19
»Okay, jeder weiß, was er zu tun hat?«, fragte Adam, und die drei anderen nickten. »Und du glaubst, du kannst uns alle aushalten, Kleiner?«
»Klar, Alter«, antwortete Putnam stichelnd.
Adam ignorierte seinen Spott und wandte sich Taylor zu. »Und das Gitter da oben ist nicht verriegelt?«
»Nein«, erklärte Taylor mit einem Blick in den Spiegel. »In dieser Höhe ist das schlicht und einfach überflüssig.«
»Wir müssen langsam vorgehen«, sagte Boadicea. »Sein Arm ...« Sie sah Taylor an, und es war, als würde eine Woge von Gefühl zwischen den beiden hin und her gehen.
Taylor nickte mit einem leisen Lächeln, »Ja, langsam. Wir brauchen nicht noch mehr Verletzungen. Adam ist ...« Er verstummte, denn er wollte nicht sagen, wie schlimm Adam mit seinen blutverschmierten Hand- und Fußgelenken aussah. »Bist du so weit?«, fragte er Stattdessen Putnam.
»Ja, klar«, erwiderte der junge Mann. Dann stellte er sich direkt unter das Gitter, machte mit den Händen eine Räuberleiter und blickte erwartungsvoll zu Adam.
Langsam kletterte Adam auf Putnams Schultern, vorsichtig darauf bedacht, sich nicht eine seiner gebrochenen Rippen in die Lunge zu stoßen. Die Stellen, an denen die Eisenfesseln ihm die Haut aufgescheuert hatten, schmerzten höllisch.
»Wie hast du eigentlich von der ganzen Geschichte erfahren?«, fragte Taylor Putnam, während er Adam beim Klettern half. Der junge Mann stand so fest und unerschütterlich da wie ein Fels.
»Darcis Tante Thelma rief an und prahlte damit, dass Darci schließlich und endlich gefragt hatte, wer ihr Vater ist. Thelma ist hässlich und wahnsinnig neidisch auf Jerlene. Ich schätze, Jerlene hat immer gewusst, wer Darcis Vater ist, denn sie hat in deinem Büro angerufen, und sie sagten, du wärst in Camwell, Connecticut - zum Arbeiten. Daraufhin ist sie zu mir gekommen, und dann sind wir die ganze Nacht bis hierher durchgefahren.«
Putnam hielt Taylor seine Hände hin. Er musste zuerst an ihm und dann an Adam hinaufklettern.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Taylor. Er wollte reden, um sich von dem Schmerz in seinem Arm abzulenken, der zwar wahrscheinlich nicht gebrochen, aber stark verstaucht war. »Ich hatte den Eindruck, dass Darcis Mutter nicht wusste, wer der Vater ihres Kindes ist.«
»Das hat Thelma überall herumerzählt. Sie hasst ihre Schwester wirklich sehr. Aber auf dem Weg hierher hat mir Jerlene die Wahrheit erzählt. Sie hat damals einige Papiere aus deinem Auto geklaut, und daher wusste sie, wer du bist.«
»Aber warum hat sie dann keinen Kontakt mit mir aufgenommen, sobald sie wusste, dass sie schwanger ist?«, fragte Taylor.
Ganz ehrlich gesagt, hatte er keine Ahnung, was er getan hätte bei der Mitteilung, dass ein Mädchen, das er kaum kannte, ein Kind von ihm bekam. Aber wenigstens hätte er dann all die Jahre gewusst, dass er eine Tochter hatte.
Putnam zuckte ein wenig zusammen, als sich Adams Fuß in seine Schulter grub, doch auch das zusätzliche Gewicht durch Taylor brachte ihn nicht ins Wanken. »Jerlene wollte das Kind bekommen, warten, bis sie ihre Figur wiederhatte und dann mit einem süßen Kleinen bei dir aufkreuzen. Aber dann hast du geheiratet.« Putnam klang, als könne er überhaupt nicht verstehen, weshalb Jerlene je etwas von Taylor gewollt hatte.
»Also meinte Jerlene, sie würde ein paar Jährchen warten, bis die erste glückliche Zeit deiner Ehe vorbei ist, und dir dann Darci präsentieren. Aber mit vier Jahren war Darci schon ziemlich seltsam, und Jerlene hatte eines deiner Bücher gelesen und wusste deshalb, dass deine ganze Familie ein Haufen schräger Vögel ist. Nichts für ungut! Und deshalb wollte Jerlene nicht, dass du etwas von deiner Tochter weißt; sie wollte einfach, dass die Kleine normal aufwächst.«
»Normal!«, sagte Adam, während er Taylor auf seinen Schultern in Position brachte. »Darci wurde in der ganzen Verwandtschaft herumgereicht, während ihre Mutter einen Kerl nach dem anderen hatte. Was soll denn daran bitte normal sein?«
Putnam hätte gerne mit den Schultern gezuckt, doch es ging nicht. »Na ja. Hm. Einen Preis als gute Mutter gewinnt Jerlene sicher nicht. Sie braucht ihre ganze Zeit, um schön zu bleiben. Aber auf dem Gebiet ist sie wirklich super.«
»Sie ...«, begann Adam voller Zorn.
Taylor suchte auf Adams Schultern sein Gleichgewicht und schnitt ihm so das Wort ab. »Aber weshalb ist Jerlene dann jetzt gekommen?«, fragte er.
»Um ihre Tochter zu retten«, antwortete Putnam in einem Ton, der besagte, das hätte Taylor doch wissen müssen. »Bloß weil Jerlene nie mit einem seltsamen Kind wie Darci zusammen sein wollte, heißt das noch lange nicht, dass sie sie nicht liebt. Darci ist schließlich ihr eigen Fleisch und Blut. Außerdem dachte Jerlene, wenn du herausfindest, dass du eine Tochter hast, machst du sie zu einer Hexe wie deine anderen Verwandten auch. Als sie dann hörte, dass Darci hier ist, und du auch, und dass dieser ganze Ort voller Hexen ist, da war es nicht mehr sonderlich schwierig, zwei und zwei zusammenzuzählen. «
Putnam blickte auf Boadicea, die vor ihm stand und darauf wartete, auf die anderen zu klettern. »Und wer bist du eigentlich?«
»Diese Geschichte ist zu lang, um sie jetzt aufzutischen«, erklärte Adam. Bevor sie mit der menschlichen Leiter begannen, hatte Taylor den Spiegel befragt und herausgefunden, dass sie die Hexe nur mit Darcis Hilfe unschädlich machen konnten. Aber er hatte auch gesehen, dass Darci mit Drogen in einen Tiefschlaf versetzt worden war und deshalb ihre Kraft nicht gebrauchen konnte. »Wie bekommen wir Darci wach?«, murmelte Adam, als er seiner Schwester half, an ihm und dann an Taylor hochzuklettern. Er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, aber er wusste, dass viele Probleme auf sie warteten, sobald sie hier herauskamen.
»Aufputschmittel«, sagte Taylor. »Wenn wir Aufputschmittel hätten, könnten wir sie wach kriegen.«
»Du meinst so was wie Schlankheitspillen?«, fragte Putnam mit angestrengter Stimme von dem großen Gewicht, das er zu tragen hatte. »Jerlenes Tasche ... voll davon«, fuhr er fort. »Auseinander brechen, Darci in Mund stecken.«
»Aber es könnte zu einer Reaktion mit dem kommen, was sie ihr gegeben haben, damit sie schläft«, gab Adam zu bedenken. Er musste jetzt Taylor und Boadicea tragen.
»Hast du ... bessere Idee?«, fragte Putnam, doch im nächsten Augenblick erreichte Boadicea das Gitter, schob es zur Seite und richtete sich auf.
Sobald sie von der kühlen Nachtluft umgeben war, sah Boadicea ungefähr ein Dutzend Männer, die geduckt über die Felder liefen. Sie wusste sofort, dies waren die Leute, die Adam bestellt hatte. Sie hatte diese Männer schon vor langer Zeit im Spiegel gesehen, und so riskierte sie es, das eine Wort zu rufen, von dem sie wusste, dass sie darauf reagieren würden: »Montgomery!«
Ein Jahr später
Adam betrachtete seine neugeborene Tochter und sann darüber nach, was die Zukunft wohl für sie bereithalten würde. Sie hatte eine Mutter mit einer Gabe, die noch nicht vollständig erforscht war. Ihr Großvater, der die Fähigkeit besaß, die Zukunft in einem Zauberspiegel zu sehen, sagte, man könne erst dann wissen, wie viel ein Kind in seiner Familie geerbt habe, wenn es erwachsen war. Deshalb hätte Adam jetzt nur zu gerne gewusst, ob seine Tochter über eine ebenso machtvolle Gabe verfügte wie ihre Mutter oder ob ...
Er legte das Baby sanft in die Wiege zurück und ging zum zweiten Kinderbettchen. Auch seine Schwester und Taylor hatten ein Mädchen bekommen, und er fragte sich, was dieses Kind wohl an Fähigkeiten geerbt hatte.
Als Taylor erfuhr, dass seine Frau schwanger war, hatte er es zunächst nicht glauben können. Geduldig hatte er den Arzt über seine Verletzung aufgeklärt. »Die Samenleiter sind verschlossen«, hatte er ihm mitgeteilt, doch darauf hatte der Arzt lediglich schmunzelnd erwidert: »Das war beim Abfluss meiner Spüle in der Küche auch mal so, aber durchgesickert ist trotzdem noch etwas.«
Nun, als Adam auf die beiden Babys in ihren Wiegen blickte, musste er an jene Nacht vor einem Jahr zurückdenken.
Es war sein Cousin Michael Taggert gewesen, der das Seil hinunterließ und Taylor, Adam und Putnam aus der Todeszelle - so wurde der runde Raum bezeichnet, wie sie später in Erfahrung gebracht hatten - befreite. Michael hatte seiner Bitte entsprochen und war mit einer Gruppe schwer bewaffneter Männer nach Camwell gekommen. Doch es fiel nicht ein Schuss, denn als sie eintrafen, war schon alles vorbei.
Durch Taylors Beschreibungen wusste Boadicea genau, wo Darci gefangen gehalten wurde, und machte sich eilends auf den Weg dorthin, noch bevor die anderen die tiefe Zelle verlassen hatten. Michael hatte zwei ihrer Cousins losgeschickt, ihr zu folgen; er selbst blieb, um den anderen zu helfen.
Sobald Adam oben angelangt war, eilte er hinter seiner Schwester her und holte sie ein, als sie die Kammer erreichte. Mit vereinten Kräften brachen sie die riesigen, mit Stahl verkleideten Türen am Ende des Gangs auf.
Michael hatte noch versucht, Adam den Blick in den Raum zu verwehren, weil er wegen der absoluten Stille glaubte, es sei niemand mehr am Leben. Aber Adam hatte sich losgerissen und war langsam hineingegangen - Darci hatte diesen Raum allein betreten, und dasselbe würde auch er tun.
Auf der linken Seite war eine Trennwand, ein altertümliches, mit Zeichen und Symbolen geschmücktes Ding, das einen Flur abgrenzte. Eine Hand an dieser scheußlichen Wand - obwohl er es hasste, die Einkerbungen der Zeichen zu fühlen -, wartete er ab, bis sich seine Augen an das trübe Licht gewöhnt hatten.
Unweit der Tür stand ein etwa anderthalb Meter hoher, zwei Quadratmeter großer Käfig, und darin waren ungefähr ein Dutzend Kleinkinder - die größten sicher nicht mehr als vier Jahre alt.
Adam starrte auf den Käfig und begriff nicht recht, weshalb diese Kinder hier waren. Im ersten Augenblick glaubte er, sie seien tot, denn sie lagen übereinander, und ihre Arme und Beine bildeten ein wirres Durcheinander.
Doch dann bewegte sich eines der Kinder, und nun merkte Adam, dass sie schliefen. Er war sich sofort sicher, dass Darci sie mit der Kraft ihrer Gedanken eingeschläfert hatte.
Mit einigen weiteren Schritten hatte er den Käfig passiert, und als er um die Trennwand herumging, sah er drei Personen auf dem Boden liegen, zwei Männer und eine Frau, alle mit langen, dunklen Roben bekleidet. Und alle drei hatten unterhalb der Nase einen Blutstropfen - genau so, wie es bei ihm an dem Tag gewesen war, als Darci mit ihrer Kraft beinahe seinen Kopf zum Explodieren gebracht hätte.
Links von ihm stand ein Altar aus Stein - und als Adam ihn betrachtete, erinnerte er sich daran, was ihm vor so langer Zeit angetan worden war. Er erinnerte sich an den Altar, die Frau, und das Messer - und an das glühend heiße Brandeisen, das auf ihn zukam ...
Bevor er weiterging, musste er einen Moment stehen bleiben, um diesen grässlichen Eindruck verarbeiten zu können.
An der Seite des Altars sah er den Kopf einer Frau, das geschwärzte Haar über den Steinboden ausgebreitet. Das Gesicht war abgewandt, aber Adam wusste, wer sie war: Sally, die Kellnerin, die so lange darauf gewartet hatte, dass er ihr Darci brachte.
Nach dem nächsten Schritt sah er etwa zwei Drittel ihres Körpers und einen Teil ihres Gesichts. Bis auf ein Tröpfchen Blut an einem Nasenloch konnte er an ihr keine Verletzung entdecken, doch sie war leblos.
Beim nächsten Schritt begann sein Herz zu rasen. Wo war Darci? War sie am Leben? Die tote Frau zu seinen Füßen umklammerte den Dolch, den er entwendet hatte. Adam erkannte, dass er es gewesen war, der ihr die Waffe wiedergebracht hatte.
Nun war er nur noch einen Schritt von ihrer ausgebreiteten Robe entfernt. Noch ein Schritt, und er würde sehen, was sich hinter dem Altar befand ...
Adam stieg über die Tote. Hinter dem Altar lag Darcis blasser Körper. Er kniete nieder, hob sie vorsichtig auf und drückte sie sachte an sich. Er wusste nicht, ob sie lebte oder tot war.
Es war Taylor, der Darcis Arm ergriff und ihren Puls fühlte. »Ich glaube, sie lebt noch«, murmelte er, »aber wir müssen sie sofort in ein Krankenhaus schaffen.«
Michael bot an, Darci zu tragen, da Adam kaum dazu in der Lage schien, doch der wollte sie nicht loslassen. An der Tür stand Putnam, der sie verliebt betrachtete. Noch vor kurzem hätte Adam den jungen Mann für all das, was er Darci angetan hatte, am liebsten zum Mond geschossen, doch nun sah er die Liebe in seinen Augen. Und er sah, dass Putnam wusste, dass er die Frau, die er liebte, verloren hatte.
Als sich Putnam abwandte, fragte Adam ihn: »Wo willst du denn hin?«
»Jerlene suchen«, antwortete er.
Adam war einen Augenblick unschlüssig. Er wollte Darci nicht zurücklassen, aber er wusste, dass er Putnam und Jerlene sehr viel zu verdanken hatte.
Widerstrebend legte er Darci seinem Cousin in die Arme, nahm sich ein Gewehr und folgte Putnam. Als er hinter sich jemanden hörte, drehte er sich um, bereit zu schießen, aber es waren Taylor und Boadicea, beide mit einem Gewehr über der Schulter.
Adam wollte sie bitten, bei Darci zu bleiben, doch dann überlegte er noch einmal. Boadicea kannte die Tunnels besser als jeder andere. Deshalb bedeutete er Putnam, sie vorangehen zu lassen, und dann liefen sie alle vier gebückt los.
Um sie herum herrschte wegen des Todes der Hexe ein totales Chaos, denn deren Anhänger flohen und rannten um ihr Leben - doch die Zeit, die vielen Räume in den Tunnels zu plündern, nahmen sie sich trotzdem.
Nach einer Stunde ergebnislosen Suchens lehnte sich Putnam müde an eine Wand. In seinen Augen standen Tränen. »Sie ist tot«, murmelte er. »Ich weiß, dass sie tot ist. Was bin ich bloß für ein Kerl, dass ich nicht mal meine eigenen Leuten beschützen kann!?«
»Das sind doch nicht deine ...«, setzte Adam an, hielt jedoch entmutigt inne, als er Putnams Miene bemerkte. Taylor stellte sich unter eine Fackel und holte den Spiegel aus seinem Rucksack. Er schaute hinein, doch wie Boadicea es gesagt hatte, wollte der Spiegel trotz mehrfachen Fragens nicht preisgeben, wo sie Jerlene finden konnten.
»Warum sagt Darci, dass sie dir sieben Millionen Dollar schuldet?«, wandte sich Adam leise an Putnam.
»Ach«, erwiderte er nur und richtete den Blick auf den Boden. Überall um sie herum waren Spuren der Massenflucht zu sehen. An einer Wand stand ein halb geöffneter Karton mit Papptassen, an einer anderen ein kaputter Tisch. »Ich habe ihr gesagt, wenn sie mich heiratet, dann erlasse ich in Putnam sämtliche Schulden.« Er blickte Adam in die Augen. »Du weißt schon, Hypotheken, Kredite für Autos und so.«
Adam blickte den jungen Mann aus zusammengekniffenen Augen an. »Aber das wirst du so und so tun, auch wenn Darci dich nicht heiratet, nicht wahr?«
»Ja, klar«, antwortete er. »Aber so wie Darci gibt es nicht noch eine. Ich finde nie ...«
»Oh!«, rief Taylor überrascht und schaute von dem Spiegel auf. »Das stimmt nicht. Du wirst ziemlich bald heiraten, und ich ...« Sein Blick wanderte zu Adam. »Da die Kirche in diesem Bild voll von Leuten ist, die wie deine Verwandten aussehen, vermute ich, dass Putnam jemand aus deiner Familie heiratet.«
Adam verzog das Gesicht, und Putnam musste grinsen. »Darf ich Dad zu dir sagen?«, fragte er Adam.
»Tu’s, und du wirst nicht mehr lange leben«, meinte Adam. »Und jetzt weiter, los!«
Eine Stunde später fanden sie Jerlene. Sie war in der Tat unglaublich schön - aber sie war so sehr mit Drogen vollgepumpt, dass der Arzt später sagte, es sei ein kleines Wunder, dass sie noch lebte.
»Das kommt von all diesen Schlankheitspillen«, meinte Putnam kopfschüttelnd. »Ihr Körper ist so an Drogen gewöhnt, dass er alles abwehren kann.«
Als sich Jerlene erholt hatte, erzählte sie, sie habe die Hexe so lange mit Reden hingehalten, bis sie die Schlankheitspil-len in ihren Jackentaschen eine nach der anderen aufgebrochen und etwa einen Teelöffel von dem darin enthaltenen Pulver gesammelt hatte. Dann habe sie vorgetäuscht, einen Zauberspruch über ihre Tochter zu sprechen, und dabei Darci das Pulver in den Mund geschoben. Das Aufputschmittel hatte sie so weit wieder belebt, dass sie in der Lage war, ihre Kraft gegen die Hexe und deren Anhänger einzusetzen. Es waren vier gewesen, aber mit der Hilfe ihrer Inneren Überzeugung, dieser großen, wunderbaren Gottesgabe, konnte Darci sie besiegen. An den Toten wurden später Autopsien durchgeführt - sie waren alle durch starke Gehirnblutungen umgekommen.
Adam, Darci, Taylor und Boadicea hatten lange gebraucht, um sich von dem, was sie durchgemacht hatten, zu erholen. Darci hatte fast eine Woche lang in einer Art Koma gelegen. Der Arzt erklärte fassungslos: »Sie werden es nicht glauben, aber sie schläft. Ist sie tatsächlich so erschöpft?«
»Ja, offensichtlich«, erwiderte Adam und blickte auf Darci, die in ihrem Krankenhausbett friedlich schlummerte. Er hatte ihr Zimmer mit gelben Rosen geschmückt und war in all den Tagen, die sie schlief, nicht von ihrer Seite gewichen. Bei den wenigen Malen, als er gesehen hatte, wie sie ihre Kraft einsetzte, war sie immer völlig erschöpft; umso weniger konnte er sich vorstellen, welche Anstrengung es sie gekostet haben musste, damit vier Menschen zu töten.
Während des Wartens darauf, dass sie aufwachte, hatte er Darcis Haare, die er seit damals, als er sie mit dem Dolch abgeschnitten hatte, heimlich aufbewahrte, in ein kleines goldenes Medaillon gelegt, das er immer bei sich trug.
Als sie das erste Mal aufwachte, lächelte sie ihn an und versuchte, sich aufzusetzen, doch die Anstrengung war noch zu groß, und so schlief sie gleich darauf wieder ein. Am nächsten Morgen dann schien die Sonne durch die Fenster des hübschen Klinikzimmers, das sie auf Adams Betreiben hin bekommen hatte, und als sie die Augen öffnete, sah sie sich im Kreise von Adam, Taylor, Boadicea, Putnam und ihrer Mutter.
Sie blickte Jerlene an und umklammerte fest Adams Hand.
»Schon gut«, beruhigte er sie. »Sie ist gekommen, um dir zu helfen.«
Darci wandte sich mit ungläubiger Miene Adam zu.
»Seltsames Kind«, murmelte Jerlene und ging hinaus.
Eine Stunde darauf bat Putnam Adam, mit ihm auf den Flur hinauszugehen, wo er ihm mitteilte, dass Jerlene nach Hause fahren wolle.
»Was hat sie denn vor?«, fragte Adam.
Putnam sah ihn verwirrt an. »Sie will nach Hause fahren«, wiederholte er.
»Nein, ich meine, gibt es irgendetwas, das sie gerne hätte? Etwas, das ich ihr geben könnte?«
Putnam lächelte. »Ganz unter uns - ich glaube, Jerlene wäre gern ein Filmstar.«
»Na, ich sehe mal, was ich da tun kann«, meinte Adam schmunzelnd. »Und du, was möchtest du?«
»Nein, nein, ich habe Geld genug. Jede Menge. Ich wollte ...« Er verstummte und blickte auf die Tür zu Darcis Zimmer. »Er sagte ... ich meine, Darcis Vater sagte, dass ...« Putnam blickte zu Boden.
»Dass er im Spiegel sah, dass du eine meiner Verwandten heiratest?«, fragte Adam lächelnd. »Meinst du, du würdest es ein paar Wochen lang bei meinem Cousin in Colorado aushalten? Und ich garantiere dir, dass sie sämtliche Montgomerys und Taggerts einladen, damit du sie alle kennen lernst. In dem Haufen sollte ein feiner Kerl wie du doch eine finden.«
»Glaubst du?«, fragte Putnam, und seine Miene hellte sich auf. »Die Mädchen zu Hause wollen mich alle nur, weil ich ein Putnam bin. Darci war die Einzige, die mich nicht haben wollte.«
»Darci ist einmalig«, sagte Adam leise, dann reichte er Putnam die Hand. »Vielen Dank für alles, was du getan hast.
Ohne dich wären viele Leute jetzt nicht mehr am Leben.« Er senkte die Stimme. »Darci und mich eingeschlossen.«
Putnam schüttelte Adams Hand, aber er schaute weg, denn sein Gesicht war schamrot.
»Komm in einer Stunde wieder, bis dahin habe ich alles vorbereitet«, sagte Adam. »Und warum nimmst du Jerlene nicht mit nach Colorado? Hey! Vielleicht solltest du vorher noch mit ihr zum Shoppen nach New York fahren.«
»Ich dachte, du wolltest mir danken. Aber jetzt willst du mich mit einer Frau zum Einkaufen schicken?«
Adam lachte. »Tut mir Leid. In Colorado gibt es schließlich auch Geschäfte. Ich sehe zu, dass sie dort einkaufen kann.«
Lächelnd wandte sich Putnam zum Gehen.
»Warte noch einen Augenblick!«, rief Adam. »Wie heißt du eigentlich mit Vornamen?«
»Hab ich keinen«, antwortete Putnam über die Schulter. »Mein Vater meinte, warum sich die Mühe machen. Seinen hat nie jemand benutzt, deshalb hat er mir erst gar keinen gegeben.«
»Wofür steht das T in Darcis Namen?«
Putnam grinste. »Taylor. Anscheinend hat Jerlene sie nach ihrem Vater benannt.«
Der junge Mann bog um die Ecke. Adam lehnte sich an die Wand zurück. Wieder ein Geheimnis, das Darci vor ihm gehütet hatte. Als sie ihren Vater auf dem Bildschirm des Computers sah, hatte sie ihm nicht gesagt, dass ihr zweiter Vorname Taylor war.
Die Tür zum Kinderzimmer wurde geöffnet. Adam drehte sich um. Es war Darci. Nicht einmal in der Schwangerschaft hatte sie viel zugenommen. Ihr Bauch war enorm gewachsen, aber sie hatte nirgendwo Fett angesetzt.
Vor einem Jahr, sobald Darci sich genug erholt hatte, waren sie nach Colorado geflogen. Sie brauchte einen Ort, wo sie in aller Ruhe ausspannen konnte, und Boadicea wollte ihre Familie kennen lernen.
Aber nach den ersten Tagen voller Hektik und Chaos, als sämtliche Montgomerys und Taggerts aus der ganzen Welt angereist waren, um ihre so lange vermisste Verwandte zu sehen, hielt Boadicea es nicht mehr aus. Sie hatte ihr ganzes Leben in Einsamkeit verbracht und konnte den Lärm und die Ausgelassenheit ihrer Familie nicht ertragen. Eines Nachmittags hatten sie und Taylor sich unauffällig aus dem Staub gemacht und geheiratet; dann waren sie nach Virginia zurückgeflogen, um in seinem Haus zu wohnen.
»Ich wollte, das könnten wir auch tun«, sagte Darci zu Adam.
»Was?«, fragte er. »Nach Virginia fliegen?«
»Nein. In aller Ruhe heiraten und uns dann in ein eigenes Haus zurückziehen.«
»In aller Ruhe heiraten?«, fragte er lächelnd und zog sie zu sich. »Hast du nicht gesagt, du wolltest die größte Hochzeit haben, die Amerika je gesehen hat?«
»Ja, bis diese Frau ...«
»Die Heiratsplanerin?«
»Ja, die. Sie fragte mich, ob ich blaue oder rosa Tauben aus der Hochzeitstorte auffliegen lassen möchte. Adam, ich will gar keines dieser widerlichen Geschöpfe bei meiner Hochzeit. Ich will nur ...«
»Was willst du denn?«
»Unsere Familie. Du, ich, deine Schwester, mein Vater, und ...« Sie blickte zu Boden.
Adam schob ihr eine Hand unter das Kinn. »Und deine Mutter?«
»Ja«, antwortete Darci. »Glaubst du, sie hat Zeit, jetzt, wo du ihr eine Rolle in diesem Film mit Russell Crowe beschafft hast?«
»Sie war schon einmal da, als du sie gebraucht hast, also wird sie auch da sein, wenn du sie dieses Mal brauchst.«
»Ja«, meinte Darci und schob Adams Hand von ihrem Oberschenkel. »Benimm dich!«
Adam zog die Hand zurück. »Was ist aus dem Mädchen geworden, das mir bei jeder Gelegenheit wilden Sex angeboten hat?«
»Das war, bevor du dich in mich verliebt hast«, erklärte Darci lächelnd. »Ich wollte mit dir ins Bett gehen und so wild und leidenschaftlich sein, dass du dich in mich verliebst. Aber jetzt bist du ja schon in mich verliebt, also muss ich mich nicht mehr mit Sex vor der Ehe beschmutzen.«
»Beschmutzen?«, fragte Adam verblüfft. »Dir ist schon klar, dass wir uns im einundzwanzigsten Jahrhundert befinden, ja?« Lachend schüttelte er den Kopf. »Also, was versuchst du, mir zu sagen? Ich kann schon fast deine Gedanken lesen.«
»Wo werden wir wohnen? Ich meine, wir haben beide keinen Job, also könnten wir überall wohnen, wo wir wollen.«
»Und wo möchtest du wohnen?«
Sie sah ihn aus winzigen Augen an.
»Oh nein, das wirst du nicht tun«, sagte er, dann hob er sie hoch und warf sie über seine Schulter. »Hör gefälligst mit deiner Inneren Überzeugung auf! Wo möchtest du wohnen?«
Als Darci nicht antwortete, setzte er sie ab und blickte ihr tief in die Augen. Dieses Mal waren sie weit geöffnet. Sie stellte ihm eine stumme Frage, doch die Stille hielt nicht lange an. Als sie antwortete, redete sie mit ihrer Stimme und ihren Gedanken - und es war so laut, dass sich Adam die Ohren zuhalten musste. »Virginia!«, brüllte sie.
»Okay, okay«, erwiderte Adam. »Dein Vater, meine Schwester. Botschaft verstanden.«
»Danke«, sagte sie, sprang hoch, schlang die Beine um seine Hüften und die Arme um seinen Hals.
Und so kam es, dass sie nach Virginia zogen. Adam kaufte ein großes, altes Anwesen aus der Kolonialzeit, und zwei Wochen nach ihrer Hochzeit fragte ihn Darci, ob ihr Vater und Boadicea bei ihnen mit einziehen dürften. Zuerst hatte Adam diese Idee nicht zugesagt. Er war von vielen Menschen umgeben aufgewachsen und schätzte Ruhe jetzt umso mehr. Doch die vier hatten so vieles zusammen erlebt, dass es ihnen schwer fiel, voneinander getrennt zu sein.
Sobald sie alle in dem großen, alten Haus lebten, begann Adam, seine Schwester in die Welt einzuführen. Taylor und Darci gingen daran, miteinander herauszufinden, wie Darci die Kraft ihrer Inneren Überzeugung verwenden konnte.
Eine Woche vor ihrem ersten Hochzeitstag brachte Darci ihre erste Tochter zur Welt. An diesem Tag teilte Adam ihr mit, dass sein Cousin das Grove Hotel in Camwell gekauft hatte und gerade dabei war, mit Bulldozern die Tunnels zu zerstören.
Adam erzählte seiner Frau jedoch nicht, was man in den unterirdischen Räumen gefunden hatte. Als Darci fast eine Woche lang im Bett blieb, weil sie jeden Morgen erbrechen musste, fuhren Taylor und Boadicea - die während ihrer gesamten Schwangerschaft nicht einen Tag krank war - nach Connecticut und begutachteten alles, was die Arbeiter gefunden hatten. Einige der Gegenstände vergruben sie mit Gebeten und einem Ritual, andere zerstörten sie, aber ein paar brachten sie in Taylors neuem Landrover mit nach Virginia zurück. Den Großteil davon schafften sie in ein verstecktes Gewölbe der alten Villa aus der Kolonialzeit. Doch den Spiegel von Nostradamus verwahrte Taylor in seinem Schlafzimmer und befragte ihn täglich. Zusammen mit seiner Tochter versuchte er, schlimme Dinge, die er darin sah, zu verändern oder zu verhindern.
Jetzt blickte Adam lächelnd zu seiner Frau hinab. »Glücklich?«, fragte er sie.
»Absolut.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.
»Und du bedauerst nichts?«
»Gar nichts«, antwortete sie. Dann nahm sie seine Hand und ging mit ihm zur Wiege ihrer Tochter.
Epilog
Drei Jahre später
Die beiden kleinen Mädchen, Hallie Montgomery und Isabella Raeburne, waren an allem interessiert und ständig auf den Beinen. Zwei Kinderfrauen waren angestellt worden, um sich um sie zu kümmern, doch auch ihnen liefen die Kinder immer wieder davon.
»Wo seid ihr denn?«, rief eine der frustrierten Kinderfrauen und suchte hinter Stühlen und Türen. »Na wartet, wenn ich euch erwische, dann gibt’s aber was!« Doch sie wusste, dass diese Drohung fruchtlos war, denn die beiden Kleinen verstanden es perfekt, ihren Ärger mit einem einzigen Blick in ihre Augen zum Schmelzen zu bringen. An diesem Nachmittag hatten sie bereits in einer Aktion von nur zehn Minuten sechs Becher Joghurt aus dem Kühlschrank geholt, aufgemacht und in den Behälter mit dem Mehl geleert. Als sie in diese Melange dann auch noch ein paar Hundekuchen hinein warfen, waren die beiden jungen Irish Setter hinterher gesprungen und hatten das klebrige Gemisch anschließend in der ganzen Küche verteilt.
Die Kinderfrau sah dieses Chaos und wurde so wütend, dass sie beschloss, auf der Stelle zu kündigen. Aber sobald die beiden Kleinen aus großen Augen zu ihr aufblickten, hatte sie ihnen auch schon verziehen. Am Ende hatte sie sogar noch darauf verzichtet, dass die beiden ihr beim Saubermachen halfen. Stattdessen hatte sie sie gewaschen und ihnen dabei ihre Lieblingslieder vorgesungen; und während sie die gesamte Küche putzte, gab sie ihnen auch noch Milch und Kekse.
Aber jetzt wusste sie, dass es ihr reichte. Sie liebte diese beiden Kinder unendlich, aber sie war es einfach überdrüssig, ständig nach ihnen suchen und immer wieder Schmutz und Unordnung beseitigen zu müssen. Sie hatte die Nase gestrichen voll ...
Die Frau unterbrach ihre Gedanken, denn nun hatte sie die beiden Mädchen gefunden. Sie saßen auf dem Teppichboden in ihrem Zimmer und spielten mit einem Ball.
Ohne ein Wort wich sie rückwärts aus dem Raum, bis sie an die Wand im Flur stieß, und dann begann sie zu rennen. Man hatte ihr zwar aufgetragen, die Eltern nur in dringenden Fällen zu stören, doch nun zögerte sie nicht. Ohne anzuklopfen, riss sie die Tür zum Büro auf.
»Sie müssen sofort kommen!«, rief sie atemlos. »Ihre beiden Töchter spielen mit dem Ball!«
»Ich glaube kaum, dass das ein Grund ist, um uns zu stören«, meinte Taylor. »Wir ...«
Boadicea blickte zu Darci, und im nächsten Moment liefen die beiden zur Tür. Adam und Taylor folgten ihnen.
Tatsächlich spielten ihre beiden Kleinen im Kinderzimmer mit einem Ball: Ein leuchtend roter Ball flog zwischen ihnen hin und her durch die Luft.
Ungewöhnlich daran war lediglich, dass die Kinder ihre Hände nicht benutzten. Sie ließen den Ball mit der Kraft ihrer Gedanken hin und her fliegen.
»Na, sieh mal einer an«, meinte Darci.
ENDE