15. Kapitel

Mary schwang sich in den Sattel und sah ihre Schwägerin mit noch schlaftrunkenen Augen an. Sie fragte sich, ob Alicia wußte, was Worte wie Kälte und Erschöpfung bedeuteten. Sie waren gestern den ganzen Tag geritten, bis die Wächter ihres Gefolges vor Müdigkeit fast vom Pferd gefallen waren. Und dann war Alicia noch bis nach Mitternacht aufgeblieben, um mit Judith über Geschäfte und Verwaltung zu sprechen.

Mary streckte sich, gähnte und lächelte. Kein Wunder, daß Stephen ihr geschrieben hatte, er müsse sich anstrengen, um mit seiner Frau mithalten zu können. Ob Alicia wußte, wie sehr Stephen sie bewunderte? Stephens Briefe waren voll des Lobes gewesen über sein neues Volk, sein neues Leben und besonders über seine tüchtige und mutige Ehefrau.

Mary trieb ihr Pferd an, damit sie Alicia wieder einholte. Die Schottin stand bereits vor der Hütte eines Leibeigenen.

Am späten Vormittag hielten sie auf einem Hügel, um eine Rast einzulegen. Die Männer streckten sich im Gras aus und verzehrten hungrig Brot und Käse.

Mary und Alicia saßen auf der Kuppe, weil Alicia von hier aus einen weiten Blick auf das Land hatte.

»Was war das? « fragte Alicia plötzlich.

Mary lauschte einen Moment. Doch sie hörte nur das Seufzen des Windes und die Stimmen der Begleiter.

»Da ist es wieder! « Alicia sah über die Schulter, und Rab kam zu ihr und stieß sie mit der Schnauze an. »Ja, mein Junge«, flüsterte sie und stand rasch auf. »Da ist jemand verletzt«, sagte sie zu Mary und rannte los.

Die Begleiter sahen hoch, kümmerten sich aber nicht weiter um die Frauen.

Mary folgte Alicia den Hügel hinunter. Da war ein Teich, dessen Ränder halb gefroren waren. Dünne Eisschollen trieben in der Mitte auf dem Wasser.

Alicia strengte ihre Augen an, bis Rab Laut gab. »Dort! « rief Alicia und rannte weiter.

Mary vermochte nicht zu sehen, was da sein sollte, raffte aber ihre schweren Röcke hoch und folgte ihrer Schwägerin. Dann, als sie halbwegs beim Teich waren, bemerkte sie den Kopf und die Schultern eines Kindes. Es war im eisigen Wasser gefangen.

Ein Schauder lief Mary über den Rücken. Sie flog förmlich über den Boden dahin und merkte gar nicht, wie sie Alicia überholte. Sie rannte geradewegs in das eisige Wasser hinein und packte das Kind.

Das Kind sah mit großen, blanken Augen zu ihr hoch. Sie hatten nur Minuten Zeit, um das Kind vor dem Erfrieren zu retten.

»Es scheint mit dem Fuß irgendwo eingeklemmt zu sein! Kannst du mir dein Messer zuwerfen? « rief Mary ihrer Schwägerin zu.

Alicias Verstand arbeitete fieberhaft. Wenn sie Mary das Messer zuwarf und diese es nicht auffing, war das Kind wahrscheinlich verloren. Es gab nur eine Möglichkeit, Mary das Messer auf sichere Weise zukommen zu lassen.

»Rab! « rief Alicia, und der Hund hörte aus ihrer Stimme, wie dringlich ihr Anliegen war. »Lauf zu den Männern und hole sie zur Hilfe. Bring jemand hierher, Rab! «

Der Hund schoß davon wie ein Pfeil, der von der Sehne schnellt. Doch er hielt nicht auf die Begleiter zu, die hinter der Kuppe warteten.

»Tod und Verdammnis! « fluchte Alicia; doch es war zu spät, den Hund wieder zurückzurufen.

Sie nahm das Messer aus der Scheide und watete in das eiskalte Wasser. Pflanzen suchten sie unter Wasser festzuhalten. Mary war blaugefroren; doch sie hielt den Jungen eisern fest, dessen Gesicht bereits grau wurde.

Alicia kniete sich nieder. Das eiskalte Wasser schwappte gegen ihre Brust, als prallte sie gegen eine Ziegelmauer. Sie tastete an den Beinen des Jungen entlang und hackte dann auf die zähen Schlingpflanzen ein, die seine Knöchel fesselten.

»Er ist frei! « flüsterte sie nach Sekunden. Sie bemerkte, daß inzwischen auch Marys Gesicht eine gefährlich graue Färbung angenommen hatte. Alicia kniete im Wasser und hob das Kind hoch. »Kannst du mir folgen? « rief sie über die Schulter, während sie das Kind ans Ufer trug.

Als sie am Ufer anlangte, wurde ihr das Kind aus den Armen genommen. Sie sah hoch. Raine stand mit ernstem Gesicht über ihr.

»Wie…? « begann Alicia.

»Miles und ich wollten dir entgegenreiten, als der Hund zu uns kam und uns umtänzelte wie ein Dämon. « Während Raine redete, war er beständig in Bewegung. Er reichte das Kind einem seiner Männer zu und legte seinen Umhang über Alicias kalte, nasse Schultern.

»Mary? « fragte Alicia mit klappernden Zähnen.

»Miles hat sie«, sagte Raine, während er Alicia in den Sattel hob und sich hinter ihr aufs Pferd schwang.

Sie ritten im Galopp zur Montgomery-Burg zurück. Mit einer Hand lenkte Raine sein Pferd, mit der anderen massierte er ununterbrochen Alicias Schultern und Arme. Sie merkte, daß sie zu erfrieren drohte, rollte sich zu einer Kugel zusammen und schmiegte sich an die feste Wärme von Raines Brust, Sobald sie den Burghof erreicht hatten, hob Raine Alicia aus dem Sattel und trug sie hinauf in ihr Schlafzimmer. Er stellte sie in der Mitte des Raumes ab, ging zu einer Truhe und holte eine schwere Robe aus golddurchwirkter Wolle hervor. »Hier, zieh das an«, befahl er, drehte ihr den Rücken zu und begann, ein Feuer im Kamin zu entzünden.

Alicias Finger zitterten, als sie sich von ihrem Hemd zu befreien suchte, das ihr auf der Haut klebte. Als sie das schwere Wollkleid überstreifte, merkte sie nichts von der Wärme, die sich von dem Stoff auf ihren Körper übertragen sollte.

Raine drehte sich ihr wieder zu, sah ihr blutleeres Gesicht und nahm sie in seine kräftigen Arme. Er setzte sich in einen breiten Sessel vor den Kamin und nahm seine Schwägerin auf seinen Schoß. Er warf einen Umhang, der Stephen gehörte, über sie, steckte den Saum um sie her fest und hielt sie an seine Brust, während sie zitternd die Beine an den Leib zog.

»Mary? « flüsterte sie, während der Kälteschauer alle Muskeln zum Beben brachte.

»Miles kümmert sich um sie. Inzwischen hat Judith ihr ein heißes Bad zubereitet. «

»Und das Kind? «

Raine sah mit Augen auf sie hinunter, die sich auch im Licht noch dunkel verfärbten. »Hast du gewußt, daß es nur das Kind von Leibeigenen war? « fragte er ruhig.

Sie löste sich von ihm. »Was spielt das für eine Rolle? Das Kind brauchte Hilfe. «

Raine lächelte sie an und zog sie wieder an seine warme Brust. »Dachte ich mir doch, daß es für dich keinen Unterschied bedeutete. Für Mary selbstverständlich auch nicht. Doch mit Gavin wirst du Ärger bekommen. Er würde nicht ein Haar auf dem Kopf eines Familienmitgliedes riskieren, um alle Leibeigenen dieser Welt vom Tode zu erretten. «

»Ich habe mich gegen Stephen behaupten können; also wird es mir vermutlich auch bei Gavin gelingen«, sagte sie mit einem tiefen Seufzer.

Raine lachte. Es begann mit einem Glucksen tief unten in seinem Leib. »Gut gesagt! Ich merke, daß du meine älteren Brüder durchschaut hast. «

Sie lächelte an seiner Brust. »Raine, warum bist du eigentlich nicht verheiratet? «

»Die Universalfrage aller Frauen«, meinte er mit einem glucksenden Lachen. »Vielleicht will mich keine haben. «

Das war eine so absurde Bemerkung, daß sie gar nicht darauf einging.

»Tatsächlich habe ich in acht Monaten sechs Frauen einen Korb gegeben. «

»Warum? « fragte sie. »Waren sie zu häßlich, zu dünn oder zu fett? Oder hast du die Damen gar nicht gekannt? «

»Ich kannte sie«, erwiderte er gelassen. »Ich bin nicht wie meine Brüder, die ihre Bräute erst am Hochzeitstag kennenlernen. Die Väter machten mir die Angebote, und ich lebte mit jeder Frau drei Tage zusammen. «

»Und trotzdem hast du sie verschmäht. «

»Aye, das tat ich. «

Sie seufzte. »Was erwartest du von einer Frau? Eine von ihnen muß doch hübsch genug gewesen sein. «

»Hübsch! « schnaubte Raine, »drei von ihnen waren Schönheiten! Aber ich wünsche mir mehr von einer Frau als gutes Aussehen. Ich verlange von einer Frau, daß sie nicht nur das letzte Stickmuster im Kopf hat. « Seine Augen zwinkerten belustigt. »Ich wünsche mir eine Frau, die ihr Leben riskiert und in einen eiskalten Teich hineinwatet, um das Kind von Leibeigenen zu retten. «

»Aber jede Frau, die das Kind in seiner Not gesehen hätte… «

Raine sah von ihr weg ins Feuer. »Du und Mary sei etwas Besonderes. Judith ebenfalls. Weißt du, daß Judith auch einmal Gavins Männer anführte, als ein Wahnsinniger ihn gefangenhielt? Sie riskierte ihr Leben, um seines zu retten. « Er lächelte auf sie hinunter. »Ich warte, bis ich so eine wie dich oder Judith bekomme. «

Alicia dachte eine Weile über seine Antwort nach. »Nein, ich glaube nicht, daß du so eine Frau wie Judith und mich brauchst. Gavin liebt dieses Land, und Judith teilt diese Liebe. Sie passen zusammen. Und Schottland ist mein Land, wo Stephen mit mir leben kann, wenn es ihm beliebt. Doch du… ich habe das Gefühl, dich hält es nirgends lange. Du brauchst eine Frau, die so frei und ungebunden leben will wie du. «

Raine sah sie mit offenem Mund an, schloß ihn wieder und lächelte. »Ich möchte dich nicht fragen, woher du das alles weißt. Wahrscheinlich würdest du antworten, du seist eine Hexe. Aber da du so viel zu wissen scheinst, möchte ich eine persönliche Frage an dich richten. «

Er blickte ihr fest in die Augen. »Was stimmt nicht zwischen dir und Stephen? Warum bist du immer so zornig auf ihn? «

Alicia zögerte mit der Antwort. Sie wußte, wie nahe sich die Brüder standen. Doch sie brachte es nicht fertig, ihn zu belügen.

Sie holte tief Luft und sagte ihm die Wahrheit: »Stephen glaubt, ich besäße weder Ehrgefühl noch Stolz. Er glaubt eher anderen als mir. In Schottland war er davon überzeugt, ich machte nur Fehler, und in einigen Fällen hatte er recht. Doch es stand ihm nicht zu, mich so zu behandeln, als könnte ich nichts richtig machen. «

Raine nickte verständnisvoll. Auch Gavin hatte lange gebraucht, bis er begriffen hatte, daß Judith mehr war als nur ein schöner Leib.

Ehe er etwas sagen konnte, flog die Tür auf, und ein erschöpfter, lehmüberkrusteter Stephen stürmte ins Zimmer.

»Miles sagte mir eben, Alicia wäre in einen eiskalten See gesprungen«, rief er mit dröhnender Stimme. »Wo steckt sie? « Noch während er fragte, entdeckte er Alicia auf Raines Schoß.

Mit zwei Schritten hatte er das Zimmer durchquert und riß sie aus den Armen des Bruders.

»Tod und Verdammnis«, fluchte er. »Man kann dich nicht eine Stunde allein lassen, ohne daß du in Schwierigkeiten kommst! «

»Laß mich los«, sagte sie kalt. Und dann ging sie barfuß, aber mit hocherhobenem Kopf zur Tür. Sie legte die Hand auf die Klinke und sagte, ohne sich noch einmal umzudrehen: »Eines Tages wirst du lernen müssen, daß ich weder ein Kind noch ein Dummkopf bin. « Sie öffnete die Tür und verließ das Zimmer.

Stephen wollte ihr nach; doch Raines Stimme hielt ihn zurück.

»Setz dich und laß sie in Ruhe«, sagte Raine mit resignierender Stimme.

Stephen starrte die verschlossene Tür an und fuhr sich dann mit beiden Händen durch seine schmutzigen Haare.

»Ist sie unverletzt geblieben? Wird sie sich wieder erholen? «

»Natürlich«, erwiderte Raine zuversichtlich. »Sie ist kräftig und gesund, und du hast sie mir ja als eine Frau geschildert, die fast ihr ganzes Leben im Freien verbrachte. «

Stephen starrte ins Feuer. »Ich weiß«, sagte er mit belegter Stimme.

»Was hast du nur? « fragte Raine. »Das ist nicht der Stephen, den ich gekannt habe. «

»Alicia«, sagte Stephen mit leisem Stöhnen, »sie wird mich noch umbringen. In Schottland beschloß sie eines Nachts, ihre Männer bei einem Überfall auf den mit ihr verfeindeten Klan anzuführen. Damit ich sie bei diesem Unternehmen nicht stören konnte, gab sie mir ein Gift ein. «

»Sie tat das? « fuhr Raine von seinem Sessel hoch, als ihm bewußt wurde, in welche Gefahr Alicia sich und Stephen gebracht hatte.

Stephen nickte düster.

»Einer ihrer Gefolgsmänner fand mich betäubt im Bett und bemühte sich, mich wach zu bekommen. Als ich sie wiederfand, hing sie an einem Seil an einer Steilwand über den Meeresklippen. «

»Gütiger Himmel! « keuchte Raine.

»Ich wußte nicht, ob ich ihr den Hintern versohlen oder sie einsperren sollte, um sie vor sich selbst zu schützen. «

»Und was von beiden hast du getan? «

Stephen lehnte sich gegen einen Stuhl. Sein Gesicht spiegelte seine Betretenheit, als er seinem Bruder antwortete:

»Was ich immer tat, wenn wir uns stritten. Wir liebten uns. «

Raine ließ ein Glucksen hören, das seine mächtige Brust erschütterte. »Dein Problem scheint darin zu bestehen, daß sie zu sehr an sich denkt. «

Stephen schüttelte bekümmert den Kopf. »Das Gegenteil ist der Fall. Sie denkt zu wenig an sich. zuweilen beschämt sie mich damit. Wenn es um ihren Klan geht, riskiert sie ihr Leben, weil sie das Wohl ihrer Leute höher achtet als sich selbst. «

»Und das bereitet dir Kummer? «

»Und wie! Warum muß sie nachts fremde Rinderherden überfallen, ihrem Gegner ihre Initialen auf die Brust schnitzen, sich in ihr Plaid rollen und unter freiem Himmel schlafen? Warum kann sie nicht. . nicht… «

»Ein schreckhaftes, rührendes kleines Ding sein, das ihren Mann anhimmelt und ihm die Hemden mit Initialen bestickt? « kam Raine ihm mit Vorschlägen zu Hilfe.

Stephen setzte sich schwerfällig auf einen Stuhl. »So will ich sie auch nicht haben. Aber es muß doch ein Mittelding zwischen beiden Extremen geben. «

»Willst du sie wirklich verändern? « fragte Raine. »Was hat sie denn an sich, daß du dich vom Fleck weg in sie verliebt hast? Sag nur nicht, es wäre ihre Schönheit gewesen. Du bist mit einer Reihe von schönen Frauen im Bett gewesen und hast dich trotzdem nicht in sie verliebt! «

»Sieht man mir das so deutlich an? «

»Mir, Gavin und Miles ist das sonnenklar; doch Alicia scheint daran zu zweifeln. Sie glaubt nicht, daß du wirklich an ihr hängst. «

Stephen seufzte. »Ich habe noch nie so einen Menschen wie sie getroffen, ob Mann oder Frau. Sie ist so stark, so nobel. In dieser Hinsicht steht sie einem Mann kaum nach. Du solltest einmal erleben, wie ihr Klan sie behandelt. Die Schotten sind nicht so wie wir. Die Kinder ihrer Leibeigenen laufen zu ihr, hängen sich an sie, und sie küßt alle Babies. Sie kennt die Namen aller ihrer Leute, und sie ruft sie bei ihren Vornamen. Sie spart sich das Essen vom Mund ab, damit ihre Leute satt werden. Eines Abends — wir waren eben einen Monat verheiratet — bemerkte ich, wie sie Brot und Käse in ihr Plaid ein wickelte. Sie achtete nicht auf mich, sondern sah immer nur zu Tam hin. Er ist ein Mann, der oft Vaterstelle bei ihr vertritt. Ich begriff, daß sie etwas tat, was Tam nicht wissen sollte, und nach dem Abendessen folgte ich ihr heimlich aufs Festland. Sie brachte die Nahrungsmittel einem kleinen Jungen, der seinen Eltern — Leibeigenen — ausgerissen war. «

»Und was hast du zu ihr gesagt? « fragte Raine.

Stephen schüttelte den Kopf, während die Erinnerung an diese Nacht in ihm lebendig wurde: »Ich, der große Weise, sagte ihr, sie sollte den Jungen zu seinen Eltern zurückschicken statt ihn zu ermutigen, von zu Hause wegzulaufen. «

»Und was sagte Alicia darauf? «

»Sie sagte, der Junge sei ihr ebenso wichtig wie dessen Eltern, und sie habe kein Recht, ihn zu verraten, nur weil er noch nicht erwachsen sei. Sie sagte, er würde in ein paar Tagen von sich aus wieder nach Hause zurückkehren und die Strafe akzeptieren, die ihm gebührte. «

Raine gab einen leisen, bewundernden Pfiff von sich. »Klingt so, als könntest du noch etwas von ihr lernen. «

»Als hätte ich das nicht schon getan! Sie hat mein ganzes Leben umgekrempelt. Als ich nach Schottland kam, war ich ein Engländer, und heute kann ich nicht einmal mehr meine englischen Kleider vertragen! «

Als Alicia ihr eigenes Schlafzimmer den beiden Männern überließ, ging sie zu Marys Gemach. Mary lag im Bett, Judith stand neben ihr und verteilte heiße Ziegelsteine auf dem Laken.

»Judith«, sagte Mary gelassen, »von einem bißchen Wasser sterbe ich nicht. « Sie sah Alicia an der Tür und lächelte. »Komm her und hilf mir Judith zu überzeugen, daß unsere Eskapade nicht lebensgefährlich war. «

Alicia lächelte den beiden Frauen zu und musterte Mary. Ihre Haut war noch blasser als vorhin, und auf ihrem Gesicht zeigten sich rote Flecken. »Es war nichts«, bestätigte sie, »doch ich beneide dich um deine Selbstbeherrschung. Ich fände jetzt keine Ruhe zum Schlafen. « Sie blinzelte Judith zu. »Ich bin so aufgeregt, weil Judith mir ein neues Kleid versprach, daß ich nicht einmal stillsitzen kann. «

Judith verstand sofort, daß Alicia nur einen Vorwand brauchte, und verließ das Zimmer.

»Glaubst du, sie wird sich wieder erholen? « fragte Judith, als die beiden Frauen draußen im Korridor waren.

»Ich denke schon. Sie benötigt nur absolute Ruhe. Mir scheint, eure Mary lebt nicht ganz in dieser Welt. Ein Teil von ihr gehört dem Himmel. Deshalb ist sie wohl auch so schwach. «

»Ja«, stimmte Judith ihr zu, »und was ist nun mit dem Kleid… «

»Das war doch nur ein Mittel zum Zweck. Mary hätte sich sonst gesträubt, den Tag zum Schlafen zu benützen. «

Doch eine Stunde später stand Alicia angekleidet vor Judith in deren Zimmer. Judith hatte nicht lockergelassen, bis Alicia das neue Kleid angezogen hatte. »Es ist wunderschön«, flüsterte Alicia. »Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll. Alle seid ihr so großzügig zu mir. «

Judith küßte sie lächelnd auf die Wange. »Ich muß mich jetzt um meine Arbeit kümmern. Vielleicht möchte Stephen dich in dem neuen Kleid sehen. «

Es war aus Seide und hatte die Farbe des Waldes bei Sonnenuntergang. Die Ärmel waren mit hellgrüner Seide unterlegt und mit einem breiten Saum aus rotem Fuchsfell versehen. Schwere, aus Gold geflochtene Schnüre waren an den Schultern befestigt und schmückten den tiefen, rechteckigen Ausschnitt.

Nachdem Judith sie verlassen hatte, warf Alicia einen mit Fuchsfell gefütterten Umhang über die Schultern und ging hinunter in den kalten Burghof. Sie strebte zu den Ställen hinüber.

»Alicia«, sagte eine fremde Männerstimme, als sie den dunklen Innenraum betrat.

Sie sah sich um und erkannte im Zwielicht den Mann, der sich heute am frühen Morgen mit Stephens Gefolgsmann gestritten hatte.

»Ja? « fragte sie kurz, »was willst du? «

Die Augen des Mannes funkelten im Zwielicht. »Das englische Gewand steht dir. « Und dann, in einem förmlicheren Ton verfallend: »Ich hörte, Ihr Schotten seid Meister mit dem Bogen. Vielleicht könnt Ihr« — und seine Stimme schien einen belustigten Tonfall anzunehmen — »mir beibringen, wie man mit einem Bogen besser schießen kann. «

Alicia überhörte das Lachen, das in der Stimme des Mannes anklang. Vielleicht wollte er damit Vorbeugen, wenn sie ihm die Bitte abschlug. Doch Alicia war daran gewöhnt, ihre Männer auch im Bogenschießen auszubilden. Und sie freute sich, daß ein Engländer etwas von den Schotten lernen wollte. »Ich gebe dir gern Unterricht«, sagte sie und stockte dann, als der Mann rasch aus dem Stall ging. Sie drehte sich um und lief direkt in Stephen hinein.

»Was hast du dem Mann versprochen? « fragte Stephen drohend.

Sie wehrte sich gegen seinen Griff. »Kannst du mit mir nie im freundlichen Ton reden? « klagte sie.

Er legte die Arme wieder fest um sie. »Alicia«, flüsterte er, »du wirst mir noch den Tod bringen. Warum mußtest du mitten im Winter in einen Teich mit eiskaltem Wasser springen? «

Sie stemmte sich gegen seine Brust. »Auf so eine Frage gebe ich dir keine Antwort. «

Er hob ihr Kinn und preßte seine Lippen auf die ihren. Seine Zähne gruben sich in ihren Mund. Er schien mehr von ihr zu verlangen als nur einen Kuß. »Ich habe dich so sehr vermißt«, flüsterte er. »Jede Minute habe ich an dich gedacht. «

Ihr Herz schlug heftig. Sie hatte ein Gefühl, als zerschmelze sie an seiner Brust. Doch seine nächsten Worte zerbrachen den Zauber.

»War das einer von Miles’ Männern, mit dem du eben geredet hast? «

Sie stemmte sich von ihm fort. »Spricht aus dir schon wieder die Eifersucht? «

»Alicia, nein, hör mich an! Ich möchte dich nur warnen. Die Engländer sind nicht wie deine Hochländer. Du kannst mit ihnen nicht so reden, als wären sie deine Brüder. In England schlafen die Edeldamen oft mit den Gefolgsleuten ihrer Ehemänner. «

Alicias Augen weiteten sich. »Beschuldigst du mich, ich hätte die Absicht, mit einem deiner Gefolgsmänner zu schlafen? « fauchte sie.

»Nein, natürlich nicht. Aber… «

»Doch eben das trautest du mir zu, als wir in Hugh Lascos Haus weilten! «

»Hugh Lasco ist ein Gentleman! « schnappte Stephen.

Alicia fuhr vor ihm zurück und funkelte ihn an. »Aha! « schäumte sie, »du gestehst mir zu, daß ich als Hure wenigstens einen Unterschied mache! « Sie wirbelte herum und strebte dem Ausgang zu.

Stephen packte ihren Arm. »Ich unterstelle dir nichts und werfe dir nichts vor. Ich versuche dir nur zu erklären, daß es Unterschiede zwischen England und Schottland gibt. «

»Oh! Und ich bin zu dumm dazu, den Unterschied zwischen zwei Ländern erkennen zu können. Du bist lernfähig, ich jedoch nicht! «

Plötzlich verschwamm ihr alles vor den Augen. Sie war nicht gewöhnt, sich unwohl zu fühlen. Sie dachte an die vielen Krankheiten, die in England grassierten. Sie verließ rasch den Stall und lehnte sich draußen an die Mauer, als Judith ihr mit einem Korb entgegenkam.

»Alicia! « rief Judith erschrocken und stellte ihren Korb ab. »Ist dir nicht gut? « Sie legte die Hand auf die Stirn ihrer Schwägerin. »Komm, setz dich einen Augenblick«. Sie schob ein Faß heran, das an der Stallwand stand. »Atme tief ein, und der Schwindel wird wieder vergehen. «

»Was wird vergehen? « fragte Alicia schroff.

»Der Schwindelanfall — oder willst du etwas von den frischen Broten essen, die ich hier im Korb habe? «

»Nein«, sagte Alicia kopfschüttelnd, »schon bei dem Gedanken an Essen wird mir schlecht. «

»Siehst du? « sagte Judith lächelnd, »dann war meine erste Vermutung richtig. Du bekommst ein Baby! « Sie strich sich stolz über ihren eigenen Leib. »Wir werden es ungefähr zur gleichen Zeit bekommen. «

»Du! Du wirst auch ein Kind haben? «

Judith antwortete mit einem versonnenen Lächeln auf dem Gesicht. »Ja. Ich… verlor mein erstes Baby. Es war eine Fehlgeburt. Deshalb bin ich bei diesem besonders vorsichtig. Ich habe es niemandem verraten — nur Gavin natürlich. «

»Natürlich«, wiederholte Alicia und sah zum Stall hin, wo Stephen noch mit seinem Pferd beschäftigt sein mußte. »Wann ist es denn soweit? «

»In sieben Monaten«, erwiderte Judith mit einem glücklichen, leisen Lachen.

Alicia saß einen Moment still. Ein Baby, dachte sie, so ein süßes, weiches Ding, wie Kirsty es bekommen hatte! Ihr Bewußtsein schien sich selbständig zu machen, denn sie merkte gar nicht, wie sie aufstand und wie in Trance über den Hof ging. Sie dachte an Tam und wie stolz er auf sie sein würde. Sie lächelte verträumt, als sie sich vorstellte, wie Stephen die Nachricht aufnehmen mußte. Er würde überglücklich sein, sie packen, in die Luft werfen und sie lachend wieder auffangen! Und dann würden sie sich streiten, ob das Kind MacArran oder Montgomery heißen sollte. Selbstverständlich würde das Kind ein MacArran sein.

Sie merkte gar nicht, wie sie durch das offene Tor ging. Die Männer auf den Mauern warnten sie nicht oder behinderten in irgendeiner Weise ihre Bewegungsfreiheit.

Vielleicht wurde es eine Tochter. Dann bekam der Klan MacArran zweimal hintereinander eine Frau als Laird. Sie würde ihrer Tochter alles beibringen, was man als Laird beherrschen muß.

»Mylady«, sagte eine Stimme.

Alicia war immer noch wie in Trance. Sie achtete der Stimme nicht. Sie wußte gar nicht, daß sie schon so weit gegangen war, daß die Wächter auf der Burgmauer sie nicht mehr sehen konnten.

»Mylady«, wiederholte die Stimme, »ist Euch nicht gut? «

Alicia sah zu dem Reiter mit einem engelhaften Lächeln hinauf. »Mir geht es gut«, sagte sie mit großer Wärme. »Mir geht es sogar sehr gut. «

Sie dachte wieder an das Kind. Morag würde sich freuen, wenn sie noch ein Baby großziehen durfte. Und dann spürte sie plötzlich die Lippen des Reiters an ihrem Ohr. Diese Berührung weckte sie aus ihrem Tagtraum.

Sie sprang von ihm fort. »Was erlaubt Ihr Euch! « keuchte sie. Kein Mann außer Stephen hatte je gewagt, sie anzufassen, wenn sie das nicht ausdrücklich gestattete. Sie sah sich rasch um und merkte nun, wie weit sie von der Burg entfernt war.

Richard legte ihren Blick falsch aus. »Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen«, schnurrte er. »Wir sind ganz allein. Lord Gavin kam eben aus Schottland zurück, und so sind sie alle mit sich selbst beschäftigt. Wir haben Zeit. «

Sie wich vor ihm zurück. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Stephens Warnung war wie ein Schrei in ihr. Und die Sorge um das Baby stand nun obenan. Daß nur dem Baby nichts passierte!

»Ihr habt keinen Grund, Euch vor mir zu fürchten«, sagte Richard mit honigsüßer Stimme. »Wir können viel Spaß miteinander haben. «

Alicia richtete sich stolz auf. »Ich bin Alicia MacArran, und Ihr habt sofort zur Burg zurückzukehren! «

»MacArran! « Richard lachte. »Die Männer erzählten mir, Ihr seid eine unabhängige Frau. Doch ich hätte nicht geglaubt, daß Ihr sogar Euren eigenen Mann zu Eurer Puppe machen würdet! «

»Ihr seid beleidigend! Und nun geht und laßt mich allein! «

Richards Lächeln wurde zu einer starren Maske. »Glaubt Ihr, ich würde Euch in Ruhe lassen, nachdem Ihr so heftig mit mir geflirtet habt? Ihr habt mich als Begleiter heute morgen ausgesucht. Ich wette, Ihr habt zutiefst bereut, daß wir nicht unbeobachtet blieben! «

Er strich über ihre Haare. Sein kleiner Finger berührte ihre Brust.

Sie sah ihn entsetzt an. »An so etwas habt Ihr dabei gedacht? Daß ich mit Euch allein sein wollte? « Sie blickte sich nach Rab um.

»Ich habe zur Vorsicht Euren Hund in der Scheune eingesperrt«, sagte Richard mit selbstgefälligem Lächeln. »Und nun ziert Euch nicht so. Ihr wißt, daß Ihr mich genauso begehrt wie ich Euch. «

Und damit preßte er den Mund auf ihre Lippen, während er sie mit einer Hand bei den Haaren festhielt.

Alicia stöhnte und stieß mit dem Knie den Mann in die Lenden.

Richard stöhnte und ließ sie los.

Alicia versuchte, in ihrem schweren Kleid von dem Mann fortzulaufen. Doch ihre Füße verfingen sich in den weiten Röcken. Sie schlug der Länge nach hin, und im nächsten Moment spürte sie, wie eine Hand über ihre Beine strich. Sie versuchte, sich gegen diese Hand zu wehren. Doch Richard drückte sie auf den Boden nieder und riß die Röcke entzwei, bis sie mit entblößten Beinen auf der harten Erde lag.

»Jetzt wollen wir sehen, ob wir dein Feuer noch ein bißchen anheizen können! « sagte Richard und drückte den Mund auf ihren Nacken.

Im nächsten Moment schrie er auf, als eine Masse aus grauen Haaren und scharfen Zähnen gegen ihn prallte. Alicia rollte von dem Mann weg, der aufzustehen versuchte, um sich gegen den Angriff des Wolfshundes zur Wehr setzen zu können.

Ein Arm stemmte sie vom Boden hoch. Miles zog sie zu sich heran, hielt sie mit einem Arm, während er das gezogene Schwert mit der rechten Hand hob. »Ruf deinen Hund zurück«, sagte er ruhig.

Alicia befahl mit bebender Stimme: »Rab! «

Der Hund ließ widerstrebend von Richard ab und kam an die Seite seiner Herrin.

Richard versuchte, aufzustehen. Das Blut lief ihm vom Arm und vom Schenkel. Seine Kleider waren an mehreren Stellen zerrissen. »Dieser verdammte Hund griff mich grundlos an! « schimpfte er. »Lady Alicia stürzte, und ich hielt bei ihr an, um ihr wieder auf die Beine zu helfen. «

Miles trat von seiner Schwägerin fort. Seine Augen waren hart wie Stahl. »Du faßt mir keine Frau eines Montgomerys an«, sagte er mit einer tödlichen Stimme.

»Sie kam zu mir! « sagte der Mann. »Sie wollte etwas von mir… «

Es waren die letzten Worte, die er auf dieser Erde sprach. Miles’ Schwert ging ihm mitten durchs Herz. Miles warf nicht einmal mehr einen Blick auf den Toten, der zu seinen eigenen Gefolgsleuten gehört hatte. Er wandte sich Alicia zu und schien zu spüren, was sie empfand — Hilflosigkeit und Erniedrigung.

Er legte sacht den Arm um sie und zog sie an sich. »Ihr seid jetzt sicher«, sagte er ruhig. »Niemand wird es noch einmal wagen, Euch zu belästigen. «

Plötzlich begann sie am ganzen Körper zu zittern und Miles zog sie noch enger an sich. »Er sagte, ich hätte ihn ermutigt«, flüsterte sie.

»Gemach«, antwortete Miles, »ich habe ihn beobachtet. Er hat nicht verstanden, daß Ihr als Schottin mit den Leuten anders umzugehen pflegt als wir. «

Alicia sah ihn betroffen an. »Genau das gleiche hat Stephen zu mir auch gesagt. Er warnte mich davor, mit Männern zu reden. Er meinte, die Engländer würden das nicht verstehen, wenn ich mit ihnen redete! «

Miles strich ihr die Haare aus der Stirn. »Es herrscht eine gewisse Distanz zwischen einer englischen Lady und den Gefolgsmännern ihres Gatten, die es in Eurer Kultur nicht gibt.

Nun laßt uns zurückreiten zur Burg. Ich bin überzeugt, jemand hat gesehen, wie ich Eurem Hund nachritt. «

Sie sah auf den toten Mann an ihrer Seite nieder. »Er sperrte meinen Hund ein, und das habe ich nicht einmal gemerkt. Ich war… « Sie konnte niemand etwas vom Baby verraten, ehe Stephen es nicht wußte.

»Ich hörte das Winseln und befreite ihn. Er bellte wie verrückt und hielt die Nase an den Boden. « Er betrachtete voller Bewunderung den mächtigen Hund. »Er wußte, daß Ihr in Schwierigkeiten wart. «

Sie kniete sich nieder und rieb ihr Gesicht an seinem rauhen Fell.

Sie drehten sich beide um, als sie Hufschläge hörten. Gavin und Stephen kamen im Galopp auf sie zu. Stephen glitt bereits aus dem Sattel, ehe sein Pferd zum Stehen kam. »Was war hier los? « forschte er.

»Dieser Mann versuchte, Alicia Gewalt anzutun«, sagte Miles.

Stephen funkelte seine Frau an. Er betrachtete die Schürfwunde an Wange und Beinen, die zerrissenen Röcke. »Ich habe es dir gesagt«, sagte er durch zusammengebissene Zähne. »Ich habe dich gewarnt, aber du willst ja nicht auf mich hören. «

»Stephen«, sagte Gavin und legte seinem Bruder die Hand auf den Arm. »Jetzt ist nicht die richtige Zeit dafür. «

»Nicht die richtige Zeit! « explodierte Stephen und betrachtete seine Frau mit düsterem Blick. »Noch keine Stunde ist es her, daß sie mir alle meine Fehler herbetete. Hast du einen Mann mit geringeren Makeln entdeckt? Hast du ihn tatsächlich ermuntert? «

Ehe noch jemand etwas zu ihm sagen konnte, hatte sich Stephen wieder abgewendet und bestieg sein Pferd. Alicia, Miles und Gavin sahen ihm hilflos nach, als er zur Burg zurückritt.

»Dafür sollte er ausgepeitscht werden«, meinte Miles mit einer Mischung aus Ernst und Spottlust.

»Still! « befahl Gavin. Er wandte sich Alicia zu. »Er ist aufgeregt und verwirrt. Du mußt ihm das verzeihen. «

»Er ist eifersüchtig! « flüsterte Alicia heftig. »Diese grundlose Eifersucht verwandelt ihn in einen Wahnsinnigen. « Sie fühlte sich schwach und besiegt. Er sorgte sich nicht um sie. Seine ganze Sorge galt nur seiner Eifersucht.

Gavin legte den Arm schützend um ihre Schultern. »Komm mit nach Hause und laß dir von Judith etwas zu trinken geben. Sie kann ein köstliches Apfelgetränk zubereiten. «

Alicia nickte benommen und gestattete, daß Gavin sie auf Miles’ Pferd hob.