Bones eigentlich dazu, für mich zu entscheiden, was ich ertragen konnte und was nicht?
Wir lebten doch in einer gleichberechtigten Partnerschaft, nicht in einer Diktatur.
»Soll ich dir mal sagen, was ich an dir immer so geschätzt habe?«, fragte ich. Ich fühlte mich verraten und verkauft. »Dass du mich nie aufgrund deines Alters bevormundet hast. Ja, al les, was ich bisher erlebt oder getan habe, ist für dich ein alter Hut, aber du hast mich immer wie eine Gleichgestellte behan delt. Jetzt allerdings gibst du mir das Gefühl, das bemitleidens werte kleine Mädchen zu sein, das ich schon für Max war. Du willst dein Blutbad ohne mich stattfinden lassen? Schön. Aber was auch immer ich dabei zu sehen bekommen hätte, wäre für unsere Beziehung weniger schädlich gewesen als das, was du gerade getan hast.«
»Kätzchen ...«, rief Bones und streckte die Arme nach mir aus.
Ich rauschte an ihm vorbei nach oben. Einen Stock tiefer räusperte sich Juan. Rattler bemerkte flüsternd, man müsste mir Zeit geben, mich abzureagieren, und Don gab hüstelnd vor, noch ein paar Telefonate führen zu müssen. Nur Bones sagte nichts und kam mir auch nicht hinterher.
7
Ich war den Rest des Tages eingeschnappt, verschanzte mich in meinem Zimmer und wollte mit niemandem reden, vor allem nicht mit Bones. Der kümmerte sich auch nicht um mich. Er un ternahm nicht einmal den Versuch, zu mir heraufzukommen.
Als es schließlich dunkel wurde, fand ich, dass ich genug ge schmollt hatte. Ich nahm noch eine Dusche und ging nach un ten. Rodney hatte Abendessen gemacht. Keine Ahnung, woher er die Steaks hatte; vermutlich hatte er jemanden zum Einkau fen geschickt.
Don, der zusammen mit meiner Mutter am Tisch saß, schenk te mir ein unterkühltes Lächeln. »Wir haben uns gerade darü ber unterhalten, ob wir Rodney als Teamkoch einstellen sollen.
Meiner Meinung nach würde das die Leistung der Männer um dreißig Prozent steigern.«
Ich schnaubte und sah, dass Bones draußen auf der Veranda stand. »Mehr als dreißig Prozent, möchte ich meinen. Wo wir gerade vom Team sprechen: Wo ist eigentlich der neue Stütz punkt?«
»Tennessee, der alte CIA-Bunker. Ein paar grundlegende Re novierungsmaßnahmen sind zwar noch nötig, aber so in ein bis zwei Wochen dürften wir den Betrieb wiederaufnehmen kön nen. Ausschlaggebend für meine Entscheidung war, dass die un terirdische Bauweise die Einrichtung besonders sicher macht.«
»Das sehe ich genauso. Wann brichst du auf?«
»Heute Abend noch.« Don nickte meiner Mutter zu. »Du kannst ebenfalls dort wohnen. Der Umzug von Randy und De nise ist auch schon über die Bühne. Könnte ja immerhin sein, dass Max auch herausgefunden hat, wo sie wohnen.«
»Gott, daran habe ich noch gar nicht gedacht!«, rief ich. Am liebsten hätte ich mich für meine Dummheit geohrfeigt. Wie hatte ich bloß vergessen können, an die Sicherheit meiner bes ten Freundin und ihres Mannes zu denken?
Don seufzte. »Du hattest anderes im Kopf. Soll vorkommen, wenn man gefoltert und fast umgebracht wird.«
Rodney setzte meiner Mutter und mir jeweils einen vollen Teller vor. Als ich sah, wie sie anfing, davon zu essen, anstatt ihn dem Ghul entgegenzuschleudern, fiel ich fast in Ohnmacht.
War einer der Vampire ihr ewiges Genörgel leid gewesen und hatte ihr durch einen Biss eine bessere Stimmung verpasst?
»Ich habe gesehen, welche Zutaten er benutzt hat«, vertei digte sich meine Mutter, als ihr mein verdutztes Gesicht auffiel.
Statt beleidigt zu sein, lachte Rodney nur. »Gern geschehen, Justina.«
So fasziniert ich auch davon war, meine Mutter etwas essen zu sehen, das ein Ghul zubereitet hatte, riss ich mich schließlich doch los. »Ich komme nachher mit dir zum neuen Stützpunkt.«
Die ganze Zeit über war Bones auf der Veranda hin und her getigert und hatte in sein neues Handy gesprochen. Plötzlich unterbrach er sein hektisches Gerenne.
Don warf einen vielsagenden Blick aus dem Fenster und sah mich dann an. »Hältst du das wirklich für klug?«
»Wenn du mich nicht feuerst, komme ich mit, um nach mei nem Team zu sehen«, erwiderte ich. »Die Männer brauchen mich.« Ganz im Gegensatz zu Bones, offensichtlich.
Ich ignorierte das leise Fluchen draußen. Don breitete die Hände aus. »Du wirst natürlich nicht gefeuert. Die Männer freuen sich bestimmt, dich zu sehen.«
»Zero, Tick Tock, Rattler, ihr begleitet sie«, sagte Bones. Er machte sich nicht die Mühe, hereinzukommen oder lauter zu sprechen. Die Vampire hörten ihn auch so.
»Wie hast du es eigentlich geschafft, Tate an unseren neu en Standort zu verfrachten?«, erkundigte ich mich, ohne mich Mit einem kurzen Blick nahm ich meinen neuen Arbeitsplatz in Augenschein. »Gemütlich. Für einen Bunker.«
»Hier sind wir nicht mehr so leicht zu bespitzeln«, bemerkte Don. »Von außen wirkt alles wie ein Privatflugplatz, und unter irdisch ist auch noch jede Menge Platz. Wir renovieren jeden Tag ein bisschen, bis alles fertig ist.«
»Oh, mir gefällt's.«
Rattler, Zero und Tick Tock sahen sich ebenfalls neugierig um.
Don war über die drei fremden Vampire, die ich im Schlepptau hatte, zwar nicht gerade begeistert gewesen, inzwischen aber wohl zu der Überzeugung gelangt, dass es keinen Sinn hatte, sich mit Bones anzulegen. Rodney, Cooper und meine Mut ter waren mit Bones zu ihrem schaurigen Studienausflug auf gebrochen. Juan hatte verzichtet und sah sich nun ebenfalls den neuen Stützpunkt an.
»Wo ist das Team?«, erkundigte ich mich.
»Im vierten Untergeschoss. Gerade bauen sie den Hindernis parcours im neuen Trainingsraum auf.«
Ich schluckte. Sie hatten eine Menge Arbeit damit, alles wie der zum Laufen zu bringen, und das war meine Schuld. Im merhin war es mein mordlüsterner Vater gewesen, der heraus gefunden hatte, wo unser alter Stützpunkt lag.
»Ich gehe mal runter. Kommst du mit?«
Don schüttelte den Kopf. »Nein. Ich überprüfe noch ein paar Online-Überweisungen, damit alles seine Richtigkeit hat.«
Ich ließ ihn allein und folgte den Schildern zu den Aufzügen.
Juan und meine drei untoten Wächter immer hinter mir.
Zusammen mit dem Team wuchtete ich ein paar Stunden lang das schwere Inventar durch die Gegend, bis alles halbwegs ordentlich aufgebaut war. Dabei kamen mir meine drei unto ten Bodyguards durchaus gelegen; die hätten zur Not nämlich ein ganzes Auto auf den Schultern tragen können. Wir nutz ten diese Tatsache weidlich aus und ließen sie die schwersten Sachen schleppen, worüber sie sich nicht beklagten, obwohl sie sich ihren Job bestimmt anders vorgestellt hatten. Ich war gera de dabei, die Abseilplattform zu montieren, als Don hereinkam.
Er winkte mich zu sich, einen seltsamen Ausdruck im Gesicht.
»Was ist passiert?«, fragte ich ihn und sah kurz auf dem Han dy nach, ob ich vielleicht irgendwelche Anrufe verpasst hatte.
»Nichts. Kommst du kurz zu mir ins Büro? Da gibt es etwas, das du sehen solltest.«
»Warum macht eigentlich in letzter Zeit jeder auf geheim nisvoll?«, überlegte ich laut. Don antwortete nicht. Er ging ein fach wieder nach oben, sodass ich ihm folgen musste. Meine drei Aufpasser ließen alles stehen und liegen und kamen mir hinterher. Wäre mein Team doch auch so gehorsam gewesen.
Immer noch mürrisch erreichte ich Dons Büro. Die Tür war geschlossen, aber ich riss sie auf ... und blieb wie angewurzelt stehen.
Vor mir stand Tate. Tiefblaue, grün umrandete Augen sahen mich voll unterdrücktem Kummer an. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Es war erst kurz nach Mitternacht, seine Verwandlung lag also erst knapp einen Tag zurück.
»Er hat seinen Durst so weit unter Kontrolle, dass wir ihn eine Weile frei herumlaufen lassen können«, erklärte Annette. Sie stand ein wenig abseits hinter ihm. »Wirklich bemerkenswert.«
Rosafarbene Tränen traten Tate aus den Augen, während er mich anstarrte.
»Ich werde mir nie verzeihen, Cat. Ich war es, der vorgeschla gen hat, Belinda als Lockvogel einzusetzen, und das hat dich fast das Leben gekostet. Es tut mir so verdammt leid.«
Ich wischte ihm die rosafarbenen Rinnsale vom Gesicht. »Es ist nicht deine Schuld, Tate. Niemand hat damit gerechnet.«
Er ergriff meine Hand. »Ich habe gehört, dass du Max in die Hände gefallen bist. Ich musste mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass du wohlaufbist.«
Tate packte mich und drückte mich so heftig an sich, dass ich auf jeden Fall ein paar Blutergüsse davontragen würde. Ihm selbst war das bestimmt nicht bewusst, weil er noch nicht viel Zeit gehabt hatte, sich an seine neu gewonnene Kraft zu ge wöhnen.
Ich stieß ihn weg. »Tate ... du erdrückst mich.«
Er ließ mich so hastig los, dass ich beinahe ins Stolpern ge raten wäre. »Oh Gott, ich kriege aber auch nichts richtig hin!«
Mir war nicht entgangen, dass meine drei vampirischen Leib wächter mir nicht von der Seite gewichen waren. Ihre Energien bauten sich auf, als wollten der helle, der dunkle und der Wild west-Vampir jeden Moment losschlagen.
»Immer mit der Ruhe, Jungs«, beschwichtigte ich sie.
»Du solltest dich nicht so nahe bei einem jungen Vampir auf halten«, erklärte mir Rattler. »Das ist riskant.«
Tates Augen wurden grün. »Wer zum Teufel sind die?«
»Meine Leibwache. Bones ist ein bisschen überfürsorglich.
Sie sollen auf mich aufpassen, bis er nachher selbst herkom men kann.«
Annette merkte auf. »Nimmt Crispin sich heute Nacht Max vor?«
»Ja. Und er ist der Ansicht, ich würde es nicht ertragen zu se hen, wie er den großen bösen Vampir spielt. Aber Cooper und meine Mutter durften mitkommen. Er hält sie wohl für weniger zart besaitet als mich.«
»Ich würde eher sagen, ihm ist es egal, was sie von ihm hal ten«, widersprach mir Annette.
»Klar, dass du dich wieder auf seine Seite schlägst«, ätzte ich.
Der weißblonde Zero rückte näher an Tate heran. Verärgert seufzte ich auf.
»Wie oft soll ich es denn noch sagen? Er wird mich nicht bei ßen, also mach die Mücke.«
»Dein Zorn und dein Duft erregen ihn«, erwiderte Zero in nüchternem Tonfall. »Er ist noch zu jung, um solchen Reizen lange widerstehen zu können.«
Ich warf noch einmal einen Blick auf Tate. Seine Augen glühten smaragdgrün, und seine Aura hätte bestimmt Fun ken gesprüht, wenn ich sie hätte sehen können. Vielleicht hatte Schneeweißchen doch nicht unrecht.
»Ich würde ihr nie etwas tun«, knurrte Tate.
Nun mischte sich Don ein, der in den letzten paar Minuten kein Wort gesagt hatte: »Dann geh zurück in die Zelle und be weise es.«
Tate war bei ihm, bevor er sich bremsen konnte. Tief und witternd sog er die Luft ein und stieß sie durch die Nase aus.
»Du hast recht. Jeder in diesem Raum, der einen Puls hat, fängt allmählich an, richtig appetitlich zu riechen. Okay. Zurück in die Box, Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.«
Er rauschte an mir vorbei aus dem Zimmer und nahm noch einen langen, tiefen Atemzug. »Du riechst nach Milch und Honig, Cat. Ich werde versuchen, die ganze Nacht wei terzuatmen, für den Fall, dass noch etwas von deinem Duft an mir hängt.«
Oh Scheiße. Warum musste er solche Sachen sagen?
Tick Tocks Hand fuhr zu dem Messer an seinem Gürtel. Zero stellte sich vor mich und wäre mir dabei fast auf die Zehen ge treten. Rattler schüttelte nur den Kopf.
»Du wirst ein zweites Mal sterben, wenn du weiter so redest, Junge.«
Tate warf ihm einen kühlen Blick zu. »Jetzt hab ich aber Angst.« Und damit machte er sich auf zu den Fahrstühlen ins tiefste Untergeschoss, in dem seine Arrestzelle lag.
Ich räusperte mich. »Na ja. Dann hätten wir ja alle Peinlich keiten umschifft.«
Annettes Mundwinkel zuckten. »Könnte ich kurz mit dir re den, bevor ich Tate Gesellschaft leiste?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Klar. Was gibt's denn?«
Sie warf einen Blick in die Runde. »Unter vier Augen.«
»Na gut. Wir gehen in mein neues Büro.«
Meine drei Beschützer machten keine Anstalten, uns zu fol gen. Offenbar hielten sie Annette für ungefährlich. Sie wussten eben nicht, dass ich von allen hier Anwesenden am ehesten mit ihr Streit bekommen könnte.
Als ich die Tür schloss, tat ich es nur, um den Anschein von Privatsphäre zu erwecken. Untote Lauscher konnte ich ohnehin nicht abhalten.
»Okay, was liegt an?«
Annette ließ sich in einem der beiden Sessel nieder. »Crispin lässt dich zu Recht außen vor, Cat. Auch wenn du ihm das of fensichtlich übel nimmst.«
Ich verdrehte die Augen. »Jetzt fang du nicht auch noch da von an.«
Sie sah mich an. »Ich war vierzehn, als ich gegen meinen Wil len mit dem boshaftesten und widerlichsten Mann verheiratet wurde, der mir je untergekommen war ... bis dahin jedenfalls.
Am dritten Abend befahl Abbot, so hieß er, eines der Zimmer mädchen zu uns ins Bett. Als ich mich ihm verweigerte, schlug er mich. Danach habe ich nie mehr Widerworte gegeben, wenn er eine Frau mit in unser Schlafgemach brachte. Ein paar Jahre später lud eine Herzogin, Lady Genevieve hieß sie, Abbot und mich zu sich auf ihren Landsitz ein, während ihr Mann bei Hofe war. Sie betäubte Abbot, und als er schlief, sagte sie mir, sie hät te eine Überraschung für mich. Es klopfte an der Tür, und ein junger Mann trat ein. Du kannst dir sicher denken, wer er war.«
»Muss ich mir das anhören?«, unterbrach ich sie. »Das mag ja objektiv gesehen ganz interessant sein, aber ich will mir keine schlüpfrigen Anekdoten mehr über Bones und dich anhören.«
Sie winkte ab. »Ich will auf etwas Bestimmtes hinaus. Crispin und ich waren beide Opfer äußerer Umstände, verstehst du?
Nur Könige konnten sich damals scheiden lassen, und Frauen waren nichts anderes als Gebärmaschinen. Ich wurde schwan ger, von wem, weiß ich nicht, weil ich sowohl mit Crispin als auch mit Abbot geschlafen hatte, aber als ich niederkommen sollte, weigerte sich Abbot, eine Hebamme zu holen. Es war eine Steißgeburt, ich bin fast verblutet, und mein kleiner Sohn wurde von seiner eigenen Nabelschnur erdrosselt.«
Mein Ärger verflog. Selbst nach über zweihundert Jahren war der Schmerz in Annettes Stimme unüberhörbar. »Das tut mir leid«, sagte ich aufrichtig.
Sie nickte. »Durch die Totgeburt wurde ich unfruchtbar und war monatelang krank. Crispin päppelte mich heimlich wie der auf. Bald darauf wurde er wegen Diebstahls verhaftet. Lady Genevieve arrangierte für mich ein geheimes Treffen mit dem Richter. Ich konnte ihn dazu bringen, Crispin nicht zu hängen, sondern ihn stattdessen in die Kolonien nach Neusüdwales zu schicken. Nur so konnte ich mich für alles erkenntlich zeigen, was Crispin für mich getan hatte.«
»Danke.«
Das hatte ich noch nie zuvor zu Annette gesagt, aber jetzt war es überfällig. Ja, Annette und ich waren nicht besonders gut aufeinander zu sprechen, aber ohne sie - und Ian übrigens auch - hätte Bones das achtzehnte Jahrhundert nicht überlebt.
»Neunzehn elende Jahre vergingen. Eines Nachts klopfte es an der Tür unseres Schlafgemachs. Abbot öffnete und wurde rückwärts durch die Luft geschleudert. Der Eindringling streif te die Kapuze ab, und da stand Crispin und sah keinen Tag älter aus als bei unserer letzten Begegnung.
Crispin sagte mir, er hätte weder mich noch mein schlimmes Schicksal vergessen. Dann brach er Abbot jeden einzelnen Kno chen im Leib. Nachdem er meinen Mann umgebracht hatte, of fenbarte Crispin mir, was er geworden war, und stellte mich vor eine Wahl. Jetzt, wo Abbot tot war, würde ich sein gesamtes Ver mögen erben und den Rest meiner Tage bei Hofe verbringen können. Aber für mich wäre das gewesen, als würde ich einen Käfig gegen den anderen eintauschen, und so entschied ich mich für die zweite Möglichkeit, die Crispin mir anbot. Er verwandelte mich in eine Vampirin und ist seither mein Schutzherr.«
Sie unterbrach sich, um sich eine Träne wegzuwischen. »Und jetzt kommt der springende Punkt. Du bist stark, Cat, aber du bist nicht grausam. Crispin ebenso wenig, es sei denn, er ist wütend oder sieht sich in einer Zwangslage, was im Augenblick beides zutrifft. Du wärst entsetzt von dem, was du zu sehen be kämst, obwohl er nur seine Pflicht tut. Crispin gibt sich selbst die Schuld an dem, was geschehen ist, und teilweise zu Recht.
Vampire respektieren, was sie fürchten. Mitleid betrachten sie als Schwäche. Deine Liebe zu ihm sollte stark genug sein, um ihn gewähren zu lassen, auch wenn es dich deinen Stolz kostet.«
Sie erhob sich. Sie war zwar den ganzen Tag mit Tate in einer Zelle eingepfercht gewesen, sah aber so perfekt aus, als wäre sie eben aus einem Salon getreten.
»Ich verstehe dich nicht«, sagte ich schließlich. »Warum soll te dir daran gelegen sein, zwischen Bones und mir Frieden zu stiften? Vor nicht allzu langer Zeit hast du noch alles daran gesetzt, uns auseinanderzubringen.«
Auf dem Weg zur Tür blieb sie stehen. »Weil ich ihn liebe.
Ich kann ihn zwar nicht mehr haben, aber ich will trotzdem, dass er glücklich ist.«
Sie ging, aber ich brauchte noch ein paar Minuten für mich allein. Alles war so viel einfacher, wenn ich Annette einfach hassen konnte und nicht das Gefühl hatte, ich sollte vielleicht auf sie hören.
8
Zehn Minuten nach Mitternacht kam Bones zurück. Ich ging nach draußen, um den Helikopter landen zu sehen, Cooper saß am Steuer. Bones stieg als Erster aus. Dann kamen meine Mut ter, Rodney und Cooper. Cooper wirkte richtiggehend verstört, nur meine Mutter schien völlig unbeeindruckt zu sein.
»Also das war mal informativ«, waren ihre ersten Worte.
»Catherine, du hast mir nie erzählt, dass alles an einem Vampir nachwächst, egal, wie oft man es ihm abschneidet.«
Reizend. »Ich muss wohl nicht fragen, ob du dich gut amü siert hast«, murmelte ich. »Diese Weihnachten weiß ich dann wenigstens, was ich dir schenken muss.«
Sie warf mir einen missbilligenden Blick zu. »Musst du im mer so frech sein ? Na, egal, ich bin müde und will mich ein biss chen hinlegen.«
Ich machte eine ausladende Handbewegung. »Zu den Bara cken geht's da entlang.«
Sie sah sich geringschätzig um. »Baracken kenne ich noch allzu gut aus deiner ersten Zeit bei Don. Da kann man genauso gut in einem Sarg schlafen, und darauf kann ich verzichten, ich bin ja kein Vampir.«
»Mom«, zischte ich. »Es ist nur vorübergehend. Wir finden bald etwas anderes für dich. Ich würde dir anbieten, bei Bones und mir zu wohnen, aber du hast ja was gegen Vampire.«
»Ich könnte mir ein Hotel suchen«, beharrte sie.
»Und dich unter dem Namen einmieten, unter dem Max dich ausfindig gemacht hat?«, schoss ich zurück. »Nein. Don wird dir einen neuen Personalausweis und eine Unterkunft besor gen, aber bis dahin ...«
»Sie kann bei mir wohnen.«
Das Angebot kam nicht von Cooper. Nein, der hatte während unserer Unterhaltung ganz hingerissen auf den Erdboden ge starrt. Bones zog überrascht die Brauen hoch.
Rodney zuckte mit den Schultern. »Ungefähr zwei Stunden von hier habe ich ein Haus. Ich kann nicht oft dort sein, weil ich viel unterwegs bin, aber sie wäre in Sicherheit, bis dein Onkel etwas anderes für sie gefunden hat.«
Ich seufzte. »Danke für das Angebot, Rodney, aber ...«
»Sie haben dort keine Leichenteile gelagert, oder?«, mischte sich meine Mutter ein. »Nicht, dass ich einen Kopf im Kühl schrank finde.«
Rodney lachte. »Nein, Justina, dort sieht es nicht aus wie bei Jeffrey Dahmer.«
Kritisch musterte sie erst das Gebäude und dann Rodney.
»Wenn ich nur die Wahl habe, bei einem frischgebackenen Blutsauger in der Kaserne oder bei einem Ghul daheim zu woh nen, entscheide ich mich für den Ghul. Catherine, einer deiner Männer kann uns doch fahren, oder?«
Sie rauschte in Richtung Baracken davon, Rodney folgte ihr.
Der Mann ist tot, dachte ich, was nichts damit zu tun hatte, dass Rodney ein Ghul war.
Bones sah den beiden nach und wandte sich dann mir zu.
»Die Frau macht mir Angst.«
Ich schnaubte. »Geht mir mein ganzes Leben schon so.«
Bones musterte mich, er schien auf der Hut zu sein. Bestimmt fragte er sich, ob ich gleich wieder anfangen würde, ihm wegen der selbstherrlichen Art, mit der er mich behandelt hatte, die Hölle heißzumachen. Was ich jedoch nicht tat. Ich konnte sei ne Gründe noch immer nicht gutheißen, doch Annettes mah nenden Worte hatten mich nicht kaltgelassen. Unsere Bezie hung war weit wichtiger als mein gekränkter Stolz. Ich würde die Sache mit ihm klären müssen, Schmollen würde mich nicht weiterbringen.
Allerdings fühlte ich mich noch immer nicht wohl in meiner Haut und hatte keine Ahnung, wie ich mich verhalten sollte. Ich hatte Bones noch nicht einmal richtig begrüßt. Normalerweise hätte ich ihn geküsst, aber das kam mir dann doch unpassend vor. Und so vergrub ich die Hände in den Taschen und trat un behaglich von einem Fuß auf den anderen.
»Also ...«
Ich ließ das Wort in der Luft hängen. Bones schenkte mir ein schiefes Lächeln.
»Besser als >verpiss dich<, nehme ich an.«
»Ich verstehe ja, warum du es getan hast, aber wir müssen einen Weg finden, um mit solchen Sachen klarzukommen«, sprudelte es aus mir heraus. »Dem Gefühl, den anderen vor et was beschützen zu müssen, mit dem eben der andere mutmaß lich nicht umgehen kann, meine ich. Vor ein paar Jahren habe ich geglaubt, Don und meine Mutter wären zu viel für dich, also habe ich dich verlassen, aber ich hätte dir die Entscheidung selbst überlassen sollen. Genau wie du heute mir.«
Bones stieß ein ungläubiges Schnauben aus. »Du vergleichst diesen einen Abend mit den über vier Jahren Einsamkeit, die du mir beschert hast?«
Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. »Na ja, nein ...
äh, was ich sagen will, ist, dass es aufs Gleiche hinausläuft«, stammelte ich. »Was ich getan habe, war falsch und dumm, und ich kann ehrlich behaupten, dass ich es wahnsinnig bereue. Aber heute Abend hast du mir keine Wahl gelassen, Bones.«
Ich unterbrach mich, holte tief Luft und versuchte mit mei nen Augen zu sagen, was ich so schwer in Worte fassen konnte.
»Hättest du mich aus denselben Gründen gebeten wegzublei ben, aus denen du es mir befohlen hast, wäre ich einverstanden gewesen. Ich hätte dich zwar für überängstlich gehalten, wäre mir aber nicht vorgekommen, als hieltest du mich für ein klei nes dummes Gör, dem gegenüber du den großen bösen Vampir raushängen lassen musst.«
Bones warf mir einen frustrierten Blick zu. »Ich halte dich keineswegs für ein kleines dummes Gör.«
Er fing an, hin und her zu tigern. Ich sah ihm schweigend zu.
»Ich bin es so leid, der Grund dafür zu sein, dass du immer die Starke markieren musst«, sagte er, und seine Augen färbten sich von den Rändern her grün. »Wegen mir hast du vor ein paar Jah ren den Lockvogel für eine Horde mordlustiger Mädchenhändler gespielt. Du musstest mit dem Auto in ein Haus donnern, um deine Mutter zu retten - besudelt vom Blut deiner Großeltern.
Du hast den Job bei Don angenommen, der dich schon unzählige Male fast das Leben gekostet hat. Alles wegen mir.«
Er unterbrach sein Gerenne, kam zu mir und packte mich bei den Schultern.
»Ich habe es einfach satt, mit ansehen zu müssen, wie du dich ständig gezwungen siehst, mir deine Stärke zu beweisen. Heute bei Max schon wieder. Begreifst du das denn nicht?«
Ich legte meine Hände auf seine. »Doch. Aber ich habe das al les nicht wegen dir getan, Bones. Ich würde auch Jagd auf Vam pire machen, wenn ich dir nie begegnet wäre, und dann würde ich auch mit den Konsequenzen klarkommen müssen.«
Einen endlosen Augenblick lang schwieg er und sah mich mit seinem strengen, durchdringenden Blick an. Dann nickte er kurz.
»Also schön, Süße. Das nächste Mal überlasse ich dir die Ent scheidung.«
Ich drückte seine Hände. »Und ich verspreche auch dir, nichts mehr über deinen Kopf hinweg zu entscheiden.«
Seine Mundwinkel zuckten. »Wie's aussieht, muss ich zuerst zu meinem Wort stehen. Es hat sich was getan. Max hat uns verraten, wie der Typ heißt, der ihm die Panzerfaust verkauft hat, mit der er deinen Wagen in die Luft jagen wollte.«
»Weißt du, wo er jetzt ist?«
»Ja.«
Kalte Vorfreude stieg in mir auf, als ich an das Treffen mit dem Typen dachte.
»Ich komme mit.«
Bones' Gesichtsausdruck nach hatte er keine andere Reakti on erwartet.
»Morgen.«
Ich reiste zum dritten Mal nach Kanada. Für Don war ich schon beruflich dort gewesen, aber vielleicht würde ich die Niagara fälle ja eines Tages auch mal als Touristin besuchen können und niemanden umbringen müssen.
Zusammen mit meinen Begleitern saß ich in einem Van. An derthalb Kilometer entfernt war Dave in Verhandlungen über den Kauf von dreihundert Boden-Luft-Raketen, fünfhundert Granaten und drei hochpotenten Sprengstoffen vertieft. Er spielte den Kontaktmann, weil Bones zu leicht aufgefallen wäre.
Da Dave lange Zeit beim Militär gewesen war, konnte er selbst mit den abgefeimtesten Waffenschiebern fachsimpeln. Im Au genblick ereiferte man sich gerade über die Qualität des Plas tiksprengstoffes für Autobomben.
Niemand im Van sprach. Wir selbst konnten jedes Wort der Verhandlungen hören, was bedeutete, dass alle Untoten, die ihre Ohren in unsere Richtung gespitzt hatten, uns ebenfalls hätten belauschen können. Cooper und Juan überprüften noch einmal ihre mit Silber geladenen Maschinengewehre. Die Spe-zialmunition würde zwar keinen Ghul töten, einem Vampir aber ziemlich den Tag versauen. Wir waren aus gutem Grund nur so wenige. Wir wollten nicht auffallen.
Spade war ebenfalls mit von der Partie und kaute an seinen Fin gernägeln herum, während die Zeit verging. Er trug keine Waffe bei sich. Meistervampire wie Bones und er hatten so etwas nicht nötig, weil sie an sich schon Waffen waren. Und zwar tödliche.
Der kugelsichere Spezialanzug, den ich trug, kratzte unter meiner Kleidung. Er war das Allerneuste, dünn und flexibel, be deckte alle lebenswichtigen Organe und sah aus wie ein mittel alterlicher Teddy. Sollte mir der Kopf weggeschossen werden, würde er mir natürlich nichts nützen, aber der Rest von mir war sicher. Cooper und Juan trugen ihn ebenfalls. Verglichen mit den alten, unförmigen Westen hatte man darin viel mehr Bewegungsfreiheit.
»... einen Scheißdreck zahle ich dir. Das ist nicht die Ware, auf die wir uns geeinigt hatten«, sagte Dave gerade. »Was soll ich meinem Klienten sagen ? Vielleicht zünden die Dinger, viel leicht aber auch nicht, mit Allahs Hilfe wird's schon klappen?
Ihr blöden Stümper. Das Zeug kriegt man im Augenblick nach geworfen, da muss ich mich nicht mit eurem Supersonderpos ten zu Apothekerpreisen herumschlagen, also verpisst euch, man sieht sich.«
Er hatte sich offensichtlich schon ein Stück weit entfernt, denn hinter ihm hörte man hastige Schritte.
»Augenblick noch. Vielleicht können wir uns ja einigen ...«, plapperte der aufgeregte Verkäufer, bevor ihm ein Lachen das Wort abschnitt. Bones neben mir erstarrte, und auch Spade merkte auf. Das musste unsere Zielperson sein.
»Harrison, ich übernehme«, mischte sich eine kühle Stim me ein.
Wir schoben die Tür des Vans auf und kletterten leise hinaus.
Spade und Bones kamen zuerst, weil ihnen ihr nicht vorhande ner Herzschlag zum Vorteil gereichte. Wir Übrigen würden erst nachkommen, wenn der Kampf schon begonnen hatte.
»Wer sind Sie?«, erkundigte sich Dave verärgert. »Schon wieder ein Lakai?«
»Ich bin Domino, und ja, ich bin der Boss«, war die eisige Antwort. »Sie müssen die Qualität unseres Musters entschul digen. Es war ein Test. Manchmal geben sich verdeckte Ermitt ler der Polizei als Käufer aus, aber die können eine Bombe nicht von einem Bauklotz unterscheiden. Sie allerdings sind eindeu tig Profi. Obwohl ich noch nie von Ihnen gehört habe.«
Der letzte Satz klang noch eisiger als der Rest und hatte einen offen misstrauischen Unterton. Dave brummte.
»Wie viele verdeckte Ermittler ohne Puls haben schon bei euch herumgeschnüffelt? Als ich mich das letzte Mal erkun digt habe, wurden an der Polizeiakademie noch keine Untoten aufgenommen.«
»Ah, aber es gibt für alles ein erstes Mal, nicht wahr? Also dann, bitte, ich habe noch zu tun. Logan, bring die anderen Kis ten her. Bringen wir's hinter uns ...«
Domino verstummte knapp vor der Explosion. Er musste sie gespürt haben, bevor die beiden Bomben im Lagerhaus hoch gingen. Plötzlich losbrechendes Geschützfeuer und Geschrei machten mir klar, dass drinnen mehr Leute waren, als wir er wartet hatten.
Juan, Cooper und ich sprinteten auf das Gebäude zu, aus dem nun Flammen in die Nacht züngelten. Geduckt erwiderten wir das Feuer. In der Schwärze sah ich, wie unsere menschlichen und untoten Gegner zu begreifen versuchten, warum so vie le ihrer Leute zu Boden gegangen waren. Unsere in der Dun kelheit ratternden Maschinengewehre hatten zwei Vorteile.
Sie lenkten die Aufmerksamkeit der Wachen auf uns, während Spade und Bones ihr blutiges Handwerk ausübten, und erlaub ten uns außerdem, mehrere Gegner gleichzeitig ausschalten. In dem ganzen Gemetzel musste Dave vor allem verhindern, dass Domino umkam oder abhaute.
Juan hatte ein raubtierhaftes Grinsen auf dem Gesicht und stieß eine Litanei aus mir unbekannten spanischen Beschimp fungen aus, während wir die Verteidigungslinie der Gegner durchbrachen. Cooper ging die Sache nüchterner an; fast schon methodisch nahm er seine Opfer ins Visier. Die Akkuratesse, mit der er vorging, war beinahe bewundernswert. Er hatte die Lippen nur leicht gekräuselt. Für seine Verhältnisse kam das schon lautem Hohngelächter gleich.
Als ich nahe genug war, warf ich das Maschinengewehr weg und griff zu den Messern, meinen Lieblingswaffen. Meine Sil berklingen hagelten fast so schnell wie die Kugeln auf die etwa zwei Dutzend verbliebenen Kämpfer ein. Die Menschen waren leichte Beute; sie griffen sich an die Brust, sobald die Messer sie trafen.
Ein Vampir sprang mich von hinten an und warf mich zu Boden. Ich rang mit ihm, hielt seine schnappenden Fänge auf Abstand. Als ich ihm meinen Dolch ins Herz stieß, machte er ein ungläubiges Gesicht, bevor seine Visage zu verschrumpeln begann. Ich stieß ihn weg und wirbelte herum, um mich dem nächsten Angreifer zu widmen.
Diesmal war es ein Mensch, der direkt in meine Richtung zielte. In der Luft ein Rad schlagend, wich ich den Kugeln aus und freute mich diebisch über das verdutzte Gesicht des Man nes, als sie mich verfehlten. Ich riss ihm die Waffe aus der Hand und richtete sie auf ihn. Es ratterte ein paarmal kurz, und er lag tot am Boden.
Die nächsten drei Vampire waren alle noch ziemlich jung und nicht besonders stark. Ich brachte sie mit meinen Messern zur Strecke, während Juan und Cooper Salve um Salve auf die ver bleibenden Kämpfer abfeuerten. Dominos Männer schossen wild um sich, sogar auf die eigenen Leute, während wir unseren Angriff unbeirrt fortsetzten. Aus der Lagerhalle drang ebenfalls Kampflärm. Ersticktes Fluchen und Fußgetrappel, wenn jemand vergeblich zu fliehen versuchte. Aus dem Augenwinkel sah ich Dave, der Domino niedergerungen und ihm in Herznähe ein Silbermesser in die Brust gestoßen hatte.
Einen Augenblick lang sah Domino mich aus ungläubigen grünen Augen an, die immer größer wurden, als ihm seine Lage bewusst wurde. Dann begann er, sich zu wehren.
Dave donnerte ihm den Schädel aufs Pflaster, dass er brach.
Umbringen würde ihn das nicht. Die Heilung würde nur etwas dauern.
Bald darauf wurde alles still. Vereinzelte Schreie brachen un vermittelt wieder ab. Als ich mich umsah, merkte ich, dass die Gegenwehr fast erloschen war und die Überlebenden sich nach und nach ergaben. Neben unzähligen Messern trug ich auch ein Handy im Beinholster. Ich wählte Dons Nummer und teilte ihm mit, dass er die Polizei fernhalten sollte, falls die Explosionen sie auf den Plan gerufen hatten. Fünfzehn Kilometer entfernt waren mehrere meiner Teammitglieder stationiert, die seinen Anruf bereits erwarteten. Sie würden sich um die kanadische Polizei kümmern, solange wir hier aufräumten.
Über mir hörte ich plötzlich ein Zischen. Ich behielt die Mes ser in der Hand, die ich schon hatte werfen wollen, als Bones vor mir landete. Er begutachtete mich von oben bis unten, woll te sich wohl vergewissern, dass ich unverletzt war, und richtete seinen Blick dann auf den Vampir, den Dave niederhielt.
»Oh, hallo Domino. Weißt du, wer ich bin?«
Bones wies Dave mit einer Handbewegung an, Domino auf stehen zu lassen. Spade erschien, blutbefleckt, und packte Do mino mit eisernem Griff. Juan und Dave trieben die wenigen Überlebenden zusammen.
Domino funkelte Bones zornig an. »Nein. Was soll das?«
Eine eiskalte Lüge. Domino wusste sehr wohl, wer Bones war.
Sein Blick huschte immer wieder zu mir.
Bones lächelte. »Oh, super. Du willst, dass ich die Wahrheit mit Gewalt aus dir heraushole? So arbeite ich am liebsten.«
Selbst ich war verblüfft über Bones' schnelle Reaktion. Eben noch hatte Domino um sich getreten, und schon hielt Bones seine abgerissenen Beine in den Händen. Igitt.
Es schmerzte, wenn Körperteile nachwuchsen. Das hatte ich zumindest gehört. Dominos Geschrei nach zu urteilen, schien es zu stimmen.
»Kennst du mich immer noch nicht, mein Freund? Na los, lüg mich noch einmal an! Wirst schon sehen, was du davon hast.«
»Aufhören«, rief Domino. »Ich kenne dich, aber ich habe nicht gewusst, wofür die Panzerfaust war. Ehrlich, ich schwöre bei Kain.«
Bones' dunkle Brauen hoben sich. »Max hat dich nicht selbst bezahlt? Wer dann?«
Gleichzeitig fasziniert und abgestoßen starrte Domino seine vor ihm auf dem Boden liegenden Beine an. »Versprich mir, dass du mich nicht umbringst, dann sage ich dir alles.«
»Das willst du nicht wirklich«, antwortete Bones sanft. Er beugte sich näher, bis Dominos Gesicht nur noch Zentimeter von seinem entfernt war. »Denn wenn ich dich leben lasse, wirst du dir wünschen, ich hätte es nicht getan. Ich kann dich gleich hier umbringen. Wäre viel einfacher. Sieh mal, ich glaube dir ja, wenn du sagst, du hättest nicht gewusst, wofür die Panzerfaust gebraucht wurde. Deshalb lasse ich dir die Wahl. Aber egal wie sie ausfällt, du wirst mir sagen, was ich wissen will.«
Ich beobachtete, wie Hoffnung, Verzweiflung und bittere Re signation sich in Dominos Gesicht abwechselten.
»Das Geld wurde überwiesen. Von wem, weiß ich nicht«, ant wortete er schließlich. »Max hatte die Nummer eines Kontos, auf das es überwiesen werden sollte, aber das Geld kam nicht von ihm. Das weiß ich, weil er ständig angerufen hat, um nach zufragen, ob es eingegangen ist. Es hat ein paar Tage gedauert er ist ungeduldig geworden und hat irgendwas von einer Frist gesagt.«
»Zurück zu der Überweisung«, sagte Bones. »Du wirst mir all deine Kontonummern verraten und dazu noch, wo du deine Waren lagerst. Mach schon. Ich will nicht die ganze Nacht hier rumstehen.«
Domino begann, gegen Spade anzukämpfen, aber der war zu stark. »Müssen es wirklich alle sein? Nimm dir von mir aus das Geld von dem Konto für die Panzerfaust, aber lass mir den Rest!«
Bones lachte leise, was aber wenig freundlich klang. »Doch, es müssen alle sein, weil ich dir nicht nur das Leben, sondern auch deinen letzten Cent nehmen werde. Das wird allen eine Lehre sein, die meinen, sich mit mir anlegen zu können. Muss ich noch überzeugender werden?«
Fluchend begann Domino, eine Reihe von Zahlen, Adressen, Banken, Wertpapierdepots und Schließfächern herunterzuras seln, quasi alles, was er nicht unter der sprichwörtlichen Mat ratze versteckt hatte. Bones machte sich Notizen und hielt ab und zu inne, um ein Detail genauer zu hinterfragen. Als Domi no fertig war, starrte er einfach nur stur geradeaus.
Sacht fasste Bones Dominos Kopf mit beiden Händen, eine leichte Berührung, die im krassen Gegensatz zu seiner eigent lichen Absicht stand.
»Also, mein Freund, falls du irgendetwas ausgelassen oder mich angelogen hast, wirst du nicht mehr da sein, wenn ich es herausfinde. Aber du hast einen Sohn. Drogenkurier ist er, nicht wahr? Er ist nicht unantastbar für mich, und ich hätte keine Skrupel, all meinen Zorn an ihm auszulassen, damit nicht noch jemand versucht, mich zu verscheißern, wenn ich ihm einen fairen Deal anbiete. Ich frage dich also ein letztes Mal: Hast du irgendetwas ausgelassen?«
»Ich habe schon davon gehört, was für ein mieses Schwein du bist«, sagte Domino in gleichgültigem Tonfall. »Alles dahin, was ich mir erarbeitet habe. Meinem Sohn wird nichts bleiben.«
Bones' bleiche Hände packten fester zu. »Ihm wird sein Le ben bleiben. Solange er nicht in der Sache mit drinsteckt oder versucht, sich irgendwann an mir zu rächen, bleibt er verschont.
Letzte Chance.«
Domino hatte sich die Warnung offenbar zu Herzen genom men, denn er leierte in resigniertem Tonfall drei weitere Konto nummern herunter. Als Waffenhändler verdiente man anschei nend ganz ordentlich. Das Geld und die heiße Ware zusammen genommen ergaben Millionen für Bones. Kein Wunder, dass er sich über mein Gehalt kaputtlachte.
»Kluge Entscheidung«, bemerkte er, als Domino fertig war.
»Wenn du die Wahrheit gesagt hast, ist dein Sohn vor mir und den meinen sicher. Irgendwelche letzten Worte?«
»Du bist ein Arschloch.«
Bones zuckte nur mit den Schultern. »Weiß ich.«
Zwei kräftige Drehungen später war alles vorüber. Ich wandte den Blick von Dominos Kopf ab, der neben dem Rest seines Körpers zu Boden fiel.
9
Obwohl wir uns fieberhaft abmühten, über Dominos Konten den mysteriösen Geldgeber ausfindig zu machen, standen wir am Ende mit leeren Händen da. Wer auch immer es gewesen war, er oder sie war clever. Wir stießen auf Scheinfirmen, fal sche Namen und aufgelöste Konten, und das waren nur einige der Hindernisse, die sich uns in den Weg stellten.
Zwei Wochen später klingelte Bones' Handy.
»Hallo ... äh, ich habe die Nummer nicht erkannt, Menche res ...«
Der Name ließ mich aufmerken. Was wollte Bones' vampi rischer Großvater?
Bones' entspannte Züge verhärteten sich zu einer undurch dringlichen Maske, während er lauschte. »Alles klar. Bis bald«, sagte er schließlich und legte auf.
»Und?«, bohrte ich.
»Mencheres beordert mich zu sich, um einen Vorschlag zu besprechen, den er mir machen will.«
»Warum konnte er dir nicht am Telefon sagen, worum es geht?«
»Es muss wichtig sein, Schätzchen«, schnaubte Bones. »Mein Urahn hat nicht viel fürs Dramatische übrig. Wenn er mir ei nen Vorschlag zu machen hat, geht es bestimmt nicht darum, ob ich für ein kleines Entgelt seine Blumen gieße, wenn er auf Reisen ist.«
Trotz des dicken Sweatshirts, in das ich eingemummelt war, lief mir ein kalter Schauder über den Rücken. Was konnte Men cheres so Wichtiges mit Bones zu besprechen haben, dass er darüber alles stehen und liegen lassen und sich persönlich mit ihm treffen sollte?
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Mencheres öffnete uns persönlich die Tür, und ich begann un willkürlich zu zittern, als ich spürte, wie seine Aura über mich hinwegspülte. Die Energiewellen, die von ihm ausgingen, waren wie ein kleines Gewitter. Mencheres' Gesichtszüge wiesen ih als Ägypter aus, und er machte auch ganz auf Pharao mit sei nem herrschaftlichen Auftreten und dem hüftlangen schwar zen Haar. Mencheres war bestimmt über zweitausend Jahre alt, wirkte aber keinen Tag älter als fünfundzwanzig.
»Hübsch hast du's hier«, bemerkte ich beim Eintreten mit einem Blick auf all den Prunk in Mencheres' geräumiger Villa.
»Schon klar, dass du so viel Platz brauchst, bei all den Gästen hier.«
Falls ich erwartet hatte, hier das übliche Fußvolk anzutreffen, wurde ich enttäuscht. Den Geräuschen nach zu urteilen waren außer uns nur ein paar Hunde im Haus. Mastiffs. Edle Tiere. Ich selbst hatte es ja eher mit Katzen.
Bones warf mir einen Blick zu, der Mencheres zum Lächeln brachte. »Keine Sorge, sie braucht kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Ich mag ihre Direktheit. Sie ist deiner eigenen sehr ähnlich, wenn auch manchmal weniger diplomatisch.«
»Meine Frau hat nicht unrecht, auch wenn es taktlos klingt«, sagte Bones. »Normalerweise hättest du ein paar deiner Leute um dich. Darf ich also annehmen, dass du etwas Privates mit uns besprechen willst?«
»Ich dachte, es wäre dir lieber so«, antwortete er. »Darf ich euch vielleicht erst etwas anbieten. Ich habe alles da.«
Darauf wäre ich jede Wette eingegangen. Die Villa war drei mal so groß wie unser Haus und stand auf einem riesigen Grundstück. Bones zufolge beherbergte Mencheres eine gan ze Dienerschar aus Vampiren und Ghulen sowie einige seiner Sippenmitglieder mitsamt ihren Blutspendern auf dem Anwe sen. Ein so alter Vampir wie er hatte eben eine große Entourage.
Bones ließ sich einen alten Whiskey einschenken. Ich woll te nichts trinken und lieber gleich zum Punkt kommen. Mencheres führte uns in einen hübschen, maskulin anmutenden Salon. Butterweiche Ledersofas. Ein Steinkamin. Parkettfuß boden und handgewirkte Teppiche. Einer der Hunde ließ sich zu Mencheres' Füßen nieder, als der auf der Couch uns gegen über Platz nahm. Bones hielt mit einer Hand sein Glas, mit der anderen die meine.
»Schmeckt dir der Whiskey?«, erkundigte sich Mencheres.
»Jetzt sag um Himmels willen endlich, was du von uns willst«, platzte ich heraus, weil Mencheres dank seiner tele pathischen Fähigkeiten meine innere Ungeduld ohnehin längst bemerkt hatte.
Kühle Finger schlossen sich um meine. »Ich kann nicht an ders«, fuhr ich fort, mehr an Bones als an Mencheres gewandt.
»Hör mal, ich bin gut darin, mit jemandem zu flirten und ihn dann kaltzumachen oder ihn gleich kaltzumachen. Es ist nicht meine Art, lange um den heißen Brei herumzuschleichen. Men cheres hatte einen Grund, uns hierherkommen zu lassen, und der war nicht, dich zu fragen, ob dir sein Whiskey schmeckt.«
Bones seufzte. »Urahn, wenn du so freundlich wärst ...«
Mit einer Handbewegung deutete er an, was der Rest des Sat zes hätte aussagen sollen. Zur Sache, bitte.
Mencheres beugte sich vor, seine stahlgrauen Augen blickten in Bones' braune. »Ich schlage eine dauerhafte Verbindung zwi schen deiner und meiner Sippe vor, Bones. Stimmst du dieser Verbindung zu, verleihe ich dir die gleiche Macht, die mir einst verliehen wurde.«
Wow. Das kam nun wirklich unerwartet.
Bones tippte sich ans Kinn, während ich auf dem Sofa hin und her rutschte. Vampirpolitik machte mich immer nervös, und der Gedanke an eine dauerhafte Verbindung mit diesem megaun heimlichen Blutsauger war mir erst recht nicht geheuer. Da war doch noch was im Busch. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass Mencheres ein solches Angebot aus reiner Herzensgüte machte.
Bones schien auch dieser Ansicht zu sein. »Du willst unsere Sippen vereinen und mir zusätzliche Macht verleihen? Warum habe ich das Gefühl, dass dahinter mehr steckt, als du mir of fenbaren willst, Urahn?«
Mencheres' Züge blieben unbewegt. »Es wird Krieg geben, ich habe es gesehen. Wenn du mehr Macht hast und unsere Sip pen vereint sind, haben wir bessere Chancen, ihn zu gewinnen.«
»Hast du es gesehen?«, hakte ich nach. »Oder gesehen?«
Mencheres konnte nicht nur die Gedanken von Sterblichen lesen, er hatte auch das zweite Gesicht. Konnte ein bisschen hellsehen und so. Ich wusste nicht, ob ich daran glauben sollte -
würde Mencheres nicht die ganze Zeit Lotto spielen, wenn es so wäre? -, doch Bones war von Mencheres' Fähigkeiten über zeugt, und er kannte ihn schließlich seit Jahrhunderten.
»Es steht fest«, antwortete Mencheres in völlig ungerühr tem Tonfall.
Bones dachte über die Worte des Vampirs nach. Ich schwieg.
Die Entscheidung lag bei ihm. Er war es, der Mencheres schon sein ganzes untotes Leben lang kannte. Ich würde ihm die Sa che bestimmt nicht ausreden, nur weil mir in Gegenwart von Mencheres immer der Arsch auf Grundeis ging.
Nach einem scheinbar endlosen Augenblick nickte Bones.
»Ich mach's.«
Ich wusste, Mencheres konnte hören, dass ich Ach Mist dach te, auch wenn er sich nicht dazu äußerte. Er stand lediglich auf, ganz schwarzes Haar und scharfe granitfarbene Augen, und umarmte Bones.
»Nächste Woche werden wir unsere Verbindung besiegeln.
Sprich bis dahin nur mit deinen engsten Vertrauten darüber.«
Mit diesen Worten löste er sich von Bones und schenkte mir ein eisiges Lächeln.
»Jetzt darfst du gehen, Cat.«
Das Haus, in dem Mencheres die Versammlung zu Ehren der Verbindung zwischen Bones' Sippe und seiner stattfinden ließ, hatte einen gewissen sentimentalen Wert für mich. In der Villa hatte Ian mich zwingen wollen, seiner Sippe beizutreten, und ich hatte mich für Bones entschieden. Offensichtlich gehörte das Anwesen Mencheres, und Ian hatte es nur in dieser einen Nacht genutzt.
Als Bones' Meister war Ian natürlich auch zu den heutigen Festlichkeiten geladen. Ebenso wie alle direkten Nachfahren von Bones, über zweihundert Vampire, die Ghule, bei deren Er schaffung er mitgewirkt hatte, nicht eingerechnet.
Mencheres' direkte Nachfahren hätten höchstens in einem Footballstadion Platz gefunden, weshalb nur die mächtigsten und Mencheres nächststehenden eingeladen waren. Um die Wichtigkeit der neuen Verbindung zu unterstreichen, waren auch einige bedeutende Meister anderer Sippen zugegen, und nicht alle von ihnen waren freundlich gesinnt.
Die schwülstigen Sofas, die noch vor einigen Monaten die Wände gesäumt hatten, waren nicht mehr ganz so zahlreich.
Bei all dem Gedränge hätten sie nur unnötig Platz weggenom men. Fast alle Anwesenden standen. Auf den wenigen Sesseln und Sofas wagten nur die ganz hohen Tiere Platz zu nehmen.
Das bühnenartige Zentrum des Raumes bot keinerlei Sitzmög lichkeiten. Wir würden alle stehen.
So viele Untote hatte ich noch nie auf einem Haufen gese hen. Meine Haut schien fast zu zucken, so starke Vibrationen sendeten sie aus. Unsere Elitewacheinheit bestand aus Spade, Tick Tock, Rattler, Zero und noch etwa einem Dutzend anderer, mir halbwegs vertrauter Vampire. Ihre Namen waren mir zwar entfallen, dafür waren ihre Energien umso präsenter. Trotz der vielen Leute im Saal nahm man noch das Knistern wahr, das wie eine stumme Warnung von unserer Eskorte ausging. Ich war froh, dass ich ihr Freund und nicht ihr Feind war. Ich hätte nicht die geringste Chance gegen sie gehabt.
Als wir die erhöhte quadratische Plattform betraten, kam ich mir vor wie in einem Boxring. Mencheres' und Bones' Leute standen sich gegenüber, niemand sprach. Selbst die Zuschauer blieben stumm. Dann trat Mencheres in die Mitte und wandte sich den erwartungsvollen Gesichtern im Publikum zu.
Er trug eine ägyptische Tunika, ganz in Weiß, und um die Hüfte einen Gürtel, der bestimmt aus purem Gold war, darauf hätte ich meinen Arsch verwettet. Weitere Goldringe schlangen sich um seine Oberarme, und selbst seine bleiche Haut hatte einen leichten Goldschimmer. Er musste sich mit Goldpuder bestäubt haben. Mit seinem langen, dunklen, offenen Haar, das nur von einem dünnen Lapislazulireif aus der Stirn gehalten wurde, sah er aus, als wäre er eben einem antiken Fresko in ei nem Pharaonengrab entstiegen. Verdammt, ich hätte schwören können, dass er tatsächlich auf einem Fresko in irgendeinem Pharaonengrab abgebildet war.
»Ihr alle seid hier versammelt, um zu bezeugen, wie ich mich einem Bund verschreibe, der nur durch den Tod aufgehoben wer den kann. Ich gelobe, dass von dieser Nacht an Bones' Leute auch meine Leute sind, so wie meine Leute die seinigen sein werden.
Zum Beweis meiner Aufrichtigkeit soll dieser Pakt mit meinem Blut besiegelt werden. Sollte ich ihn je brechen, soll es auch zu meiner Strafe fließen. Crispin, der du dich Bones nennst, nimmst du mein Angebot an, unsere beiden Sippen zu vereinen?«
Bones drückte noch einmal meine Hand, dann trat er neben den Vampir. »Ja, ich nehme es an.«
Mencheres legte eine Pause ein, vielleicht um den dramati schen Effekt zu verstärken. »Und wie willst du deine Aufrich tigkeit unter Beweis stellen?«
Bones antwortete mit fester Stimme. »Mit meinem Blut, es soll auch zu meiner Strafe fließen, wenn ich unseren Pakt je breche.«
Für gewöhnlich hätten sich die beiden Vampire jetzt einfach die Handflächen aufgeritzt, ihren Pakt mit einem förmlichen Handschlag besiegelt, und die Sache wäre erledigt gewesen.
Ganz ähnlich wie bei einer vampirischen Hochzeitszeremonie.
Aber heute Abend würde mehr vonstattengehen, als die Gäste ahnten. Allen war klar, dass Bones und Mencheres ihre Sippen vereinigen wollten, aber jetzt kam das Wesentliche. Die Macht übertragung. Nur die auf der Plattform Versammelten zeigten sich nicht überrascht, als Mencheres auf den traditionellen blu tigen Handschlag verzichtete und sich stattdessen über Bones'
Hals beugte.
Im Publikum entstand Unruhe. Man hatte wohl begriffen, was hier geschehen sollte. In der dritten Reihe hörte ich Ian hundsgemein fluchen und lächelte. Oh oh, war da etwa jemand beleidigt?
Es blieb nicht bei Ian. Aus der Menge, die auf Mencheres' Seite des Saales stand, meldeten sich weitere unzufriedene Stimmen zu Wort. Vermutlich diejenigen, die gehofft hatten, eines Tages selbst an Bones' Stelle zu sein. Auch ein Grund, weshalb wir die Wachen dabeihatten. Konnte ja sein, dass es der eine oder andere nicht bei verbalen Unmutsbekundungen bewenden ließ.
Mencheres trank ungerührt weiter an Bones' Hals. Als er schließlich von ihm abließ, sah ich, dass Bones ein kleines biss chen wacklig auf den Beinen war. Wird ein Vampir ausgesaugt, macht ihn das schwächer, und wie es aussah, hatte Mencheres ordentlich reingehauen.
»Mein Wort, besiegelt mit meinem Blut«, krächzte Bones.
»Aus freien Stücken gegeben und angenommen.«
Als Nächster neigte Mencheres den Kopf, und Bones grub die Zähne in die dargebotene Kehle des Vampirs.
Diesmal war es anders. Etwas in der Atmosphäre veränder te sich. Eine unsichtbare Spannung im Raum nahm zu. Stati sche Elektrizität schien von den beiden Gestalten in der Mit te der Plattform auszugehen, und ich stutzte und rieb mir die Arme, als hätte ich einen Schlag bekommen. Das war sie also, die Machtübertragung. Bones hatte mir erzählt, Mencheres müsse die Energie aus seinem Blut herauszwingen; man konn te sie ihm nicht einfach stehlen, indem man ihn aussaugte. Vor meinen Augen begann die Haut des ägyptischen Vampirs auf unheimliche Weise von innen heraus zu leuchten, als wollten Sterne aus ihr hervorbrechen.
Über uns wurde es plötzlich unruhig. Offenbar wollte je mand handgreiflich werden oder sich aus dem Staub machen.
Spade gab ein knappes Kommando, und einige Vampire, die sich bis dahin versteckt gehalten hatten, ließen sich wie todbringen de Spinnen vom Dach herunter. Nachdem sie sich auf das kleine aufgebrachte Grüppchen herabgesenkt hatten, endete der Auf ruhr so schnell, wie er begonnen hatte.
Bones trank noch immer, ignorierte alles um sich herum und begann allmählich wieder sicherer auf den Beinen zu werden.
Mir war klar, dass Mencheres' Blut ihn nicht im eigentlichen Sin ne nährte, sondern ihm mit jedem Zug pure Macht einflößte. Die glitzernden Sterne auf Mencheres' Haut übertrugen sich nun mit der gleichen Natürlichkeit auf Bones, mit der Sand Meerwas ser aufnimmt. Der Anblick war wundervoll - und beängstigend.
Mit einem Mal lag ein Summen in der Luft, das sich in Se kundenbruchteilen zu einem donnernden Lärm steigerte. In stinktiv hielt ich mir die Ohren zu, während Bones rückwärts taumelte und plötzlich erschlaffte. Ich stürzte nach vorn, fing ihn auf und ließ ihn langsam zu Boden gleiten. Mencheres er ging es nur unwesentlich besser. Zwei seiner Männer ergriffen ihn, als ihm der Kopf auf die Brust sank und er zu schwanken begann, als wäre er nur noch knapp bei Bewusstsein.
Ich hielt Bones auf meinem Schoß umarmt. Unsere Eskorte bildete einen schützenden Kreis um uns und gab der Menge in knappen Worten zu verstehen, dass jeder, der sich uns näherte, getötet würde. Das war keine Übertreibung. All unsere Wachen waren mit Silber bewaffnet. Ich ebenfalls. Ich trug es in den Beinholstern unter meinem roten Kleid.
Mencheres hatte sich wieder so weit im Griff, dass er »mein Blut, aus freien Stücken gegeben und als Beweis meiner Auf richtigkeit angenommen« murmeln und seine Zähne in den Hals des Sterblichen schlagen konnte, der ihm zu diesem Zweck gebracht worden war. Ich sah nicht weiter zu, sondern streichel te Bones' Gesicht, während ich darauf wartete, dass er wieder zu sich kam.
Ein paar Minuten später war es so weit. Ich merkte es an dem plötzlichen Energieschub, der mich bereits zusammenzucken ließ, als Bones' Lider noch nicht einmal flatterten. Mit einem Mal war nichts Vertrautes mehr an ihm. Die vibrierende Ener gie, die normalerweise von ihm ausging, war nicht einfach nur mehr geworden - sie wuchs und wuchs, bis er sich anfühlte, als wollte er hier in meinen Armen in Stücke springen.
Im nächsten Augenblick schloss sich seine Hand um meine, und ich fuhr zurück. Es war, als hätte ich meine Faust in eine Steckdose gerammt.
»Verflucht noch mal, Süße, was für ein Unterschied«, waren seine ersten Worte.
Vorsichtig berührte ich ihn noch einmal. »Alles okay mit dir?«
Eine ziemlich dumme Frage, wenn man die knisternde Ener gie bedachte, die fast wie Funken in meinen Arm schoss, aber ich konnte nicht anders.
Er nickte und öffnete die Augen. »Ja, ziemlich. Genau genom men ging's mir noch nie besser. Außer wenn wir allein waren.«
Schwein. Jetzt wusste ich, dass er noch der Mann war, in den ich mich verliebt hatte. Sein Energieniveau hatte sich vielleicht verändert, aber sonst war er der Gleiche geblieben. Fast war ich erleichtert festzustellen, dass er noch immer nur das eine im Kopf hatte.
»Dann rück mal von mir runter, dein Ellenbogen drückt mich in die Niere ...«
Etwas an seinem Gesichtsausdruck brachte mich dazu, mich mitten im Satz zu unterbrechen. »Was?«, erkundigte ich mich.
»Hast du gerade Schwein zu mir gesagt?«
Ich erstarrte. Hatte ich das etwa laut ausgesprochen ?
»Verdammte Scheiße, nein, hast du nicht!«, beantwortete er seine eigene Frage und sprang in einer geschmeidigen Bewe gung auf.
Grundgütiger, er konnte jetzt Gedanken lesen ? Das hatte nun wirklich keiner von uns beiden kommen sehen.
Bones zog mich hoch und küsste mich. So viel ungezügelte Energie ging von ihm aus, dass es fast schmerzhaft war, als seine Zunge in meinen Mund glitt, dann aber war es ein gutes Gefühl.
Ein sehr, sehr gutes.
»Pst«, zischte er in mein Ohr, nachdem sein Mund sich lang sam von meinem gelöst hatte.
Den Grund für die Geheimniskrämerei konnte ich mir na türlich leicht denken. Hier waren alle möglichen Leute versam melt, und solange Bones' Feinde nicht wussten, dass er nun Gedanken lesen konnte, würden sie auch nicht befürchten, er könnte die Fähigkeit gegen sie einsetzen.
Ich sag ja nichts. Aber wir beide werden uns noch einmal über diese Sache unterhalten müssen. Es geht schließlich nicht an, dass du von jetzt an ständig in meine Gedanken eindringst, wenn dich die Neugier packt.
»Ahh!«
Ein Keuchen war mir entfahren, als er mich urplötzlich in den Hals gebissen hatte. Muttergottes, mir wurden die Knie weich. Bones stützte mich, als mich im nächsten Augenblick alle Kraft verließ.
Wir hatten abgesprochen, dass er, wenn alles vorbei war, ein bisschen Blut von mir saugen würde. Er war jetzt zwar mit Vampirsaft vollgepumpt, aber der hatte keinerlei nährende Wirkung. Über die verfügte nur menschliches Blut, und das war meines immerhin zur Hälfte. Es war also nicht der Schock darüber, von ihm gebissen zu werden, der mich in die Knie ge hen ließ. Nein, das lag an den machtvollen, erotisch aufgela denen Wellen, die mit jedem Saugen über mich schwappten.
Heilige Scheiße, so etwas hatte ich noch nie verspürt. Nur der Sex mit ihm hatte bisher eine ähnlich intensive Wirkung auf mich gehabt.
Bones löste den Mund von meiner Kehle, ließ mich aber nicht los, was auch gut so war, weil ich sonst womöglich umgekippt wäre. Was für ein Glück, dass er von mir abgelassen hatte - ich wäre im Boden versunken, wenn ich vor tausend Leuten einen Orgasmus bekommen hätte. Schlimm genug, dass alle mitbeka men, wie ich es genossen hatte, meinen Hals als Strohhalm zur Verfügung zu stellen, aber wenigstens konnte ich mir noch ver kneifen, um eine Zigarette zu bitten.
»Schäme dich nicht«, sagte Bones leise. »So fühle ich mich immer, wenn ich von dir trinke. Wir sind hier gleich fertig, Kätzchen, die Formalitäten haben wir hinter uns.«
Er hatte noch den Arm um mich gelegt, als er sich Menche res zuwandte. Auch der andere Vampir war durch seinen Blut spender erfrischt, wenn auch auf weniger sinnliche Art, hätte ich wetten mögen. Die beiden Vampire tauschten noch einen Handschlag aus und wandten sich dann an die Menge.
»Unsere Allianz ist besiegelt«, gab Mencheres feierlich be kannt.
Bones wählte weniger steife Worte. »Die Party kann begin nen, Leute!«
10
Paranoid wie immer, fürchtete Bones, einer der Gäste könn te Max' mysteriöser Gönner sein, und wich mir nicht von der Seite. Das fand ich aus zwei Gründen nicht schlecht. Erstens konnte er recht haben. Hier war alles voller Untoter, und wer hätte schon sagen können, wer davon wirklich auf unserer Seite stand. Zweitens fühlte sich seine pulsierende, neu gewonnene Kraft auf meiner Haut an wie eine Liebkosung.
Als allerdings die nackten Sterblichen auftauchten und sich unter die Gäste mischten, erstarrte ich.
Bones musste ein bisschen lachen, als er die Frage aus meinem Kopf oder einfach nur von meinem Gesicht abgelesen hatte.
»Das sind die Horsd'oevres, Kätzchen. Siehst du den Glitzer staub, mit dem sie bepudert sind? Das ist eine ganz spezielle Mixtur, ebenfalls essbar. Und da, die Leute mit den zusätzlichen Armen. Das sind keine Geburtsfehler, sondern zu Gliedmaßen geformte Leckereien, die ihnen angeklebt wurden. Auch Ghule müssen essen.«
Ungläubig sah ich zu, wie eines der lebenden Häppchen, eine Frau, auf dem Schoß eines Vampirs Platz nahm und ihm den Hals darbot, während ein Ghul seelenruhig an dem falschen vierten Arm knabberte, der der Dame aus dem Oberkörper zu sprießen schien. Igitt!
Schließlich fand ich meine Sprache wieder. »Das ist das ek ligste Vorspeisenbüffet, das mir je untergekommen ist. Wie habt ihr die Leute dazu gebracht, sich für so etwas herzugeben?
Hypnose?«
Er schnaubte. »Ganz und gar nicht. Das sind alles Freiwil lige, Schatz. Manche gehören Mencheres oder mir, andere sind Groupies - mir fällt gerade kein besseres Wort ein. Leute, die wissen, dass es Vampire und Ghule gibt, und hoffen, eines Ta ges von einem netten Untoten selbst zu einem gemacht zu wer den. Das kommt vor. Sonst würden sie uns ja nicht so die Bude einrennen. Manche stellen sich nicht nur als Snack oder Drink zur Verfügung, aber das ist ihre Entscheidung. Ich verlange so etwas nicht.«
Oh, sie waren also Abendessen und Unterhaltung zugleich.
Wie hatte sich mein Leben doch verändert. Hier stand ich und veranstaltete zusammen mit ein paar anderen Vampiren einen netten Fick-und-Futter-Abend zu Ehren von Bones' Bündnis mit einem Mega-Meisterblutsauger. Was würde ich als Nächs tes machen? Eine fette Orgie schmeißen?
Bones nahm meine Hand. »Lass uns kurz abhauen«, flüsterte er und drängte mich rückwärts in ein nahe gelegenes Arbeits zimmer. Als wir die deckenhohen Bücherregale passiert hatten, betätigte er einen Hebel, und ehe ich mich versah, standen wir in einem engen, finsteren Durchlass.
»Geheimgang?«, witzelte ich. »Das ist ja richtig abenteuer lich.«
Er lächelte. »Ah, da sind wir. Endlich allein.«
Das »Da« bezog sich auf einen kleinen, kahlen, fensterlosen Raum. Nur in der Decke war eine etwa einen Quadratmeter große Luke eingelassen.
»Die führt über den Speicher aufs Dach«, erklärte er. »Im Notfall ein schneller Fluchtweg. Der Raum hat außerdem dicke Betonwände zur Schalldämpfung.«
Wir konnten also ungehindert reden. »Du kannst jetzt meine Gedanken lesen«, keuchte ich. »Gott, Bones, irgendwie ist mir das unheimlich.«
»Ich könnte dir jetzt erzählen, dass ich dich nie belauschen würde, aber das wäre gelogen. Du stehst mir zu nahe, als dass ich deine Gedanken völlig ausblenden könnte, und selbst wenn ich die Fähigkeit dazu hätte, könnte ich dir nicht versprechen, dass ich sie auch einsetzen würde. Ich will alles von dir wissen, Kätzchen. Das, was du mir zeigst, und das, was du vor mir zu verbergen suchst.«
Diskutieren war zwecklos. Hätte ich die Gabe besessen, hät te ich mir auch nicht verkneifen können, sie zu gebrauchen.
Dass Bones' Macht zunehmen würde, hatte Mencheres zwar erwähnt, von völlig neuen Fähigkeiten hatte er allerdings nichts gesagt. Ich dachte darüber nach, was sich womöglich sonst noch verändert hatte.
»Meine Augen und Ohren sind schärfer geworden«, beant wortete Bones meine stumme Frage. »Und natürlich meine In stinkte. Alles andere müssen wir einfach abwarten.«
»Ich weiß immer noch nicht, was ich davon halten soll«, mur melte ich. Es war ein komisches Gefühl, die Fragen beantwortet zu bekommen, bevor ich sie stellen konnte.
Bones sah mich forschend an. »Ich habe mich nicht verändert, Süße. Nur meine Fähigkeiten. Kannst du mir das glauben?«
Er hätte die Antwort auch gehört, wenn ich sie nicht laut aus gesprochen hätte, aber ich tat es trotzdem.
»Ja.«
Bones verabreichte mir ein paar Tropfen seines Blutes, um aus zugleichen, was er von mir getrunken hatte, und wir kehrten zu der fragwürdigen Feier zurück. Ich war so aufgedreht, als hätte ich eine ganze Packung Koffeintabletten gefuttert. Don wird Luftsprünge machen, wenn er seine wöchentliche Blutprobe bekommt, schoss es mir durch den Kopf.
Tate stand am anderen Ende des Saales. Er fing meinen Blick auf und rieb sich zweimal die Nase. Ich erstarrte. Das war un ser übliches Zeichen, wenn es Ärger gab. Er drehte sich sofort wieder um, damit niemandem auffiel, dass wir uns gerade un-tereinander verständigt hatten.
Jetzt kamen mir Bones' neu erlangte telepathische Fähig keiten gerade recht. Irgendetwas ist im Busch, Tate ist nervös.
Wenn es einen Absperrmechanismus für die Bude gibt, wäre es jetzt an der Zeit, ihn einzusetzen.
Bones näherte sich Mencheres. Er behielt mich dicht bei sich, während wir an den anderen Gästen vorübergingen. Die beiden sprachen nicht. Vielleicht hatte auch Mencheres meine stumme Warnung gehört, denn er nickte knapp und deutete auf einen Wachposten in der Nähe.
Und dann brach die Hölle los.
Ein Vampir, der gerade auf uns zukam, explodierte. Es zerriss ihn einfach so, und übrig blieben nur angesengte Leichenteile.
Dann stürzten drei weitere Selbstmordattentäter auf uns zu.
Bones schleuderte mich im Steilpass quer durch den Raum in Richtung Tate, der sofort einen Satz nach vorn machte. Und keinen Moment zu früh. Die Explosion machte mich kurzfris tig taub. Tate fing mich auf und schützte mich mit seinem Kör per vor der plötzlichen Attacke der menschlichen und untoten Bomben überall um uns herum. Zwei lebende Häppchen gingen in die Luft wie Feuerwerkskörper und bespritzten die Glück lichen, die weit genug entfernt waren, um nicht draufzugehen, mit einer blutigen Masse. Ich lugte über Tates Schulter und trat um mich, als er sich mit vollem Körpereinsatz einen Weg aus der Menge bahnte.
»Lass mich verflucht noch mal los!«
»Du verstehst das nicht«, stieß Tate mühsam hervor und zog mir mit dem Ellbogen eins über, was mich so verblüffte, dass ich kurz aufhörte, mich zu wehren. Während er sich allerdings weiter durch die Menge drängelte, fing ich wieder an. Alle Aus gänge wurden von Vampiren aus Bones' oder Mencheres' Sippe bewacht, doch nach einem gebrüllten Befehl von Bones ließen sie uns durch. Als ich seine Stimme hörte, wurde ich vor Er leichterung ganz schwach. Wenigstens war er noch am Leben.
Tate presste mir die Hand auf den Mund und nahm sie nicht einmal weg, als ich ihn biss. Mehr konnte ich in meiner mo mentanen Lage nicht ausrichten, er hatte mich ja wie einen Sack über die Schulter geworfen. Er hörte erst auf zu rennen, als wir auf dem Rasen vor dem Haus angekommen waren.
»Lass meine Hand los, ich muss wieder rein«, stieß er fast wütend hervor, als er mich absetzte.
Ich hörte auf, ihn zu beißen, und fing an zu schreien. »Was soll der Scheiß, Tate? Glaubst du, ich würde einfach hier rum stehen, während drinnen Leute explodieren ...«
»Da ist noch eine Bombe, Cat. Hier fliegt gleich alles in die Luft.«
Ich war so schockiert, dass ich einen Augenblick lang gar nichts mehr sagte, dann rannte ich aufs Haus zu.
Tate versetzte mir einen derben Fausthieb, der mich zurück riss.
»Ich habe keine Zeit für Erklärungen«, fauchte er. »Aber ich werde alle rausschaffen, selbst deinen vampirischen Lover.
Wenn du Talisman siehst, schnapp ihn dir. Er hängt mit drin.
Halte draußen Wache, Cat.«
Er stürzte ins Haus zurück, und ich überlegte, ob ich ihm folgen sollte oder nicht. Alles in mir wollte wieder hinein und Bones vor der Bombe warnen. Was, wenn Tate ihn nicht recht zeitig erreichte? Im Geist schrie ich ihm die Warnung wieder und wieder zu, aber ich hatte keine Ahnung, ob er mich in all dem Chaos hören konnte.
Meine Entscheidung fiel, als ich drei Gestalten über das Dach huschen sah. Oh, da wollten wohl ein paar Ratten das sinkende Schiff verlassen.
Ich griff sie mir in der Luft, als sie gerade vom Dach sprin gen wollten, durch den Aufprall wurden sie gegen die Wand geschleudert. Die winzige Zeitspanne vor unserem Zusammen stoß reichte mir aus, um zu überlegen, welche ich kaltmachen musste. Den beiden weniger mächtigen Vampiren spickte ich die Brust mit Dolchen, während ich Talisman an der Hauswand den Schädel spaltete, was ihn nicht umbrachte, aber betäubte.
Als er wieder zu sich kam, biss er wie wild um sich. Talis man war ein Meistervampir und alles andere als gewillt, sich so leicht geschlagen zu geben. Ineinander verkrallt wälzten wir uns auf dem Rasen. Bald war mein Körper von Bissspuren über sät, wo seine Zähne keinen rechten Halt hatten finden können.
Erst als ich ihm ein Messer ins Herz stieß, erstarrte er. Boshaft lächelnd gab ich der Waffe einen winzigen Ruck.
»Bei der kleinsten Bewegung bist du Trockenfleisch, Arsch loch. Wenn ich du wäre, würde ich schön still halten.«
Er war aber nicht ich. »Ich lasse mich nicht einsperren wie dein Vater«, sagte er und stellte seine Worte unter Beweis, in dem er auf mir liegend zu toben begann und sich auf diese Wei se selbst das Herz aufschlitzte, dann erschlaffte er.
»Scheiße«, stöhnte ich und schob ihn von mir runter.
Ich hatte keine Zeit, lange über Talismans Selbstmord nach zudenken. Die Haustüren öffneten sich, und Gruppen von Vam piren und Ghulen wurden vom Wachpersonal hinausbegleitet.
Es waren so viele, dass sie wirkten wie Ameisen, die ihren Bau aufgeben wollten. Bones war allerdings nicht unter ihnen.
Ich sah Annette in der Menge und packte sie. »Wo ist Bones?
Warum ist er nicht hier draußen? Er weiß es doch, oder?«
Das Wort Bombe ließ ich bewusst aus, weil ich keine Panik auslösen wollte, falls die Leute noch nicht informiert waren.
Annette machte selbst einen ziemlich aufgelösten Eindruck, da bei war sie doch sonst so gefasst.
»Er ist noch drinnen. Er will erst rauskommen, wenn alle seine Leute draußen sind und er sämtliche Übeltäter gefunden hat.«
»Oh nein, das wird er schön bleiben lassen«, knurrte ich.
Annette packte mich am Arm und ließ nicht locker. »Crispin hat mich angewiesen, dafür zu sorgen, dass du draußen bleibst«, beharrte sie und hielt mich zurück.
Die Umstände einmal außer Acht gelassen, genoss ich, was ich als Nächstes tat. Kleinlich, aber wahr. Ich wirbelte herum und schoss ihr eine, dass sie mit angeknackstem Schädel zu Boden ging. Das hatte natürlich auch einen ganz praktischen Sinn, denn so konnte sie mich nicht mehr festhalten. Na also.
So selbstsüchtig war ich ja gar nicht.
Als ich in Richtung Haus sprintete, hätte ich beinahe Spade über den Haufen gerannt.
»Denk nicht mal dran, mich aufzuhalten«, warnte ich ihn und griff mir ein paar Messer, um meiner Drohung Nachdruck zu verleihen.
Er würdigte sie kaum eines Blickes. »Du musst mit mir kom men, wir müssen Crispin rausholen. Tate ist auch noch im Haus.
Uns bleiben keine vier Minuten.«
Vier Minuten! Vampire konnten einiges überleben, aber ein Bombenangriff gehörte nicht dazu. Die Angst machte mich toll kühn, und ich rannte los wie eine Verrückte, Spade immer hin ter mir.
Wir waren in der menschenleeren Eingangshalle, als er sich auf mich stürzte. Gerade hatte ich die Ecken nach möglichen Gefahren abgesucht, nichts ahnend, dass die größte von dem Mann an meiner Seite ausging. Seine Faust traf meinen Schä del völlig unerwartet. Eben noch hatte ich mit prüfendem Blick den Korridor abgesucht, da sah ich auch schon Sternchen, und alles wurde schwarz.
Als ich die Augen öffnete, lagen wir etwa hundert Meter vom Haus entfernt hingestreckt auf dem Rasen. Spade hielt mich noch immer mit eisernem Griff. Selbst die Beine hatte er in meinen verhakt.
»Du verlogener Hurensohn«, keuchte ich, während ich ver geblich gegen ihn ankämpfte.
Spade schenkte mir ein grimmiges Lächeln und packte mich fester.
»Sorry, Engel, aber Crispin würde mich umbringen, wenn ich zuließe, dass dir etwas geschieht.«
Auf dem Dach bewegte sich etwas. Weil Spade halb auf mir lag, konnte ich nicht sehen, wer oder was es war.
»Ist er das?«, fragte ich voller Verzweiflung.
Spade verdrehte den Hals. »Ich bin mir nicht ...«
Die Explosion, die ihm das Wort abschnitt, machte den Him mel so hell, dass es aussah, als hätte Gott einen Lichtschalter angeknipst. Schreiend versuchte ich mich zu befreien, als Spade mich herumwarf und mit seinem Körper abschirmte. Mein Ge sicht wurde ins Gras gepresst, während rings um mich schwere Geschosse niederhagelten. Offensichtlich Teile des Hauses, die buchstäblich wie Feuer und Schwefel auf den Rasen herabreg neten. Das Gras vor meinem Gesicht konnte nicht verhindern, dass mir der Rauch die Kehle zuschnürte.
Meine keuchenden Drohungen ignorierend rührte Spade sich ein paar Minuten lang nicht vom Fleck. Erst als keine Ein schläge mehr zu hören waren, durfte ich mich aufsetzen, aber er hielt mich weiter unerbittlich fest.
Die ziellos umherwandernden Vampire und Ghule hatten beim Anblick des vor dem nächtlichen Himmel explodieren den Hauses nicht geschrien. Sie wirkten verwirrt, aber nicht panisch.
»Charles, kannst du mir mal eben zur Hand gehen?«
Über uns tauchte Bones aus dem wabernden Rauch auf. Ich war so erleichtert, ihn zu sehen, dass ich fast geheult hätte. Er war voller Ruß, fast nackt, Hemd und Hose hatten Brandlöcher, und auch sein Haar sah ziemlich angekokelt aus. Er hielt drei Vampire im Klammergriff. Nachdem er gelandet war, ließ er sie zu Boden fallen.
»Halt die beiden mal eben. Verdammte Scheißkerle«, knurr te er und versetzte einem der Vampire einen Tritt. Der dritte setzte sich auf und schüttelte den Kopf, als wollte er seine Ge danken ordnen.
Es war Tate. Gott sei Dank hatte er es ebenfalls lebend nach draußen geschafft. Spade ließ mich los, Bones kniete sich neben mich, und ich schlang die Arme um ihn.
»Ich bin so froh, dass mit dir alles okay ist... und wag es bloß nicht noch einmal, deine Freunde zu beauftragen, mich zurück zuhalten, verdammt!«
Bones lachte in sich hinein. »Können wir uns später streiten, Kätzchen? Wir haben schließlich noch zu tun.«
Dann schob er mich ein Stück von sich weg. »Was ist mit dir passiert? Du siehst ziemlich mitgenommen aus.«
Er nahm eins meiner Messer und ritzte sich die Handfläche auf. Während ich sein Blut in mich aufnahm, spürte ich, wie der Schmerz in meinem Kopf nachließ.
»Sind Juan und Cooper wohlauf?«, erkundigte ich mich und versuchte, sie in der Menge auszumachen.
»Ich kann sie hören«, antwortete Tate. »Alles okay mit ih nen.«
Bones warf Tate einen strengen Blick zu. »Woher wusstest du, was passieren würde?«
Tates Augen blitzten grün. »Talisman, dieser Wichser, hat mich angesprochen, während du mit Cat weg warst. Sagte, er hätte gehört, ich wäre in Cat verknallt, und er wüsste einen Weg, wie ich sie ganz für mich gewinnen könnte. Ich müss te nur sicherstellen, dass du im Haus bleibst, wenn die Leute sich in die Luft sprengen. Talisman hat gemeint, du würdest Cat so weit wie möglich von den lebenden Granaten weghaben wollen. Ich sollte sie also nach draußen bringen und dann nur noch rechtzeitig meinen eigenen Arsch retten. Simsalabim, du bist aus dem Weg, und die Gevatterin Tod sucht Trost. Ich muss sagen, es war ein verlockendes Angebot.«
»Das hättest du nie getan, Tate«, mischte ich mich ein. »Dafür bist du zu anständig.«
Er lachte, mehr als nur ein bisschen sarkastisch. »Sei dir da nicht so sicher. Später bereue ich es bestimmt.«
Bones starrte Tate einen endlosen Augenblick lang an. Ich sagte nicht, was ich noch dachte - dass Bones auch Tate hasste und es ein Leichtes für ihn gewesen wäre, ihn in den Flammen umkommen zu lassen. Stattdessen hatte er ihn aus dem Haus getragen und ihm so das Leben gerettet. Was ihre moralischen Prinzipien anbelangte, waren sich die beiden ähnlicher, als sie je zugegeben hätten.
Aber wie Bones bereits gesagt hatte, gab es im Augenblick Dringenderes zu tun. Fünf Meter entfernt waren da zum Bei spiel die beiden äußerst unglücklichen Vampire, die Bones mit gebracht hatte. Ich blitzte sie aus schmalen Augen an. Da hatten sie doch tatsächlich versucht, den Mann in die Luft zu jagen, den ich liebte. Wie töricht von ihnen.