14. Kapitel

Carrie schaute in den Spiegel und kniff sich in die Wangen. Sie sah entsetzlich bleich aus, so daß ihre Nase um so röter wirkte. Um wenigstens diesen Makel zu kaschieren, legte sie noch ein wenig Puder auf. Ring mochte es nicht, wenn sie sich schminkte, aber noch weniger mochte er, wenn sie rotgeweinte Augen hatte. Und am wenigsten würde er mögen, was sie ihm sagen mußte. Wahrscheinlich würde er böse mit ihr sein.

Carrie sah, wie sich erneut Tränen in ihren Augen sammelten. Wieviel Tränen konnte ein Mensch überhaupt produzieren? Sie hatte die ganze Nacht und den Vormittag ohne Unterbrechung geweint.

Nachdem sie Josh am gestrigen Tag verlassen hatte, war sie in ihren Modesalon gegangen, um sich mit Arbeit abzulenken. Genau das taten ihre Brüder auch immer, wenn sie über irgend etwas außer sich waren, aber bei Carrie hatte es nicht funktioniert. Sie war außerstande gewesen, an irgend etwas anderes als an ihren Mann zu denken, der mit einer anderen Frau verheiratet war. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, daß seine Frau noch lebte. Josh mochte Carrie ja vielleicht lieben, aber er hatte ihr nie genug vertraut, um ihr alles über sich zu erzählen.

Sie hatte zwei Stunden grübelnd in ihrem Geschäft verbracht, als Tem und Dallas zu ihr kamen. Carrie hatte rasch ihre Augen getrocknet, damit die Kinder nicht merkten, daß sie geweint hatte, aber die beiden waren nicht so leicht hinters Licht zu führen.

Tem hatte sie gefragt, ob sie den Brief seines Vaters gelesen hatte, und Carrie, die nur noch an den Brief, den Nora geschrieben hatte, denken konnte, nickte. Ja, sie habe den Brief in der Tat gelesen, und aufgrund dieses Briefes sei sie entschlossen, Colorado für immer zu verlassen.

Die Kinder verließen den Laden wie zwei gebrochene Menschen, die schon zuviel Elend erlebt hatten. Gleich danach floh Carrie in das kleine Haus hinter ihrem Geschäft, in dem sie sich einquartiert hatte. Sie weinte sich in einen unruhigen Schlaf.

Heute mußte sie ihren Bruder von der Poststation abholen, aber die letzte Person, die sie jetzt sehen wollte, war Ring. Vielleicht würde er nicht aussprechen, wie er über die ganze Misere dachte, aber sie würde es an seinen Augen erkennen. Er war schon immer der Ansicht gewesen, daß sie flatterhaft war und von der Familie zu nachsichtig behandelt wurde, und jetzt lieferte sie ihm den Beweis, daß er sich nicht geirrt hatte.

Carrie setzte ihren Hut auf und gab sich nicht, wie sonst immer, die Mühe, die Bänder zu einer hübschen Schleife zu binden. Es war ihr egal, wie sie aussah.

Auf dem Weg zur Poststation sah sie die Menschen, die sie freundlich grüßten, nicht einmal an. Sie wollte nur noch weg von hier. Sie wollte ihren Bruder abholen und ihn bitten, alles für ihre Abreise nach Maine zu arrangieren. Dort bin ich wieder das Nesthäkchen der Familie, dachte sie, das kleine Mädchen, das alle wie ein Spielzeug behandelten. Dort werde ich keine eigene Familie mehr haben und keinen Mann, der nur mich liebt. Aber wenn sie genau darüber nachdachte, dann mußte sie zugeben, daß sie das hier auch nicht hatte.

Sie kam um halb vier Uhr — dreißig Minuten bevor die Kutsche laut Fahrplan eintreffen sollte — zur Poststation. Der Mann am Schalter lachte, als er sie sah. »Die Kutsche ist seit Jahren nicht pünktlich gewesen, und sie ist’s heute bestimmt auch nicht. Ich hab’ gehört, daß die Indianer Schwierigkeiten machen. Wahrscheinlich dauert’s noch ein paar Tage, bis sie kommt. «

Carrie würdigte ihn keines Blickes. »Mein Bruder wird dafür sorgen, daß sie rechtzeitig hier ist«, sagte sie matt, als sie sich auf die Bank sinken ließ.

Bei dieser Erklärung brach der Mann in schallendes Gelächter aus und stürmte aus dem Gebäude. Zweifellos wollte er den Rest der Bevölkerung mit diesem Witz erheitern.

Er war noch nicht einmal zwei Minuten weg, als Josh den Raum betrat.

»Meine Güte«, sagte Carrie, »wenn das nicht Noras Ehemann ist. « Sie drehte sich zur Wand.

Josh setzte sich neben sie und ergriff ihre Hand, aber Carrie zog sie weg.

Er umfaßte ihre Schulter und zwang sie, ihn anzusehen. »Carrie, ich habe etwas von dir gelernt: Man darf sich nie geschlagen geben. Niemals. «

»Manchmal bleibt einem nichts anderes übrig. « Sie versuchte sich ihm zu entziehen, aber das ließ er nicht zu.

»Ich habe dir nichts von Nora erzählt, weil ich sicher war, daß sie nie mehr in mein Leben treten würde. So einfach ist das. Du hast den Brief gelesen. Ich war überzeugt, daß die Scheidung rechtskräftig ist und daß ich alle notwendigen Papiere schon vor einem Jahr unterzeichnet hatte. Und ich war sicher, daß sie die Abfindung, die ich ihr bezahlt habe, zufriedengestellt hätte. «

»Was hast du ihr sonst noch gegeben? Deine ganze Liebe? «

»Nora wollte keine Liebe. Sie wollte nur Geld, und deshalb habe ich ihr jeden Cent, den ich besaß, gegeben. Nachdem ich meinen ganzen Besitz — die Kleider eingeschlossen — zu Geld gemacht hatte, um sie loszuwerden und meine Kinder bei mir behalten zu können, forderte sie noch mehr. «

»Sie wollte dich«, stellte Carrie fest.

Josh lächelte. »Du bist die einzige Frau der Welt, die mich wirklich will — trotz meiner Übellaunigkeit und meiner Unfähigkeit, eine Farm auf Trab zu bringen. Du willst mich und die Kinder, obwohl ich dir außer meiner grenzenlosen Liebe nichts bieten kann. «

»Halt den Mund«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.

»Carrie, es tut mir alles so leid. Und ich bitte dich um Vergebung, daß ich dich falsch eingeschätzt und für eine törichte Person gehalten habe. « Er verzog das Gesicht, als sie Protest erheben wollte. »Kannst du mir deswegen Vorwürfe machen? Jeder Mann, der dich sieht, muß doch denken, daß du viel zu hübsch bist, um Verstand zu haben. Außerdem habe ich die Erfahrung gemacht, daß hübsche Mädchen an nichts anderes als an sich selbst denken. «

»Ist deine Frau hübsch? «

»Meine ehemalige Frau. Nein, Nora ist nicht gerade hübsch. « Er löste ihre Hutbänder und band sie zu einer hübschen Schleife unter ihrem Kinn. »Ich liebe Nora nicht. Ich bin nicht mal sicher, ob ich es je getan habe. «

»Aber sie ist die Mutter deiner Kinder. «

»Na ja, ich habe sie auch nicht gehaßt. «

Carrie machte Anstalten, aufzustehen, aber er hielt sie zurück. »Ich liebe dich, und ich möchte, daß du mich heiratest und bei mir und den Kindern bleibst. Für immer. Genau das wolltest du doch auch, als du uns das erste Mal gesehen hast, oder nicht? «

Carries Blick verriet sie wieder einmal. »Ich glaube nicht, daß ich dich noch mag. Du hast mich belogen. «

»Ich habe nicht gelogen. Ich dachte wirklich, daß ich ein geschiedener Mann bin. Noras Brief war für mich genau so ein großer Schock wie für dich. «

Da sie ihm nicht antwortete, zog er sie in seine Arme, aber es dauerte einen Augenblick, bis sich Carrie entspannte. »Mein Bruder... «

»Überlaß deinen Bruder mir. «

»Du kennst ihn nicht. Er wird schrecklich wütend, wenn er hört, daß ich... die Frau eines... verheirateten Mannes bin. «

»Ganz zu schweigen davon, daß du von diesem Mann ein Baby erwartest«, sagte Josh sanft.

Carrie hielt den Atem an. Sie brauchte gar nicht zu fragen, wie er das herausgefunden hatte. In der letzten Woche war sie dreimal in Ohnmacht gefallen, und sie ahnte, daß die halbe Stadt über die Gründe ihrer Schwächeanfälle klatschte. »Willst du mich nur wegen des Babys heiraten? «

»O ja, natürlich. Das Baby ist der einzige Grund, warum ich dich bei mir behalten möchte. Hast du noch nicht gemerkt, daß ich Kinder sammle? Ich komme so prächtig mit ihnen zurecht, und in meiner Gesellschaft sind alle Kinder fröhlich und lachen sich halbtot... Könnte es denn nicht möglich sein, daß ich dich bei mir haben will, weil mich der Gedanke, ohne dich leben zu müssen, beinahe umbringt? Carrie«, flüsterte er, »bitte verlaß mich nicht. «

Sie schlang die Arme um seinen Hals, und er küßte sie zärtlich und voller Sehnsucht.

»Wenn dein Bruder hier ist — wann immer die Kutsche auch eintrifft... « Er drückte sanft seine Fingerspitze auf ihre Lippen, um sie am Reden zu hindern

»... wenn dein Bruder hier ist, mußt du alles mir überlassen. Ich werde ihn glauben machen, daß wir das glücklichste Paar auf Erden sind und daß wir keinerlei Probleme haben. Wer weiß — vielleicht kommt die Kutsche erst in drei Tagen, dann ist Nora schon wieder weg, und wir können heiraten. Wenn dein Bruder uns besucht, ist alles in Ordnung — bis auf meine verkrüppelten Maispflanzen. «

»Meinem Bruder ist dein wurmstichiger Mais vollkommen egal, wenn ich glücklich mit dir bin. « Sie spähte auf ihre Uhr. »Laut Fahrplan kommt die Kutsche in zehn Minuten an. Du kannst dich darauf verlassen, daß sie auf die Minute pünktlich ist, wenn mein Bruder darin sitzt. «

Josh lächelte überlegen. »Also gut, wenn er hier ist, werde ich schon mit ihm fertig. Wir müssen nur Zeit gewinnen, bis Nora mir das Dokument gegeben hat und die Scheidung gültig ist. In spätestens vierundzwanzig Stunden ist alles geregelt. « Er legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht an. »Kannst du mir vergeben? Ich wollte dir nicht von Nora und meiner gescheiterten Ehe erzählen. Ich war sicher, daß du mich ohnehin als Versager ansiehst, weil ich der schlechteste Farmer weit und breit bin. «

»Du bist kein Versager. «

Er küßte sie. »Du weißt gar nicht, was mir dieser Satz bedeutet. Zum erstenmal, seit ich mich auf dieser verdammten Farm niedergelassen habe, fühle ich mich tatsächlich nicht als Versager. Ich muß nur in deine Augen sehen. «

»Ich wußte, daß du mich brauchst. «

»Und ich war zu dumm, um das zu erkennen«, erwiderte er und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen, aber Carrie erstarrte plötzlich und lauschte angestrengt.

»Das ist die Postkutsche. « Sie löste sich aus seiner Umarmung und ging ins Freie.

Josh blieb sitzen und sah ihr voller Liebe nach. Sie hatte grenzenloses Vertrauen zu ihren Mitmenschen, und jetzt glaubte sie ehrlich, daß die Kutsche um Punkt vier Uhr eintraf. Als das Geräusch eines fahrenden Wagens lauter wurde, ging Josh auch auf die Veranda und spähte in die Richtung, aus der der Lärm kam. Was da auf sie zurollte, sah tatsächlich wie eine Postkutsche aus. Er sah auf Carries Uhr. »Das schaffen sie nie. Es ist zwei Minuten vor vier, und sie sind noch ziemlich weit weg. «

»Ring wird es schaffen«, erwiderte Carrie beiläufig.

Inzwischen waren alle Bewohner von Eternity auf die Straße gelaufen, weil niemand die Sensation, daß die Kutsche pünktlich ankam, verpassen wollte. Josh beobachtete fasziniert, wie der Kutscher mit der Peitsche auf die Pferde einhieb. Er konnte erkennen, daß der Mann aufrecht im Kutschkasten stand, und er hörte, daß er die Pferde mit lautem Geschrei vorwärts trieb. Fast meinte Josh, sogar das Schnauben der Tiere zu vernehmen, während sie in wildem Galopp auf die Poststation zujagten. Normalerweise war der Kutscher betrunken, und er lenkte sein Gefährt im Schrittempo in die Stadt, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob er den Fahrplan einhielt oder nicht.

»Jetzt glaube ich auch, daß sie’s schaffen«, sagte Josh im Flüsterton.

»Natürlich«, erwiderte Carrie. »Punkt vier Uhr. «

Joshs Augen weiteten sich vor Staunen, als die Kutsche um die letzte Kurve bog. Wenn er sich nicht irrte, steckten mehrere Pfeile im Dach. Die stetig anwachsende Menschenmenge, die sich vor der Station versammelt hatte, deutete auf die Kutsche.

Um genau vier Uhr hielt die Postkutsche mit knirschenden Rädern vor der Tür des Gebäudes. Das Dach des Gefährts war nicht nur mit Pfeilen gespickt, sondern auch von Kugeln durchlöchert, und an der hinteren Achse war ein edles Reitpferd angebunden.

»Was ist euch denn passiert? « fragte jemand lautstark den Kutscher.

Josh war sicher, nie einen erschöpfteren Mann gesehen zu haben. Der Trunkenbold war heute stocknüchtern, aber er hatte dunkle Ringe unter den Augen und sah aus, als hätte er sich seit einer Woche nicht rasiert. Sein linker Mundwinkel zuckte.

»Was uns passiert ist? « wiederholte der Kutscher, als er schwankend abstieg. »Räuber haben uns angegriffen. Einige betrunkene Cowboys sind von Indianern gejagt worden, und als wir in Sicht kamen, hat sich die ganze Bande auf uns gestürzt. Wir sind in eine Herde wilder Büffel geraten... Es gibt nichts, was uns nicht passiert ist. «

Allmählich begeisterte sich der Kutscher selbst für seinen Vortrag, und er genoß es, ein so großes Publikum zu haben. »Aber wir hatten einen verrückten Mann an Bord. Sein Name ist Montgomery. «

Carrie warf Josh einen triumphierenden Blick zu.

»Der Bursche hat gesagt«, führ der Kutscher fort, »daß er eine Verabredung hätte, die er einhalten muß. Er hat gesagt, daß er zu einem ganz bestimmten Datum in Eternity sein muß. Ich sag’ euch, der Kerl ist verrückt. Wir sind mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch die Gegend gerast, und was macht der Bursche? Er klettert aus dem Kutschenfenster, springt auf sein Pferd —« er deutete auf den hinteren Teil seines Gefährts — »und verscheucht, als ob’s gar nichts wär’, die Büffelherde, die auf uns zustampft. Er hat nicht mal zugelassen, daß ich das Tempo verlangsame. Als die Cowboys uns angegriffen haben, hat er seine Pistolen genommen und ihnen die Hüte von den Köpfen geschossen. Das fanden die Indianer so lustig, daß sie uns mit Pfeilen bombardiert haben. Ich sag’ euch, der Mann ist wirklich verrückt. «

Inzwischen hatte er die Trittleiter vor die Kutschentür gestellt, und seine Fahrgäste stiegen aus. Sie alle sahen aus, als wären sie der Hölle entflohen. Ihre Kleider waren schmutzig und zerrissen, ihre Gesichter leichenblaß und starr vor Schreck. Die Frauen waren in Tränen aufgelöst und zitterten am ganzen Leib. Sie waren nicht mehr in der Lage, sich auf den Beinen zu halten und sanken den wartenden Menschen kraftlos in die Arme. Es war ihnen vollkommen gleichgültig, daß ihre Kleider zerfetzt und ihre Frisuren zerzaust waren. Ein Mann blutete aus einer Armwunde, ein anderer hatte drei Einschußlöcher in seinem Hut. Der dritte versuchte sich eine Zigarre anzuzünden, aber seine Hände zitterten so sehr, daß er das Streichholz nicht an die Zigarrenspitze halten konnte. Als einer der Stadtbewohner auf ihn zuging, um ihm zu helfen, stöhnte der Mann: »Ich brauche was zu trinken. «

»Welcher ist Ring? « fragte Josh überrascht, weil Carrie keine Anstalten machte, einen der Männer zu begrüßen. Sie gab keine Antwort sondern starrte wortlos auf die Kutschentür.

Einige Zeit später, als die anderen Passagiere bereits ausgestiegen waren, erschien ein weiterer Mann auf der Trittleiter. Er war sehr groß — über einsachtzig —, kräftig und außergewöhnlich gutaussehend. Er trug einen dunklen Anzug, der ganz sicher, wie Josh gleich registrierte, eine hübsche Stange Geld gekostet hatte. Ganz anders als die anderen derangierten, verängstig' ten Fahrgäste, wirkte dieser Mann in keiner Weise erschöpft und so ruhig, als käme er von einem erfreulichen Sonntagsausflug zurück, kein Stäubchen verunzierte seine makellose Erscheinung.

Josh beobachtete, wie der Mann auf die Leute zuging und strahlend lächelte. Eine der Frauen, die mit ihm gereist waren, brach erneut in Tränen aus, als sie ihn ansah, und verbarg ihr Gesicht an der Schulter einer anderen Frau. Der Mann langte in seine Jackentasche und zog eine dünne Zigarre hervor. Mit ruhiger Hand riß er ein Streichholz an und setzte die Zigarre in Brand. Als er den ersten Zug genoß, schien er sich überhaupt nicht bewußt zu sein, daß ihn etwa hundert Menschen fasziniert anstarrten. Beiläufig entfernte er ein unsichtbares Staubkörnchen von seiner Schulter und bahnte sich einen Weg durch die Menge.

»Weißt du jetzt, welcher Ring ist? « fragte Carrie ernst.

Josh ergriff beruhigend ihre Hand.

Als hätte er schon die ganze Zeit gewußt, wo sie standen, wandte sich Ring seiner Schwester zu.

»Hallo, mein Liebes«, sagte er ruhig, und Carrie lief auf ihn zu.

Ring fing die kleine Schwester in seinen starken Armen auf und drückte sie unter den Augen sämtlicher Stadtbewohner heftig an sich. Wenn dieser Mann — halb Ungeheuer, halb Held — mit Carrie bekannt war, dann konnten sie ihn auch akzeptieren. Schließlich hatte Carrie in der kleinen Stadt nur Gutes bewirkt.

»Laß mich dich ansehen«, sagte Ring und stellte Carrie auf die Füße. Er war beinahe doppelt so breit wie sie, und seine riesige Hand bedeckte die Hälfte ihres Gesichts.

Josh war noch nie zuvor in seinem Leben eifersüchtig gewesen, wahrscheinlich, weil er nie zuvor jemanden von ganzem Herzen und aufrichtig geliebt hatte —, aber jetzt war es ihm beinahe unmöglich, mit anzusehen, wie dieser Mann, Bruder oder nicht, Carrie berührte.

Er stellte sich neben Carrie und legte besitzergreifend seinen Arm um sie.

Carrie betrachtete ihren Mann. Ring war ein bißchen größer als Josh, aber sicher nicht besser gebaut, und Carrie war überzeugt, daß Josh tausendmal besser aussah als ihr großer Bruder.

Ring ließ die beiden nicht aus den Augen, registrierte die Art, wie Josh Carrie an sich drückte, und den kampflustigen Blick in seinen Augen, der deutlich sagte, daß er ihn auf der Stelle niederschlagen würde, wenn er es wagte, Carrie auch nur ein Haar zu krümmen. Er sah, wie Carrie zu Josh aufblickte, als wäre er der tapferste und großartigste Mann der Welt, und Ring wußte auf Anhieb alles, was er auf dieser Reise hatte in Erfahrung bringen wollen. Er war von Maine nach Colorado gekommen, um herauszufinden, ob seine Schwester diesen Mann liebte und von ihm wiedergeliebt wurde, und jetzt kannte er die Antwort auf diese Frage. Im Grunde hätte er jetzt sofort wieder die Kutsche besteigen und zu seiner eigenen Frau und seinen Kindern zurückfahren können.

Ring lächelte seine kleine Schwester an, und Carrie brachte ebenfalls ein zitterndes Lächeln zustande. Carrie war es noch nie gelungen, etwas geheimzuhalten -ihre Miene verriet immer alles, und Ring merkte sofort, daß etwas nicht stimmte, aber er hatte keine Ahnung, wie ernst die Schwierigkeiten waren, die seine Schwester hatte. Daran, daß sich die beiden liebten, hatte er keine Zweifel. Sie drängten sich so dicht aneinander, als fürchteten sie, daß er sie mit Gewalt auseinanderbringen wollte.

»Darf ich mich vorstellen? « fragte Josh und streckte die Hand aus. »Joshua Greene. «

Ring schüttelte die Hand seines neuen Schwagers, und plötzlich wurde ihm bewußt, daß er diesen Mann schon einmal gesehen hatte, aber er konnte sich nicht erinnern, wann und wo. »Sind wir uns nicht schon einmal begegnet? «

»Das glaube ich kaum«, erwiderte Josh ruhig.

Dieser Mann kann seine Empfindungen vor anderen verbergen, dachte Ring, er verrät nicht mit dem geringsten Flackern seiner Augen, was er denkt, und die Leute erfahren von ihm nur das, was er sie wissen läßt.

»Wahrscheinlich haben Sie recht«, sagte Ring in einem Ton, der, wie er hoffte, seine Zweifel nicht verriet. »Gibt es hier irgendeinen Ort, an dem ich ein Bad nehmen kann? « fügte er an Carrie gewandt hinzu.

»Selbstverständlich. Ich habe dir ein Zimmer im Hotel reservieren lassen, aber es ist nicht ganz das, was du gewöhnt bist. «

Ring hätte seiner Schwester einen Kuß auf die Wange gedrückt und über ihre Nervosität gelacht, wenn Josh sie nicht wie ein Raubvogel seine Beute bewacht hätte. Ring überlegte, ob er sich in Gegenwart seiner Frau ebenso benahm.

»Ich bin sicher, daß es mir genügt«, meinte er. »Wir könnten heute abend zusammen essen, und morgen möchte ich gern Ihre Kinder kennenlernen. «

Carries Magen verkrampfte sich. Sie konnte die Spannung nicht mehr länger ertragen. »Warum bist du hier, Ring? Ich fahre nicht mit dir nach Hause, egal, was du tust oder sagst. «

Ring hätte es kaum für möglich gehalten, aber Josh rückte noch näher zu Carrie, als er nicht sofort antwortete. »Hast du angenommen«, begann er schließlich, »daß ich hierhergekommen bin, um dich zu holen? «

»Ich dachte, weil die Papiere... na ja, weißt du... «

»Du meinst die Heiratspapiere, die du Vater untergeschoben hast? «

Carrie starrte auf ihre Schuhspitzen.

Ring warf Josh einen Blick zu. Wo hatte er diesen Mann nur schon einmal gesehen? »Ihr müßt mich ja für ein richtiges Scheusal halten. Ich bin hier, weil sich herausgestellt hat, daß diese Eheschließung nicht legal war und weil Mutter wissen möchte, ob du glücklich bist, Carrie. Sie hat mir ihr eigenes Hochzeitskleid mitgegeben und bittet dich, es zu tragen, wenn du dich noch einmal mit Josh trauen läßt. Außerdem möchte sie eine Fotografie von ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn haben. Weil ich hoffte, daß es keinerlei Probleme geben würde, habe ich mir die Freiheit herausgenommen, die Zeremonie für morgen nachmittag zu arrangieren. Für das Brautbouquet habe ich pinkfarbenen Rosen ausgesucht. Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, ich muß mich nämlich so rasch wie möglich wieder auf den Heimweg machen. «

»Ja«, murmelte Carrie zögernd, »ich glaube, das ist möglich. «

»Gut. « Ring nahm seine Reisetasche, die der Kutscher abgeladen hatte. »Können wir gehen? « erkundigte er sich, nahm Carries Arm und ließ sich zum Hotel führen.

»Ich werde ihm alles sagen«, flüsterte Josh. »Dieser Mann... «

»Bitte nicht«, fiel Carrie ihm leise ins Wort. »Er hält mein Leben in seinen Händen. Ring hat von meinem Vater alle Vollmachten bekommen, und er ist sozusagen mein gesetzlicher Vormund. Ich vertraue ganz fest darauf, daß deine... « sie schluckte, »... daß deine Frau morgen früh auftaucht, damit wir zu dem Zeitpunkt, den Ring festgesetzt hat, heiraten können. «