Der Mann lächelte, und ich ließ kurz sein Gesicht auf mich wir ken. Seine Augen hatten einen hübschen eisblauen Farbton, der mich an Huskyaugen erinnerte. Aber der Mann neben mir war kein Tier. Ein Mensch allerdings auch nicht.

»Ich muss jetzt los, Nick«, sagte ich. »Danke für die Drinks.«

Er strich mir über den Arm. »Nimm noch einen. Dann kann ich dein schönes Gesicht noch ein bisschen länger genießen.«

Ich verkniff mir ein Schnauben. Was für ein Schleimer. Fragte sich nur, warum er mir dauernd in den Ausschnitt glotzte, wenn er so auf mein Gesicht abfuhr.

»Also schön. Barkeeper ...«

»Lass mich raten.« Die laute Stimme kam vom anderen Ende des Nachtclubs. Ein unbekanntes Gesicht grinste mich an. »Ei nen Gin Tonic, Gevatterin?«

Scheiße.

Nick erstarrte. Dann tat er, was ich befürchtet hatte ... er rannte los.

»Alarmstufe Rot!«, rief ich und setzte der fliehenden Gestalt hinterher. Schwerbewaffnete, schwarz vermummte Män ner drängten sich an den Gästen vorbei in die Bar.

Im Rennen schleuderte Nick mir Menschen wie Wurf geschosse entgegen. Schreiende, wild um sich schlagende Ge stalten trafen mich. Sie aufzufangen und gleichzeitig mit ei nem silbernen Wurfmesser auf Nicks Herz zu zielen erwies sich als schwierig. Eine meiner Klingen landete in seiner Brust, zu weit seitlich allerdings, sodass sie sein Herz verfehlte. Trotzdem konnte ich nicht zulassen, dass die Menschen einfach wie Abfall zu Boden fielen. Nick hielt sie vielleicht dafür, ich aber nicht.

Meine Männer verteilten sich im Club, bewachten die Aus gänge und versuchten, die verbleibenden Gäste aus der Gefah renzone zu lotsen.

Nick hatte die gegenüberliegende Wand erreicht, konnte nicht weiter und sah sich hektisch um. Ich kam mit meinen Silbermessern immer näher, und meine Männer bedrohten ihn mit ihren gezückten Desert Eagles.

»Du bist umstellt«, verkündete ich das Offensichtliche.

»Mach mich nicht sauer. Wenn ich sauer bin, findest du mich bestimmt nicht mehr hübsch. Lass die Mädchen los.«

Er hatte zwei Mädchen bei ihren zarten Kehlen gepackt. Als ich das Entsetzen in dem Blick der jungen Frauen sah, flammte Zorn in mir auf. Nur Feiglinge versteckten sich hinter Geiseln.

Oder Mörder wie Nick.

»Lass mich gehen, dann lasse ich die Mädchen gehen, Ge vatterin«, zischte Nick. Sein Tonfall war nun alles andere als charmant. »Ich hätte es wissen müssen. Deine Haut ist zu per fekt für eine Sterbliche, auch wenn dein Herz schlägt und deine Augen nicht grau sind.«

»Farbige Kontaktlinsen. Heutzutage ist alles möglich.«

Nicks eisblaue Augen begannen vampirgrün zu leuchten, und seine Reißzähne kamen zum Vorschein.

»Es war ein Unfall«, kreischte er. »Ich wollte sie nicht um bringen, ich habe bloß zu lange gesaugt.«

Ein Unfall? Das sollte ja wohl ein Witz sein. »Ihr sich verlang samender Herzschlag hätte dich warnen müssen«, gab ich zurück.

»Versuch nicht, mich zu verscheißern, ich bin selbst mit einem Vampir zusammen, und dem ist so ein Malheur noch nie passiert.«

Nick erbleichte noch mehr, falls das überhaupt möglich war.

»Und wenn du hier bist ...«

»Stimmt genau, mein Freund.«

Die Stimme hatte einen britischen Akzent und einen ver nichtenden Tonfall. Unsichtbare Kraftwellen schwappten mir über den Rücken, als meine Leute beiseitetraten, um Bones, den Vampir, dem ich mein Vertrauen - und mein Herz - geschenkt hatte, durchzulassen.

Nick ließ sich nicht wie erhofft ablenken. Nein, seine Augen blieben auf mich gerichtet, als er sich plötzlich das Messer aus dem Leib riss und es einem der Mädchen in die Brust stieß.

Ich keuchte und fing die junge Frau instinktiv auf, als Nick sie mir entgegenwarf.

»Hilf ihr!«, rief ich Bones zu, der schon hinter Nick herstür zen wollte. Das Mädchen war so stark verletzt, dass es nur noch wenige Augenblicke zu leben hatte, wenn Bones es nicht heilte.

Ich hörte Bones leise fluchen, bevor er die Verfolgung auf gab, herumwirbelte und neben dem Mädchen auf die Knie sank.

Ebenfalls fluchend setzte ich dem Vampir nach. Schüsse fielen, aber nur wenige. Meine Leute konnten nicht einfach munter drauflosballern, solange noch Gäste zu den Ausgängen ström ten und Nick das zweite Mädchen wie einen Schild vor sich hielt. Nick war das ebenso klar wie mir.

Mit einem Satz sprang er über die Köpfe der Anwesenden hinweg; die Gesetze der Schwerkraft schienen für ihn nicht zu gelten. Er schleuderte das Mädchen einem meiner Teammit glieder entgegen. Der Körper riss den Soldaten zu Boden, und Nick schnappte sich die Pistole des Mannes.

Ich warf noch drei Messer nach dem Vampir, konnte aber in dem Tohuwabohu schlecht zielen. Nick kreischte auf, als sich die Klingen in seinen Rücken bohrten und das Herz verfehlten.

Dann drehte er sich um und feuerte auf mich.

In Sekundenbruchteilen wurde mir bewusst, dass die Kugeln die Umstehenden treffen würden, wenn ich mich duckte. Im Gegensatz zu mir waren sie keine Halbvampire und schwebten daher in Lebensgefahr. Also holte ich tief Luft ... und spürte im nächsten Augenblick, wie ich herumgerissen wurde. Bones drückte meinen Kopf an seine Brust, während sein Körper von drei heftigen Einschlägen erschüttert wurde. Die Kugeln, die eigentlich mich hätten treffen sollen.

Bones ließ mich los, drehte sich mit einem Ruck um und stürmte quer durch den Raum auf Nick zu, der sich gerade wieder eine Geisel schnappen wollte. Er kam nicht dazu. Bones warf sich mit solcher Wucht auf ihn, dass beide durch die Wand krachten. Ich rannte los, sprang mit ein paar Sätzen über die Umstehenden hinweg und bekam gerade noch mit, wie Bones das Messer in Nicks Brust herumdrehte.

Ich war erleichtert. Das bedeutete das Ende für Nick.

Bones drehte das Messer zur Sicherheit noch ein letztes Mal in der Wunde und riss es dann aus der Brust des Vampirs. Sein Blick richtete sich auf mich.

»Du blutest«, stellte er besorgt fest.

Ich fasste mir an die Wange, wo mich irgendein Gürtel oder Schuh getroffen hatte, als Nick versucht hatte, mich mit menschlichen Wurfgeschossen auszubremsen.

»Du hast gerade ein paar Kugeln abbekommen und machst dir Sorgen wegen meines kleinen Kratzers?«

Bones kam zu mir und berührte mein Gesicht. »Mein Körper heilt in Sekunden, Süße. Deiner nicht.«

Ich wusste zwar, dass er die Wahrheit sagte, konnte es mir aber nicht verkneifen, seinen Rücken abzutasten, um mich zu vergewissern, dass seine Haut intakt war, die Kugeln kein zer fetztes Fleisch hinterlassen hatten.

»Du musst übrigens auch noch jede Menge andere Verletz te heilen, wo wir gerade davon sprechen. Um meinen Kratzer kannst du dich später kümmern.«

Bones ignorierte meine Bemerkung, ritzte sich mit einem Reißzahn den Daumen auf und legte ihn mir erst auf den Schnitt an meiner Wange und dann an die Lippen.

»Für mich kommst du immer an erster Stelle, Kätzchen.«

Nur Bones nannte mich so. Für meine Mutter war ich Cathe rine, für mein Team Cat und für die Untoten die Gevatterin Tod.

Ich leckte das Blut von seinem Finger. Diskutieren war zweck los, das wusste ich aus Erfahrung. Außerdem hatte ich an Bones'

Stelle ähnlich gehandelt.

»Na dann«, sagte ich, als meine Wange nicht mehr brannte.

»Bringen wir's hinter uns.«

Die junge Frau, die Nick meinen Männern entgegengewor fen hatte, lag ein Stück weit entfernt. Bones musterte sie kurz, sah, dass sie körperlich unversehrt war, und näherte sich ihr.

»Das ist ... er ist doch kein ...«, fing sie an zu stammeln, als sie seine Fänge und die grün leuchtenden Augen sah.

Ich tätschelte ihr die Schulter. »Keine Sorge. In zehn Minuten wirst du dich an nichts mehr erinnern.«

»A...aber was ...?«

Ich ignorierte ihr restliches Gestotter und nahm die anderen Opfer in Augenschein. Abgesehen von Nick schienen glück licherweise alle mit dem Leben davongekommen zu sein. Die andere Geisel war bereits von Bones geheilt worden. Nur ein Blutfleck auf ihrer Brust und ihr zerrissenes Oberteil zeigten noch an, wo das Messer sie verletzt hatte. Wir hatten Glück.

»Schadensbilanz?«, wandte ich mich an Cooper, der kniend über einen der Gäste gebeugt war, den Nick nach mir geworfen hatte.

»Lässt sich verkraften, Boss. Mehrere Knochenbrüche, Ab schürfungen, Quetschungen, das Übliche.«

Ich sah zu, wie Bones zwischen den Verletzten hin und her ging und denen, die es schlimmer erwischt hatte, ein paar Trop fen seines Blutes verabreichte. Vampirblut war einfach das bes te Heilmittel.

»Noch mal Alarmstufe Rot, querida«, informierte mich Juan, einer meiner beiden Hauptleute. Er deutete auf den vorlauten Vampir am anderen Ende des Raums, der gerade von Dave, dem anderen Hauptmann, dingfest gemacht wurde. Dave war ein Ghul und konnte dem zappelnden Vampir Paroli bieten. Meinen menschlichen Teammitgliedern wäre das kaum möglich gewesen.

Ich nickte. »Ja, leider.«

Juan seufzte. »Das waren jetzt schon drei hintereinander. Ist wirklich schwer, deine Identität geheim zu halten, sogar wenn du deine Augen- und Haarfarbe änderst.«

Das hörte ich nicht zum ersten Mal. Ich fing Bones' Blick auf.

Hab ich dir doch gesagt, gab sein Gesichtsausdruck deutlich zu verstehen.

In den vergangenen Monaten war unsere Situation tatsäch lich immer gefährlicher geworden. Zu viele Untote wussten, dass eine Halbvampirin Jagd auf sie machte, und waren gewarnt.

Ich warf dem dingfest gemachten Vampir einen bösen Blick zu. »Danke, dass du meine Tarnung hast auffliegen lassen.«

»Ich wollte dir nur einen ausgeben«, stammelte er. »Ich war mir nicht mal sicher, ob du es wirklich bist, aber deine Haut ...

die war einfach zu perfekt für eine Sterbliche, obwohl du at mest. Und du hast rotes Haar, das habe ich gesehen, als du den Arm gehoben hast. Die kleinen Haarstoppeln in deiner Achsel höhle sind nicht blond.«

Ungläubig hob ich den Arm und inspizierte die rasierte Haut darunter. Man höre und staune.

Dave riskierte ebenfalls einen Blick. »Er hat recht. Wer hätte gedacht, dass dir jemand unter die Arme gucken würde.«

Ja, wer hätte das gedacht. Frustriert fuhr ich mir mit der Hand durch mein gefärbtes Blondhaar. Jetzt hatte ich alle Farben durch.

Auch mit Schwarz und Braun hatte ich es schon versucht, dazu kamen noch Kontaktlinsen in den unterschiedlichsten Farben, aber in letzter Zeit hatte das alles nicht mehr funktioniert.

»Juan, halt mal«, sagte ich und gab ihm meine Messer. Nach mehrmaligem Blinzeln hatte ich mir die braunen Kontaktlinsen aus den Augen gefischt. Ah, welche Erleichterung! Die hatten mich schon den ganzen Abend genervt.

»Darf ich mal sehen?«, mischte sich der Vampir ein. »Ich hab davon gehört, aber kannst du es mal vormachen?«

Daves Griff wurde fester. »Sie ist keine Jahrmarktsattrakti on.«

»Nicht?« Ich seufzte und ließ meine Augen aufleuchten.

Sie strahlten wie zwei smaragdfarbene Scheinwerfer, wie es sich für Vampiraugen unter bestimmten Umständen gehört.

Ein unumstößlicher Beweis meiner Abstammung.

»Ich heiße Ernie. Ich gehöre zu Two-Chains Sippe. Two-Ghain ist ein Freund von Bones, du kannst mich also nicht ein fach umbringen.«

»Wer braucht schon Feinde, wenn er solche Freunde hat?«, gab Bones sarkastisch zurück. Er hatte sich wieder zu mir gesellt, nachdem er alle Verletzten geheilt und ihnen kraft vampirischer Gedankenkontrolle falsche Erinnerungen eingegeben hatte.

»Du hast meine Freundin ja quasi zum Abschuss freigegeben, als du ihren Namen durch die ganze Bar gebrüllt hast«, fuhr Bones fort. »Allein dafür sollte ich dir eigentlich schon die Eier abreißen und sie dir zum Fraß vorsetzen.«

Manch einer hätte das nur so dahingesagt. Aber nicht Bones.

Er bluffte nie. Ernie kannte seinen Ruf offensichtlich. Er press te die Schenkel zusammen.

»Bitte nicht«, flehte er. »Ich wollte ihr doch nichts Böses, ich schwör's bei Kain.«

»Schon klar.« Bones' Stimme war eisig. »Aber wenn du lügst, wird dir nicht mal mehr der Erschaffer aller Vampire helfen können. Kätzchen, bis ich sicher sein kann, dass er wirklich ei ner von Two-Chains Leuten ist, soll er im Stützpunkt unterge bracht werden, und zwar in der Kapsel.«

Bones wandte sich an mich, weil ich im Job seine Vorgesetzte war. Innerhalb der Vampirgesellschaft jedoch hatte Bones mit seinen über zweihundert Jahren einen weitaus höheren Rang als ich.

»Geht in Ordnung. Aber in der Kapsel wird's ihm gar nicht gefallen.«

Bones' Lachen klang ein wenig bitter. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie ungemütlich es in unserer Vampirtransportvor richtung war.

»Wenn er lügt, hat er bald ganz andere Sorgen.«

Cooper kam zu uns. »Boss, die Kapsel ist bereit.«

»Mach ihn darin fest. Hier muss so schnell wie möglich wie der Ruhe einkehren.«

Mein Stellvertreter, Tate Bradley, betrat den Club. Aus dun kelblauen Augen sah er sich im Raum nach mir um.

»Cat, das war jetzt das dritte Mal, dass dich jemand erkannt hat.«

Das wusste ich selbst. »Wir müssen uns einfach eine bes sere Tarnung einfallen lassen. Und zwar schnell, vor dem Job nächste Woche.«

Tate ließ sich von meinem Tonfall nicht beschwichtigen. »Du spielst mit deinem Leben, wenn du ein so hohes Risiko eingehst.

Der Nächste, der dich erkennt, zieht vielleicht eine Knarre, statt dir einen Drink zu spendieren. Das Ganze wird zu gefährlich, selbst für deine Verhältnisse.«

»Mach mir keine Vorschriften, Tate. Ich bin der Boss, also fang nicht an, den großen Bruder zu spielen.«

»Du weißt, dass meine Gefühle für dich alles andere als brü derlich sind.«

Ehe ich mich versah, hatte Bones Tate am Schlafittchen ge packt. Die Füße des Mannes baumelten ein gutes Stück über dem Fußboden in der Luft. Tates Kommentar hatte mich so wü tend gemacht, dass es einen Augenblick dauerte, bis ich Bones anwies, ihn loszulassen.

Hätte ich Tate nicht seit Jahren gekannt, wäre ich ihm selbst an die Gurgel gegangen, weil er sich ununterbrochen an mich heranschmiss, nur um Bones zu provozieren.

Statt zu treten oder wild um sich zu schlagen, verzog Tate das Gesicht zu einer Art Grinsen.

»Was willst du machen, Gruftie«, keuchte er. »Mich umbrin gen?«

»Lass ihn runter, Bones. Sein loses Mundwerk ist im Augen blick unser geringstes Problem«, sagte ich. »Wir müssen hier fertig werden, Ernies Identität überprüfen, Don Bericht erstat ten und nach Hause fahren. Komm schon, der Mond steht hoch am Himmel.«

»Eines Tages treibst du es zu weit«, knurrte Bones und ließ Tate abrupt los.

Ich warf dem Soldaten einen warnenden Blick zu. Auch ich befürchtete, dass er einmal zu weit ging. Tate war mein Freund, und er bedeutete mir viel, aber seine Gefühle für mich waren gänzlich anderer Natur. Dass Tate in letzter Zeit entschlossen war, diese Gefühle auch zu zeigen, machte alles noch schlimmer, insbesondere wenn er es vor Bones tat.

Sein Verhalten wirkte wie das sprichwörtliche rote Tuch auf den Stier. Vampire waren nicht gerade dafür bekannt, dass sie gern teilten. Bisher hatte ich zwar verhindern können, dass die beiden ernsthaft aneinandergerieten, sollte Tate aber so weiter machen, würde er es nicht überleben.

»Senator Thompson wird mit Genugtuung hören, dass der Mörder seiner Tochter bestraft wurde«, sagte mein Onkel und Vorgesetzter, Don Williams, als wir später in seinem Büro sa ßen. »Cat, man hat mir gesagt, du bist wieder erkannt worden.

Das ist jetzt schon das dritte Mal.«

»Ich hätte da eine Idee«, antwortete ich. »Tu dich doch ein fach mit Tate und Juan zusammen und verkünde es der ganzen Welt. Ich weiß verdammt noch mal selbst, dass es zum dritten Mal passiert ist, Don!«

Er störte sich nicht an meiner Ausdrucksweise. An meinen ersten zweiundzwanzig Lebensjahren hatte Don keinen Anteil gehabt, dafür aber die letzten fünf umso intensiver miterlebt.

Vor ein paar Monaten erst hatte ich überhaupt von unserer Ver wandtschaft erfahren. Don hatte sie mir verschwiegen, weil ich nicht wissen sollte, dass der Vampir, der - angeblich - meine Mutter vergewaltigt hatte, sein Bruder war.

»Wir werden uns einen anderen weiblichen Lockvogel su chen müssen«, stellte Don fest. »Deine Rolle als Teamleiterin steht außer Frage, Cat, aber es ist einfach zu riskant, dich weiter als Köder einzusetzen. Bones stimmt mir sicher zu.«

Ich stieß ein spöttisches Lachen aus. Die Tatsache, dass ich re gelmäßig mein Leben aufs Spiel setzte, war Bones ungefähr so verhasst wie mir mein Vater.

»Worauf du dich verlassen kannst. Bones würde vor Freude auf deinem Grab tanzen, wenn du mich dazu bringst, meinen Job aufzugeben.«

Bones, der das offensichtlich auch so sah, zog ungerührt eine Augenbraue hoch.

»Du würdest ihn doch nur dazu bringen, Don wieder aus zubuddeln, Cat«, warf Dave spöttisch lächelnd ein.

Ich lächelte zurück, als ich daran dachte, wie wir Dave aus dem Grab geholt hatten, als der bei einem Einsatz ums Leben gekommen war. Dass Vampirblut ein äußerst potentes Allheil mittel war, hatte ich vorher zwar auch schon gewusst, dass aber ein tödlich Verletzter als Ghul wiederauferstehen konnte, wenn er vor Todeseintritt davon trank, war mir bis dahin nicht be kannt gewesen.

Don hüstelte. »Wie dem auch sei, wir alle sind der Meinung, dass es für dich zu gefährlich ist, weiter als Lockvogel zu fun gieren. Denk an die Unbeteiligten, Cat. Jedes Mal, wenn wir Alarmstufe Rot haben, geraten Menschen in Lebensgefahr.«

Er hatte recht. Der heutige Abend war das beste Beispiel. In die Enge getrieben reagierten Vampire und Ghule schnell pa nisch. Zudem eilte mir der Ruf voraus, keine Gefangenen zu machen, und was hatten sie schon zu verlieren, wenn sie so viele Menschen wie möglich mit in den Tod rissen?

»Scheiße.« Ich gab mich geschlagen. »Aber dank deiner sexis tischen Vorschriften haben wir keine weiblichen Teammitglie der, Don, und nächste Woche steht wieder ein Einsatz an. Uns bleibt also nicht genug Zeit, um eine qualifizierte Soldatin auf zutreiben, ihr zu offenbaren, dass es Vampire und Ghule gibt, sie mit den nötigen Selbstverteidigungstaktiken vertraut zu machen und dann adrett herausgeputzt in die Schlacht zu schicken.«

Nach diesen Einwänden herrschte Schweigen. Don zupfte an seiner Augenbraue, Juan pfiff vor sich hin, und Dave ließ die Nackenwirbel knacken.

»Wie wäre es mit Belinda?«, mischte sich Tate ein.

Ich starrte ihn ungläubig an. »Die Frau ist eine Mörderin.«

Tate schnaubte. »Ja, aber als Trainingshilfe für die Männer hat sie gute Arbeit geleistet. Wegen guter Führung haben wir ihr in Aussicht gestellt, dass sie in zehn Jahren freikommt.

Wenn wir sie zu Einsätzen mitnehmen, können wir vielleicht besser beurteilen, ob sie wirklich vom Saulus zum Paulus ge worden ist, wie sie behauptet.«

Bones zuckte leicht mit den Schultern. »Riskante Angele genheit, aber Belinda ist eine Vampirin und daher stark genug für den Job. Außerdem sieht sie gut genug aus, um den Lock vogel spielen zu können, und wir würden sie nicht erst ausbil den müssen.«

Ich konnte Belinda nicht ausstehen, was nicht nur daran lag, dass sie schon einmal versucht hatte, mich umzubringen.

Sie und Bones hatten eine gemeinsame Vergangenheit, in der Bones' Geburtstagsfeier, eine zweite Vampirin namens Annet te, zwei sterbliche Mädels und sehr wenige Worte eine Rolle spielten.

»Don?«, wandte ich mich an meinen Boss.

»Nächste Woche versuchen wir es mit Belinda«, verkündete er nach einer Weile. »Wenn sie es nicht bringt, sehen wir uns nach einem geeigneten Ersatz um.«

Eine Vampirin sollte uns helfen, ihre Artgenossen zu ködern und umzubringen. Klang fast so verrückt wie unsere bisherige Strategie, nämlich mich, eine Halbvampirin, dazu zu benutzen.

»Da wäre noch etwas«, bemerkte Don abschließend. »Als Bones vor drei Monaten unserem Team beigetreten ist, haben wir eine Vereinbarung getroffen. Seinen wichtigsten Beitrag zu unserer Arbeit habe ich noch nicht eingefordert ... bis heute.«

Ich fuhr zusammen. Mir war klar, worauf er hinauswollte. Zu meiner Linken zog Bones gelangweilt eine Augenbraue hoch.

»Was unsere Abmachung anbelangt, werde ich keinen Rück zieher machen. Sag mir also, wen ich für dich in einen Vampir verwandeln soll.«

»Mich.«

Tate hatte das gesagt. Ich sah ihn an.

»Du hasst Vampire!«, platzte es aus mir heraus. »Warum willst du dann einer werden?«

»Ich hasse Bones«, pflichtete Täte mir ohne Umschweife bei.

»Aber du selbst hast einmal gesagt, dass es die Persönlichkeit ist, die den Charakter eines Vampirs ausmacht, und nicht um gekehrt. Was bedeutet, dass ich Bones auch als Menschen ge hasst hätte.«

Klasse, dachte ich, von Tates Anliegen noch immer scho ckiert. Wenigstens hat er keine Vorurteile mehr gegen Untote.

Na dann.

Bones musterte Don. »Ich brauche Zeit, um ihn auf den Über tritt vorzubereiten, und eins möchte ich gleich klarstellen.« Er wandte sich wieder Tate zu. »Dadurch wirst du nicht erreichen, dass Cat dich liebt.«

Ich wandte den Blick ab. Bones hatte laut ausgesprochen, was auch mir insgeheim Sorge bereitete. Gott, hoffentlich war ich nicht der Grund für Tates Entscheidung, sich als Erster aus un serem Team in einen Vampir verwandeln zu lassen.

»Ich liebe dich als Freund, Tate.« Meine Stimme war leise. Es war mir unangenehm, das vor so vielen Leuten sagen zu müs sen, aber alle hier wussten über Tates Gefühle Bescheid. In letz ter Zeit hatte er keinen großen Hehl mehr daraus gemacht. »Du bist sogar einer meiner besten Freunde. Aber mehr eben nicht.«

Don räusperte sich. »Wenn von deiner und Bones' Seite kei ne weiteren Bedenken vorliegen, tun Tates Gefühle hier nichts zur Sache.«

»Seine Motive aber sehr wohl«, widersprach Bones prompt.

»Was, wenn es ihn verbittert, dass er mir Cat nicht wegneh men kann ? Und lass mich dir versichern, Kumpel, das wirst du nicht. Bleibt also die Frage: Will er es selbst, oder tut er es für sie? Basiert seine Entscheidung auf den falschen Gründen, wird er nämlich ausreichend Zeit haben, sie zu bereuen.«

Schließlich äußerte sich auch Tate. »Meine Gründe gehen nur mich etwas an, und meine Arbeitsmoral wird nicht darun ter leiden.«

Bones schenkte ihm ein schmallippiges Lächeln. »In hun dert Jahren wird es diesen Job und deinen Boss längst nicht mehr geben, aber du wirst immer noch mein Geschöpf sein.

Du schuldest mir Treue, bis ich dir erlaube, deine eigene Sippe zu gründen, oder bis du mich zum Duell herausforderst und dir dein Recht erkämpfst. Bist du dir sicher, dass du dich darauf einlassen willst?«

»Ich werde schon klarkommen«, antwortete Tate knapp.

Bones zuckte mit den Schultern. »Dann also abgemacht.

Wenn alles gut geht, bekommst du deinen Vampir, Don. Wie ich es versprochen habe.«

Dons Gesichtsausdruck wirkte gleichermaßen grimmig wie zufrieden. »Ich hoffe, ich werde es nicht bereuen.«

Das hoffte ich auch.

2

Später erwachte ich allein in unserem Bett. Ich sah mich schläf rig um und stellte fest, dass Bones nicht da war. Neugierig ging ich nach unten, wo ich ihn auf der Couch im Wohnzimmer vor fand.

Er starrte durch das Fenster auf den fernen Gebirgskamm.

Vampire konnten vollkommen reglos dasitzen, starr wie Statu en. Schön genug für ein Kunstwerk war Bones jedenfalls. Sein dunkelbraunes Haar wirkte im Mondlicht heller. Er trug es jetzt wieder in seiner natürlichen Farbe, nicht mehr blond gefärbt, um bei Einsätzen weniger aufzufallen. Die matten Silberstrah len beschienen auch sanft das Relief seines alabasternen Kör pers, betonten die muskulöse Statur. Seine dunkleren Brauen hatten fast die gleiche Farbe wie seine Augen - wenn diese nicht vampirgrün leuchteten. Als er den Kopf drehte und mich in der Tür stehen sah, ließen Schatten seine hohen Wangenknochen noch edler wirken.

»Hey.« Ich zog meinen Bademantel enger um mich, als ich seine Anspannung spürte. »Stimmt was nicht?«

»Alles in Ordnung, Schatz. Bin bloß ein bisschen nervös.«

Ich merkte auf und setzte mich neben ihn. »Du bist doch sonst nie nervös.«

Bones lächelte. »Ich habe etwas für dich. Ich weiß allerdings nicht, ob du es haben willst.«

»Warum sollte ich es nicht haben wollen?«

Bones glitt von der Couch und kniete sich vor mich hin. Ich kapierte immer noch nichts. Erst als ich das kleine schwarze Samtkästchen in seiner Hand sah, kam mir die Erleuchtung.

»Catherine.« Hätte ich seine Absicht noch nicht erkannt, wäre ich durch die Nennung meines vollen Namens darauf gekommen. »Catherine Kathleen Crawfield, willst du mich heiraten?«

Erst jetzt merkte ich, wie sehr ich mir gewünscht hatte, dass Bones mich das fragen würde. Klar, nach vampirischem Recht waren wir bereits verheiratet, aber der blutige Handschlag, mit dem Bones mich zur Frau genommen hatte, war so gar nicht das, was ich mir als kleines Mädchen unter einer Traumhochzeit vor gestellt hatte. Außerdem hatte Bones es getan, um einen handfes ten Krieg zwischen seiner Sippe und der seines Erzeugers Ian zu verhindern, der ebenfalls glaubte, Anspruch auf mich zu haben.

Als ich Bones nun aber ansah, verblassten all meine kin dischen Träumereien. Er war zwar kein Märchenprinz, sondern ein Vampir, ehemaliger Gigolo und Auftragskiller, doch nun, da er, der Mann, den ich so abgöttisch liebte, auf Knien um meine Hand anhielt, hätte keine Märchenheldin bewegter sein können als ich. Die Rührung schnürte mir die Kehle zu. Womit hatte ich so viel Glück verdient?

Bones schnaubte in gespielter Entrüstung. »Ausgerechnet jetzt fehlen dir die Worte. Sag doch bitte einfach ja oder nein.

Die Spannung bringt mich noch um.«

»Ja.«

Tränen traten mir in die Augen, und ich lachte, weil ich vor lauter Freude hätte platzen mögen.

Etwas Kühles und Hartes wurde mir über den Finger ge streift. Vor meinen Augen war alles so verschwommen, dass ich kaum erkennen konnte, was es war, aber ich sah etwas Ro tes aufblitzen.

»Den habe ich vor fast fünf Jahren schleifen und fassen las sen«, sagte Bones. »Ich weiß, du denkst, ich hätte dich nur gehei ratet, weil ich keine andere Wahl hatte, aber das stimmt nicht.

Ich wollte dich immer schon zur Frau nehmen, Kätzchen.«

Zum ungefähr tausendsten Mal bereute ich es, Bones damals verlassen zu haben. Ich hatte geglaubt, ihn zu beschützen, aber wie sich herausstellte, hatte ich uns beiden nur unnötiges Leid zugefügt.

»Wie konnte es dich nur nervös machen, mich zu fragen, ob ich dich heiraten will, Bones? Ich würde für dich sterben. Wa rum sollte ich dann nicht mit dir leben wollen?«

Er gab mir einen langen, innigen Kuss, und als ich mich schließlich von ihm losriss, um Atem zu schöpfen, hauchte er mir die nächsten Worte auf die Lippen.

»Genau das will ich auch.«

Später lag ich in seinen Armen und erwartete den heranbre chenden Tag, der nicht mehr fern war.

»Willst du irgendwohin fahren oder lieber ganz groß fei ern?«, fragte ich schläfrig.

Bones lächelte. »Du weißt doch, wie wir Vampire sind, Schatz.

Wir lassen es immer gern krachen. Mir ist klar, dass die vampi rische Zeremonie nicht das war, was du dir unter einer Hochzeit vorstellst, also will ich, dass du noch eine richtige bekommst.«

Ich stieß ein amüsiertes Schnauben aus. »Wow, eine große Feier. Dürfte ein bisschen dauern, dem Partyservice zu erklären, was wir essen wollen. Hauptspeisen zur Wahl: Rind oder Mee resfrüchte für die Sterblichen, rohes Fleisch und Körperteile für die Ghule ... und ein Fässchen frisches warmes Blut an der Bar für die Vampire. Gott, ich kann mir schon das Gesicht meiner Mutter vorstellen.«

Bones' Lächeln wurde diabolisch, und er sprang auf. Neugie rig beobachtete ich, wie er durchs Zimmer ging und eine Num mer in sein Handy eintippte.

»Justina.«

Kaum hörte ich den Namen meiner Mutter, rannte ich Bones hinterher. Der ergriff die Flucht, versuchte, sein Lachen zu un terdrücken, und redete weiter.

»Ja, ich bin's, Bones. Na, na, das war aber ein böses Wort ...

hmhm, du mich auch, Justina ...«

»Gib mir das Handy«, befahl ich.

Er ließ mich einfach stehen. Seit ihrer Begegnung mit mei nem Vater hatte meine Mutter einen krankhaften Hass auf Vampire. Sie hatte sogar schon versucht, Bones umbringen zu lassen - zweimal -, weshalb es ihm jetzt auch solchen Spaß machte, ihr eins auszuwischen.

»Eigentlich habe ich ja nicht angerufen, um mir anzuhören, was für ein untoter Mordgeselle ich bin ... ach ja, und ein mie ser Stricher auch. Habe ich dir schon mal erzählt, dass meine Mutter auch auf den Strich gegangen ist? Nicht? Also wirklich, meine Familie ist schon seit Generationen im horizontalen Ge werbe tätig ...«

Ich hielt den Atem an, als Bones meiner Mutter dieses neue Detail aus seiner Vergangenheit offenbarte. Inzwischen war sie bestimmt auf hundertachtzig.

»... eigentlich wollte ich dir eine freudige Nachricht verkün den. Ich habe deine Tochter gebeten, mich zu heiraten, und sie hat eingewilligt. Herzlichen Glückwunsch, ich werde offiziell dein Schwiegersohn. Soll ich dich jetzt schon Mom nennen oder erst nach der Hochzeit?«

Ich warf mich mit einem Satz auf ihn und schaffte es endlich, ihm das Handy zu entreißen. Bones lachte so sehr, dass er sogar Atem holen musste.

»Mom, bist du noch dran? Mom ...?«

»Vielleicht wartest du erst mal einen Augenblick, Kätzchen.

Ich glaube, sie ist ohnmächtig geworden.«

Manchmal stimmte mich der Gedanke, dass ich nie Kinder ha ben würde, schon ein bisschen wehmütig. Mein Vater hatte meine Mutter zwar noch schwängern können, weil er gerade erst zum Vampir geworden war, doch im Allgemeinen waren Untote nicht fortpflanzungsfähig. Künstliche Befruchtung kam ebenfalls nicht in Frage, weil ich nie das Risiko eingegangen wäre, meine genetischen Anomalien an mein Kind weiterzuge ben, und adoptieren wollte ich aufgrund meines gefährlichen Lebensstils auch keines.

Im Augenblick allerdings war ich froh um meine Kinder losigkeit. Auf der Jagd nach Vampiren und Ghulen hatte ich zwar schon einiges erlebt, aber inmitten von kreischenden Kin derhorden zu stehen, die, aufgeputscht von Unmengen Süß kram, kreischend von einem Spielautomaten zum nächsten rannten, war ein echter Horrortrip, zumal ich nicht wegkonnte.

Bones, der Glückliche, wartete vor dem Chuck-E.-Cheese-Restaurant. Das hatte mit seiner Aura zu tun. Andere Vam pire spürten ihn, wenn er in der Nähe war, was drinnen der Fall gewesen wäre, also behielt Bones für gewöhnlich draußen die Umgebung im Auge, bis unsere Zielperson wusste, dass wir hinter ihr her waren und die Party richtig losging. Mir fehlte die typische Aura der Untoten, die sich, je nach Stärke des Vam pirs, anfühlen konnte wie statische Elektrizität oder ein aus gewachsener Stromschlag. Nein, mein Herz schlug, und ich at mete, und deshalb wirkte ich harmlos - zumindest auf alle, die es nicht besser wussten.

Aus diesem Grund zeigte ich auch fast keine Haut. Hey, ich spielte jetzt nicht mehr den Lockvogel, also musste ich auch mein Schlampen-Outfit nicht tragen. Belinda war es, die in ein tief ausgeschnittenes Oberteil und eine Jeans gesteckt worden war, die ein gutes Stück ihres Bauches freiließ. Sie hatte sich Lo cken gelegt, und geschminkt war sie auch, eine Seltenheit, weil sie als Dons Gefangene nicht viel rauskam.

Wenn man Belinda mit ihrem Blondhaar, dem lächelnden Schmollmund und ihren überwältigenden Kurven so ansah, hätte man sie nie für eine Vampirin gehalten, zumal sie am helllichten Tag unterwegs war. Selbst Menschen, die die Exis tenz von Vampiren für potenziell möglich hielten, glaubten schließlich, sie würden nur nachts umgehen, was natürlich, wie so vieles, Humbug war. Vampire schliefen weder in Särgen, noch fürchteten sie sich vor religiösen Symbolen, und mit ei nem Holzpflock konnte man sie auch nicht töten.

Der kleine Junge an meiner Seite zupfte mich am Arm. »Ich habe Hunger«, verkündete er.

Ich war verwirrt. »Aber du hast doch gerade erst was geges sen.«

»Du, das war vor einer Stunde.«

»Nenn mich Mom, Ethan«, ermahnte ich ihn, ein breites Lä cheln aufs Gesicht getackert, während ich nach Kleingeld kram te. So ein verrückter Auftrag war mir noch nie untergekommen.

Wo Don einen zehnjährigen Jungen aufgetrieben hatte, der als Statist herhalten konnte, würde mir ewig ein Rätsel bleiben, aber er hatte dafür gesorgt, dass Ethan mitdurfte. Don war nämlich der Auffassung, unsere Zielperson würde uns unweigerlich für Pädophile oder Vampirjäger halten, wenn wir stundenlang ohne ein Kind in einem Chuck-E.-Cheese-Restaurant rumhingen.

Ethan grapschte sich eine Handvoll Geldscheine, ohne ab zuwarten, bis ich den genauen Betrag abgezählt hatte.

»Danke!«, rief er und trabte in Richtung Pizzatheke davon.

Okay, das hatte authentisch gewirkt - ich hatte heute schon den ganzen Tag lang beobachten dürfen, wie Kinder sich ihren Eltern gegenüber verhielten, gestern übrigens auch. Grund gütiger, für das ganze Essen und die unzähligen Bons für Spie le hatte ich mehr ausgegeben als sonst in einer ganzen Wo che, wenn ich in Bars arbeiten und literweise Gin Tonic kippen musste. Wenigstens ging alles auf Staatskosten.

Das Chuck-E.-Cheese hatte nur eine Etage. So musste man Belinda wenigstens nicht dauernd im Auge behalten. Sie spielte in dem Abschnitt links der Eingangstür Skee-Ball. Gerade hatte sie wieder einen Treffer gelandet. Lichter blinkten, und der Au tomat spuckte weitere Tickets aus. Zu Belindas Füßen lag schon ein ganzer Haufen, und mehr als ein paar bewundernde Väter und Sprösslinge hatten sich bereits um sie geschart.

Allerdings war weit und breit kein anderer Vampir zu sehen, obwohl vor drei Wochen hier eine ganze Familie verschwunden war. Die Restaurantgäste ahnten davon allerdings nichts. Nur weil eine Überwachungskamera auf dem Parkplatz ein leuch tendes Augenpaar aufgenommen hatte, war Don überhaupt der Verdacht gekommen, Vampire könnten etwas mit dem Vorfall zu tun haben.

Untote Mörder frequentierten ihre Jagdgründe oft mehrmals, was ich ziemlich merkwürdig fand. Ohne diese Angewohnheit wäre die Heimatschutz-Sonderabteilung, der mein Onkel vor stand, nämlich längst überflüssig gewesen. Es gab schon jede Menge Schwachköpfe unter den Untoten.

Mein Handy vibrierte. Ich nahm es vom Gürtel, warf einen Blick auf das Display - und lächelte. Die 9 1 1 leuchtete auf, was bedeutete, dass gerade ein Vampir auf dem Parkplatz gesichtet worden war. Ich behielt Ethan im Auge und pirschte mich un auffällig an Belinda heran. Als ich ihr die Hand auf den Arm legte, warf sie mir einen verärgerten Blick zu.

»Showtime«, murmelte ich.

»Hände weg von mir«, zischte sie, ohne dabei ihr freundli ches Lächeln zu verlieren.

Ich drückte nur noch fester zu. »Versuch irgendwelche krum men Dinger, und ich bringe dich um. Zumindest wenn Bones mir nicht zuvorkommt.«

Ein kurzes grünes Funkeln trat in Belindas Augen, dann jedoch zuckte sie mit den Schultern. »Zehn Jahre noch, dann brauche ich dich nicht mehr zu ertragen.«

Ich ließ sie los. »Ganz genau. Also versau das Ganze nicht.«

»Musst du mir nicht langsam wieder von der Pelle rücken, Gevatterin Tod?«, zischte sie so leise, dass sogar ich es kaum verstehen konnte. »Wollen doch das Wild nicht verscheuchen, oder?«

Ich schenkte Belinda noch einen kühlen, prüfenden Blick, dann wandte ich mich um und ging. Was ich gesagt hatte, war keine leere Drohung gewesen. Sollte Belinda irgendwelche Mätzchen machen und eines der vielen Kinder hier in Gefahr bringen, würde ich ihr das Licht ausknipsen. Wir hielten sie an der sprichwörtlichen langen Leine. Blieb abzuwarten, ob sie sich damit strangulierte.

Als ich zu Ethan ging, vibrierte wieder mein Handy. Ein Blick auf das Display ließ mich innerlich aufstöhnen. Schon wieder 9 1 1 . Wir hatten es also mit zwei Vampiren zu tun. Nicht gut.

Ich war jetzt bei Ethan angekommen und wollte sowohl ihn als auch die Tür genau im Auge behalten. Es dauerte nicht lan ge, da betraten zwei Männer das Restaurant, deren unverwech selbarer Teint und zielstrebiger Gang sie deutlich als Vampire auswiesen.

Noch einmal sondierte ich frustriert die Umgebung. Die vie len Kinder machten das Restaurant zu einem denkbar schlech ten Ort für einen Showdown mit den Untoten. Hätte ich den Lockvogel gespielt, hätte ich versucht, die Vampire irgendwie auf den Parkplatz zu lotsen und so das Risiko für die Umstehen den möglichst gering zu halten. Derlei Skrupel waren Belinda bestimmt reichlich fremd. Na ja, dann würde ich eben ein biss chen nachhelfen müssen.

Ich packte Ethans Hand. »Es ist so weit«, sagte ich.

Seine blaugrünen Augen weiteten sich. »Sind die Bösen da?«, flüsterte er.

Ich bezweifelte, dass Don dem Jungen oder seinen Eltern -

wer auch immer die Irren waren, die ihr Kind für so etwas her gaben - erklärt hatte, hinter welchen »Bösen« genau wir her waren. Und ich würde das bestimmt nicht nachholen.

»Denk dran, du bleibst immer in Sichtweite«, schärfte ich ihm sanft, aber bestimmt ein. »Das wird schon.«

Der Junge nickte, ihm war deutlich anzumerken, dass er all seinen Mut zusammennahm. »Okay.«

So ein braves Kind.

Wieder klingelte mein Handy, wieder leuchteten Nummern folgen auf dem Display auf.

911-911

»Oh, Sch... Mist.« Beinahe wäre mir auch noch ein schlimmes Wort herausgerutscht.

Ethan sah mit großen Augen zu mir auf. »Was ist denn pas siert?«

Ich packte seine Hand fester. »Gar nichts.«

Glatt gelogen. Als ich aufsah, kam gerade ein dritter Vam pir durch die Tür. Dann ein vierter. Belinda, die eben einen Ball hatte werfen wollen, hielt inne, sah die Untoten an und lächel te. Strahlend.

Das konnte heiter werden.

3

Es dauerte nicht lange, bis die Vampire auf Belinda aufmerksam wurden. Vielleicht hatten sie sie schon gewittert, bevor sie sie gesehen hatten, denn sie waren noch keine Minute im Restau rant, da machten sie sich auch schon an sie heran. Ethan weiter fest an der Hand haltend, hörte ich, wie Belinda die Vampire begrüßte. Ich lauschte angestrengt für den Fall, dass sie etwas wie Falle oder Gevatterin sagte. So weit war alles friedlich. Be linda spielte nur die Kokette - und die Killerin, denn sie er kundigte sich bei den Vampiren, ob sie vorhatten, jemanden zu vernaschen.

»Wieso sind wir deiner Meinung nach hier?«, fragte einer grinsend. »Wegen des fetten Mausmaskottchens bestimmt nicht.«

Die anderen lachten. Ich biss die Zähne zusammen. Drecks kerle.

»Bist du in Begleitung hier?«, erkundigte sich ein anderer und musterte Belinda mit lüsternem Blick.

»Mit einer Tussi und ihrem Sohn«, war Belindas abschätzige Antwort. »Die Alte könnt ihr gern haben, aber der Kleine ge hört mir.«

»Zeig sie uns«, forderte der dunkelhaarige Vampir sie auf.

Belinda hob die Hand, und ich schaffte es gerade noch, von den Vampiren wegzusehen und Ethan mit einem falschen Lächeln im Gesicht anzustrahlen. Keine Angst. Dir passiert schon nichts.

»Siehst du die Blonde mit dem schwarzen Rolli und den Jeans, die den kleinen Jungen an der Hand hält? Das sind sie.«

»Hübsch«, bemerkte der Braunhaarige gedehnt und fügte dann schnell hinzu: »Nicht so hübsch wie du natürlich.«

»Danke.« Belindas Tonfall gab deutlich zu verstehen, dass er sich nicht geschickt genug aus der Affäre gezogen hatte, sie aber ausnahmsweise bereit war, darüber hinwegzusehen. »Also, wie läuft das bei euch für gewöhnlich? Schnappt ihr euch einfach ein Kind und haut ab?«

»Siehst du den Typen da hinten?« Der schlaksige, hoch gewachsene Vampir deutete auf einen Mann, dessen Hemdauf näher ihn als Restaurantmitarbeiter auswies. »Ich hypnotisiere ihn und klau ihm die Klamotten.«

»Was willst du denn mit seinen Klamotten?«, wollte Belinda ungläubig wissen. Unauffällig warf ich der Gruppe einen Blick zu. Genau das hatte ich mich auch gerade gefragt.

»Wenn man ein Chuck-E.-Cheese-Kostüm anhat«, erklärte der Vampir grinsend, »ist es ganz leicht, die Kinder nach drau ßen zu locken, ohne dass jemand Verdacht schöpft. Wenn die El tern doch was mitbekommen, macht einfach einer seinen Strah leblick an, und sie gehen seelenruhig nach Hause. Dass ihre Kinder weg sind, fällt denen meistens erst einen Tag später auf, und dann können sie sich nicht erinnern, wann sie sie das letzte Mal gesehen haben.«

»Wir locken sie einzeln nach draußen und verstauen sie im Kofferraum«, fügte ein anderer hinzu. »Um diese Jahreszeit ist es relativ kühl, da gehen sie nicht ein und verderben, und wenn man sie hypnotisiert, geben sie da drinnen auch Ruhe.«

Erst als Ethan aufschrie, merkte ich, wie fest ich seine Hand umklammert hatte, und lockerte meinen Griff. Ich musste mich schwer zusammenreißen, damit meine Augen vor lauter Wut nicht anfingen zu leuchten. Ich konnte es kaum erwarten, die Typen abzumurksen.

Belinda lächelte. »Ein Vampir in einem Chuck-E.-Cheese-Kostüm? Das muss ich gesehen haben.«

Auch der Vampir grinste. »Warte hier, Schätzchen. Die Show wird dir gefallen.«

Wie aufs Stichwort kam künstliches Leben in die Plüschro boter auf der Bühne. Die Kinder kreischten vor Begeisterung.

Ich beobachtete, wie einer der Vampire dem Mitarbeiter, auf den sie es abgesehen hatten, hinter die Kulissen folgte. Gerade wollte ich ihm nachgehen, da hörte ich die Stimme eines zwei ten Blutsaugers: »... hab jetzt schon Hunger, ich such mir je manden aus.« Mit diesen Worten entfernte sich der Rothaarige gemächlich von Belinda und den anderen.

Ich ließ Ethans Hand los. Belinda hatte angekündigt, ihn für sich haben zu wollen; von allen Kindern hier hatte er im Augen blick die besten Karten. Ich kniete mich vor ihn hin, sodass ich auf Augenhöhe mit ihm war.

»Siehst du das Spiel da?«, fragte ich ihn und deutete auf den Automaten, der uns am nächsten stand. »Dort spielst du und rührst dich nicht vom Fleck, bis ich oder einer der Jungs, die du vorhin kennengelernt hast, dich holen kommen. Versprich es mir.«

Ethan nickte. »Versprochen.«

»Braver Junge«, murmelte ich. Ethan ging zu dem Auto maten und legte all seine Spielmarken davor ab. Eiskalte Wut überkam mich, als ich beobachtete, wie der rothaarige Vampir sich auf Beutezug machte.

»Alle Einheiten bereithalten«, flüsterte ich in mein Handy.

Das hier konnte ziemlich schnell ungemütlich werden.

Diskret behielt ich den im Restaurant umherstreifenden Vampir im Auge, der mit geübtem Blick die unbeaufsichtigten Kinder erspähte. Ein kleiner Junge holte sich gerade ein paar Spielmarken am Automaten. Der Vampir beobachtete ihn, und während der Junge noch versuchte, sich für eines der Spiele zu entscheiden, pirschte er sich immer näher an ihn heran. Er war tete ab, bis der Kleine an einer Ecke angekommen war, und legte ihm dann die Hand auf die Schulter.

Der Junge sah auf - und mehr brauchte es nicht. Ein kurzes grünes Funkeln in den Augen des Vampirs, ein Murmeln, so leise, dass ich es nicht verstehen konnte. Niemand sonst merkte etwas. Ohne zu zögern folgte der Junge dem Vampir hinter eine Trennwand in den Nebenraum.

Als ich den beiden nachging, fiel mir auf, dass der Vampir sich das ruhigste Eckchen im Restaurant ausgesucht hatte, den Ab stellraum für die defekten Spielautomaten. Er kniete vor dem Jungen auf dem Boden. Das Gesicht des Kleinen war in das grü ne Licht der Vampiraugen getaucht. Der Junge stand einfach nur da, machte keinerlei Anstalten zu fliehen oder zu schreien.

Er wird zubeißen. Hier und jetzt. Und die Leiche kann er einfach hinter einem kaputten Automaten verstecken. Falls den Eltern doch irgendwann der Verdacht kommt, ihrem Sohn könnte etwas zugestoßen sein, wird der schon längst nicht mehr leben ...

Der Vampir beugte sich vor, Furcht hatte er weder vor den Eltern des Jungen noch vor Gott oder sonst wem, der hätte ein greifen und ihn aufhalten können. Ich zog ein Silbermesser aus dem Ärmel und pirschte voran. ]etzt darfst du mit meinem klei nen Freund Bekanntschaft machen, Arschloch!

»Was zum ...?«

Kaum hatte ich die Stimme gehört, spürte ich auch schon die übermenschliche Energie im Rücken und wirbelte herum. Hin ter mir stand der Vampir, der sich als Chuck E. Cheese verkleidet hatte, den großen, ausgestopften Mausekopf fragend zur Seite geneigt. Der Rothaarige ließ von dem Jungen ab, und sein Blick blieb an meinem Messer hängen.

»Silber«, murmelte er.

Das war unser Stichwort. »Zugriff!«, brüllte ich. Bones konn te mich hören, das wusste ich. Dann warf ich mein Messer.

Bis zum Heft bohrte es sich in die Brust des Vampirs. Fast zeitgleich stürzte ich mich auf ihn, riss ihn zu Boden und dreh te das Messer ein paarmal kräftig in der Wunde. In dem Au genblick landete etwas Schweres auf mir. Etwas Schweres und Weiches. Es war der Vampir in dem Chuck-E.-Cheese-Kostüm.

Ich rollte mich herum, zog die Beine an und verpasste mei nem Angreifer einen Tritt. Er wurde so heftig gegen einen Au tomaten geschleudert, dass das Gerät durch die Fensterschei be krachte. »Heimatschutz, keine Bewegung!«, hörte ich Tate rufen, schnappte mir noch ein paar Messer und versenkte sie treffsicher in der Brust des verkleideten Vampirs. Der wankte rückwärts, ging aber nicht zu Boden. Das verdammte Kostüm war offensichtlich zu dick.

Mit neuen Messern in der Hand stürzte ich mich auf ihn. Er wehrte sich, so gut er es in seinem unförmigen Mauskostüm eben konnte. Wir wälzten uns am Boden; immer wieder stach ich zu, um doch noch den dicken Plüschanzug zu durchdringen, während der arg in seiner Beweglichkeit eingeschränkte Vampir sich abmühte, mich mit seinen Fausthieben zu treffen.

»Lass Chucky in Ruhel«, hörte ich ein Kind heulen. Ein paar andere brüllten.

Jesus, Maria und Josef, die Kleinen würden ein Trauma da vontragen. Eine offensichtlich Geisteskranke ging mit einem Messer auf ihren geliebten Plüschhelden los, und sie mussten es mit ansehen. Bones würde ihnen eine Gehirnwäsche verpas sen müssen, sonst würden sie noch jahrelang Alpträume haben.

Ich ließ mich allerdings nicht beirren und hackte munter wei ter auf den Vampir ein, als ich hörte, wie irgendwo noch ein Kampf ausbrach. Die anderen Vampire. Endlich war mein Mes ser tief genug eingedrungen, der Vampir unter mir erschlaffte, und ich konnte die Klinge ein letztes Mal in der Wunde drehen.

Als ich schließlich aufstand, waren die entsetzten Blicke der versammelten Kinder- und Elternschar auf mich gerichtet, doch ich hatte keine Zeit, ihnen zu erklären, dass Chucky gar nicht Chucky war, sondern sein böser Zwillingsbruder. Quer durch den Raum kam der blonde Vampir auf mich zugestürmt; wer ihm im Weg stand, ob Kind oder Erwachsener, wurde einfach weggefegt. Ich griff nach einem Messer, stellte fest, dass ich nicht mehr viele hatte, und machte mich ebenfalls angriffs bereit. Die Messer zu werfen konnte ich nicht riskieren - duckte sich der Vampir, würden sie einen Unschuldigen treffen. Nein, ich würde zum Nahkampf übergehen müssen. Meine Augen funkelten grün. Na los, Blondie, zeig mal, was du draufhast.

Als der Vampir das Leuchten in meinem Blick sah, hielt er inne, allerdings nur ganz kurz. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich Belinda mit dem dunkelhaarigen Vampir ringen. Aus na heliegenden Gründen hatte wir ihr keine Waffen gegeben, aber ich war erleichtert, dass sie für uns und nicht gegen uns kämpfte.

Hinter dem blonden Vampir tauchte der letzte der Blutsauger auf. Mit einem Fauchen wollte auch er auf mich losgehen. Dann ging sein Blick zur Tür.

»Oh Scheiße«, hörte ich ihn noch sagen, und damit drehte er sich um und floh hinter die Bühne.

Ich wusste, auch ohne hinzusehen, was ihm solche Angst machte; ich konnte Bones' Präsenz im Raum spüren. Im gleichen Augenblick allerdings traf mich die Faust des Blonden, sodass ich den Anblick des türmenden Blutsaugers nicht genießen konnte.

»Den übernimmst du, ich habe mit Blondie zu tun«, rief ich, bemüht, den Fängen auszuweichen, die sich in meiner Kehle verbeißen wollten.

»Den Mistkerl kaufe ich mir«, knurrte Bones und verschwand hinter den überdimensionierten Plüschrobotern, die auf der Bühne unbeeindruckt ihr fröhliches Spektakel aufführten.

»Wir verziehen uns nach draußen, Leute!«, rief ich, weiter brutale Schläge einsteckend und austeilend. Es musste schnell gehen, bevor noch irgendwelche Eltern oder Kinder als Geiseln genommen wurden.

Ich warf einen kurzen Blick auf Belinda, die gerade dabei war, den dunkelhaarigen Vampir nach draußen zu zerren; fast sah es so aus, als würde sie ihn stürmisch umarmen. Offensichtlich sprach sie auch mit ihm, aber bei dem ganzen Radau konnte ich kein Wort verstehen.

Ein harter Fausthieb lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf den blonden Vampir vor mir. Ein kleines Stückchen noch, beschwor ich ihn im Geiste. Ich will dich ja auch gar nicht um bringen, jedenfalls nicht vor den ganzen Kindern. Die sind schon traumatisiert genug.

Vor der von dem Spielautomaten zertrümmerten Fenster scheibe stürzte ich mich auf ihn, tief geduckt, damit er mich nicht mit den Reißzähnen erwischte. In hohem Bogen flogen wir durch das Fenster und auf den Parkplatz, wo wir auf dem Asphaltboden aufeinander einprügelten. Mir waren nur weni ge Messer geblieben. Ich hatte nicht damit gerechnet, so viele wegen Chuckys dickem Pelz einzubüßen. Jetzt musste ich den richtigen Augenblick erwischen.

»Mommy, mach, dass sie aufhören«, jammerte ein Kind, und ich fluchte stumm. Einen ungünstigeren Ort konnte es für eine Vampirjagd nicht geben. Wie es sich anhörte, hatten meine Jungs alle Hände voll damit zu tun, die Eltern und Kinder davon abzuhalten, in Panik auf den Parkplatz zu fliehen, was die ganze Angelegenheit noch komplizierter gemacht hätte. Dave gab lautstark Anweisung, den dunkelhaarigen Vampir, den Belinda in der Mache gehabt hatte, einkapseln zu lassen.

Gerade war ich einem Schwinger ausgewichen, der mir un weigerlich den Hals gebrochen hätte, da sah ich, wie Belinda den anderen Vampir losließ und sich auf Zachary, einen jungen Rekruten, stürzte und ihm die Reißzähne in den Hals schlug.

»Tate, halte sie auf!«, schrie ich, unfähig, etwas zu unterneh men, als ein Beben durch Belindas Körper ging und Zachary umkippte. Er hielt seinen Hals umklammert, rotes Blut rann zwischen seinen Fingern hervor. Dann rannte Belinda los.

Schüsse, Flüche und hektisches Fußgetrappel waren zu hö ren, als ein Teil des Teams herbeigeeilt kam.

»Feind entkommt, alles abriegeln!«, rief Cooper.

Ich bedachte den Vampir vor mir mit einem eisigen Blick.

»Mir reicht's jetzt«, knurrte ich, warf mich auf ihn und ging mit ihm zu Boden. Ich wehrte mich nicht, als er auf mich ein drosch. Ich ließ die Hiebe auf mich einhageln, hielt ihn nur mit einer Hand davon ab, mir in die Kehle zu beißen, und rammte ihm mit der anderen mein Messer ins Herz. Dreimal musste ich kräftig zustechen, dann war er endgültig tot.

Mühsam löste ich mich von ihm. Meine Rippen taten höl lisch weh, aber ich widerstand dem Drang, mir die schmerzen den Seiten zu halten. Ein hektisches Durcheinander zu mei ner Linken ließ mich den Kopf herumwerfen, sodass ich noch mitbekam, wie der dunkelhaarige Vampir, der eigentlich in die Kapsel hätte verladen werden sollen, zwei Soldaten neben sich zu Boden warf. Wer von unserem Team nicht damit beschäftigt war, die Ausgänge zu bewachen, hatte sich, abgesehen von ein paar wenigen, die bei Zachary knieten, an Belindas Fersen ge heftet. Niemand hatte auf den Vampir geachtet, und das hatte er schamlos ausgenutzt.

Dave wollte ihn sich schnappen, doch der Vampir duckte sich, warf sich auf den Bauch, rutschte vorwärts wie ein grotesker Pinguin und preschte dann davon.

Ich rannte los, hinter Tate und Juan her, die wiederum hinter Belinda her waren. Als bloße Sterbliche hatten sie allerdings keine Chance, die Vampirin einzuholen.

In Sekundenbruchteilen hatte ich mich entschieden, den an deren Vampir laufen zu lassen und selbst die Jagd nach Belin da aufzunehmen. Von ihr ging die größere Gefahr aus. Belinda kannte mein gesamtes Team mit Namen. Sie war mit internen Details über die Vorgänge in Dons Organisation vertraut, und weil sie lange genug unsere Gefangene gewesen war, wusste sie auch über unser Sicherheitssystem so weit Bescheid, dass sie jedem Irren, der versuchen wollte, es zu knacken, ausreichend Informationen liefern konnte. Ich durfte auf keinen Fall zulas sen, dass sie etwas ausplauderte.

Ich gab alles und hatte Tate und Juan bald eingeholt. Belin da war zwar nicht mehr zu sehen, aber aufgrund kreischender Bremsen und lauten Geschreis wurde mir klar, dass sie eine of fensichtlich verkehrsreiche Kreuzung überquert haben musste.

»Hol den Wagen«, keuchte ich, an Tate gewandt, als ich an ihm vorbeipreschte. »Fahrt mir nach!«

Ich hatte einen Piepser, durch den sie mich orten konnten, und mit dem Auto konnten sie mir schneller folgen. Und uns die Polizei vom Leibe halten, falls die sich einmischte. Wieder quietschten Reifen, ich folgte dem Geräusch, überquerte in ra sendem Tempo eine Kreuzung und sah gerade noch Belinda, die in einer Seitenstraße verschwand. Oh nein, das wirst du schön bleiben lassen, dachte ich.

Ich rannte schneller und wünschte mir, nicht bei jedem Schritt das Gefühl zu haben, mir würden sämtliche Rippen bre chen. Als ich die Seitenstraße erreicht hatte, betete ich im Stil len, Belinda möge nicht in irgendeine Wohnung stürzen und versuchen, eine Geisel zu nehmen. Stand zu hoffen, dass sie genug über mich und mein Team gehört hatte, um zu wissen, dass ihr das nicht gut bekommen würde. Sie begnügte sich Gott sei Dank damit, wie der Teufel zu rennen, ich jagte ihr nach und verfluchte sie im Stillen, während ich aufholte.

Im Laufschritt setzte Belinda über einen Zaun. Wenigstens war sie keine Meisterin. Dann hätte sie auch noch fliegen kön nen, und ich wäre ziemlich angeschissen gewesen. Ich über wand den Zaun fast so schnell wie sie, aber die Wunde am Bein, die ich mir dabei an einem scharfkantigen Metallteil zuzog, heilte bei mir nicht sofort. Manchmal beneidete ich die Unto ten um ihre Selbstheilungskräfte. Allerdings nicht so sehr, dass ich den Wunsch verspürt hätte, mich vollends in eine der Ihren zu verwandeln.

Als ich Belinda so weit eingeholt hatte, dass ich glaubte, es riskieren zu können, warf ich meine Messer. Ich hatte nur noch wenige, sie mussten also sitzen. Sie trafen die Vampirin im Rü cken, ungefähr an der richtigen Stelle. Sie strauchelte, ging aber nicht zu Boden. Verdammt, ich hatte das Herz verfehlt! Da ich über schwieriges Gelände rannte und mein Ziel sich bewegte, war ich nicht halb so treffsicher wie sonst. Merke: Wurf technik bei Verfolgungsjagden verbessern.

Allmählich ließen die Klingen Belinda allerdings langsamer werden. Durch ihre Bewegung war ein Messer wohl gefährlich dicht an ihr Herz geraten, und Belinda hätte anhalten müs sen, um sich die Messer herausziehen zu können. Immer wie der versuchte sie es im Laufen, aber ihre Verrenkungen trieben eines der Messer nur umso tiefer in sie hinein. Wieder geriet Belinda ins Straucheln, und ich zwang mich, schneller zu lau fen. Gleich hast du sie ... gib Gas, Cat, du darfst sie nicht ent kommen lassen!

Ich nahm all meine Kraft zusammen, machte einen Satz und schaffte es, Belindas Knöchel zu packen und sie zu Boden zu reißen. Sie wirbelte herum, ihre Fangzähne schnappten nach jedem erreichbaren Stück meines Körpers. Ohne mich davon beeindrucken zu lassen, warf ich mich mit meinem vollen Ge wicht auf ihren Oberkörper.

Belinda erstarrte. Ihre großen, kornblumenblauen Augen er widerten kurz meinen Blick, und mit einem Schrei, der sofort wieder erstarb, schlossen sich ihre Lider. Die Messer hatten ihr Herz durchbohrt.

Ich wollte trotzdem kein Risiko eingehen, legte Belinda auf den Bauch, drehte beide Messer einmal in der Wunde und spür te, wie die Vampirin endgültig unter mir erschlaffte. Du hättest die zehn Jahre absitzen sollen, dachte ich kühl. Aber du muss test es ja so weit kommen lassen.

Ein Schrei brachte mich wieder ins Hier und Jetzt zurück.

Wie es aussah, waren wir in einem Garten gelandet. Die Haus eigentümerin, eine ältere Dame, war eindeutig ziemlich ent setzt über die zwei Furien, die auf ihrem Rasen ein Gemetzel veranstaltet hatten.

Seufzend setzte ich mich auf die Hacken. »Na los, rufen Sie schon die Polizei. Dann geht's Ihnen besser.« Die Gesetzeshüter würden natürlich niemals Hand an mich legen. Don war viel zu einflussreich.

Außerdem würden bald Tate und die Jungs hier eintreffen, und Bones bestimmt auch. Er brauchte keinen Peilsender, um mich aufzuspüren; er konnte mich wittern.

Die Frau stammelte etwas, das wie »Mörderin« klang, ver schwand im Haus und schlug die Tür hinter sich zu. Augenbli cke später hörte ich sie die Polizei rufen.

Ich blieb neben Belinda auf dem Rasen sitzen und nickte höf lich ein paar Nachbarn zu, die aus ihren Häusern gekommen waren, um ebenfalls nachzusehen, was da vor sich ging. Auch sie liefen schließlich in ihre Häuser, um einen Notruf zu tätigen.

Nicht einmal drei Minuten waren vergangen, da kam Bones in rasendem Tempo angesaust. Als er mich sah, wurde er lang samer und ging die letzten paar Meter bis zu mir schließlich im Schritttempo.

»Alles in Ordnung, Süße?«

Ich nickte. »Ein paar Kratzer und Blutergüsse, nichts weiter.

Was ist mit dem Vampir, hinter dem du her warst?«

Er kniete sich neben mich. »Trifft sich gerade mit Belinda in der Hölle, würde ich meinen.«

Schön. Einer war uns zwar entkommen, aber die drei anderen hatten es nicht geschafft, und die Gefährlichste von allen dorrte gerade in der späten Nachmittagssonne vor sich hin.

»Zachary?«

Bones schüttelte den Kopf. Ich sog tief die Luft ein und wünschte mir, Belinda noch einmal erstechen zu können, um sie für seinen Tod büßen zu lassen.

Quietschende Reifen kündigten das Eintreffen der Jungs an.

Augenblicke später sprangen Juan und Tate aus dem Wagen.

Ich stand auf und klopfte Gras und Erde von meinen Klei dern ab.

»Wie ihr seht, Jungs, ist Belinda gefeuert.«

4

Der andere Vampir war uns entwischt. Dave gab sich die Schuld daran, weil er es, abgelenkt durch Belindas Angriff auf Zachary, versäumt hatte, ihn in der Kapsel zu fixieren, was Belinda mit ihrer Aktion schließlich bezweckt hatte. Zachary war verblutet, als Bones hinter dem letzten Vampir her gewesen war. Er war zu spät eingetroffen und hatte Zachary nicht mehr helfen können.

Zudem hatte Zachary eine Art Patientenverfügung hinterlegt, in der er eine Wiedererweckung in Form eines wie auch immer gearteten übermenschlichen Wesens im Falle seines Ablebens ausschloss. Und so blieb uns nichts anderes übrig, als seinen Wunsch zu respektieren und ihn zu Grabe zu tragen.

Ethan war, wie sich herausstellte, eine Waise, was die Tatsa che erklärte, dass seine Eltern keinen Protest gegen die Rolle er hoben hatten, die er als mein »Sohn« bei dem Einsatz gespielt hatte. Ich nahm Don das Versprechen ab, weder ihn noch ir gendein anderes Kind je wieder bei einem so riskanten Auftrag mitwirken zu lassen und den Jungen an eine gute Pflegefami lie zu vermitteln. Wenn Don eine geheime Regierungsbehörde zur Bekämpfung von Untoten leiten konnte, sollte das für ihn zu schaffen sein.

Für Tate kam schließlich Tag V. Wir waren vollzählig im Stützpunkt versammelt. Nur Annette fehlte, was aber daran lag, dass ihr Flug Verspätung hatte. Annette war die erste Vam pirin, die Bones erschaffen hatte, und sie kam extra angereist, um uns bei Tates Verwandlung zur Hand zu gehen.

Das war meine Idee gewesen. Bones hatte kaum ein Wort mit Annette gesprochen, seit sie versucht hatte, mich mit unschö nen Details aus seiner Vergangenheit zu vergraulen, aber mir war klar, dass ihm das angespannte Verhältnis zu ihr zu schaf fen machte. Also schlug ich vor, sie könnte abwechselnd mit den anderen in der Zelle Wache halten, in der wir Tate nach seiner Verwandlung einschließen würden. Bis Tate gelernt hatte, mit seiner Blutgier umzugehen, ohne gleich dem Erstbesten an die Gurgel zu springen, konnte durchaus eine Woche vergehen, so dass ihm in jenen ersten Tagen kein Sterblicher beistehen konn te. Dave hatte sich bereits angeboten, aber eine dritte Person stellte eine zusätzliche Entlastung für Bones dar. Und Annette bekam ihre Chance, den Zwist mit Bones beizulegen. War ich nicht die geborene Diplomatin ?

Im Augenblick allerdings war ich nervös. In einer halben Stunde würde Bones Tate umbringen, um ihn hinterher wieder zum Leben zu erwecken. Die Zeit zwischen Biss und Wieder auferstehung konnte eine oder auch mehrere Stunden betra gen. Das große Ereignis sollte um acht Uhr abends gleich nach Sonnenuntergang stattfinden, weil Bones dann am stärksten war. Für einen Vampir war es ein Kraftakt, jemanden zu ver wandeln, so hatte man mir zumindest erklärt. Ich erlebte das schließlich zum ersten Mal.

Natürlich hatte Don mehrere Videokameras aufstellen lassen.

Sogar Elektroden waren an Tates Brust und Kopf angebracht worden, damit sein genauer Todeszeitpunkt festgestellt und die Gehirnaktivität überwacht werden konnte. Als Bones den gan zen technischen Schnickschnack sah, schüttelte er den Kopf und erkundigte sich bissig, ob das Ganze auch ins Internet übertra gen würde. Don kümmerte es nicht. Er war fest entschlossen, so viel Informationen wie irgend möglich zu gewinnen. Skrupel waren ihm fremd.

Der Raum, in dem Tate auf seine Verwandlung wartete, ließ sich mit mehreren Titanschlössern verriegeln. Selbst einen martialisch anmutenden Behandlungstisch samt Titanfesseln gab es. Bones erklärte Don, dass er die Vorsichtsmaßnahmen übertrieben fand, aber Don fürchtete, Tate könnte ausrasten und Amok laufen. Der Betreffende lag unterdessen gefesselt auf dem Tisch, nur mit Shorts bekleidet, damit genug Platz für die Elektroden war. Schnell schlüpfte ich noch einmal in den Raum, um ihn ein letztes Mal als Menschen sehen zu können.

In einem Kühlschrank lagen Blutkonserven bereit, die Tate in der ersten Zeit ernähren sollten. Mein Blick wurde von Tates indigoblauen Augen gefangen genommen, als ich an den leicht gekippten Behandlungstisch trat. Ich veränderte den Kippwin kel so, dass Tate in eine aufrechte Position kam.

»Gott, Tate.« Meine Stimme war zittrig. »Bist du dir auch ganz sicher?«

Er versuchte ein Lächeln, das aber recht schwach ausfiel.

»Mach nicht so ein entsetztes Gesicht, Cat. Man könnte mei nen, du wärst der Todeskandidat, nicht ich.«

Ich legte ihm die Hand auf die Wange. Seine Haut war eben so warm wie meine. Sie würde sich nie mehr so anfühlen. Tate seufzte und beugte den Kopf zu mir.

»Seltsam, wie das Leben so spielt, was?«, murmelte er. »Frü her habe ich nicht mal an Vampire geglaubt. Jetzt will ich sogar einer werden und vertraue mich dazu auch noch meinem Lieb lingsfeind an. Ironie des Schicksals, hm?«

»Du musst das nicht tun, Tate. Wenn du es dir anders über legt hast, blasen wir die ganze Sache ab.«

Er atmete noch einmal tief durch. »Als Vampir werde ich stärker und schneller ... und schwerer zu töten sein. Das Team braucht so jemanden ... und du auch.«

»Wehe, du tust das für mich, Tate.« Meine Stimme bebte vor Entschlossenheit. »Wenn das so ist, steigst du augenblicklich von dem Tisch runter.«

»Ich mach es«, sagte er, auch sein Tonfall war entschlossen.

»Du kannst mich nicht umstimmen, Cat.«

Hinter mir tauchte Bones auf, sodass mir die Antwort erspart blieb. »Es ist Zeit, Kätzchen.«

Ich ging in den kleinen Überwachungsraum einen Stock hö her, wohin die Aufnahmen der Videokameras übertragen wur den. Mein Onkel hatte bereits seinen Beobachtungsposten vor dem Bildschirm eingenommen. Juan, Cooper und Dave betraten ebenfalls den Raum. Gebannt sah ich zu, wie Bones sich Tate mit der trägen Anmut eines Raubtiers näherte. Tates Atmung und Herzschlag beschleunigten sich.

Bones musterte ihn kühl. »Deine Entscheidung wird dir nicht das Erhoffte einbringen, aber du wirst den Rest deiner Tage mit den Folgen leben müssen. Also frage ich dich ein letztes Mal: Willst du es?«

Tate atmete tief durch. »Du willst mich doch schon seit Mo naten alle machen. Das ist deine Chance. Tu es.«

Und damit schlug Bones die Reißzähne in Tates Hals. Die Gerä te verzeichneten Tates jagenden Puls, als der Mann keuchend er starrte. Dave nahm meine Hand. Ich drückte seine ebenfalls, wäh rend ich zusah, wie Bones meinem Freund in tiefen, langen Zügen das Leben aussaugte. Wieder und wieder konnte ich sehen, wie er schluckte. Die Geräusche des EKG-Geräts kamen in immer grö ßeren Abständen, immer seltener, bis schließlich nur noch kurze, kleine Piepser zu hören waren und Bones den Kopf hob.

Er leckte sich noch ein paar Blutstropfen von den Lippen und zog dann ein Messer hervor, mit dem er sich den Hals auf schnitt. Dann nahm er Tates schlaff herabhängenden Kopf und presste den Mund des Mannes auf die Halswunde, die er mit der Spitze seines Messers offen hielt.

Tates Lippen bewegten sich, am Anfang leckte er das Blut nur matt auf, saugte es dann aber mit umso größerer Heftigkeit in sich hinein. Das EEG-Gerät piepste aufgeregt. Als Tate sich mit geschlossenen Augen in Bones' Kehle verbiss und an ihr zerr te, ließ der Vampir das Messer sinken. Er hielt Tates Kopf und zuckte nicht einmal zusammen, als der Mann in blinder Gier erneut zubiss. Immer weiter biss und saugte Tate, während die Minuten vergingen und die Pausen zwischen seinen Herzschlä gen immer länger wurden, bis schließlich ... Stille eintrat.

Bones riss Tate von seiner Kehle weg und taumelte rück wärts. Das EEG-Gerät piepste wie verrückt, während der EKG-Monitor nur noch die Nulllinie anzeigte. Ein heftiges Zittern schüttelte Tates Körper und ließ die Titanschellen rasseln, die ihn hielten. Schließlich erschlaffte er und blieb reglos in sei nen Fesseln liegen. Er war tot und erwartete seine Wiederauf erstehung.

Die Stunden schleppten sich quälend langsam dahin. Bones saß auf dem Zellenboden und wirkte, als mache er ein Nickerchen, aber ich wusste, dass er nicht schlief. Ab und zu musterte er Tates reglosen Körper. Ich fragte mich, ob er Veränderungen in Tates Energiefeld wahrnehmen konnte. Das EEG-Gerät je denfalls konnte es. Es wollte sich gar nicht wieder beruhigen.

Bei dem nervigen Gepiepse, das es von sich gab, war Bones be stimmt schon mehr als einmal versucht gewesen, das Ding in Stücke zu schlagen.

Er hatte sich zwei der bereitliegenden Blutkonserven zu Ge müte geführt, nachdem Tate ... gestorben war? Ohnmächtig geworden? Wie nannte man Tates gegenwärtigen Zustand ei gentlich? Normalerweise hasste Bones konserviertes Blut. Er hatte seinen Geschmack mit dem von verdorbener Milch ver glichen, als ich ihn einmal gefragt hatte, warum er sich statt an Menschen nicht einfach an Blutkonserven vergriff. Jetzt hatte Tate allerdings so viel von ihm getrunken, dass er dringend Nachschub brauchte und nicht wählerisch sein konnte.

Juan gähnte. Mitternacht war vorbei, und bisher hatten wir Tate lediglich beim Herumliegen zugesehen. Aber anscheinend konnte sich trotzdem niemand so recht vom Bildschirm losrei ßen.

»Ihr könnt euch alle ein bisschen aufs Ohr legen, ich piepse euch an, wenn sich irgendwas tut«, schlug ich vor. Ich war da ran gewöhnt, bis spät in die Nacht wach zu sein. Das Leben als Halbvampirin hatte so seine Eigenheiten.

Don warf mir einen erschöpften, aber entschlossenen Blick zu. »Ich spreche wohl im Namen aller, wenn ich sage, dass ich auf jeden Fall bleiben werde.«

Brummelnd pflichteten ihm die anderen bei. Ich zuckte er geben mit den Schultern und wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm zu.

Bones erhob sich. Eine andere Vorwarnung gab es nicht. Plötz lich bäumte Tates eben noch regloser Körper sich auf. Er riss die Augen auf, jeder Muskel stemmte sich gegen die Fesseln, die ihn hielten, und der Schrei, der aus den Lautsprechern drang, klang so schauderhaft animalisch, dass ich auf meinem Stuhl hochfuhr.

»Jesus Christus«, murmelte Don, der mit einem Mal gar nicht mehr schlapp wirkte.

Tates Gebrüll steigerte sich bis ins Unerträgliche. Trotz der wilden Kopfbewegungen, mit denen er gegen seine Fesseln an kämpfte, sah ich in seinem geöffneten Mund deutlich ... Fang zähne aufblitzen, während er immer weiter schrie wie am Spieß.

Bones hatte gesagt, junge Vampire würden rasend und be sinnungslos vor Durst erwachen. Davon konnte ich mich jetzt selbst überzeugen. Tate schien nicht zu wissen, wo oder wer er war. Als seine Augen hektisch den kleinen Raum absuchten, in dem er gefangen war, konnte man darin nichts mehr von seiner früheren Persönlichkeit erkennen.

Bones bekam von dem emotionalen Aufruhr nichts mit, der in mir tobte, als ich meinen Freund in einer solchen Verfassung sah. Er ging zum Kühlschrank, entnahm ihm ein paar Blutkon serven und näherte sich damit Tate.

Ich konnte nicht hören, was er sagte, weil Tates Schreie seine Worte übertönten. Allerdings sah ich, dass Bones' Lippen sich bewegten, als er einen der Beutel direkt in Tates weit aufgeris senen Mund fallen ließ. Was sagte man wohl in so einer Situa tion? Fressi, Fressi, vielleicht? Oder wohl bekomm'sl War auch egal. Tate trank nicht aus dem Beutel... er zerfetzte ihn, bis sein ganzes Gesicht voller Blut war und er mit seinen schnappenden Kiefern eher wie ein großer weißer Hai als wie ein Mensch wirkte. Ungerührt zupfte ihm Bones die Plastik fetzen vom Gesicht, vermied es geschickt, mit seinen Fingern zwischen Tates Zähne zu geraten, und ließ dann einen zweiten Beutel in dessen Mund fallen. Er erlitt das gleiche Schicksal wie der erste.

Verstört wandte ich den Blick ab, was absurd war, weil Bones mir erklärt hatte, was auf mich zukommen würde. Doch es war etwas anderes, das mit eigenen Augen zu sehen. Zu meiner Rechten wandte auch Juan seinen Blick vom Bildschirm ab. Er rieb sich die Schläfe.

»Er ist noch immer derselbe.«

In der plötzlichen Stille, die entstanden war, als Tate sein Ge brüll unterbrochen hatte, um schlürfend das Blut einzusaugen, klang Daves Stimme sehr leise. Mit einem Nicken wies Dave auf den Bildschirm.

»Ich weiß, dass es schwer zu glauben ist, wenn man ihn so sieht, aber das da drinnen ist immer noch Tate. Es geht vorüber.

Bald ist er wieder der Alte.«

Gott, wie sehr ich ihm glauben wollte. Im Grunde wusste ich auch, dass meine Zweifel unbegründet waren, doch im Augen blick jagte mir Tate mehr Angst ein als der mordlustigste Vam pir, dem ich je begegnet war. In Wahrheit war ich wohl doch nicht darauf vorbereitet gewesen, meinen Freund so zu sehen, auch wenn ich es geglaubt hatte.

Fünf Blutkonserven mussten dran glauben, bevor das irre Funkeln aus Tates Augen verschwand. Die ersten beiden hatte er so gierig zerschreddert, dass der größte Teil des Inhalts auf seinem Gesicht und seinen Schultern statt in seinem Mund ge landet war. Als er Bones, blutüberströmt, wie er war, einen Blick zuwarf, schien endlich Erkenntnis in seinen Augen aufzufla ckern.

»Es tut weh«, waren seine erste Worte.

Mir traten die Tränen in die Augen, als ich hörte, wie heiser und traurig seine Stimme klang. So viel Verzweiflung lag in diesem kurzen Satz.

Bones nickte. »Das wird schon, Alter. Was das betrifft, musst du mir einfach vertrauen.«

Tate sah an sich hinab und leckte alles Blut auf, an das er he rankam. Dann hielt er inne - und starrte direkt in die Kamera.

»Cat.«

Ich beugte mich vor und drückte den Knopf, mit dem sich die Gegensprechanlage einschalten ließ.

»Ich bin hier, Tate. Wir sind alle hier.«

Tate schloss die Augen. »Ich will nicht, dass du mich so siehst«, murmelte er.

Scham über meine spontane Reaktion machte meine Stim me kratzig, als ich antwortete: »Schon okay, Tate. Du bist ...«

»Ich will nicht, dass du mich so siehstl«, fuhr er mich an, während er sich erneut in seinen Fesseln aufbäumte.

»Kätzchen.« Bones sah zum Bildschirm auf. »Du regst ihn auf. So fällt es ihm noch schwerer, seinen Blutdurst unter Kon trolle zu bekommen. Tu, worum er dich bittet.«

Mein schlechtes Gewissen wuchs. War es purer Zufall, oder spürte Tate, dass mich sein Anblick abgestoßen hatte? Ich war wirklich eine beschissene Vorgesetzte, und eine schlechte Freundin dazu.

»Ich gehe«, sagte ich und schaffte es, meiner Stimme einen ruhigen Tonfall zu verleihen. »Wir ... wir sehen uns, wenn es dir besser geht, Tate.«

Und damit verließ ich den Raum, ohne mich noch einmal umzudrehen, als Tates Schreie erneut begannen.

Ich saß an meinem Schreibtisch und starrte ins Leere, als mein Handy klingelte. Das Display zeigte die Nummer meiner Mut ter an, und ich zögerte. Ich war so gar nicht in der Verfassung, mich mit ihr auseinanderzusetzen. Da es aber ungewöhnlich für sie war, so spät noch auf zu sein, ging ich ran.

»Hi Mom.«

»Catherine.« Sie machte eine Pause. Ungeduldig trommelten meine Finger auf die Schreitischplatte. Dann sagte sie etwas, das mich buchstäblich fast vom Hocker riss. »Ich habe beschlossen, zu deiner Hochzeit zu kommen.«

Ich warf zur Sicherheit noch einen Blick auf das Handydis play, um sicherzugehen, dass ich mich nicht verguckt hatte.

»Bist du betrunken?«, presste ich hervor, als ich wieder der Sprache mächtig war.

Sie seufzte. »Ich wollte, du würdest diesen Vampir nicht hei raten, aber ich habe es satt, dass er immer zwischen uns steht.«

Außerirdische haben sie durch eine Doppelgängerin ersetzt, war mein erster Gedanke. Anders lässt sich das nicht erklären.

»Du ... kommst also zu meiner Hochzeit?«, hakte ich un gläubig nach.

»Das habe ich doch gerade gesagt, oder?«, antwortete sie in gewohnt verärgertem Tonfall.

»Äh. Super.« Was anderes fiel mir nicht ein. Ich war echt platt.

»Du willst nicht zufällig, dass ich dir bei den Vorbereitungen helfe?«, erkundigte sie sich und klang dabei ebenso trotzig wie unsicher.

Jetzt klappte mir vollends die Kinnlade runter. »Doch, gern«, brachte ich hervor.

»Gut. Schaffst du es, heute zum Abendessen bei mir vorbei zuschauen?«

Das passt mir leider gar nicht, wollte ich schon sagen, da be sann ich mich eines Besseren. Auf Tates ausdrücklichen Wunsch hin durfte ich mir noch nicht einmal das Videomaterial anse hen, das ihn im Kampf gegen seine Blutgier zeigte. Bones würde den Nachmittag über unterwegs sein, um Annette vom Flug hafen abzuholen. Solange er weg war, konnte ich also durchaus bei meiner Mutter vorbeischauen und mich hinterher im Stütz punkt mit ihm treffen.

»Ein spätes Mittagessen würde mir besser passen. So gegen vier, vielleicht?«

»Sehr schön, Catherine.« Wieder schwieg sie, als wollte sie noch etwas hinzufügen. Ich rechnete schon fast damit, dass sie April, April! rief, doch es war November, also ein bisschen früh.

»Dann bis um vier.«

Als Bones, der für die nächsten zwölf Stunden in Tates Zelle von Dave abgelöst worden war, bei Tagesanbruch in mein Büro kam, war ich noch immer völlig perplex. Erst wurde Tate zum Vampir, und jetzt fand sich auch noch meine Mutter damit ab, dass ich ei nen heiratete. Heute war wirklich ein denkwürdiger Tag.

Bones bot mir an, mich auf dem Weg zum Flughafen bei mei ner Mutter abzusetzen und mich auf dem Rückweg zum Stütz punkt wieder abzuholen, aber ich lehnte ab. Ich wollte nicht ohne Auto dastehen, wenn die Stimmung meiner Mutter um schlug - was stets zu befürchten stand -, oder unser erstes rich tiges Mutter-Tochter-Gespräch dadurch gefährden, dass Bones in Begleitung einer wildfremden Vampirin auftauchte. Meine Mutter konnte schließlich nicht unbegrenzt viele Blutsauger auf einmal ertragen, und Annette stellte selbst meine Geduld an ihren besten Tagen schon auf eine harte Probe.

Außerdem hätte ich ihr dann auch noch erklären müssen, wer Annette eigentlich war. Mom, das ist Annette. Im siebzehn ten Jahrhundert, als Bones noch auf den Strich gegangen ist, hat sie ihn für Sex bezahlt. Die beiden haben es zwar über zwei hundert Jahre lang miteinander getrieben wie die Karnickel, aber jetzt sind sie nur noch gute Freunde.

Auf keinen Fall würde ich Annette meiner Mutter vorstellen, eher würde ich eine Lobotomie an mir durchführen.

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie sich mit mir über die Hochzeit unterhalten will«, sagte ich verwundert zu Bones, als ich in mein Auto stieg.

Er sah mich ernst an. »Sie würde nie ihre Beziehung zu dir aufs Spiel setzen. Du könntest Satan persönlich heiraten und würdest sie trotzdem nicht loswerden. Sie liebt dich, Kätzchen, obwohl sie es sich für gewöhnlich ums Verrecken nicht anmer ken lässt.« Dann schenkte er mir ein verschmitztes Grinsen.

»Soll ich dich in einer Stunde auf dem Handy anrufen, damit du so tun kannst, als hätten wir eine Krise, falls sie frech wird?«

»Was, wenn mit Tate wirklich etwas schiefgeht?«, fragte ich.

»Ich bleibe vielleicht besser hier.«

»Deinem Kumpel geht's gut. Dem kann jetzt bloß noch ein Silberpflock ins Herz gefährlich werden. Besuche ruhig deine Mutter. Ruf mich an, wenn ich kommen und sie beißen muss.«

Im Stützpunkt gab es im Augenblick wirklich nichts für mich zu tun. Tate würde mindestens noch für ein paar Tage in seiner Zelle bleiben müssen, und aus gegebenem Anlass standen keine Einsätze an. Warum also nicht heute testen, ob es ihr mit unse rer Aussöhnung wirklich ernst war?

»Halte dein Handy griffbereit«, sagte ich scherzhaft zu Bones. Dann fuhr ich los.

Das Haus meiner Mutter lag dreißig Autominuten vom Stützpunkt entfernt, zwar noch in Richmond, aber in einer eher ländlichen Umgebung. Das malerische Umfeld erinnerte an die Gegend in Ohio, in der ich aufgewachsen war. Als ich am Haus ankam und den Wagen parkte, fiel mir auf, dass die Fensterläden einen neuen Anstrich hätten vertragen können. Hatten sie bei meinem letzten Besuch schon so ausgesehen? Gott, wie lange war ich eigentlich schon nicht mehr bei ihr gewesen?

Kaum war ich ausgestiegen, erstarrte ich jedoch. Die Angst kroch mir den Nacken hoch, was nichts mit der Erkenntnis zu tun hatte, dass ich nicht mehr hier gewesen war, seit einige Mo nate zuvor Bones wieder in mein Leben getreten war.

Aus dem Haus drang eine Energie, die besagte, dass mei ne Mutter nicht allein war, und ihr Besuch hatte keinen Herz schlag. Gerade wollte ich nach meiner Handtasche greifen, in der ich stets ein paar Silbermesser hatte, da ließ mich ein tro ckenes Lachen innehalten.

»Ich an deiner Stelle würde das bleiben lassen, kleines Mäd chen«, sagte eine verhasste Stimme hinter mir.

Die Haustür öffnete sich. Im Türrahmen tauchte meine Mut ter in Begleitung eines dunkelhaarigen Vampirs auf, der mir vage vertraut vorkam und ihren Hals beinahe liebevoll umfasst hielt.

Und ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass der Vampir hinter mir mein Vater war.

5

Mein Vater Max stand etwa dreißig Meter entfernt zwischen einigen Bäumen. Ein leichter Wind zauste sein rotes Haar, und seine grauen Augen, die meinen zum Verwechseln ähnlich sa hen, blickten mich unverwandt an. Das eigentlich Faszinierende an ihm war allerdings die Panzerfaust, die er auf der Schulter balancierte. In der anderen Hand hielt er eine Pistole. Die beiden Waffen standen in einem solchen Missverhältnis zueinander, dass ich beinahe in hysterisches Gelächter ausgebrochen wäre.

»Eigentlich wollte ich deine Karre schon in die Luft gejagt haben, bevor du in der Einfahrt ankommst«, informierte Max mich freundlich mit einem Nicken in Richtung Panzerfaust,

»aber dann habe ich gesehen, dass du allein bist. Und welcher Vater würde sich schon die Chance entgehen lassen, ein wenig Zeit mit seinem kleinen Mädchen zu verbringen?«

Wenn man es beim ersten Mal nicht schafft, muss man es einfach immer weiter versuchen. Diese Worte hatte mir Max einige Monate zuvor hasserfüllt entgegengeschleudert, als sein Versuch, mich durch zwei Killer ausschalten zu lassen, aufgeflo gen war. Ich hatte nicht erwartet, dass er jetzt, wo Bones mich zu seiner vampirisch rechtmäßig Angetrauten gemacht hatte, noch einmal die Dreistigkeit besitzen würde, mir nach dem Leben zu trachten. Wie es aussah, hatte ich mich getäuscht.

»Wo ist dein Herr, Max?«, erkundigte ich mich mit ruhiger Stimme. »Ist Ian spät dran? Ist er etwa immer noch schlecht auf mich zu sprechen, weil ich ihm damals durch die Lappen gegangen bin?«

»Ian?« Max lachte. »Der kann mich mal. Ich brauche ihn nicht. Ich habe andere Gönner, kleines Mädchen, und die wol len deinen Tod ebenso sehr wie ich.«

Ich überlegte, ob ich noch einmal versuchen sollte, an meine Messer zu kommen. Auf Max' Gesicht erschien ein eisiges Lä cheln, dem meinen so ähnlich, dass jeder Wildfremde uns als Vater und Tochter erkannt hätte.

»Glaubst wohl, du kannst dir deine Waffen schnappen, bevor ich dazu komme, dich abzuknallen, was? Vielleicht schaffst du es ja. Aber dann mache ich deine Mutter mit der Panzerfaust alle, und das wäre doch jammerschade.«

Ich presste die Kiefer zusammen. Max und der andere Vam pir standen sich genau gegenüber. Selbst wenn ich schnell ge nug war, um einen auszuschalten, würde dem anderen noch ausreichend Zeit bleiben, meine Mutter zu töten.

»Warum gehen wir nicht nach drinnen ? Ein kleiner Plausch zwischen Vater und Tochter war ohnehin längst überfällig«, sagte Max und winkte mit der Knarre.

Ich hatte keine Chance; die beiden standen zu weit voneinan der entfernt. Ich wollte schon auf die Haustür zugehen, da ließ mich sein Lachen innehalten. »Erst lässt du die Handtasche fal len, kleines Mädchen, und kickst sie zu mir rüber. Langsam.«

Ein Dutzend möglicher Angriffszenarien gingen mir durch den Kopf, aber aus Angst um meine Mutter verwarf ich sie alle wieder. Wäre Max doch allein gekommen. Hätte ich mir doch ein paar Waffen umgeschnallt, bevor ich hergefahren bin. Hät te ich doch bloß noch so eine beschissene Uhr mit Notfallknopf gehabt, dann hätte ich Bones wissen lassen können, dass meine Mutter und ich bis zum Hals in der Scheiße steckten.

Ich ließ die Handtasche fallen und beförderte sie mit einem Tritt zu Max hinüber. Der brummte und kam näher, beide Waf fen weiter auf mich gerichtet.

»Dann wollen wir dir mal ein bisschen Respekt beibringen«, sagte er und drückte ab.

Die Kugel traf mich in die untere Magengegend, und ich krümmte mich zusammen. Ein paar Sekunden dauerte es, bis der Schmerz richtig einsetzte, aber als er kam, war er gnadenlos.

Hinter mir hörte ich den anderen Vampir kichern, nicht viel lauter als Max' Schuss. Seine Waffe hatte einen Schalldämpfer.

»Rein«, befahl er, noch einmal mit der Knarre wedelnd.

»Oder du bekommst noch eine Kugel ins Bein.«

Beide Fäuste auf die stark blutende Bauchwunde gepresst, wankte ich ins Haus. Kaum hatte Max die Tür hinter uns zu gezogen, gab er noch einen Schuss ab. Diesmal traf er mich in den Schenkel.

Ich schrie auf, als die Wucht mich zu Boden riss, wo ich lie gen blieb.

»Ich konnte einfach nicht widerstehen«, grinste Max und richtete die Waffe auf meine Mutter. »Noch einen Mucks von dir, und die nächste Kugel trifft sie.«

Max wäre jeder Grund recht gewesen, um auf meine Mutter zu schießen. Ihr stumpfer, teilnahmsloser Gesichtsausdruck war mir nicht entgangen. Max hatte sie durch Geisteskontrolle ge fügig gemacht. Als ich mir vorstellte, wie entsetzt sie gewesen sein musste, als sie die Tür geöffnet und meinen Vater erblickt hatte, überkam mich eine solche Wut, dass ich darüber fast mei nen Schmerz vergessen hätte.

Der Zustand hielt jedoch nicht lange an. Wellen von Schmerz, Übelkeit und Schwindel brachen über mich herein. Max hatte zwar weder Arterien noch lebenswichtige Organe getroffen, aber in meinem jetzigen Zustand konnte ich unmöglich ihn und den anderen Vampir überwältigen und dazu noch meine Mutter retten. Dass ich überhaupt noch bei Bewusstsein war, verdankte ich lediglich dem Umstand, eine Halbvampirin zu sein.

Bones. So oft schon hatte ich ihn verspottet, weil er sich so um meine Sicherheit sorgte, aber jetzt war ich die Dumme. Na türlich würde er sich Gedanken machen, wenn ich später nicht im Stützpunkt auftauchte. Vielleicht würde er sogar stehenden Fußes herkommen, aber Max' Gesichtsausdruck nach zu schlie ßen war es dann längst zu spät.

»Du hättest mich umbringen sollen, als du die Chance dazu hattest«, sagte Max, von oben auf mich herabstarrend. »Jetzt wünschst du dir wohl auch, du hättest es getan, statt in jener Nacht Bones zu heiraten, was?«

Eher wäre ich gestorben, als ihm beizupflichten - aber so schnell wollte ich mich dann doch noch nicht verabschieden.

»Habe ich eigentlich schon mal erwähnt, wie sehr ich dich hasse, Max?«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Vielleicht konnte ich ein bisschen Zeit schinden. Ihn so wütend machen, dass er sich entschloss, mir einen langsamen Tod zu bescheren.

Der andere Vampir lachte. »Die traut sich was«, bemerkte er, während er meiner Mutter übers Haar strich. »Was für eine Verschwendung.«

Da fiel mir ein, wo ich den schwarzhaarigen Vampir schon einmal gesehen hatte. Er war es gewesen, der uns damals im Chuck E. Cheese entwischt war!

»Du«, sagte ich.

Er grinste. »Die Freude ist ganz meinerseits.«

Max legte die Panzerfaust weg, aber das hätte mir vor ein paar Minuten mehr genutzt als jetzt.

»Kalibos«, sagte er, »wenn meine Tochter eine Bewegung macht, erschießt du ihre Mutter.«

Mit diesem unheilvollen Befehl verschwand er in der Küche.

Ich presste noch immer die Hände auf meine Bauchwunde, die schlimmer blutete als die an meinem Bein. Du gottverfluchtes Arschloch, Max, dachte ich unter Schmerzen. Ich mach dich kalt, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.

Was es allem Anschein nach auch sein würde.

Meine Mutter starrte noch immer teilnahmslos ins Leere.

Ansonsten schien sie zu meiner Erleichterung aber unversehrt zu sein. Kalibos, wie der andere Vampir offensichtlich hieß, ließ die Hand in ihren Ausschnitt wandern und drückte ihre Brust.

Ich stieß ein leises Knurren aus, das ihn grinsen ließ.

»Gemach, gemach«, säuselte er und ließ die Hand tiefer glei ten.

Als Max aus der Küche kam, warf er Kalibos einen wütenden Blick zu. »Sie nicht«, wies er ihn knapp an. »Wenn wir noch Zeit haben, kannst du dich mit Cat vergnügen, aber Justina ge hört mir.«

Grundgütiger. Neue Entschlossenheit stieg in mir hoch. Ich musste Max umbringen, selbst wenn meine Mutter und ich auch dabei draufgingen. Ich kannte meine Mutter. Der Tod wäre ihr lieber als die Vergewaltigung durch einen Vampir, insbeson dere wenn dieser Vampir Max war.

»Ich finde, wir sollten sie allmählich wieder aufwecken, oder?«, wandte sich mein Vater in munterem Tonfall an mich.

Mit der erneuten Anweisung, mich bei der geringsten Bewe gung zu erschießen, reichte er Kalibos seine Waffe und näherte sich meiner Mutter. Max ritzte sich die Haut des Daumens mit einem der vier Messer auf, die er aus der Küche geholt hatte, und drückte ihn ihr an die Lippen.

»Aufgewacht, die Sonne lacht«, sagte er und verstrich das Blut.

Meine Mutter leckte es auf, blinzelte ... und fing an zu schreien.

Max hielt ihr den Mund zu. Ich versuchte, meine Schmer zen so weit zu unterdrücken, dass ich mich auf einen Plan kon zentrieren konnte. Komm schon, Cat, denk nach! Es muss eine Lösung geben.

»Hallo, meine Schönste«, gurrte Max, sein Gesicht ganz nah an dem meiner Mutter. »Ich nehme jetzt die Hand weg, aber jedes Mal, wenn du schreist, schneide ich deiner Tochter was ab. Kapiert?«

Meine Mutter sah mich an, ihre Augen weiteten sich, und dann nickte sie. Max ließ die Hand sinken.

»Schon besser. Und um sicherzustellen, dass unser Kätzchen hier uns nicht den ganzen Spaß verdirbt ...«

Max kam auf mich zu, die Messer noch in der Hand. Ich nahm all meinen Mut zusammen. Mit aller Macht wünschte ich mir, ihm die Messer aus der Hand reißen zu können. Doch Kalibos zielte mit der Pistole auf mich und war meiner Mutter so nah, dass er sie problemlos beißen konnte. Ich würde mich wehren, aber nicht jetzt.

Max lächelte, kniete sich hin und packte mich am Hand gelenk. »Du wirst sterben«, sagte er so leise, dass nur ich es hören konnte, »aber deine Mutter lasse ich leben, damit sie den Anblick nie vergisst. Wenn du dich allerdings gegen mich wehrst, kleines Mädchen, vergewaltige ich sie, töte sie vor dei nen Augen und nehme mir hinterher dich vor. Wie viel liegt dir daran, ihr dieses Schicksal zu ersparen?«

Noch nie hatte ich jemanden so gehasst wie meinen Vater.

Vermutlich würde Max uns ohnehin beide umbringen, aber im Augenblick hatte ich drei Möglichkeiten. Hoffen, dass mir ein brillanter Plan einfiel, der uns beide retten konnte, hoffen, dass Max meine Folterung so lange ausdehnte, bis Bones auf kreuzte ... oder versuchen, mir die Messer zu schnappen und zu riskieren, dass Max seine Drohung meiner Mutter gegen über wahrmachte. Dass er dazu fähig war, wusste ich. Ihm war so gut wie alles zuzutrauen.

»Lass sie frei, wenn es vorbei ist«, sagte ich sehr leise. Ich hat te mich für Plan A beziehungsweise B entschieden.

Max lächelte. »Kluges Kind« Seine Finger strichen über mein Handgelenk. »Warum bist du allein gekommen? Wo ist Bones?«

Eine Lüge war immer glaubwürdiger, wenn man sie mit der Wahrheit mischte. »Er ist im Stützpunkt. Gestern Nacht hat er einen meiner Männer in einen Vampir verwandelt und bleibt jetzt bei ihm, bis der seine Blutgier im Griff hat.«

Max' Lächeln wurde breiter. »Tate.«

Ich konnte meinen Schock nicht verbergen. Mein Vater lach te. »Woher ich das weiß ? Belinda hat es Kalibos erzählt. Als ich deine Mutter aufgespürt hatte, musste ich sie nur noch dazu bringen, dich um einen Besuch zu bitten. Ich bin Belinda gro ßen Dank schuldig.«

Belinda. So eine Scheiße, ich hatte dieses kulleräugige Flittchen doch tatsächlich unterschätzt. Jetzt war mir klar, was sie Kalibos auf dem Weg aus dem Restaurant zugeflüstert hatte.

Was war außerhalb meiner Einheit nur Belinda bekannt gewe sen? Der genaue Zeitpunkt von Tates Verwandlung. Wenn ich tot war, hatte Belinda wohl gedacht, würde niemand mehr da hinterkommen, woher Max seine Informationen hatte. Selbst draufzugehen hatte allerdings nicht zu ihrem Plan gehört.

Wieder überkam mich Benommenheit. Bestimmt hatte ich innere Blutungen, denn was auf den Boden tropfte, reichte nicht, um meinen Zustand zu erklären.

»Du brauchst Belinda nicht mehr zu danken, Max, sie ist tot.«

Er zuckte mit den Schultern. »Schade drum. War ein nettes Mädchen.«

»Max.«

Mein Vater und ich drehten uns um. Meine Mutter hatte sich nicht gerührt. Langsam kullerten Tränen über ihre Wangen. Ich hatte sie noch nie weinen sehen.

»Du willst doch eigentlich mich«, sagte sie mit heiserer Stim me. »Ich habe Catherine dazu erzogen, alle Vampire zu hassen.

Das hier ist eine Angelegenheit zwischen dir und mir.«

Die beiden Schusswunden hatten mich kaltgelassen, aber jetzt traten mir Tränen in die Augen. Da hatte ich immer ge glaubt, meine Mutter würde mich nicht lieben, und hier stand sie und wollte sich um meinetwillen dem Vampir opfern, den sie so fürchtete.

Max warf ihr aus sengend grünen Augen einen Blick zu. »Oh, wir beide haben durchaus noch ein Hühnchen zu rupfen, Justi na. Weißt du, was für Scherereien ich als Vater einer Halbvam pirin hatte? Wildfremde haben mir nach dem Leben getrach tet! Bringe ich nur dich um, hilft mir das nicht weiter, wenn ich aber Cat umlege, mache ich mir Freunde. Eigentlich sollte Bones auch dran glauben, aber man nimmt, was man kriegt.«

Ich wollte schon fragen, wer diese neuen Freunde sein sollten, da nahm Max eines seiner Messer und rammte es mir mit sol cher Gewalt ins Handgelenk, dass es glatt durchging und mich an den Boden nagelte. Ein zischendes Keuchen entfuhr mir, doch der Aufschrei, der zu hören war, kam von meiner Mutter.

»Aufhören!«

Max grinste und hielt die anderen Messer so, dass sie un erreichbar für mich waren. »Gut gemacht, Justina. Dank dir kann ich jetzt ein bisschen an ihr herumschnippeln.«

Den ärgerlichen Seufzer, den Kalibos ausstieß, konnte ich so gar über meinen keuchenden Atem hinweg hören.

»Das ist langweilig. Darf ich heute auch noch irgendwas Lus tiges machen?«

Max griff sich das nächste Messer und warf meiner Mutter einen vielsagenden Blick zu, bevor er die Spitze an mein ande res Handgelenk hielt. »Na los, wehr dich. Dann habe ich einen Grund, dich die Todesqualen deiner Mutter mit ansehen zu las sen«, flüsterte er.

Ich biss die Zähne zusammen und kämpfte nicht dagegen an, als er mich langsam aufspießte. Es tat noch mehr weh als beim ersten Mal. Das Stöhnen meiner Mutter klang, als hätte sie selbst Schmerzen.

»Bitte«, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme und streckte die Hand nach Max aus. »Bitte hör auf. Es ist meine Schuld, lass sie zufrieden!«

»Wann erwartet dich dein Vampir-Playboy zurück?«, erkun digte sich Max, ohne ihr Beachtung zu schenken.

Vom Stützpunkt bis zum Flughafen würde Bones zwanzig Minuten brauchen, bei seinem Fahrstil vielleicht auch weniger.

Etwa eine weitere Viertelstunde würde es dauern, bis Annettes zahlreiche Gepäckstücke im Wagen verstaut und die beiden zu rückgefahren waren. Würde Bones mich anrufen, wenn er wie der im Stützpunkt war? Ich hatte mein Handy auf Vibrations alarm gestellt. Selbst wenn er anrief, würde ich es also nicht hö ren, weil es in meiner Handtasche war. Gott, womöglich würde es Stunden dauern, bis er sich fragte, wo ich abgeblieben war.

»In drei Stunden«, antwortete ich mit möglichst gleichgül tigem Gesicht.

Ein boshaftes Lächeln spielte um Max' Lippen. »Das heißt dann wohl eher in einer. Aber keine Sorge, ich werde die Zeit nutzen. Oh, und den nehme ich auch an mich.«

Max zerrte mir den Verlobungsring vom Finger. Er hielt ihn ins Licht und grinste.

»Hat bestimmt fünf Karat«, stellte er bewundernd fest. »Für den kriege ich leicht ein paar Millionen.«

»Es ist ein Rubin«, fauchte ich. Ich konnte es kaum ertragen, meinen Verlobungsring in seinen Händen zu sehen.

Max lachte. »Dummes Ding, ein Diamant ist das. Rote Dia manten sind die seltensten überhaupt, und der hier war seit über einem Jahrhundert in Bones' Besitz. Ian wollte ihn Bones schon seit Jahrzehnten abkaufen. Und du brauchst ihn jetzt nicht mehr.«

Mit der Bemerkung, es lediglich Kalibos zuliebe zu tun, zer schnitt Max mein Oberteil. Das Pochen in meinen Handgelen ken und die rasenden Schmerzen in Schenkel und Bauch führ ten mich an den Rand der Ohnmacht. Ich kämpfte gegen das verlockend nahe Dunkel an.

Meine Mutter stürzte los. Kalibos hielt sie auf und schüttel te sie durch.

»Nichts als Tiere seid ihr«, zischte sie ihn an.

»Beleidigungen gelten als Schreien«, konterte Max und lach te, als sie daraufhin ungläubig den Mund aufsperrte. »Das ist mein Spiel, also bestimme ich die Regeln. Jetzt darf ich Cat zwei Körperteile abschneiden. Erhöhst du auf drei?«

Über Max' Schulter hinweg sah ich die Augen meiner Mut ter. Sie waren weit aufgerissen und tränenfeucht. Fast unmerk lich schüttelte ich den Kopf. Bitte nicht. Du kannst nichts für mich tun. Hau einfach ab, wenn du kannst.

Natürlich konnte sie mein stummes Flehen nicht hören. Max ließ die Messerspitze zu meiner Jeans hinunterwandern und schlitzte ein Bein der Länge nach auf.

»Hier fange ich an«, verkündete er, packte ein Stück meiner Hüfte und setzte mit dem dritten Messer einen energischen Schnitt.

Um nicht zu schreien, biss ich mir so hart auf die Unterlippe, dass ich Blut schmecken konnte. Kalibos kicherte. Max hielt den abgesäbelten Hautlappen wie eine Trophäe in der Hand.

»Hübsche Tätowierung«, bemerkte er und warf ihn beisei te. »Vielleicht lasse ich sie Bones zukommen, dann hat er noch eine in Reserve.«

Wo eben noch das Knochentattoo geprangt hatte, das auch Bones auf dem Arm trug, klaffte jetzt eine blutige Wunde, die meine Hüfte wie Feuer brennen ließ. Diesmal kam kein Auf schrei von meiner Mutter, sie sog lediglich einmal tief und zitt rig die Luft ein.

»Ich liebe dich, Catherine«, flüsterte sie.

Ich musste den Blick abwenden, denn ich gönnte Max nicht die Genugtuung, mich weinen zu sehen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann sie das zuletzt zu mir gesagt hatte. Sie dachte wohl, wir würden beide sterben.

»Ich habe keinen Bock mehr, sie festzuhalten, ich hypnoti siere sie jetzt«, maulte Kalibos und fixierte meine Mutter mit grün leuchtenden Augen.

»Lass das.« Max' Stimme war wie ein Peitschenhieb. »Sie soll es sehen. Sie soll es wissen.«

Kalibos schnaufte verärgert, schleifte meine Mutter zu den Vorhängen an den Fenstern, riss einen herunter, zerriss ihn der Länge nach und knotete ihr das eine Ende um den Hals.

»Max«, sagte ich drohend.

Der verpasste mir eine harte Kopfnuss. »Pst, ich will sehen, was er vorhat.«

Kalibos befestigte das andere Vorhangende am Treppenge länder im ersten Stock. Meine Mutter wehrte sich, hatte aber nicht die geringste Chance gegen den Vampir. Ich stemmte mich gegen die Messer, mit denen ich aufgespießt war. Max trieb mir beinahe beiläufig noch eines durchs Handgelenk und box te mich dann in den Unterbauch, wo die Schussverletzung war.

Der Schmerz war so überwältigend, dass ich offenbar für eine Weile ohnmächtig wurde, denn als ich wieder sehen konnte, stand meine Mutter auf einem Stuhl; ein Vorhangende war um ihren Hals geschlungen und das andere am Treppengelän der über ihr befestigt. Das improvisierte Seil war fast ganz ge spannt, und ein Stuhlbein fehlte.

»Jetzt kann sie zusehen, und ich kann mitmachen«, grinste Kalibos.

Max schenkte ihm ein anerkennendes Lächeln und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder mir zu.

»Willst du wissen, was ich mit dir anstellen werde, kleines Mädchen?«, fragte er mich im Plauderton. »Nachdem ich dich nach allen Regeln der Kunst gefoltert habe, werde ich dich zer stückeln. Wollen ja nicht riskieren, dass Bones irgendwen dazu bringt, dich als Ghul auferstehen zu lassen, was?«

Das miese Schwein war nicht dumm. Als Halbvampirin be stand für mich durchaus die Chance, zum Ghul zu werden, wenn Max mich einfach nur umbrachte. Zerstückelte er mich, kam das allerdings nicht mehr in Frage.

»Wir machen es wie vorhin. Mal sehen, wann du anfängst zu schreien und ich Justina was abschneiden kann«, höhnte er.

Max bearbeitete meinen Schädel mit der Faust, bis er hin und her flog wie ein Springteufel auf seiner Feder. Mein Mund war voller Blut, meine Lippe aufgeplatzt, aber ich biss mir auf die Zun ge und machte keinen Mucks. Minuten vergingen, und schließ lich übertönte das Klingeln in meinen Ohren sogar Max' Schläge.

»Stures Biest. Hmmm, mal sehen, ob du jetzt immer noch stumm bleibst ...«

Er zog ein Feuerzeug aus der Tasche, knipste es an und hielt mir die Flamme an den Arm. Mein ganzer Körper erbebte, wand sich vergeblich, ich ächzte und stöhnte. Nach Minuten voller unbeschreiblicher Schmerzen konnte ich mich nicht mehr be herrschen und schrie auf.

Max lachte vergnügt. Nur am Rande merkte ich, wie ich mich übergab.

»Das wird Justina wohl einen Finger kosten«, stellte er fest.

»Was wird sie dank dir sonst noch einbüßen?«

»Bring mich ruhig um, Bones wird dich trotzdem finden«, keuchte ich. Ich war schweißgebadet, der Schmerz in meinem Arm unvorstellbar. »Du wirst es bereuen, glaub mir.«

Kalibos und Max prusteten los, als hätte ich ihnen einen Witz erzählt. »Wegen dir wird dieser Vampir keinen Krieg anzet teln.« Max grinste. »Der hat dich doch nur geheiratet, um un serem Meister eins auszuwischen.«

Deshalb also fühlte sich Max so sicher? Er glaubte, seine neu en »Freunde« würden ihn beschützen und Bones hätte mich aus purem Trotz geheiratet?

»Oh, Bones wird euch finden. Verlasst euch drauf.«

Die Überzeugung in meiner Stimme brachte sie dazu, sich unsicher umzusehen.

»Erbärmlich«, sagte Max schließlich. »Du versuchst, mir Angst einzujagen, damit ich dich am Leben lasse, aber das zieht nicht. Kalibos, geh trotzdem mal nach draußen und halte Wa che. Nur für den Fall, dass ihr Playboy ein bisschen früher vor beikommt.«

»Ich durfte aber noch gar nicht mit ihr spielen«, maulte Ka libos; der Ausdruck in seinen Augen ließ mich unwillkürlich zusammenzucken.

»Du kommst schon noch dazu«, fuhr Max ihn an. »Aber das Ding hier war meine Idee, also bin ich zuerst an der Reihe.«

Kalibos grinste mich auf dem Weg zur Tür noch einmal an.

»Bis gleich, Schätzchen.«

Max erhob sich und schlenderte auf meine Mutter zu. Damit die Vorhangschlinge um ihren Hals sie nicht erwürgte, muss te sie fast auf Zehenspitzen balancieren. Der Stuhl unter ihr wackelte bedenklich auf seinen drei Beinen. Auch ihre Hände waren mit einem Stück Vorhang gefesselt, und Max inspizierte grinsend ihre Finger.

»Welcher darf's denn sein, Justina? Mal sehen; das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen«, gurrte er und tippte auf den entsprechenden Finger. »Der hebt sie alle auf, der bringt sie nach Haus, und der Klitzekleine ...«

Ich konzentrierte mich auf meine Chance. Kalibos war drau ßen, ich konnte es also riskieren. Das Nachdenken fiel mir den noch schwer. Ich war nicht zum ersten Mal vermöbelt worden und konnte einiges einstecken, aber diesmal waren meine Ver letzungen so schwer, dass die Ohnmacht immer näher rückte.

Meine Mutter erwiderte meinen Blick ... und stieß dann den Stuhl unter sich weg.

»Gottverfluchte Scheiße«, schimpfte Max und bewahrte sie mit einer Hand vor dem Sturz. »Was sollte das denn werden?«

Den Augenblick seiner Unachtsamkeit nutzte ich, indem ich mich mit aller Kraft gegen die Messer in meinen Handgelenken stemmte. Ich konnte spüren, wie mein Fleisch zerriss. Als Max wieder bei mir war, hatte ich bereits eine Hand frei bekommen.

»Was ist hier los, verdammt?«

Er ließ meine Mutter los. Sie baumelte am Hals vom Trep pengeländer, die Füße ein gutes Stück über dem Boden, wäh rend ich meinen anderen Arm losriss, den rasenden Schmerz ignorierend, den ich mir dabei zufügte. Ich wollte mir eins der Messer schnappen, doch meine Handgelenke waren so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass ich nicht greifen konnte. Also kickte ich die Messer weg und ging unbewaffnet auf Max los, den ich mit einem energischen Kopfstoß zu Boden schickte. Ich brauche ja nur ein kleines bisschen von deinem Blut, dachte ich, während ich ihm die Zähne in den Leib schlug, dann bin ich wieder so weit in Ordnung, dass ich kämpfen kann.

Plötzlicher Radau ließ mich abrupt zum Fenster sehen. Ich sah noch das Glas bersten ... dann spürte ich einen brennenden Schmerz am Hals, und alles wurde schwarz. Ich glaubte, Schreie zu hören, aber mit einem Mal schien alles so weit entfernt zu sein. Ich spürte auch nichts mehr. Was für eine Erleichterung, keine Schmerzen mehr zu haben.

Eine Flüssigkeit, die meine Kehle hinunterrann, brachte mich wieder zu Bewusstsein. Ich versuchte sie auszuhusten, schaffte es aber nicht. Sie ergoss sich einfach immer weiter, sodass ich zum Schlucken gezwungen war. Wieder und wieder.

»... darfst sie nicht sterben lassen!«, glaubte ich, meine Mut ter schreien zu hören, dann erkannte ich Bones' Stimme.

»... komm schon, Süße, trink! Nein, ein bisschen mehr brauchst du schon noch ...«

Ich würgte, die Flüssigkeit quoll mir aus dem Mund, und da wurden die Schemen um mich herum deutlicher. Meine Lippen waren an einen blutigen Hals gepresst, und ich machte mich unter Husten und Schlucken los.

»Aufhören«, keuchte ich.

Hände zogen mich zurück. Es war Bones' Kehle, an der ich gesaugt hatte. Das Blut war auch nicht nur an seinem Hals.

Vorn war es an seinem ganzen Körper heruntergelaufen.

»Herrgott im Himmel, Kätzchen«, seufzte Bones und strei chelte meinen Hals.

»Catherine«, rief meine Mutter. Ich warf den Kopf herum und sah, wie sie auf mich zugewankt kam. Die Vorhangschlin ge lag noch um ihren Hals, doch das andere Ende war nicht mehr am Treppengeländer befestigt. Aus der gegenüberliegen den Zimmerecke hörte ich Max leise fluchen, woraufhin eine weibliche Stimme mit britischem Akzent antwortete.

»Keine Bewegung, du kleiner Scheißer.«

»Hast du ihn?«, erkundigte sich Bones mit Grabesstimme.

Annette klang entschlossener denn je. »Hab ihn, Crispin.«

Meine Mutter war bei mir angekommen. Sie fiel mir um den Hals, versuchte, mich aus Bones' Armen zu reißen, und befühlte gleichzeitig meinen Hals.

»Hat er dich wieder hingekriegt? Alles in Ordnung mit dir, Catherine?«

Da sah ich das ganze Blut. Es war nicht nur auf Bones, son dern auch auf mir, überall um mich herum auf dem Boden und an der nahen Wand.

»Was ist passiert?«, fragte ich, gleichzeitig benommen, un-aussprechlich dankbar, dass wir am Leben waren, und bestürzt über so viel Blut.

»Max hat dir die Kehle aufgerissen«, antwortete Bones, eine ganz seltsame Mischung aus Erleichterung und Wut in den grün leuchtenden Augen. »Und wenn ich den erst in der Ma che habe, wird er sich noch sehnlichst wünschen, ich hätte ihn umgebracht.«