8
Nach dem Duschen schlüpfte Darci in ihr Nachthemd und in den hoteleigenen flauschigen Frotteemantel. Im Schlafzimmer fiel ihr gleich auf, dass die Koffer und ihre Kleider verschwunden waren. Der Schrank war leer, ebenso die geöffneten Schubladen der Kommode.
Hatte es sich Adam etwa anders überlegt? Wollte er sie jetzt doch wegschicken?
Entsetzt eilte sie ins Wohnzimmer, doch dort war es dunkel. Einen Moment lang blieb sie verwirrt auf der Schwelle stehen, aber dann sah sie, dass die Tür zu Adams Schlafzimmer einen Spalt weit offen stand und darin Licht brannte. Zaghaft machte sie die Tür auf. Adam saß, mit einem T-Shirt bekleidet und die Decke bis zur Hüfte hochgezogen, auf dem Bett neben der Badezimmertür und las.
»Nimm das andere Bett!«, sagte er, ohne von seinem Buch aufzusehen.
»Soll ich wirklich?«, fragte Darci und kam herein. »Du weißt, dass ich nackt schlafe, oder?«
»Das tust du hier nicht!«, sagte Adam und blickte sie streng an. Doch Darci stand nur da und grinste. Schließlich legte er sein Buch zur Seite und sah sie an, ohne eine Miene zu verziehen. »Alles in allem wäre es mir lieber, wenn du endlich aufhören würdest mit diesen Vorschlägen und ... und ...«
»Avancen?«, fragte Darci lächelnd.
»Wie auch immer - hör bitte damit auf! Wenn du hier bleiben und mir helfen willst, muss ich dich ständig im Auge behalten. Ich werde dich nicht allein in einem Zimmer schlafen lassen, in das man einfach durchs Fenster einsteigen und ...« Auch diesen Satz beendete er nicht, als wäre der Gedanke, was ihr alles zustoßen könnte, einfach zu viel für ihn. »Und jetzt ab ins Bett! Und dort bleibst du auch, hörst du?«
»Klar doch!«, meinte Darci, noch immer breit grinsend.
Sie zog den Bademantel aus und schlüpfte unter die Decke. »Hast du denn schon etwas über den Dolch herausgefunden?«
»Nein«, erwiderte er. Er hatte die Nase wieder in sein Buch gesteckt. »Morgen werden wir uns eingehender damit befassen. Ich würde auch gern mehr erfahren über ...« Unwillkürlich warf er einen Blick auf Darcis linke Hand.
»Ich auch«, meinte Darci, und ihr Lächeln schwand. Bei dem Gedanken daran, was sie heute gesehen und gehört hatte, verflog ihre gute Laune. Auf einmal fühlte sie sich sehr müde. Sie drehte sich zur Seite und zog die Bettdecke bis ans Kinn. »Gute Nacht, Adam!« Es dauerte nicht lange, bis sie so langsam und leise atmete wie jemand, der tief und fest schlief.
Adam betrachtete sie staunend. Wie konnte ein Mensch, der älter war als vier, nur so schnell einschlafen? Er blickte wieder auf sein Buch, eigentlich wollte, ja musste er noch ein bisschen weiterlesen. Doch dann gähnte er. Der Tag war wirklich sehr anstrengend gewesen. Vielleicht würde es heute ja auch ihm gelingen, etwas früher einzuschlafen?
Er schaltete die Nachttischlampe aus, kuschelte sich unter die Decke, machte die Augen zu und schlief auf der Stelle ein.
Darci lächelte. Die Innere Überzeugung funktioniert wirklich jedes Mal, stellte sie zufrieden fest, dann überließ auch sie sich dem Schlaf.
»Nichts!«, rief Darci verdrossen. »Ich habe absolut nichts herausgefunden. Zumindest nichts, was für uns von Bedeutung wäre.« Ihre Schultern schmerzten, und ihre Augen brannten, denn sie hatte den ganzen Tag in der Bücherei von Camwell nach der Prophezeiung gesucht, dass eine schmächtige Blondine aus dem Süden den Hexen von Camwell das Handwerk legen würde.
Ursprünglich hatten sie ihre Nachforschungen in der Bücherei eines anderen Ortes anstellen wollen, doch nach einem kurzen Blick auf die hiesigen Bestände war ihnen klar geworden, dass sie nirgends sonst mehr über das Okkulte finden würden als hier. »Die Leute kommen von weit her, um sich unsere Bücher anzusehen«, erklärte die Bibliothekarin stolz. »Es vergeht kaum ein Tag, an dem Yale nicht hier anruft und fragt, ob wir etwas für sie haben.«
»Und?«, fragte Darci.
»Was, und?«
»Haben Sie Bücher, die man in Yale haben möchte?«
»Ach so - ja, klar. Bisher konnte ich den Leuten von Yale immer weiterhelfen, und wenn ich ein bestimmtes Buch nicht habe, dann weiß ich, wo ich es finden kann. Zugegeben, einmal hatte ich Probleme mit einem Buch, das zuletzt 1736 veröffentlicht wurde, aber schließlich habe ich es doch noch aufgetrieben.«
»Wo?«, fragte Adam. Als die Bibliothekarin stumm blieb, führte er seine Frage weiter aus. »Wo haben Sie so ein altes Buch aufgetrieben?«
»Na ja, bei...«, fing die Frau an, beendete den Satz jedoch nicht. »Entschuldigen Sie bitte, ich muss ans Telefon.«
Darci und Adam hatten kein Telefon klingeln hören.
»Vielleicht ruft ihre schwarze Katze sie an«, murmelte Darci.
Aber selbst in dieser großen Sammlung konnte Darci nichts über linke Hände mit Muttermalen auftreiben.
Während sie in der Bücherei festsaß, hatte Adam im Internet und mit dem Telefon Informationen gesammelt - worüber, konnte Darci nicht herausfinden, denn jedes Mal, wenn sie in seine Nähe kam, schloss er den Deckel seines Laptops. Er hatte um Erlaubnis gebeten, seinen Computer am Telefonnetz der Bücherei anschließen zu dürfen, weil er Darci nicht aus den Augen lassen wollte. Aber einen Großteil des Tages hatte er vor dem Gebäude mit dem Handy Leute angerufen, dabei aber weiterhin Darci durch das Fenster beobachtet. Einmal stellte sie ihn auf die Probe und hielt sich zehn Minuten in der Toilette auf. Als sie wieder herauskam, stand er vor der Tür.
»Es wäre hilfreich, wenn ich wüsste, worum es sich bei diesem magischen Gegenstand handelt«, meinte Darci beim Mittagessen. Sie hatte in einem Laden über der Straße zwei Flaschen Saft und ein paar Sandwichs gekauft, die sie nun auf den Stufen vor der Bücherei verzehrten. Adam hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie nach dem Wechselgeld zu fragen. »Und was habe ich an mir, dass ich mit diesem ... diesem Ding arbeiten kann?«, fragte sie. »Was auch immer es ist«, fügte sie hinzu. »Soll ich es denn ständig nur als >das Ding< bezeichnen? Und wie schaffe ich es, damit zu arbeiten?«
»Wahrscheinlich quälst du es mit deinen Fragen zu Tode«, murrte Adam.
Aber so beharrlich sie auch in ihn drang, er weigerte sich, ihr mehr als am Vorabend zu erzählen. Wie sehr sie sich auch mühte, sie konnte Adam einfach keine weiteren Informationen entlocken.
Am Abend kehrten sie zu ihrem Bungalow zurück. Darci war ziemlich sauer auf Adam. »Du hast mich nur deshalb in die Bücherei gesteckt, weil du mich dort die ganze Zeit beobachten konntest, nicht wahr?«, fragte sie wütend. »Ich habe dort nichts über Prophezeiungen herausgefunden, geschweige denn etwas über linkshändige Hexen. Oder Muttermale. Oder sonst etwas. Und du hast gewusst, dass ich dort nichts finden würde, stimmt’s? Das hast du sicher gewusst, du weißt nämlich tausendmal mehr, als du sagst. Aber du hast dir vorgenommen, mich mit albernen Aufgaben zu beschäftigen, damit ich dir nicht im Weg bin, bis du dieses ... dieses Ding gefunden hast. Und was soll ich dann tun? Damit arbeiten? Und sobald du weißt, was du wissen willst, schickst du mich zurück nach Putnam, stimmt’s? Schaut dein Plan so aus?«
»Zurück nach Putnam oder zurück zu Putnam?«, fragte
Adam in der Hoffnung, sie mit diesem kleinen Scherz etwas aufzuheitern. Doch seine Späße waren nicht so gut wie die von Darci. Dieser Versuch jedenfalls schlug fehl.
»Ich glaube, ich gehe heute früh zu Bett«, meinte Darci. Ihre Augen wirkten sehr kühl, ihr Mund sehr entschlossen.
Adam lächelte ein wenig hinterhältig. »Ach ja? Und wie wär’s mit einem schönen Steak in unserem Bistro? Vielleicht kannst du ja aus Sally noch ein paar Informationen herausholen.«
»Nein, danke«, sagte Darci, ging in ihr Schlafzimmer und zog die Tür hinter sich zu.
Adam klappte die Kinnlade herunter. Hatte Darci soeben eine Einladung zum Essen ausgeschlagen?
Na gut, dachte er, jetzt, wo sie auf mich wütend ist, wird es nicht mehr so schwer sein, sie zum Gehen zu bewegen. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, um die ganze Sache zu beenden. Eigentlich sollte er dafür sorgen, dass sie beide mit dem nächstmöglichen Flug aus Connecticut heraus und nach Hause kämen.
Aber wo war sein Zuhause? War es dort, wo er mit seiner Tante und deren Familie aufgewachsen war? Ein Ort, an dem er sich nie heimisch gefühlt hatte? Hatte er mit der Reise nach Camwell nicht die Wahrheit über sich herausfinden wollen? Über sich und seine Schwester?
Und was war mit Darci? Würde sie nach Putnam zu ihrem großen starken Verlobten heimkehren und ihn heiraten? Oder würde sie zu ihrer Tante und ihrem Onkel zurückgehen und ... Nun ja, sie hatte ja selbst schon schonungslos festgestellt, dass sie kaum irgendwelche Fertigkeiten besaß, die etwas wert waren. Er konnte sie sich nicht als Empfangssekretärin vorstellen. Vielleicht als persönliche Assistentin eines dicken alten Mannes, der sie um seinen Schreibtisch jagen würde oder ...
Bevor er diesen Gedanken weiterverfolgen konnte, ging er zu Darcis Schlafzimmer und hob die Hand, um anzuklopfen, ließ sie dann aber wieder sinken. »Es ist ein Spiegel«, sagte er vor der geschlossenen Tür. »Die Hexen haben einen Spiegel, der ihnen die Zukunft und die Vergangenheit zeigt - das, was passiert ist, und das, was passieren wird. Ich glaube nicht, dass es eine schriftliche Prophezeiung gibt. Wahrscheinlich hat dich jemand, das heißt, die Person, die jetzt aus dem Spiegel liest, darin gesehen, und sie hat auch gesehen, dass du die Nächste sein wirst, die daraus lesen wird.«
Es dauerte eine Weile, bis Darci reagierte. »Was willst du denn in diesem Spiegel sehen?«, fragte sie. »Die Vergangenheit oder die Zukunft?«
»Weißt du denn immer noch nicht genug?«, fragte Adam zurück.
Endlich ging die Tür auf und Darci kam heraus, allerdings, ohne ihm in die Augen zu sehen; vermutlich war sie noch immer böse auf ihn. Was konnte er tun, um sie umzustimmen? Ihr Schweigen war ihm schier unerträglich. »Hast du denn heute in der Bücherei etwas herausbekommen?«, fragte er. Er holte ihre Jacke aus dem Garderobenschrank. Sie war aus weinrotem Leder und so weich wie ... ja, beinahe so weich wie Darcis Haare. »Ich meine, abgesehen von Hexerei? Ich habe gesehen, dass du viele Bücher studiert und auch der Bibliothekarin eine Menge Fragen gestellt hast. Hast du dich denn über ein anderes Thema informiert?« Er zwinkerte ihr schelmisch zu. »Waren vielleicht ein paar Filmzeitschriften unter den Büchern versteckt?«
Sie bedachte ihn mit einem schiefen Blick, während sie in die angebotene Jacke schlüpfte. Er hatte die ganze Zeit gewusst, dass sie nichts finden würde, weil es das, wonach sie suchte, gar nicht gab!
Doch als er ihr die Tür aufhielt, schenkte sie ihm ein süßes Lächeln. »Ich habe tatsächlich etwas herausgefunden«, sagte sie und sah ihn höchst unschuldig an. »Nämlich dass deine Familie zu den reichsten der Welt gehört - und das schon seit Hunderten von Jahren. Sie wird in mindestens einem Dutzend Bücher erwähnt. Dein Stammbaum lässt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Die erwähnten Montgomerys waren nicht nur tapfere Ritter, sondern sie hatten auch ein ziemliches Geschick, reich zu heiraten. Das Haus, in dem du aufgewachsen bist, wurde von einem gewissen Kane Taggert gebaut, einem skrupellosen Kapitalisten, der ...« Sie lachte leise, als er sie zur Tür hinausschubste.
»Eigentlich hättest du dich über Dinge informieren sollen, die ich noch nicht kannte«, sagte er leicht verstimmt, sobald sie draußen standen. »Schließlich wirst du dafür bezahlt, mir zu helfen, und nicht dafür, dass du in meinem Privatleben herumschnüffelst. Und außerdem ...«
»Ach, wenn wir schon dabei sind: Schuldest du mir nicht ein Monatsgehalt?«
»Wenn ich all die Shampoons und Mahlzeiten abziehe, die ich bezahlt habe, dann schulde ich dir ...«
Bei diesen Worten machte Darci kehrt. Offensichtlich war sie nicht bereit, etwas zu essen, wenn sie dafür bezahlen musste. Doch Adam packte sie am Arm und holte sie zurück. Als sie sich sträubte, hängte er sich bei ihr ein und ging einfach los. »Übrigens, warum bist du eigentlich so scharf auf Geld? Sparst du auf etwas Bestimmtes - abgesehen von Freiheit?«
Als er keine Antwort bekam, wusste er, dass er an eines ihrer Geheimnisse gerührt hatte. »Aha!«, triumphierte er. »Jetzt sitzt zur Abwechslung mal du auf dem heißen Stuhl. Wahrscheinlich sollte ich im Internet lieber über dich nachforschen als über Putnams Fabriken.«
Sobald er das gesagt hatte, wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Aber vielleicht hatte sie ja gar nicht richtig zugehört. Vielleicht würde sie denken, dass ...
Doch Darci blieb abrupt stehen. »Du hast Nachforschungen über Putnam angestellt? Jemand hat mir mal gesagt, das Internet sei schlimmer als das Jüngste Gericht. Kein Geheimnis ist mehr sicher.«
Bevor Adam recht wusste, wie ihm geschah, hatte Darci seine Jacke aufgerissen, seine Taschen durchsucht und einen Stapel Blätter herausgezogen.
Das war nun wirklich zu viel. »Gib mir sofort diese Blätter zurück!«, befahl er und wollte sie ihr schon aus der Hand reißen.
»Ich hatte Recht!«, triumphierte Darci und hielt die Seiten hoch. »Immer wieder wird Putnam erwähnt. Du hast eine Suchanfrage über ihn gestartet!«
Adam nahm ihr die Ausdrucke ab und stopfte sie in seine Innentasche zurück. Dann zog er den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kragen hoch. »Ich war eben neugierig«, meinte er. »Wenn es um Geld geht, wirkst du wie besessen, und da dachte ich ...«Er musterte sie aus den Augenwinkeln. Eigentlich wollte er ihr ungezwungenes Verhältnis nicht aufs Spiel setzen. »Ich dachte, vielleicht erpresst dich Putnam ja«, sagte er eigentlich eher scherzhaft.
Aber wieder einmal ging es daneben. Statt über diese alberne Vermutung zu lachen, rannte Darci stumm zur Straßenecke und drückte den Ampelknopf. Wie üblich wartete sie nicht auf Grün, sondern stürmte sofort über die Straße und zwang eine Frau in einem schwarzen Monstergeländewagen zu einer Vollbremsung.
Als Adam einige Minuten nach ihr ins Bistro kam, wollte er ihr einen kleinen Vortrag über das richtige Verhalten im Straßenverkehr halten, doch Darci ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Jemand sitzt in unserer Nische«, verkündete sie und deutete mit einem Kopfnicken auf zwei Leute, die dort Kaffee tranken.
»Es gibt vier Nischen, in denen niemand sitzt«, meinte Adam und zog seine Jacke aus. »Setzen wir uns doch in eine der freien.«
»Nein«, widersprach Darci und musterte die Leute in »ihrer« Nische abfällig. »Dort haben wir immer gesessen, und dort will ich auch jetzt wieder sitzen!« Ihre Stimme wurde etwas leiser und sie machte einige Pausen zwischen den Worten. »Ich werde sie ... mit meiner Inneren Überzeugung ... dazu bringen ... sich umzusetzen.«
Adam schüttelte lächelnd den Kopf, während Darci das ältere Paar in der Nische konzentriert anstarrte.
»Na bitte!«, sagte sie bald darauf, und tatsächlich - das Paar stand auf und ging. Wahrscheinlich haben sie ihren Kaffee ausgetrunken, dachte Adam belustigt, und gehen deshalb. Aber diese Vermutung wollte er Darci jetzt lieber nicht mitteilen und damit riskieren, sie erneut zu verärgern.
»Gut gemacht«, sagte er Stattdessen lächelnd. Mittlerweile richtete eine Küchenhilfe die Nische für die nächsten Gäste her.
»Und jetzt erzähl mir alles über diesen Spiegel!«, forderte Darci Adam auf, sobald sie saßen.
»Wollt ihr zwei das Tagesgericht, oder soll ich euch einfach alles bringen, was auf der Karte steht?«, fragte Sally, die Kellnerin, in ihrer üblichen schroffen Art.
»Wir nehmen das, was Sie uns empfehlen«, erwiderte Adam und lächelte sie dabei so grimmig an, dass sie kurz aufhörte, mit ihrem Kaugummi zu schmatzen.
Sally beugte sich zu Darci hinunter und meinte in verschwörerischem Ton: »Mit dem Herrn da hast du ja alle Hände voll zu tun, Schätzchen. Vielleicht solltest du ihn mal so anstarren, wie du es vorhin bei dem alten Paar gemacht hast. Damit er sich besser benimmt.« Lachend ging sie davon.
»Diese Frau ist wirklich sehr neugierig«, meinte Adam.
»Typisch Kleinstadt«, wiegelte Darci ab. »Und jetzt erzähl mir bitte alles!«
»Warum musst du jeden Penny zählen, wenn Putnam so reich ist und du ihn demnächst heiratest?«
»Über Putnam brauchst du mir nichts zu erzählen«, meinte Darci ungeduldig. »Ich will etwas über diesen Spiegel wissen. Woher weißt du von ihm?« »Das ist eine lange Geschichte«, sagte er und blickte auf die Manschetten seines Hemdes, die unter dem Pullover hervorschauten. »Habe ich dir schon gesagt, dass dir die Farbe deines Pullis ganz ausgezeichnet steht? Sie passt hervorragend zu deinen Augen.«
Sie funkelte ihn böse an. »Der Pullover ist lila! Du versuchst, das Thema zu wechseln, es sei denn, du bist farbenblind.«
Zunächst schwieg Adam, doch dann begann er, zu sprechen, wenn auch so leise, dass Darci ihn kaum verstand. Sie beugte sich zu ihm, und er kam ihr entgegen, bis sich ihre Köpfe fast berührten. »Ich habe dir ja schon gesagt, dass der Spiegel die Vergangenheit zeigen kann. Er berichtet, was passiert ist. Und in der Vergangenheit ist etwas passiert, worüber ich mehr erfahren möchte.«
Da Adam nicht weitersprach, lehnte sich Darci an die Rückwand der Nische und dachte über das Gehörte nach und darüber, was sie von dem Mann wusste, der ihr gegenübersaß. »Deine Eltern«, sagte sie schließlich leise. »Es geht um deine Eltern, nicht wahr? Du hast mir erzählt, dass sie gestorben sind. Aber wie?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Adam wieder so leise, dass sie ihn kaum verstand. »Sieh mal, die Geschichte mit dem Spiegel ist eigentlich nur eine Legende. Es könnte alles gelogen sein. Vielleicht gibt es diesen Spiegel gar nicht. Vielleicht...« Er blickte wieder auf seine Hände und schien zu überlegen, ob er ihr mehr erzählen sollte. »Es ist der Spiegel des Nostradamus«, stieß er schließlich in einem Atemzug hervor.
Darci machte große Augen. »Dieser Spiegel hat ...?«
»Jawohl«, bestätigte Adam. »Er hat Nostradamus gehört. Nostradamus hat darin die Zukunft gesehen und darüber geschrieben.«
Darci wirkte, als sei sie in Gedanken weit, weit weg. »Aber im sechzehnten Jahrhundert war es in Frankreich verboten, die Zukunft vorherzusagen, und deshalb hat er seine Bot-schaften verschlüsselt. Selbst heute wissen die Menschen noch nicht genau, was er eigentlich prophezeit hat. Zur Amtszeit Kennedys wurde in einem halben Dutzend Bücher behauptet, viele Vierzeiler des Nostradamus handelten von dieser Familie. Zwanzig Jahre später wurden seine Schriften wieder völlig anders interpretiert, und von den Kennedys war keine Rede mehr. Dolores Cannon hingegen meint ... Was ist denn?«, fuhr sie ihn an, denn Adam starrte sie an, als sei ihr gerade ein zweiter Kopf gewachsen.
»Woher um alles in der Welt weißt du so viel über diesen Spiegel?«
Darci zuckte mit den Schultern. »Ich habe eben die unterschiedlichsten Interessen und lese viel. In Putnam gibt es nicht so wahnsinnig viel zu tun, aber ob du’s glaubst oder nicht, es gibt dort eine Bücherei.«
»Wem gehört sie?«, warf Adam ein.
»Putnam natürlich, wem sonst? Dem Vater, nicht dem Sohn. Aber Putnam überreicht seinem Vater immer mal wieder eine Liste mit Büchern, von denen er denkt, dass sie die Bücherei erwerben sollte.«
»Aha«, meinte Adam nachdenklich. »Und wer entscheidet, welche Bücher auf die Liste kommen? Auch Putnam junior?«
»C’est moi«, erwiderte Darci fröhlich.
Adam musste lachen. »Das hätte ich mir ja denken können«, meinte er. »Du bringst deinen Verlobten also dazu, Bücher, die dich interessieren, zu kaufen und in die Bücherei zu stellen. Aber jetzt würde ich doch zu gerne wissen: Warum trägst du keinen Verlobungsring, wenn Putnam so reich ist?«
»Ich will keinen«, erklärte Darci sehr schnell. Es war klar, dass sie keine Lust hatte, über dieses Thema zu reden. »Du hast also diesen Spiegel aufgestöbert«, sagte sie andächtig. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich mich gefragt habe, was wohl damit passiert ist! Ich habe mich immer schon gefragt, was mit all diesen magischen Objekten passiert ist.
Vielleicht geht ja auch die Geschichte von Aladins Wunderlampe auf wahre Begebenheiten zurück. Was ist mit dem fliegenden Teppich? Und was ist aus dem Spiegel geworden, der der Königin immer sagte, sie sei die Schönste im ganzen Land?«
»Was für ein Spiegel war denn das nun wieder?«, wollte Adam wissen.
»Ach, du weißt schon, in >Schneewittchen<, da gab es doch diese Königin ...«
»Schneewittchen? Ist das die Geschichte von dem Mädchen, das in ein Hasenloch gestürzt ist? Nein, das war ein schneeweißer Hase, oder? Aber was hat das alles mit dem Spiegel zu tun? Hat ...?«
Er hielt inne, denn Sally kam und stellte große Platten mit Essen auf den Tisch. Es gab Truthahn mit Preiselbeersauce, Kürbispüree, Bratkartoffeln, einen Eintopf mit Mais und Bohnen sowie einen Korb mit kleinen Muffins, aus denen Zucchinistückchen ragten.
»Das sollte sie wohl ein Weilchen beschäftigen«, sagte Sally an Adam gewandt. »Aber ich lasse schon mal den Kürbiskuchen fertig machen.«
»Diese Frau hat einen seltsamen Sinn für Humor«, meinte Adam stirnrunzelnd.
»Sie erinnert mich an die Hexe in >Hänsel und Gretel, die die Kinder gemästet hat.«
»Warum hat sie das getan?«, fragte Adam und nahm sich einen Muffin. Er wollte sich einen sichern, bevor Darci den Korb leerte.
»Warum?«, wiederholte er.
Darci blickte ihn verwundert an. »Um sie zu fressen, warum sonst? Wo bist du eigentlich aufgewachsen, dass du keine Märchen kennst? Du kennst weder >Schneewittchen< noch >Hänsel und Gretel<.«