26
Spade warf erst einen strengen Blick auf die Uhr und dann auf den Teller, der auf dem Küchentisch stand. »Dein Frühstück ist kalt.«
Ich sah ebenfalls auf die Uhr. Wir hätten schon vor einer Stunde unten sein sollen, aber es gab Wichtigeres als Essen.
Ich setzte mich an den Tisch vor den offensichtlich für mich bestimmten Teller. Der Käse im Croissant war hart, die Eier eingetrocknet, und die Paprikastreifen machten auch keinen be sonders appetitlichen Eindruck mehr. Rodney setzte noch eine Kanne Kaffee auf. Offenbar war er der Ansicht, die letzte wäre nicht mehr zu retten.
Ich schenkte Spade ein Lächeln. »Keine Bange, jetzt hat das Essen Raumtemperatur, so mag ich es am liebsten.«
Ich aß mit plötzlichem Heißhunger, während Bones und Spade sich auf die Suche nach einem flüssigen Frühstück mach ten. Als sie außer Sichtweite waren, hörte ich, wie Annette sich ihnen anschloss. Bodyguards. Da Mencheres sich im Neben zimmer aufhielt, war ich in dieser Hinsicht versorgt. Außerdem hielt ich Rodney nicht für den Überläufer. Und seltsamerweise auch den anderen Vampir nicht, der gerade die Küche betrat.
Rodneys unfreundlichen Blick ignorierend ließ Vlad sich ne ben mir nieder. Ich lehnte mich zurück und schlürfte meinen Kaffee. Er betrachtete die Tasse mit einem spöttischen Grinsen.
»Ah, ein heißes Tässchen Koffein. Das brauchst du sicher nach dieser weiteren schlaflosen Nacht.«
Ich spürte, wie mir die Röte in die Wangen schoss. Vlad lachte in sich hinein und spielte übertrieben beiläufig an seinen Fin gernägeln herum.
»Wirklich, Cat, du brauchst nicht so schockiert zu sein.
Schalldicht ist nicht gleich gedankendicht. Gedanken durch dringen selbst die dicksten Wände. Ich habe ja selbst kaum ein Auge zubekommen bei all dem Gekreische in meinem Kopf.«
Grundgütiger, daran hatte ich gar nicht gedacht. So fühlte man sich wohl, wenn jemand ein Sextape von einem fand.
»Gerade hast du die Chance verspielt, jemals bei uns über nachten zu dürfen«, zischte ich, plötzlich ganz fasziniert von meiner Kaffeetasse. »Und ich war schon drauf und dran, dich zu mögen. Das hat sich dann wohl erledigt.«
Vlad grinste, was wölfisch und charmant wirkte.
»Ich habe mich schon so gegrämt, dass mir das die Chance verhagelt hat, unsere Freundschaft auszuweiten. Ich bin kein Narr wie Tate. Du wirst Bones nie verlassen. Der Junge sollte das einsehen und sein eigenes Leben leben.«
Ich erstarrte. Seine Worte sagten mir, dass auch er Tate nicht für den Schuldigen hielt. Sonst hätte er sich keine Gedanken mehr über dessen Zukunft gemacht.
»Du hast was gut bei mir.«
Mit dem Themenwechsel wurde Vlads Gesichtsausdruck plötzlich ernst. »Stimmt schon. Aber in diesem Fall habe ich eine alte Schuld beglichen, also sind wir quitt.«
»Komm schon, Vlad, das passt doch nicht zu dir. Großzügig keit steht dir nicht.«
Er lächelte. »Hast ja recht. Du sagtest doch, du hättest dich über meine Vergangenheit schlau gemacht? Dann weißt du auch, dass ich einmal verheiratet war. Bei einer Schlacht unweit meiner Burg wurde ich am Kopf verwundet. Das wäre mein Tod gewesen, aber ich war schon seit ein paar Wochen ein Vampir.
Der Morgen graute, und ich schlief, wie alle neuen Vampire, die Stirn noch voller Blut. Meine Männer hielten mich für tot.
Ein Soldat lief zu meiner Frau und überbrachte ihr die traurige Nachricht. Du weißt, was dann geschah.«
Ja, das wusste ich. Sie war vom Dach ihrer Burg in den Tod gesprungen, weil sie der Gefangennahme durch den Feind und Schlimmerem entgehen wollte.
Und fast sechs Jahrhunderte später hatte Vlad mich davor bewahrt, das Gleiche zu tun.
Seine vernarbte Hand glitt über den Tisch hinweg zu meiner.
»Meine Frau stand allein auf dem Dach, als ich für sie hätte da sein sollen. Ich hatte ihr nicht gesagt, dass ich ein Vampir geworden war. Sie war schon so entsetzt über das, was ich getan hatte, um mein Volk zu schützen, dass ich glaubte, es würde erst recht einen Keil zwischen uns treiben. Ich hatte ja vor, es ihr irgendwann zu sagen, aber plötzlich war keine Zeit mehr. Seit sie nicht mehr ist, habe ich vieles getan, das sie abge stoßen hätte, aber an jenem Tag mit dir ... habe ich gespürt, wie sie mir zugelächelt hat. Das ist mir schon lange nicht mehr passiert.«
Abrupt erhob er sich. »Genieße, was du hast. Wenn nicht, wirst du es den Rest deines Lebens bedauern. Bones sollte sich nicht scheuen, dir alles von sich preiszugeben, auch wenn er ein eingebildeter dahergelaufener Lümmel ist, der vom Schicksal weit großzügiger behandelt wurde, als er's verdient.«
Beim letzten Teil hatte er lauter gesprochen, weil Bones, dem rhythmischen Klang seiner Schritte nach, auf dem Weg zu uns war. Ich schenkte Vlad ein sarkastisches Lächeln.
»Neidisch, was?«
»Natürlich. Aber das ist nur eine meiner vielen verabscheu ungswürdigen Eigenschaften. Noch eins, Catherine ...« Er beugte sich so weit vor, dass nur ich ihn hören konnte. »Ich hätte dich nie springen lassen.«
Und mit diesen Worten verließ Vlad die Küche, wozu er die andere Tür benutzte, um Bones nicht über den Weg zu lau fen. Diesmal vermutlich nicht aus Abneigung gegenüber Bones, sondern weil er sich nicht noch einmal von ihm danken lassen wollte. Als wäre es ihm unangenehm, daran erinnert zu werden, dass er etwas Nettes getan hatte.
Bones kam in die Küche, schaute Vlads davoneilender Gestalt hinterher und dann zu mir. Schließlich verdrehte er die Augen.
»Verdammt noch mal, Kätzchen, sag mir nicht, du magst dieses eingebildete Arschloch.«
Ein Lächeln spielte um meine Lippen.
»Doch, irgendwie schon.«
In der Nacht hatte Bones mir versichert, Tate wäre komfortabel untergebracht und keinerlei Gewalt ausgesetzt. Als ich ihn jetzt in der winzigen Zelle sah, die man am ehesten als Verlies hätte bezeichnen können, war ich außer mir vor Zorn.
»Das verstehst du unter komfortabel? Und was ist für dich ein wenig beengt? Der Vorhof zur Hölle?«
Mein ätzender Tonfall ließ Bones kalt. Er musterte die blutige Gestalt, die vor uns an die Wand geschmiedet war.
»Ihm ist nichts geschehen, er ist lediglich fixiert. Das Blut stammt sicher noch von letzter Nacht. Ihm wären vielleicht ein weiches Bett und ein schöner leckerer Hals lieber gewesen, aber in Anbetracht seiner Tat kann man das wohl kaum als qualvolle Folter bezeichnen.«
Er sprach laut und deutlich und in beißendem Tonfall, sodass es jeder mitbekommen konnte. Ich widerstand dem Drang zu verlangen, dass man Tate losmachte. Schließlich war der wahre Verräter noch auf freiem Fuß, und wir hatten keine Ahnung, um wen es sich handelte.
»Du hast echt ein Riesenglück, Arschloch«, murmelte Tate.
Purer Hass lag in seinen Worten. Seine Augen leuchteten in reinem Smaragdgrün, als er Bones anfunkelte.
Der lachte. »Weißt du, Kumpel, als ich heute Morgen auf gewacht bin und sie in meinen Armen geschlafen hat, habe ich mich tatsächlich wie ein Glückspilz gefühlt.«
Verwünschungen ausstoßend stemmte Tate sich gegen seine Fesseln.
Ian klopfte Bones leise lachend auf die Schulter. Er hatte in der Nacht Wache gestanden.
»So keift er jetzt schon, seit du wieder da bist, Crispin. War ganz unterhaltsam, ihm zuzuhören. Ah, Rodney, übernimmst du jetzt? Gut, ich bin völlig kaputt.«
»Danke Ian, ruh dich aus. Wir sprechen uns später.«
Bones war sich zwar nicht hundertprozentig sicher, glaubte aber im Grunde nicht, dass Ian der Verräter war. Ich sah das ein wenig anders, aber das kümmerte Bones nicht. Da Tate für den wahren Täter ein Risiko darstellte, musste er von zuverlässigen Leuten bewacht werden.
Jetzt waren Rodney, Bones und ich mit Tate allein. Der un terirdische Bereich, in dem wir uns befanden, war abgeriegelt und hatte nur einen Zugang. Wir würden nur jetzt mit Tate sprechen können, weil es später verdächtig gewirkt hätte. Im Augenblick allerdings schien es nur natürlich zu sein, dass ich dem Verräter persönlich gegenübertreten wollte.
»Wie konntest du das tun, Tate?«, fragte ich ihn. Der lange Gang vor Tates Zelle ließ jedes Wort hallen, sodass Flüstern keinen Sinn hatte.
»Ich hasse ihn, aber ich war es nicht«, antwortete Tate.
Ich zog einen kleinen Notizblock und einen Kugelschreiber unter meinem Sweatshirt hervor. Tate beäugte mich argwöh nisch. Ich nickte Rodney zu, der einen von Tates angekette ten Armen losmachte. Ihn ganz zu befreien hätte zu viel Lärm gemacht, und Bones war immer noch auf der Hut. Außerdem wollte er nicht, dass Tate in meiner Nähe frei herumlief, weil er fürchtete, der würde mich lieber tot als mit Bones vereint se hen wollen. Für ihn war Tate nach wie vor der Schuldige, egal was ich sagte.
Rasch kritzelte ich ein paar Worte auf den Block und hielt ihn so, dass Tate ihn sehen konnte.
Ich glaube dir.
Tränen traten ihm in die Augen. Ich musste mich schwer zu sammenreißen, damit ich ihm nicht um den Hals fiel und ihm versprach, dass alles gut werden würde. Tate ruckte mit dem Kopf, woraufhin Rodney ihm Stift und Papier brachte.
»Ich glaube dir aber nicht, mein Freund.«
Bones' Tonfall war regelrecht boshaft gewesen, und für ei nen Lauscher wirkte es, als hätte er allein auf Tates Unschulds beteuerung reagiert. Rodney warf einen entrüsteten Blick auf das von Tate beschriebene Blatt und gab es dann an mich weiter.
Ich liebe dich, Cat.
»Ist mir doch egal, was du glaubst, du falscher englischer Hu renbock«, war sein Kommentar an Bones.
Na ja, wir wollten ja, dass es glaubwürdig klingt, dachte ich spöttisch. Das hätten wir dann wohl erreicht.
»Willst du wissen, was ich glaube, Arschgesicht?«, fuhr Tate fort. »Ich glaube, du hast deinen Tod nur vorgetäuscht und sie vor Kummer fast umkommen lassen, damit du auf wundersame Weise wieder auftauchen und deinem verhassten Nebenbuhler die Schuld in die Schuhe schieben kannst. Du suchst doch schon nach einem Vorwand, mich abzumurksen, seit du wieder in ihr Leben getreten bist. Warst das Warten leid, was?«
Bones schnaubte aufgebracht. »Du glaubst also, ich würde ihr das antun, nur um dich loszuwerden? Vollidiot.«
Du schweifst vom Thema ab!, schrieb ich und wedelte Bones mit dem Block vor der Nase herum, weil ich in meiner Auf regung ganz vergessen hatte, dass ich die Worte nur hätte den ken müssen.
Bones sah nicht einmal hin. »Du hast einfach nicht genug Klas se für sie, mein Freund. Mann, deine bisher größte Tat war es, ein Mordkomplott gegen mich zu schmieden. Hältst du immer noch an deinen Unschuldsbeteuerungen fest? Damit machst du dich selbst wieder zu einem Nichts, das nie ihre Beachtung finden wird. Was bist du also, ein Verräter oder ein trauriger Loser?«
Tates Antwort konnte nur falsch ausfallen. Entschied er sich für das eine, war das sein Todesurteil, entschied er sich für das andere, war er für Bones kein ernstzunehmender Gegner mehr.
Darüber hätten wir jetzt diskutieren können, aber das würde bis später warten müssen.
Tates Blick wurde noch wütender als zuvor, was eine ziemliche Leistung war. Bones wartete mit spöttisch verzogenen Lip pen. Ich war noch dabei, den Notizblock vollzukritzeln, als Tate antwortete.
»Eins wollen wir mal klarstellen: Wenn du mich tötest, dann nicht, weil ich der Täter bin. Ich habe dich nicht an Patra verraten, aber meinen Glückwunsch an den, der's war. Wenn du mich umbringst, dann weil du Angst hast, dass Cat eines Tages mich dir vorzieht. Die Entscheidung liegt also bei dir, Gruftie, was willst du tun?«
Bones' dunkelbraune Augen, die mich sonst so leicht zum Schmelzen bringen konnten, waren nun kalt und leer.
»Ich habe dir die Chance gegeben, dich mit Würde und An stand zu deinen Taten zu bekennen. Das hast du abgelehnt. Du willst es also nicht anders. Du wirst hier angekettet bleiben, al lein und ohne Nahrung, bis Hunger und Einsamkeit dich gefü gig gemacht haben. Mal sehen, was du in etwa einem Monat zu sagen hast. Überlassen wir ihn seinem Frevel und seiner Rück gratlosigkeit. In der Zwischenzeit genieße ich die Gesellschaft meiner Frau.«
Bones nahm meine Hand. Ich wehrte mich lange genug, um mein vollgekritzeltes Blatt hochzuhalten und es Tate lesen zu lassen, während Rodney ihm den Arm wieder an die Wand ket tete.
Ich finde den Schuldigen, versprochen, aber wenn irgendwer außer mir oder Bones hier reinkommt, schreist du, so laut du kannst.
»Keine Sorge, Cat«, sagte Tate mit einem Anflug von Humor.
»Ich rühre mich nicht vom Fleck.«
Als Rodney die Tür hinter uns geschlossen hatte, wandte ich mich mit einem Ruck Bones zu. Glaubst du immer noch, er war es?, wollte ich wissen.
Als er mich ansah, standen ihm die unterschiedlichsten Emo tionen ins Gesicht geschrieben, und keine davon war erfreulich.
Schließlich schüttelte er den Kopf.
Nein.
27
Wir hatten den Kreis der Verdächtigen eingeengt. Von den ur sprünglich dreizehn Kandidaten konzentrierten wir uns jetzt auf vier. Bones hatte sich die Entscheidung alles andere als leicht gemacht, schließlich kannte er alle seit mindestens hundert Jah ren und betrachtete sie als gute Freunde. Allerdings hatte Cä sar Brutus auch nicht verdächtigt, und wir wissen ja, wie die Geschichte ausging. Gefühlsduseleien mussten also außen vor bleiben.
Zero stand trotz seiner äußerlich sklavischen Unterwürfig keit auf unserer Liste. Gefolgt von Tick Tock, Rattler und Doc.
Vlad kam eventuell auch noch in Frage.
Während ich frühstückte, rief Bones Don an, um ihm zu sa gen, dass er zu uns gestoßen war. Mein Onkel erkundigte sich natürlich nach Tate und erhielt die brüske Antwort, dass der
»fürs Erste« noch unverschrumpelt sei. Ich konnte Don prak tisch vor mir sehen, wie er sich während des Telefonats kleine graue Härchen aus den Augenbrauen zupfte. Don liebte Tate, aber er war auch Realist. Er wusste, was passieren würde, wenn Tate wirklich der Schuldige war. Vampire hielten nichts von Bewährungsstrafen.
Um Mencheres' Geschichte von einer langsamen Genesung zu untermauern, bewegte sich Bones im Vergleich zu seiner sonsti gen raubtierhaften Anmut auffallend träge. Wir verbrachten den Nachmittag auf der Couch, während Mencheres Bones in aller Kürze darüber aufklärte, was sich in seiner Abwesenheit zuge tragen hatte. In knappen, aber schonungslosen Worten schilderte er, wie Patra ungebeten im Opernhaus aufgetaucht war. Meine Mutter hörte auf, so zu tun, als würde sie uns nicht zuhören, und ließ sich auf einem Sessel in der Nähe nieder. Als Mencheres seinen Bericht beendet hatte, brach sie das lastende Schweigen.
»So eine miese Schlampe. Du solltest sie umbringen, Cathe rine.«
Bones ließ ein Schnauben hören. »Das erledige ich schon selbst.«
In der Zwischenzeit blieb uns nur abzuwarten, wer von unse ren Leuten versuchen würde, Patra mitzuteilen, dass Bones über lebt hatte. Don hatte dafür gesorgt, dass sämtliche Telefonlei tungen abgehört und sogar die drahtlose Kommunikation über wacht werden konnte. Egal ob E-Mail oder SMS - abgesehen von Brieftauben wurde alles abgefangen. »Aus Sicherheitsgründen«, sagte Mencheres knapp, und niemand wagte es, sich ihm zu wi dersetzen. Wenn unser Maulwurf in Aktion treten wollte, würde er uns ins Netz gehen. Jetzt hieß es einfach nur abwarten.
»Bones, du bist noch sehr blass«, bemerkte Mencheres. »Du solltest etwas essen und dich dann hinlegen.«
»Du hast recht.« Bones zog mich an der Hand mit sich. »Kätz chen, ich möchte dir etwas zeigen.«
Durch mehrere Räume, die ich mir noch nicht näher angese hen hatte, folgte ich ihm in den Keller. Mindestens ein Drittel des Hauses lag unter der Erde. Bei den Vampiren und Ghulen selbst war es ähnlich. Dem Außenstehenden erschloss sich nur ein Bruchteil ihrer Welt.
Zwei Vampire verneigten sich, bevor sie uns eine hölzerne Flügeltür öffneten.
Mehrere junge Leute, alle sterblich, sahen auf, als wir den Raum betraten, der eine Art Freizeitbereich zu sein schien. Ein paar saßen auf einem Sofa vor einem Plasmafernseher, ein an deres Grüppchen vergnügte sich an einem von vier Billardti schen, und fünf waren offenbar in eine Runde Poker vertieft.
»Was ist das?«
Bones machte eine ausladende Handbewegung. »So etwas wie die Vampirversion einer Küche, Süße. Die Vampire sorgen für die Menschen und erhalten dafür Blut, so geht es in vielen Vampirhaushalten zu. Ich wollte, dass du es einmal gesehen hast.«
»Ich will die Rothaarige!«, rief ein sommersprossiger junger Mann grinsend, während er auf uns zukam. »Du wirst mich mögen, ich schmecke am besten.«
»Du glaubst, ich will dein Blut?«, keuchte ich, als er den Kopf zur Seite neigte und mir seinen Hals darbot.
Bones lachte in sich hinein. »So ist es. Tut mir leid, Neal, aber sie wird dich nicht beißen, und du schmeckst auch nicht beson ders lecker«, sagte er tadelnd, um ihm gleich darauf die Hand auf die Schulter zu legen. »Aber das ist schon in Ordnung. Du solltest nur weniger Zwiebeln essen.«
Ich beobachtete, wie Neal an Bones herantrat, der ihm den Mund an den Hals legte und die Zähne hineinschlug wie in ei nen lebenden Plumpudding. Knapp eine Minute später war al les vorbei, Bones schloss die Bissmale am Hals des Jungen und griff ihm freundschaftlich unters Kinn.
»Bisschen weniger Knoblauch wäre auch nicht schlecht, mein Bester. Ich habe schon italienische Köche mit weniger penetran tem Aroma erlebt.«
Neal lächelte unbeeindruckt weiter. »So eine gute Pizza wie heute hatte ich noch nie, Schneeflocke, mit haufenweise Zwie beln und Knoblauch drauf. Sorry.«
Bones schnaubte amüsiert. »Zähne putzen, Junge. Gewöhn dich dran, sonst verwandelt dich nie jemand. Nein, bleib sit zen.« Das sagte er zu einem Mädchen, das gerade von der Couch aufstehen wollte. »Wir sehen uns nur kurz um, dann sind wir wieder weg.«
Meine Mutter würde umkippen, wenn sie wüsste, was vor sich geht, dachte ich benommen. Lebende Häppchen, und alle in Bissweite.
»Was sind das für Kids?«, fragte ich leise. Sie wirkten alle samt nicht älter als zwanzig.
Bones führte mich durch eine weitere Zimmerflucht. Hier unten gab es eine Bibliothek, einen Computerbereich und sogar einen Whirlpool. Und alle paar Meter Schlafzimmer. Manche waren belegt, manche nicht, und hinter einer verschlossenen Für hatte unüberhörbar gerade jemand Sex.
»Ach, das ist ganz unterschiedlich«, antwortete Bones. »Da gibt es Collegestudenten, aufstrebende Künstler, Ausreißer, Straßenkinder oder unsere Auszubildenden. Wie Neal zum Bei spiel. Er will mal Vampir werden, also zeigt er uns, dass es ihm ernst ist, indem er sich als Nahrungsquelle zur Verfügung stellt und kleine Botengänge für uns erledigt. Wenn mehrere Vampi re zusammen in einem Haus wohnen, ist das üblich.«
»Sind sie hypnotisiert?«
»Gott bewahre. Sie wissen, bei wem sie wohnen und warum.
Die Ausreißer bekommen Privatunterricht, ein Dach über dem Kopf und ein Taschengeld, das sie für später zurücklegen. Zu ih rer eigenen Sicherheit wissen die meisten allerdings nicht, wo sie sind oder wie die Hausherren wirklich heißen. Wenn sie uns ver lassen, wird ihr Gedächtnis gelöscht. So ist das schon seit Jahr tausenden, Kätzchen. Wie gesagt, eine Form des Feudalismus.«
»Feudalismus?« Ich blieb vor dem Schlafzimmer stehen, aus dem gerade heftiges Keuchen drang. »So nennt ihr das?«
»Das«, Bones wies mit einem Nicken zur Tür, »geschieht in beiderseitigem Einvernehmen. Ich kann zwar nicht für alle Haushalte sprechen, aber im Allgemeinen ist es verpönt, jeman den, der sich als Blutspender zur Verfügung stellt, durch Hyp nose zum Sex zu zwingen. Tut man so etwas als Gast, kann das sogar die Todesstrafe nach sich ziehen. Wenn der Sterbliche al lerdings nichts dagegen einzuwenden hat ... wen juckt's? Das ist seine Entscheidung.«
Wen juckt's? Mich. Selbstbedienung in jeder erdenklichen Hinsicht. Immer schön regelmäßig essen, Bones, braver Junge!
»Du solltest es besser wissen, Kätzchen«, sagte Bones ganz ernst. »Deine Bedenken sind abwegig.«
Ich glaubte ihm, obwohl ich mich unvernünftigerweise noch immer durch die vielen offenen Versuchungen bedroht fühlte.
»Hast du mir das deshalb gezeigt? Damit ich nicht denke, du verheimlichst mir etwas?«
»Unter anderem, ja.« Ein Lächeln erschien auf Bones' Ge sicht. »Der Hauptgrund steht allerdings gerade hinter dir, be glotzt deinen Arsch und riskiert eine Abreibung.«
»Amigo«, hörte ich eine schmeichlerische Stimme. »Ich habe ihn doch schon tagelang nicht mehr gesehen ...«
Er kam nicht dazu, seinen Satz zu Ende zu bringen, weil ich in diesem Augenblick herumwirbelte und ihm um den Hals fiel.
Spanische Zärtlichkeiten gurrend drückte Juan mich an sich.
»Mi querida, dein Mann ist zurück, que bueno.«
»Ja, ich bin auch überglücklich«, schniefte ich. »Jetzt, wo du da bist, erst recht. Wie geht's dir?«
Juan grinste. Anzüglich wie immer, was mir wieder einmal vor Augen führte, dass das Wesen eines Menschen unverändert blieb, wenn er zum Vampir wurde.
»Bestens, und mit meinem geschärften Blick siehst du jetzt sogar noch besser aus. Sieh dir nur deine Haut an.« Er betastete meine Wange. »Magnifico.«
»Genug gegrapscht, mein Lieber.«
Bones drängte ihn mit einem angedeuteten Boxhieb ein Stück zurück. Juan hörte nicht auf zu grinsen.
»Ich muss dir für so vieles danken, amigo, aber für eines be sonders. Du hast die Frauen für mich noch begehrenswerter ge macht ... Ah, wie sie duften. Ihr Herzschlag. Und erst ihr Ge schmack ...« Er schloss die Augen. »Delicioso.«, Ich warf Bones einen ungläubigen Blick zu. »Dank dir ist er jetzt ein noch schlimmerer Lustmolch!«
Bones zuckte mit den Schultern. »Er ist bloß ein bisschen überwältigt von all den neuen Sinneseindrücken. Er gewöhnt sich schon dran. Oder er wird kastriert, wenn er sich ver gisst und auch nur daran denkt, deinen Arsch zu begrapschen.
Glaubst du, ich bin blind?« Er schlug nach der Hand, die in ge spielter Unschuld zu meinen Hüften wandern wollte. »Selbst beherrschung, amigo. Mach, dass du's lernst.«
»Querida.« Juan küsste mich auf die Wange, diesmal etwas respektvoller. »Ich habe meinen Blutdurst unter Kontrolle und kann wieder kämpfen. Bones hat mir Kraft gegeben ... und die werde ich sinnvoll nutzen.«
Eine der jungen Frauen, die vor dem Fernseher gesessen hat ten, kam kokett kichernd den Flur entlanggeschlendert und be äugte die beiden Männer. Juan war sofort bei der Sache, zog die Nase kraus und ließ die Augen grün aufblitzen.
»Apropos >sinnvoll nutzem ...« Er gab mir noch ein letztes Küsschen und folgte dann grinsend dem Mädchen.
»La rubia, porfavor... warte. Ich bin durstig und sehr anfällig für Schmeicheleien ... du könntest mich zu allem überreden ...«
»Da geht er hin, unser Kämpfer für die Gerechtigkeit«, be merkte ich trocken. »In einer Woche hat er bestimmt einen gan zen Harem beisammen.«
Bones sah Juan nach, wie er im Flur verschwand und dabei der Blonden auf eine Art und Weise am Hals hing, die beileibe nicht nur von Hunger sprach. »Er ist ein netter Kerl. Er wird es lernen.«
»Was lernen?« Wenigstens kann er sich jetzt keine Krank heiten mehr einfangen oder übertragen, dachte ich. So hatte es wenigstens einen Vorteil für die holde Weiblichkeit, dass Juan zum Vampir geworden war.
Bones legte mir einen Arm um die Schultern, während wir dem Ausgang dieses Hortes fleischlicher Genüsse zustrebten.
»Er wird lernen, dass viele Frauen einen für kurze Zeit glück lich machen können, aber sobald er sich verliebt, wird ihm eine für die Ewigkeit genügen.«
Ich warf ihm einen Seitenblick zu. »Versuchst du, mich zu verführen?«
Seine Lippen verzogen sich zu einem vielsagenden Lächeln.
»Definitiv.«
Meine Finger verflochten sich mit seinen. Ja, so vieles war falsch an unserer jetzigen Situation. Jemand, dem wir vertrau ten, wollte Bones' Tod, und damit fingen unsere Probleme ge rade erst an. Aber man musste die Zeit nutzen, die einem blieb, und das galt für Menschen und Vampire ebenso wie für Ghule.
Und selbst für so seltsame Mischwesen wie mich.
»Gut.«