14
In ihrer Unterkunft angekommen, zog Adam den Pullover aus und knöpfte sein Hemd auf. Links auf seiner Brust, direkt über dem Herzen, war eine Narbe. Nein, dachte Darci, das ist nicht nur eine Narbe - das ist ein Brandzeichen! Die Form hatte sich im Lauf der Jahre verändert - man konnte leicht erkennen, dass die Narbe alt war aber sie sah sofort, dass das Zeichen ursprünglich eine bestimmte Form gehabt hatte. Sie wusste jedoch nicht, was es einmal dargestellte.
Im Augenblick spürte sie, dass Adam noch immer so wütend auf sie war, dass er sie nicht in seiner Nähe wollte; deshalb trat sie nicht heran, um die Narbe zu betrachten.
»Wissen Sie, was das ist?«, fragte Taylor. Er berührte Adam nicht, aber er betrachtete die Narbe sehr genau.
»Ein Turm«, antwortete Adam. »Der aus den Tarotkarten. Das ist die Karte der Vernichtung.«
»Ja. Das ist ihr Symbol. Wenn Sie damit von ihr gebrandmarkt wurden, dann muss sie Sie sehr hassen,«, meinte Taylor. Er musterte Adam nachdenklich. »Aber Sie leben noch. Wie alt waren Sie, als sie Ihnen das zufügte?«
»Drei«, antwortete Adam und knöpfte sein Hemd wieder zu. »Aber es hat keinen Zweck, mich zu fragen, was damals passierte, weil ich mich an nichts erinnern kann. Und, bevor Sie fragen, ich bin mehrmals hypnotisiert worden - oder zumindest hat man es versucht -, aber ich kann mich trotzdem an nichts erinnern.«
»Wenn sie es nicht geschafft hätte, diese Erinnerung bei Ihnen auszulöschen, dann hätte sie ja wohl nicht viel drauf, nicht wahr?«
»Sie! Sie! Sie!«, rief Darci ungehalten. »Wer ist denn diese Sie?«
Taylor reagierte verblüfft. »An der Rezeption sagte man mir, ihr beide seid schon seit fünf Tagen hier. Habt ihr denn überhaupt schon einmal miteinander gesprochen?« »Sie redet unaufhörlich«, sagte Adam, ohne Darci anzusehen. »Aber meistens nur über Putnam - den Mann, den Jungen, den Ort.«
»Und meine Innere Überzeugung!«, schoss Darci zurück. Sie wollte Mitleid für Adam empfinden, dafür, was ihm als Dreijährigem angetan worden war, aber er war momentan so zornig auf sie, dass sie überhaupt nichts für ihn empfinden konnte.
Taylors Blick wechselte zwischen Darci und Adam hin und her. »Ihr habt anscheinend beide keine Ahnung, was hier eigentlich abläuft. Das Wenige, das ihr wisst, habt ihr offenbar schön für euch behalten und euch nicht ausgetauscht. Wahrscheinlich wisst ihr nicht einmal, welche Verbindung zwischen euch beiden besteht, oder?«
»Falls Sie meinen, dass sie mir Sachen in den Kopf schreit, doch, das haben wir letzte Nacht herausgefunden.« Sogar Adam selbst hatte den Eindruck, dass er klang wie ein beleidigter kleiner Junge, als er das sagte.
»Darci, Liebling, zeig mir deine linke Hand«, bat Taylor und nahm einen Stift aus seiner Jackentasche. »Sieben Muttermale. Sagten Sie nicht, dass sie sieben Muttermale an der Hand hat?«
»Ja, so viele, habe ich gezählt. Aber ich denke nicht, dass sie sie jemals gezählt hat.«
Taylor hielt die Hand seiner Tochter und rieb sie zärtlich. »Ich glaubte nicht, dass ich je eigene Kinder haben würde«, sagte er leise. »Ungefähr zwei Jahre nachdem ich deine Mutter kennen lernte, hatte ich einen Autounfall. Wie alle Männer glaubte ich, ich hätte alle Zeit der Welt, um eine Familie zu gründen, aber bei diesem Unfall wurde ich verletzt - nicht sehr schwer, aber doch so, dass ich keine Kinder bekam, obwohl ich zweimal verheiratet war. Die eine Frau hat mich deswegen verlassen. Aber dann kam dieser Anruf heute Morgen, und ...« Er sah ihr liebevoll in die Augen.
Taylor hielt noch immer Darcis Hand, doch nun wandte
er sich an Adam. »Unter den weiblichen Ahnen meiner Tochter hat es viele starke Frauen gegeben. Ich habe über meine weiblichen Vorfahren und das, was sie alles vermochten, geschrieben, aber ich glaubte, es würde keine derartigen Frauen mehr geben. Ich dachte, ich hätte die Ahnenreihe durch meinen Unfall unterbrochen. Wussten Sie, dass sie spürt, ob jemand glücklich oder unglücklich ist? Sie kann spüren, was Sie über sie empfinden, jetzt, in dieser Minute.«
Darci zog ihre Hand zurück. »Ich mag das nicht. Ich will nicht ein seltsames, sonderbares ...«
»Dann versuch nicht, Leute umzubringen!«, schnauzte Adam sie an, doch als er die Tränen in ihren Augen sah, verflog sein Zorn. »Oh Gott, verdammt«, murmelte er.
»Fluche nicht«, sagte sie und begann zu schluchzen.
Adam ging mit offenen Armen auf sie zu, um sie zu trösten, doch Taylor trat zwischen die beiden. »Noch nicht«, sagte er. »Noch zwei Tage, dann führe ich sie Ihnen vor den Traualtar, aber jetzt noch nicht.«
»Traualtar?«, fragte Darci mit hochgezogenen Brauen.
»Sie ist schon mit einem anderen verlobt«, hielt Adam dagegen, »und außerdem, sie und ich sind ... ich meine, wir sind kein ...«
»Das sehe ich«, entgegnete Taylor, offensichtlich sehr amüsiert über Adams Aussage, ja, er kicherte sogar ganz unverhohlen. »Ja, ich kann es ganz deutlich sehen, dass ihr beide kein Paar seid.« Noch immer schmunzelnd, nahm er Darcis linke Hand und begann, darauf zu zeichnen. Er verband die Muttermale auf ihrer Handfläche miteinander.
»Kritzelentchen«, murmelte Adam, und Darci lächelte.
Als Taylor sie fragend anblickte, meinte sie: »Manchmal sind seine Scherze gar nicht so dumm«, doch dann sagte sie plötzlich überrascht: »Oh!«
»Das habe ich mir gedacht«, murmelte Taylor. »Es sind neun Muttermale, nicht sieben. Die beiden letzten sind weiter unten am Handgelenk. Seht ihr?«
Du musst mich auffangen, sagte Darci in Gedanken zu Adam, während sie auf ihre Handfläche starrte, denn ihre Knie gaben schon wieder nach. Auf ihrer Handfläche befand sich exakt die gleiche Figur - der Turm, der in Adams Brust eingebrannt war.
Adam schob Taylor zur Seite, fing Darci auf und legte sie auf die Couch. »Bringen Sie ihr ein Glas Wasser«, befahl er dem älteren Mann - und schämte sich dafür, wie gut es sich anfühlte, sich zwischen Darci und ihren Vater zu stellen. »Am besten mit Eis.«
Als Taylor mit dem Wasser wiederkam, fragte er: »Sind Sie sicher, dass sie nicht einfach nur Hunger hat? Sie ist so dünn. Geben Sie ihr auch mal etwas zu essen?«
Diese Bemerkung brach das Eis. Adam blickte auf Darci, die auf dem Sofa lag und wieder halb ohnmächtig war, und begann zu lachen.
Und er steckte Darci damit an. Als er sich auf das Ende der Couch niedersinken ließ, setzte sich Darci auf, und ihr Lachen wurde stärker. Und je mehr sie lachten, desto länger lachten sie, und sie lachten, bis sie schließlich einander in die Arme sanken.
Taylor stand zuerst nur da und beobachtete die beiden nachdenklich. Nach einer Weile begann er, im Bungalow auf und ab zu gehen. Als er bemerkte, dass Darcis und Adams Kleidung in ein und demselben Schrank hing und sie offenbar auch im selben Bett schliefen, griff er zum Telefon, rief die Rezeption an und bat, seine Koffer wieder zu packen und ins Haus Kardinal zu bringen. Sein Ton und seine Wortwahl veranlassten den jungen Mann am anderen Ende der Leitung nicht zu der Feststellung, dass das nicht zum regulären Service des Hauses gehöre; er sagte nur: »Jawohl, Sir. Ich kümmere mich darum.«
Eine halbe Stunde später klopfte es, und als Taylor öffnete, stand praktisch die gesamte Belegschaft des Hotels vor ihm.
Und jede Person hatte einen Koffer, einen Karton oder sonst ein Behältnis bei sich.
»Was in aller Welt ...«, begann Adam, der die Parade beobachtete.
»Ich habe beschlossen, hier zu bleiben, in diesem Haus«, erklärte Taylor kurz und mit einem festen Blick auf Adam. »Diese Leute erwarten ein Trinkgeld, und ich bin sicher, dass Sie sich das eher leisten können als ich.«
Adam wollte eigentlich etwas erwidern, doch Stattdessen öffnete er einfach seine Brieftasche und verteilte mehrere Scheine an das Personal. »Wie der Vater, so die Tochter«, murmelte er vor sich hin, während die Hotelangestellten grinsend verschwanden. »Wollen Sie mir nicht erklären, was das soll?«, fragte er dann Taylor.
Darcis Vater setzte sich auf einen Stuhl gegenüber der Couch. »Ich hatte nicht viel Zeit zum Planen, deshalb habe ich einfach alles mitgebracht, was wir eventuell brauchen. Heute Abend müssen wir versuchen, an den Spiegel zu kommen. Morgen ist der Einunddreißigste, deshalb ...«
»Halloween«, sagte Darci. Sie saß an einem Ende der Couch, Adam am anderen. Und sie merkte, dass sie nicht daran gedacht hatte, auf das Datum zu achten.
»Ja, genau«, erwiderte Taylor. »Wenn wir bis morgen warten, ist es zu spät. Wenn sie ihre Macht über heute Abend hinaus behält, verdoppelt sich diese Macht. Sie wird bei dem Ritual Kinder verwenden«, fügte er leise hinzu. »Aber ich weiß nicht, wo sie den Spiegel aufbewahrt. Sie ...«
»Der Boss?«, fragte Darci und versuchte, nicht über das nachzudenken, was ihr Vater eben gesagt hatte. »Wir haben gehört, dass sie so genannt wird.«
»Und wann war das?«, fragte Taylor, doch dann hob er eine Hand. »Nein, sag es mir nicht. Wir haben keine Zeit. Heute Nacht rechnet sie nicht mit uns. Ich bin sicher, dass sie Darci im Spiegel gesehen hat, deshalb wird sie ...«
»Mich?«, unterbrach ihn Darci. »Wieso denn mich?« »Weil du daraus lesen kannst«, erklärte Taylor, bevor Adam etwas sagen konnte.
»Ach so, das habe ich vergessen«, sagte Darci verbittert. »Ich bin ja angestellt worden, weil ich eine ... eine ... Warte mal! Wenn diese Hexe aus dem Spiegel lesen kann, bedeutet das, dass sie nie mit einem ...«
»Das wundert mich«, sagte Taylor leise. »Ist sie wegen des Spiegels zur Nonne geworden? Oder ist es bloß eine Legende, dass nur Jungfrauen daraus lesen können?«
»Das ergibt keinen Sinn. Nostradamus hat mit Sicherheit nicht keusch gelebt. Er hatte ein paar Frauen und mehrere Kinder«, sagte Darci. »Warum also sollte man, um aus dem Spiegel lesen zu können, keusch sein müssen?« Sie musste schlucken, denn jetzt fiel ihr mit aller Deutlichkeit ein, wie oft sie mit Adam über Sex gesprochen hatte. Und er hatte die ganze Zeit gewusst, dass sie nichts wusste. Bestimmt hatte er sich über sie königlich amüsiert!
»Aber vielleicht wurde der Spiegel auch für ihn gemacht«, bemerkte Adam leise. Die Art, wie er das sagte, veranlasste Darci, sich abrupt zu ihm umzudrehen.
»Was verbirgst du noch alles?«, fuhr sie ihn an. »Außer schrecklichen Narben und dem Wissen über die intimsten Geheimnisse eines Menschen?«
Adam holte tief Luft. »Es ist möglich, dass meine Schwester die Person ist, die aus dem Spiegel lesen kann«, sagte er. »Meine Mutter war schwanger, als sie ... als sie verschwand. Man hat mir gesagt, in dem Flugzeug, mit dem meine Eltern verschwanden, seien drei Personen gewesen, und eine sei noch am Leben. Meine Schwester wäre jetzt ungefähr zweiunddreißig. «
Darci starrte ihn entgeistert an. Kein Wunder, dass er so scharf auf diesen Spiegel war!
Wenn er ihn fand, dann würde er vielleicht auch seine Schwester finden - eine Frau, die womöglich ihr ganzes Leben lang gefangen gehalten worden war.
»Aha«, sagte Taylor. »Das macht die Sache ja noch viel dringender.« Er bemerkte, wie Darci und Adam einander fixierten. Taylors Hirn arbeitete rasch. Wegen seiner weiblichen Vorfahren hatte er sein Leben damit verbracht, einige der hässlichen Dinge zu studieren, die auf dieser Welt passierten. Schon zweimal hatte er es geschafft, einen Hexenzirkel zu infiltrieren und zu vernichten. Aber beide Male hatte ihn das, was er dabei hatte mit ansehen müssen, krank gemacht.
Als Adam Montgomery ihn an diesem Morgen anrief, hatte sich Taylor nicht die Zeit gelassen, sich darüber zu freuen, dass er eine Tochter hatte - eine Tochter mit dieser Kraft, die in seiner Familie viele Generationen weit zurückreichte. Nein, er hatte sich in hektische Aktivität gestürzt. Er hatte seine Fallstudien über Camwell eingepackt - ganze Kartons voll - und gleichzeitig seiner langjährigen Mitarbeiterin Ms Wilson diktiert.
Sie war es gewesen, die sich an das Gerücht über den Spiegel erinnert hatte. Taylor hatte vor Jahren von einer seiner Studentinnen, deren Schwester dem Kult beigetreten war, von dem Spiegel gehört. Die junge Frau hatte versucht, ihre Schwester ebenfalls zum Beitritt zu bewegen. »Damit können wir uns die ganze Welt unterwerfen«, hatte sie geprahlt. »Sie hat eine alte Jungfer - es muss eine Jungfrau sein -, die darin die Vergangenheit und die Zukunft sehen kann.«
Diese wenigen Sätze waren Taylor berichtet worden, und er verwandte daraufhin so viel Zeit wie nur irgend möglich, um herauszufinden, was das Mädchen gemeint hatte, bislang jedoch mit wenig Erfolg.
Auf dem Weg nach Camwell rief ihn Ms Wilson an und teilte ihm mit, was sie über Adam Montgomery in Erfahrung gebracht hatte und was diesem als Kind zugestoßen war.
»Und hier noch etwas Interessantes«, hatte Ms Wilson gesagt. »Die Mutter dieses Mannes war schwanger, als sie verschwand. « Taylor hatte erst einmal eine Weile gebraucht, um zu begreifen, was das bedeutete. »Alte Jungfer«, hatte das Mädchen gesagt. »Wie alt wäre ihr Kind jetzt?«, fragte Taylor Ms Wilson. Die war auf diese Frage vorbereitet; schließlich arbeiteten sie bereits seit Jahren zusammen. »Das Kind wäre jetzt etwa zweiunddreißig Jahre alt.«
Taylor hatte sich erst einmal beruhigen müssen. So viel er auch schon über das Böse in der Welt gehört hatte, er war nie wirklich darauf gefasst, wenn ihm diesbezüglich wieder etwas Neues zu Ohren kam. War das Mädchen in Gefangenschaft aufgewachsen? Hatte man ihm beigebracht, aus einem Zauberspiegel zu lesen?
Als Taylor dann in Camwell eintraf, hatte er zwar diverse Informationen, wusste jedoch nicht recht, wie sie alle zusammenpassten. Er hätte diese Informationen unter keinen Umständen preisgegeben, doch das FBI konsultierte ihn gern in Fällen, bei denen womöglich so genannte Hexerei im Spiel war. Durch diese Verbindung war es Ms Wilson auch möglich gewesen, etwas über die Form des Brandmals in Erfahrung zu bringen, das die Ärzte auf der Brust eines kleinen Jungen gefunden hatten. Er war vor Jahren entdeckt worden, als er allein im Wald umherirrte. Taylor wusste sogar, dass das FBI - mit Zustimmung von Adams Vormündern - einen Arzt beauftragt hatte, das Brandzeichen mit Narbengewebe zu überdecken. Die Vormünder hatten nicht gewollt, dass Adam eine sichtbare Erinnerung an sein Martyrium mit sich herumtrug.
Taylor war auch kontaktiert worden, als Vorjahren in der Nähe von Camwell die erste junge Frau verschwand. Und er hatte die Sache mit den Muttermalen herausgefunden, als die zweite Frau verschwunden war.
Aber erst heute während der Fahrt stellte er eine auf jahrelanger Forschung und Erfahrung beruhende Vermutung an - eine Vermutung über die Form der Muttermale an Darcis Hand und das Zeichen, das Adam als Kind in die Brust eingebrannt worden war.
Nun wusste er also mehr, als er eigentlich wissen wollte.
Dieser »Boss«, diese böse Frau, die ein noch ungeborenes Baby entführt und das Kind dann zweiunddreißig Jahre lang in Gefangenschaft gehalten hatte, hatte es jetzt auf seine wundervolle, seine kostbare Tochter abgesehen!
Eine Kurzversion dessen, was dieser Adam Montgomery mitgemacht hatte, kannte Taylor bereits. Aber war Adam auch wirklich auf das vorbereitet, was er womöglich noch vor sich hatte?
War Adam bereit für die Dinge, die er unter Umständen entdecken würde? Und war auch Darci, die ja anscheinend die personifizierte Unschuld war, bereit für das, was sie möglicherweise zu sehen bekam?
Einesteils wollte Taylor mit den beiden Unschuldsengeln reden und sie warnen. Er wollte mit Adam über die junge Frau sprechen, die ihr ganzes Leben lang gefangen gehalten worden war. Würde es die Mühe wert sein zu versuchen, sie zu retten?
Aber Taylor hatte weder Zeit für einen philosophischen Vortrag noch dafür, eingehend über den Horror zu berichten, den er im Verlauf seines lebenslangen Kampfes gegen diese bösen Menschen zu sehen bekommen hatte. Und für Zimperlichkeiten irgendwelcher Art schon gar nicht. Wenn sie es tun wollten, dann mussten sie es jetzt tun. Wenn sie es nicht versuchten, oder wenn sie es versuchten und scheiterten, dann würde morgen wieder ein Mensch getötet - oder auch mehrere.
Taylor atmete tief durch. »Als Erstes muss Darci herausfinden, wo der Spiegel ist, dann müssen wir dorthin und irgendwie versuchen, an ihn heranzukommen. Ich bin sicher, dass er schwer bewacht wird, wo immer er sich auch befindet, deshalb habe ich Nachtferngläser mitgebracht. Ich glaube nicht, dass es schon einen Zauber gibt, der diese Dinge beenden könnte«, fügte er hinzu, als Adam und Darci ihn ungläubig anstarrten.
Doch dann wurde Taylor rasch wieder ernst. »Adam, ich glaube, Sie müssen sich darauf gefasst machen, dass die Person, die aus dem Spiegel liest - auch wenn es Ihre Schwester ist ... dass sie die Seite gewechselt hat.«
»Sie meinen, dass sie eine von denen geworden ist?«
»Ja, womöglich.« Taylor blickte Adam fest in die Augen im Versuch, seine Gedanken zu lesen, und Adam erwiderte diesen Blick so, als würde sich zwischen ihnen etwas abspielen.
»Ich möchte ja diese nette Männerrunde nicht stören«, meldete sich Darci zu Wort, »aber könnten wir noch einmal zu dem Teil zurückgehen, als du sagtest, >Darci muss herausfinden, wo der Spiegel ist<? Bin damit tatsächlich ich gemeint, ich, Darci? Oder denkst du vielleicht an eine andere Person namens Darci?«
Adam schaute zu Taylor und Taylor zu seiner Tochter. »Du weißt also nicht, dass du Dinge auffinden kannst?«
»Als ich sie kennen lernte, glaubte sie, jeder kann das, was sie kann - man muss nur daran glauben«, erklärte Adam.
»Machst du dich über mich lustig?«, fragte Darci und heftete den Blick auf Adam. »Wenn ja, dann ...«
»Dann?«, fragte Adam.
»Kinder!«, rief Taylor, doch er lächelte. »Darci, Liebling ...«
»Klingt das nicht einfach wunderbar?«, fragte sie, legte die Hände auf ihr Herz und schloss wie in Ekstase die Augen. »Darci, Liebling!«
»Schade, dass das nicht mit einem T beginnt«, kommentierte Adam, der sich wieder an ihr Verwirrspiel mit ihrem zweiten Vornamen erinnerte. »Sonst könntest du sagen, das ist dein zweiter Vorname, oder deine herausragende Eigenschaft. Und außerdem«, fuhr er belustigt an Taylor gewandt fort, »sie weiß nicht, dass sie Dinge auffinden kann. Ich habe einen ganzen Tag damit zugebracht, herauszubekommen, was sie kann, aber ich habe offenbar bis jetzt nicht die richtigen Fragen gestellt.«
Taylor lächelte seiner Tochter liebevoll zu. »Ich denke, wenn man so eine Gabe hat, ist es schwer, sich vorzustellen, dass andere nicht auch dieselbe außerordentliche Fähigkeit besitzen. Ich weiß nur deshalb, was sie alles kann, weil ich einen großen Teil meines Lebens darauf verwandt habe, meine Vorfahren kennen zu lernen und zu eruieren, über welche Fähigkeiten sie verfügten. Jede Generation in unserer Familie - und wenn man bedenkt, dass eine Generation nur etwa dreißig Jahre umfasst, dann hat es schon viele gegeben - hat eine Frau hervorgebracht, die Darcis Gabe besaß. Aber diese Gabe wurde nicht geradlinig weitergegeben. Manche Frauen, die sie besaßen, hatten mehrere Töchter, die sie nicht erbten. Oder eine Frau mit dieser Gabe brachte eine Tochter zur Welt, die zwar die Gabe besaß, aber bereits im Kindesalter starb, was den Anschein erweckte, dass das Talent in einer Generation übersprungen wurde.
Ich will damit sagen, manche dieser Frauen wuchsen mit einer Mutter auf, die ihnen beibringen konnte, welches Talent sie hatten, aber anderen erging es wie Darci - sie hatten keine Ahnung, über welche Kräfte sie verfügten. Und auch die Intensität war von Frau zu Frau unterschiedlich. Nur wenige etwa konnten ihre Gedanken auf andere Menschen projizieren, so wie Darci es mit Ihnen macht.«
»Das kann sie allerdings, ja«, meinte Adam sarkastisch und rieb sich die Schläfe.
Ich habe dir doch gesagt, dass es mir Leid tut! Was willst du denn noch ?, fragte sie ihn in Gedanken.
»Wie wär’s mit einer Entschuldigung?«, hielt Adam ihr entgegen, und Darci lächelte, denn sie wusste, dass er auf das eine Mal anspielte, als er auf die Knie fiel und einen bettelnden Hund nachahmte.
Nicht in diesem Leben, antwortete sie, lächelte jedoch dabei.
»Ich verstehe«, sagte Taylor. Er lehnte sich zurück und beobachtete die beiden. »Sie kann sehr deutlich mit Ihnen sprechen, nicht nur in Bildern oder Ideen, sondern in Worten. Ich muss schon sagen, das macht mich richtig eifersüchtig! Es ist immer nur eine Person, mit der meine Verwandte so sprechen kann. Sie kann zwar verschiedene Menschen dazu bewegen, Dinge zu fühlen oder zu denken, aber mit Worten kann sie nur mit einer Person sprechen - und die meisten konnten auch das nicht.«
Adam spürte eine unwillkürliche Freude in sich aufsteigen. »Hat eine dieser Frauen ihre Kraft je darauf verwendet, in großem Maßstab etwas Gutes zu tun? Oder auch etwas Schlechtes vielleicht? Und wie konnten sie diese Kraft über Jahrhunderte geheim halten?«
»Die Antwort auf beide Fragen ist Ja«, erwiderte Taylor. »Einige meiner Vorfahren waren entsetzliche Geschöpfe. Eine Frau terrorisierte mit ihrer Gabe einen ganzen Ort, bis jemand sie vergiftete. Doch ich glaube auch, dass einige meiner weiblichen Ahnen in großem Maßstab Positives bewirkten, nur beweisen kann ich das leider nicht. Ich bin davon überzeugt, dass eine meiner Tanten viel zur Beendigung des Vietnamkriegs beigetragen hat, aber wie gesagt, ich kann es nicht belegen. Andere haben ihre Kraft dazu eingesetzt, Menschen zu trösten und Dinge zum Guten zu wenden.«
»Das hat Darci für mich getan«, sagte Adam jetzt leise. »Und sie kümmert sich auch noch um ihren Heimatort, dieses Putnam.«
»Was die Wahrung von Geheimnissen anbelangt - das hing ab von dem Ort, in dem die jeweilige Frau lebte. In manchen Fällen wussten die Nachbarn Bescheid, in anderen nicht. Manchmal waren nur ein oder zwei Aspekte ihrer Talente bekannt und wurden genutzt. Eine meiner Vorfahren konnte verirrte Schafe auffinden. Sie lebte in Schottland und tat nichts anderes, als verloren gegangene Schafe zu finden.«
»Was uns wieder zu unserer Geschichte zurückbringt«, hakte Adam ein. »Sie sagten, Darci kann Dinge finden, aber das habe ich noch nicht bemerkt.« »Nein? Hat sie nicht Sie gefunden? Habt ihr beide euch nicht so kennen gelernt?«
Darci schmunzelte. Ich. Ich habe dich gefunden. Nicht du mich.
»Sie fand mich am ersten Abend«, sagte Adam leise. »Ich habe mir den Ort angesehen, in der Dunkelheit, ich hatte nicht einmal eine Taschenlampe dabei, aber sie hat mich gefunden.«
»Ja«, pflichtete Taylor ihm bei und stand auf. »Kommt mit. Ich möchte, dass ihr euch etwas anschaut.«
Taylor führte sie in sein Zimmer, doch als er den Raum betrachtete, fragte er sich, ob er je darin schlafen würde. Wenn sie ihr Vorhaben heute Nacht ausführten, würden sie nicht mehr hierher zurückkommen können. Er räumte seine Koffer um, bis er einen kleines schwarzes Exemplar mit Reißverschluss und einem Zahlenschloss daran gefunden hatte, den er zum Ende des Betts zog und öffnete. Langsam, als sei der Inhalt kostbar - oder auch Schrecken erregend -, holte er einen kleinen Behälter aus edlem rotem Leder heraus und reichte ihn Darci.
Doch Darci wollte den Behälter nicht berühren; sie ging sogar rückwärts aus dem Raum wieder ins Wohnzimmer. Taylor und Adam folgten ihr.
»Ich mag dieses Ding nicht!«, protestierte sie. »Das, was da drin ist, ist schlecht. Putnam hat eine Sammlung von Waffen, die einmal berühmten Mördern gehörten, die rühre ich auch nicht an. Und das, was du da drin hast, ist auch so etwas. «
»Nein«, entgegnete Taylor. »Dies hier ist noch viel schlimmer. Es hat einmal ihr gehört. Ich habe Jahre gebraucht, um etwas zu finden, das ihr gehörte, aber ich habe es geschafft. Darci, wenn wir diese Sache beenden wollen, und wenn wir Adam Schwester finden wollen, dann musst du uns helfen.«
Adam hielt gespannt den Atem an, als Taylor langsam das Schächtelchen aus rotem Leder öffnete. Ob es ein böses Amulett enthielt? Oder »nur« etwas Altes und ganz Abscheuliches? Einen Körperteil etwa?
Aber es lag lediglich eine altmodische Brosche darin, ein simples, kindisches Ding mit einem kleinen Bild von einem hübschen Mädchen, in einen Goldrahmen gefasst, der mit Staubperlen verziert war.
»Das ist die Hexe?«, fragte Adam verwundert, denn das Mädchen sah ganz und gar nicht böse aus. Es hatte dichtes braunes Haar, große braune Augen und einen kleinen Mund mit vollen Lippen.
Eigentlich sah dieses Mädchen aus, als würde es gleich anfangen zu lachen. Und alles in allem hatte Adam noch nie ein weniger böse aussehendes Objekt gesehen als diese kleine Brosche.
Aber Darci hielt sich fern. Und nach einem Blick auf die Brosche drehte sie sich auch noch um.
»Sag mir, was du siehst, Darci«, bat Taylor sie leise.
»Ich will gar nichts sehen!«, erwiderte sie. »Ich habe nicht darum gebeten, Dinge zu sehen oder zu tun, die andere nicht sehen oder tun können.« Sie war den Tränen nahe.
»Ich weiß«, sagte Taylor beschwichtigend. Er hatte über die Jahre mit vielen Hellsehern gearbeitet, und alle guten hatten dasselbe gesagt. Nur die, die sich selbst als die »besten« bezeichneten, diejenigen, die zu wenig sahen, um davon entsetzt zu sein, freuten sich über diese Fähigkeit. »Ich weiß, dass du am liebsten nichts sehen würdest, und genau deshalb hast du deine Kraft die ganzen Jahre niedergehalten. Aber Darci, Liebes, du bist kein Monster und auch keine Mutantin. Sondern du bist mit einer Gabe ausgestattet, einer Gabe von Gott, und ...«
Darci blickte verlegen auf Adam. »Nein, das Mädchen auf diesem Bild ist keine Hexe. Dieses Mädchen wurde von einem sehr bösen Menschen getötet. Und ...« Ihre Stimme erstarb, und sie blinzelte. »Ich habe ihre Mörderin getroffen.«
»Wen!?«, riefen Adam und Taylor wie aus einem Munde.
»Die Frau aus der Boutique, vermute ich«, antwortete Darci rasch. »Das war ein ekelhaftes Weibsstück, wirklich!«
Adam und Taylor wussten beide nicht, ob Darci scherzte. Ihrem störrischen Blick nach zu urteilen, wusste sie es wohl nicht einmal selbst. Und als Darci nichts mehr sagte, wussten beide auch sofort, dass sie nicht mehr aus ihr herausbekommen würden.
Als Antwort auf Taylors fragenden Blick sagte Darci aber dann doch: »Ja, ich scherze. Ich weiß nicht, wer sie umgebracht hat, aber ich spüre, dass ich sie getroffen habe.« Sie legte die Hände an die Schläfen. »Aber das ergibt doch keinen Sinn! Ich kann an einer Brosche Böses erkennen, aber wie kann ich dann einen bösen Menschen treffen und ihn nicht erkennen?«
»Sie kann Dinge abblocken, sich verstellen«, antwortete Taylor und wandte sich dann ab, sodass sein Gesicht nicht mehr zu sehen war. Hätte er gewusst, dass er eine Tochter hatte, die die Kraft der Frauen in seiner Familie besaß - er hätte sie ausbilden können. Er hätte ihr erklären können, über welche Gabe sie verfügte. Sie hätte nie das Gefühl haben müssen, ein Monster zu sein ...
Aber er hatte nichts von einer Tochter gewusst; er hätte nie im Leben gedacht, dass ein kurzes Abenteuer mit einer hinreißend schönen Frau auf der Herrentoilette einer Tankstelle ein Kind hervorgebracht hatte. Damals konnte sich Taylor gar nicht schnell genug aus dem Staub machen. Er hatte sich vor sich selbst geekelt, etwas derart Charakterloses getan zu haben. Seine größte Sorge war damals, ob er sich von der Frau, die ihn anflehte, sie mitzunehmen, am Ende eine Geschlechtskrankheit geholt hatte.
Was wäre geworden, wenn ich sie mitgenommen hätte?, fragte er sich jetzt. Dann wäre Darci die ganzen Jahre über sein Kind gewesen. Sein Kind, das er geliebt hätte und ...
Er betrachtete seine schöne Tochter. »Glaubst du, du kannst auf einer Landkarte etwas für uns finden?«, fragte er sie vorsichtig. »Wir müssen feststellen, wo wir mit der Suche nach dem Spiegel anfangen sollen.«
»Ich weiß nicht, wie das geht. Ich habe noch nie ...«, begann sie, doch als sie die Mienen der beiden Männer sah, unterbrach sie sich. Sie sahen drein wie zwei bodenlos enttäuschte Kinder. »Aber ich könnte es ja probieren«, sagte sie schließlich.
»Mehr können wir auch wirklich nicht verlangen«, meinte Taylor und atmete erleichtert auf.