9. Kapitel

Alicia ging langsam über den Hof. Drei Tage hatte sie nach dem Tod ihrer Männer zum Nachdenken Zeit gehabt. Daveys Worte gingen ihr nicht mehr aus dem Sinn. Jede Minute wurde ihr deutlicher bewußt, daß ihre Männer sich Stephen zuwandten. Es war ganz natürlich, daß sie sich einem Mann unterordnen wollten, da sie erst vor Monaten noch hinter Jamie MacArran geritten waren. Doch Alicia traute keinem Engländer. Sie hatte als Gefangene bei Sir Thomas Crichton reichlich Gelegenheit, sie zu studieren.

Was Stephen betraf, war er vom Tod seines Freundes zutiefst erschüttert. Er redete kaum mit ihr, und zuweilen ertappte ihn Alicia dabei, wie er ins Leere starrte. Gleich nach dem Tod der vier Männer hatte er Anweisung gegeben, die Sachen für die Reise nach England zu packen. Er sagte, er wollte Chris’ Leiche zu seiner Familie zurückbringen.

Nachts, wenn sie allein waren, lagen sie Seite an Seite, ohne sich zu berühren, ohne miteinander zu reden. Der Anblick ihrer toten Männer war für sie ein ständiger Alptraum. Sie fragte sich, wie ihr Vater damit fertiggeworden war, wenn ein Fehler ihn das Leben von Männern gekostet hatte, die er liebte. Sie spürte, wie sich ein Knoten in ihrem Hals zusammenzog. Der Laird eines Klans weint nicht. Sie mußte stark sein und durfte das Alleinsein nicht fürchten.

Neben ihrer Last, ihrer Schuld, bedrückte sie noch Daveys Vorschlag. Sie kannte den Stolz ihres Bruders. Sie wußte, wie schwer es ihm gefallen war, sie um etwas zu bitten. Doch wie konnte sie ihm Stephen in die Hände liefern?

Sie preßte die Hände gegen die Ohren. Sie wollte das Richtige tun, allen gerecht werden. Aber was war richtig?

Sie sattelte ihr Pferd und verließ die Halbinsel, um sich mit Davey zu treffen.

Davey starrte sie einen Moment mit brennenden, durchbohrenden Augen an. Als Alicia auf ihre Hände niedersah, wußte er, wie sich sich entschieden hatte.

»So! « sagte er, und seine Augen nahmen einen unversöhnlichen Ausdruck an, »du stellst deinen Liebhaber über deinen Klan! «

Sie sah ihn fest an. »Du weißt, das ist nicht wahr. «

»Dann darf ich daraus schließen«, schnaubte er, »daß ich es bin, dem du nicht traust. Ich hoffte, du würdest mir die Chance geben, dir zu beweisen, daß ich gereift bin. Daß ich nicht mehr der schreckliche Junge bin, der seinen Vater verfluchte. «

»Ich will das ja, Davey«, sagte sie ruhig. »Ich will das Richtige für jeden tun. «

»Aber das tust du ja gar nicht, verdammt noch mal! « brauste er auf. »Du hast nur deinen Vorteil im Sinn. Du hast Angst vor meiner Heimkehr. Du fürchtest, die Männer werden mir folgen, dem wahren MacArran. « Er drehte sich zu seinem Pferd.

»Davey, bitte, ich will nicht, daß wir so auseinandergehen. Komm mit mir nach Hause. Wenigstens für eine Weile. «

»Und zusehen, wie meine Schwester den mir zustehenden Platz im Klan ausfüllt? « höhnte er. »Nein, vielen Dank. Ich bin lieber König meines eigenen armen Königreiches als Diener in einem anderen. « Er sprang in den Sattel und sprengte davon.

Alicia wußte später nicht mehr, wie lange sie einsam auf der Klippe verweilt und vor sich hingestarrt hatte.

»Wer war das? « fragte Stephen behutsam.

Sie sah hoch und war nicht überrascht, daß Stephen neben ihr stand. So oft war er schon in ihrer Nähe gewesen, ohne daß sie sich seiner Gegenwart bewußt geworden war. »Mein Bruder«, sagte sie leise.

»Davey? « fragte er interessiert und sah dem galoppierenden Pferd nach.

Sie sagte nichts darauf.

»Hast du ihn gebeten, nach Larenston zu kommen? « fuhr er fort. »Hast du ihm gesagt, daß die Tore für ihn stets offen stehen? «

»Du mußt mir nicht sagen, was ich meinem eigenen Bruder mitzuteilen habe. « Sie wandte sich ab, Tränen in den Augen.

Er faßte sie am Arm. »Es tut mir leid. Es war nicht so gemeint. «

Sie wollte sich von ihm lösen, doch er riß sie an sich.

»Es war falsch von mir, dich zu verfluchen, als ich Chris’ Leiche fand«, sagte er leise. »Ich war nur so wütend, daß ich irgend jemand dafür anprangern mußte. Ich tat dir unrecht. «

Sie preßte ihr Gesicht an seine Brust. Sie sehnte sich nach seiner Umarmung. »Nein! Du hattest recht! Ich habe deinen Freund und meine Männer getötet. «

Er zog sie an sich und spürte, wie sie am ganzen Körper zitterte. Ihre Schultern waren so schmal und zerbrechlich. »Nein, die Verantwortung ist zu groß für dich. « Er hob ihr Kinn an. »Schau mir in die Augen. Ob du es glaubst oder nicht — wir teilen uns die Last. Ich trage auch einen Teil der Schuld am Tod dieser Männer. «

»Aber ich allein habe schuld! « sagte sie verzweifelt.

Er legte ihr den Finger auf die Lippen und spähte in ihr Gesicht. »Du bist so jung, nicht einmal zwanzig; doch du versuchst, für Hunderte von Leuten zu sorgen, sie selbst vor mir zu schützen — vor einem Mann, der ja auch, wie du glaubst, ein Spion sein könnte. «

Er lachte, als ihr Gesicht sich veränderte. »Ich fange an, dich zu verstehen. Im Augenblick denkst du, ich habe noch andere Motive, so mit dir zu reden. Du glaubst, ich plante einen Verrat und möchte dich nur mit süßen Worten einlullen. «

Sie wich vor ihm zurück. Seine Worte trafen ihre Gedanken so genau, daß sie fast erschrak über seine Fähigkeit, sie zu lesen.

Er lachte tief und leise. »Bin ich meiner Heimat zu nahe? Du möchtest, daß ich ein Fremder bleibe in deinem Klan, nicht wahr? Jemand, den du unbeschwert hassen kannst. Ich habe nicht vor, dich so lange alleinzulassen, daß du vergißt, daß ich vor allem ein Mann bin — nicht nur ein Engländer. «

»Du — du redest Unsinn. Ich muß nach Larenston zurück. «

Er achtete nicht auf ihre Worte, sondern setzte sich ins Gras und zog sie neben sich nieder. »Morgen brechen wir nach England auf. Was ist das für ein Gefühl für dich, meine englische Familie kennenzulernen? «

Sie starrte ihn an. »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. « Ihre Augen sprühten blaue Blitze, als sie sich wieder ihrer Gefangenschaft in Thomas Crichtons Haus entsann. »Ich mag die Engländer nicht. «

»Du kennst sie nicht! « gab Stephen heftig zurück. »Du hast nur den Abschaum kennengelemt. Ich schämte mich meiner Landsleute, als ich sah, wie du in Sir Thomas’ Haus behandelt wurdest. «

»Aber keiner deiner Landsleute ließ mich in meinem Hochzeitskleid am Traualtar warten. «

Er lachte glucksend. »Das wirst du mir wohl nie verzeihen, wie? Vielleicht verzeihst du mir, wenn du meine Schwägerin Judith kennenlernst. «

»Wie… wie ist sie? « fragte Alicia vorsichtig.

»Schön! Gütig und von angenehmem Wesen. Klug. Sie leitet Gavins Geschäfte. König Heinrich hatte eine hohe Meinung von ihr. Er hat sie mehr als einmal um Rat gefragt… «

Alicia seufzte schwer. »Es ist gut zu hören, daß jemand seine Pflichten nicht vernachlässigt und fähig ist für ein Regiment. Ich wünschte, mein Vater hätte eine Tochter, die den Titel Laird verdiente. «

Er lachte und zog sie auf das Gras nieder. »Als Frau bist du eine außergewöhnlich befähigte Klanchefin. «

Sie blinzelte. »Als Frau? Soll das heißen, du hältst keine Frau dazu befähigt, Anführer eines Klans zu sein? «

Er zuckte mit den Achseln. »Jedenfalls nicht eine so blutjunge und hübsche Frau, die auf ihr Amt nicht richtig vorbereitet ist. «

»Nicht richtig vorbereitet! Ich habe mein ganzes Leben nur mit Lernen verbracht! Du weißt, daß ich besser lesen und rechnen kann als du! «

Er lachte. »Zum Regieren von Männern gehört mehr als nur das Zusammenrechnen von Zahlen. « Er sah sie einen Moment ernst an. »Du bist so schön! « Er beugte sich vor und küßte sie.

»Laß mich in Ruhe! Du bist ein unerträglicher, engstirniger schwachsinniger… « Sie schwieg still, weil seine Hände ihre Beine streichelten.

»Ja«, flüsterte er an ihrem Mund. »Was bin ich? «

Die beiden glaubten sich allein, waren es aber nicht. Davey MacArran stand auf dem Hügel über ihnen und sah zu, wie die beiden sich auf dem kalten Boden umarmten. »Diese Hure! « flüsterte er. Sie stellt ihre Lust über das Wohl ihres Bruders. Und von dieser Hure glaubte Jamie MacArran, sie sei würdiger, ein Laird zu sein als er.

Er drohte mit der Faust den beiden, die nur sich sahen. Er würde es ganz Schottland zeigen, wer der mächtigste Mann im Land war — der wahre Chef des Klans MacArran.

Die Sonne war gerade aufgegangen, als die Wagen den steilen Pfad zum Festland hinunterrollten. Stephens Männer, nun braun von Sonne und Wind, kaum noch zu unterscheiden von Alicias Schotten, ritten neben ihm. Es war ein stiller Trupp, der um den Ausgang der Reise bangte. Die Wagen waren beladen mit englischen Kleidern, und Alicias Männer überlegten, ob sie in der englischen Gesellschaft nicht aneckten.

Alicia hatte ihre eigenen geheimen Sorgen. Morag hatte ihr einen langen Vortrag gehalten, als sie von Daveys Plan erfuhr. »Daß du mir nicht auf so was hereinfällst«, hatte sie geschimpft und mit ihren knochigen Fingern auf Alicia gezeigt. »Er war schon immer ein hinterlistiger Bursche, schon als kleines Kind. Er will Larenston haben, und er wird vor nichts zurückschrecken, um dieses Ziel zu erreichen. «

Alicia hatte ihren Bruder verteidigt. Doch Morags Warnung wollte ihr nicht aus dem Kopf. Sie sah sich immer wieder vorsichtig um.

»Nervös? « fragte Stephen neben ihr. »Das ist nicht nötig. Ich bin überzeugt, meine Familie wird dich mögen. «

Sie brauchte eine Minute, um zu begreifen, wovon er redete. Dann steckte sie hochmütig die Nase in die Luft. »Du solltest dir eher Gedanken darüber machen, ob die MacArran deine Familie mag«, sagte sie und spornte ihr Pferd an.

Die Sonne ging wieder unter, als der erste Pfeil knapp an Alicias linkem Ohr vorbeischwirrte. Eben erst hatte sie in ihrer Wachsamkeit nachgelassen und sich ihrer Ängstlichkeit wegen gescholten. Nun begriff sie zunächst nicht, was da geschah.

»Attacke! « schrie Stephen, und binnen Sekunden hatten seine Männer einen Kreis um sie gezogen, die Waffen bereit zum Einsatz. Alicias Männer glitten von den Pferden, warfen ihre Plaids ab und schwärmten in den Wald aus.

Sie saß wie benommen auf ihrem Pferd, als sie einen Mann nach dem anderen zu Boden gehen sah.

»Alicia! « schrie Stephen, »reite, so schnell du kannst! «

Sie gehorchte ihm sofort. Die Pfeile flogen nur so um sie her. Einer schrammte ihre Hüfte, und ihr Pferd schrie, als ein Schaft ihm die Haut verbrannte. Nun wurde es ihr jählings bewußt, weshalb sie betäubt gewesen war. Die Pfeile galten alle ihr. Und einer der Bogenschützen, den sie in einem Baumwipfel entdeckt hatte, gehörte zu den Männern, die damals ihrem Bruder Davey aus der Halls ins Exil gefolgt waren. Ihr Bruder versuchte sie umzubringen!

Sie beugte sich weit über den Hals des Pferdes und trieb es vorwärts. Diesmal brauchte sie sich nicht umzudrehen, um sich zu vergewissern, wer auf dem Pferd saß, das mit donnernden Hufen zu ihr aufschoß. Zum erstenmal hatte sie kein Bedenken, ihm ganz zu trauen.

Er schoß an ihr vorbei, und sie folgte ihm, während er sie wegführte von den fliegenden Pfeilen. Und dann wurde das Pferd ihr unter dem Leib erschossen, und sie schrie.

Ehe das Pferd zusammenbrach, war er schon bei ihr und hob sie aus dem Sattel. Sie duckte sich vor ihm auf den Hals des Hengstes, während sie rasch über ein unbekanntes, wildes Land ritten. Alicia spürte, wie der Hengst unter ihr langsam ermattete.

Plötzlich knickte Stephen nach vorn und legte sich schwer auf ihren Rücken. Sie griff instinktiv nach dem Zügel und riß ihn nach rechts. Das Pferd verließ den schmalen Pfad und lief unter die Bäume. Sie wußte, daß sie Stephen vom Pferd heben mußte, ehe er aus dem Sattel stürzte. Sie konnte unter den Bäumen nicht schnell reiten; aber vielleicht fand sie irgendwo eine Stelle, die sich als Versteck eignete.

Sie hielt das Pferd mit einem Ruck an. Stephens lebloser Körper fiel zu Boden, ehe Alicia aus dem Sattel springen konnte. Sie sog scharf die Luft ein, als sie das Blut an seinem Hinterkopf sah, wo ein Pfeil ihn gestreift hatte. Sie hörte schon die Verfolger, hatte keine Zeit zum Nachdenken. Der Waldboden war mit vertrockneten Blättern bedeckt. Da kam ihr eine Idee.

Sacht führte sie das Pferd von Stephen weg. Sie durfte nicht riskieren, das Tier mit einem Peitschenhieb anzutreiben. So nahm sie ihre Brosche und stach das Tier mit der Nadel in die Hinterbacke. Sogleich galoppierte es von ihr weg. Sie rannte zu Stephen zurück, ließ sich auf Hände und Knie fallen und schob ihn an einen umgestürzten Baum. Dann bedeckte sie ihn mit vertrockneten Blättern. Das Plaid in den Farben des Herbstlaubs Tamte ihn vorzüglich. Sie legte sich neben ihn und grub sich ebenfalls in die Blätter ein.

Sekunden später war sie von stampfenden, wütenden Männern umgeben. Sie drückte Stephen an sich und hielt ihm den Mund zu, falls er aus seiner Ohnmacht erwachte.

»Verdammnis über sie! «

Sie hielt die Luft an. Daveys Stimme würde sie überall wiedererkennen.

»Sie hatte schon immer sieben Leben wie eine Katze! Die werde ich ihr alle der Reihe nach nehmen«, fügte er heftig hinzu. »Und diesen Engländer, den sie zum Mann hat! Ich werde König Heinrich zeigen, daß die Schotten Schottland regieren! «

»Dort ist ihr Pferd! « rief eine andere Stimme.

»Los! « befahl Davey, »sie kann nicht weit gekommen sein! «

Es dauerte lange, ehe sich Alicia von ihrer Betäubung erholt hatte. Sie hoffte, daß ihre Männer jeden Moment zu ihrer Rettung herbeieilen würden. Doch als sich nach einer Stunde immer noch nichts regte, gab sie die Hoffnung auf.

Es war bereits dunkle Nacht, als Stephen stöhnend erwachte.

Er starrte zu ihr hinauf. Im Mondlicht wirkten seine Augen wie Silber. Sie beugte sich besorgt über ihn. »Wer bin ich? « hauchte sie leise.

Sein Gesicht war ernst, als denke er angestrengt nach.

»Ein blauäugiger Engel, der mein Leben gleichzeitig zum Paradies und zur Hölle macht. «

Sie stöhnte vor Empörung: »Du bist unglücklicherweise immer noch der gleiche. «

Stephen brachte ein klägliches Grinsen zustande und versuchte, sich aufzusetzen. Er hob eine Braue, als Alicia einen Arm um seinen Brustkorb schob, um ihn zu stützen. »Sind die Neuigkeiten so schlimm? « fragte er und rieb sich mit den Fingern die Schläfe.

»Was meinst du damit? « fragte sie mißtrauisch.

»Wenn du mir helfen willst, müssen die Neuigkeiten schlimmer sein, als ich ahnte. «

Sie wurde steif. »Ich hätte dich nicht mit Blättern zudecken, sondern sie auf deine Fährte führen sollen. «

»Mein Kopf bringt mich um. Ich fühle mich nicht zum Streiten aufgelegt. Und was, beim Satan, habt Ihr mit meinem Rücken gemacht? Ihn mit Stahlstiften gespickt? «

»Ihr fielt vom Pferd«, sagte sie nicht ohne Genugtuung. »Doch sollte ich wohl lieber beim Anfang beginnen. «

»Ihr erwieset mir einen großen Gefallen, wenn Ihr das tätet«, sagte er, sich mit einer Hand den Kopf, mit der anderen den Rücken reibend.

Sie berichtete ihm so kurz und bündig wie möglich von Daveys Plan, Stephen zu kidnappen.

»Und du warst zweifellos mit seinem Plan einverstanden«, sagte er böse.

»Natürlich nicht! «

»Aber wenn du mich losgeworden wärst, hätten sich doch deine Probleme von selbst gelöst. Ich verstehe gar nicht, warum du dich weigertest, mitzumachen. «

»Ich weiß es auch nicht«, sagte sie leise.

»Seine Argumente waren logisch, und der Plan ausgezeichnet. «

»Ich weiß es nicht! « Sie senkte den Kopf. »Vielleicht habe ich ihm nicht ganz getraut. Als wir uns hier unter dem Laub versteckten, hörte ich ihn sagen… er wollte uns beide töten. «

»Das dachte ich mir. «

»Wie konntest du! «

Er berührte eine Locke an ihrer Schläfe. »Eine reine Vermutung, die mir kam, als ich die Pfeile zählte, die auf dich gezielt waren. Und dann die Taktik, uns von unserer Begleitung zu trennen. Das hat dich sehr mitgenommen, wie? «

Ihr Kopf ruckte hoch. »Was würdest du sagen, wenn einer deiner Brüder eben versuchte, dich umzubringen? «

Sogar in der Dunkelheit vermochte sie zu erkennen, wie sein Gesicht erblaßte. Seine Augen waren starr vor Entsetzen. »Eine unmögliche Vorstellung«, murmelte er. Er sah sich um. »Wo sind wir? «

»Ich habe keine Ahnung. «

»Was ist mit unseren Männern? Sind die in der Nähe? «

»Woher soll ich das wissen? Ich bin nur eine Frau, weiß nichts von der Taktik der Männer. «

»Alicia! « sagte er warnend.

»Ich weiß wirklich nicht, wo wir sind. Wenn die Männer uns nicht finden können, kehren sie nach Larenston zurück, wohin wir uns auch so rasch wie möglich begeben sollten. « Sie legte den Kopf auf die Seite. »Still! « flüsterte sie erregt. »Da kommt jemand! «

Alicia faßte ihn bei der Hand und zog ihn über die Kuppe eines kleinen Hügels hinweg. Dort versteckten sie sich im Laub und beobachteten zwei Männer, die offenbar auf Jagd waren, nicht auf der Suche nach einem verlorengegangenen Laird und dessen Gatten.

Stephen wollte sich erheben und etwas zu den Männern sagen; doch Alicia hinderte ihn zu seinem Erstaunen daran. Als die Männer außer Hörweite waren, wandte er sich ihr zu: »Das waren nicht Daveys Männer. «

»Schlimmer«, sagte sie, »das waren die MacGregors. «

»Sag nur nicht, du kennst die MacGregors persönlich! «

Sie schüttelte den Kopf über seine Dummheit. »Die Kokarden an ihren Hüten hatten die Farben und Embleme des MacGregor-Klans. «

Er warf ihr einen bewundernden Blick zu. Sie konnte auch in der Dunkelheit ausgezeichnet sehen. Er lehnte sich gegen einen Baum und seufzte. »Wir haben keine Waffen, keine Pferde, keine Nahrungsmittel und kein Gold. Dein Bruder macht Jagd auf uns, und die MacGregors, auf dessen Land wir uns jetzt befinden, klatschten vor Vergnügen, wenn unsere Köpfe dem Klanboss auf einem silbernen Tablett serviert würden. «

Alicia betrachtete sein Profil und konnte ein leises Kichern nicht unterdrücken. Stephen sah sie verwundert an und mußte ebenfalls lächeln.

»Hoffnungslos, nicht wahr? «

»Ja«, sagte sie, und ein Funke tanzte in ihren Augen.

»Natürlich ist es keinesfalls zum Lachen. «

»Selbstverständlich nicht. «

»Aber komisch ist es doch, wie? « Er lachte.

Sie fiel in sein Gelächter ein. »Höchstwahrscheinlich werden wir morgen früh tot sein — so oder so. «

»Was möchtest du also gern in deiner letzten Nacht auf Erden treiben? « fragte er, und in seinen blauen Augen schimmerte das Mondlicht.

»Jemand könnte jeden Moment über uns stolpern«, sagte sie ziemlich ernsthaft.

»Hm. Sollen wir dafür sorgen, daß sie auch was zu sehen bekommen? «

»Was zum Beispiel? «

»Zwei ausgelassene, außerordentlich glückliche und splitternackte Waldgeister. «

Sie zog das Plaid eng an sich und sagte züchtig: »Es ist aber schrecklich kalt — meinst du nicht auch? «

»Da ist es nur logisch, daß man das bißchen Wärme, was man hat, zusammenlegt. «

»In diesem Falle… « Sie machte einen Satz und landete auf seinem Bauch.

Stephen keuchte überrascht und lachte dann. »Ich denke, ich hätte dich schon viel früher auf das Land von MacGregor bringen sollen. «

»Still, Engländer! « befahl sie, während sie den Kopf senkte und ihn küßte.

Sie schienen beide vergessen zu haben, daß sie sich auf der Schräge eines ziemlich steilen Hügels befanden. Sie hatte sich eben ihres Rockes entledigt, und er zog sein Hemd aus, als sie von seiner Seite wegrollte. Er wollte sie festhalten, doch seine Sinne waren von Leidenschaft getrübt. Er verfehlte sie, und sie landeten beide am Fuße des Abhangs in einem Haufen aus Laub. Zwei Nackte suchten im wirbelnden Laub sich zurechtzufinden.

»Hast du dir weh getan? « fragte Stephen besorgt.

»Noch nicht. Aber wenn du dein Bein nicht von meinem Hals nimmst, werde ich bald erstickt sein. «

»Nun — dann weiß ich Bescheid«, sagte er und schob sie so, daß sie ganz unter ihm lag. »Du hast dich ja noch nie darüber beschwert, daß ich zu schwer für dich wäre«, sagte er, während er an ihrem Ohrläppchen knabberte.

Sie lächelte mit geschlossenen Augen. »Es gibt Zeiten, wo du so gut wie gar nichts wiegst. «

Er bewegte seine Lippen an ihrem Hals nach unten.

Plötzlich landete etwas Großes, Schweres auf seinem Rücken. Er brach auf ihrem Körper zusammen und stemmte sich schnell wieder mit den Armen hoch, um sie zu beschützen. »Tod und Verdammnis! «

»Rab! « rief Alicia und schlüpfte dann unter Stephens Körper hervor. »Oh, Rab«, rief sie überglücklich und begrub ihr Gesicht in seinem Fell.

Stephen setzte sich auf die Fersen zurück. »Als wäre mein Rücken nicht schon genug geschunden«, klagte er.

Rab bewegte sich von Alicia weg und sprang Stephen gegen die Brust. Stephen umarmte den mächtigen Hund, der ihm das Gesicht mit seiner großen Zunge abschleckte.

»Na, du solltest dich was schämen! « rief Alicia lachend. »Schimpfst den Hund aus, wo er dich so sehr liebt! «

»Er sollte ein bißchen mehr Rücksicht auf meine Liebe nehmen. Laß mich los, Rab! Platz! Du erstickst mich ja. Hier, Junge, such! « Stephen schleuderte einen imaginären Stock in die Dunkelheit hinein. Der Hund rannte glücklich hinterher.

»Das war gemein! Er wird stundenlang danach suchen. Er möchte so gern gefällig sein! «

Stephen faßte nach ihren Handgelenken. »Ich hoffe, daß er die ganze Nacht den Stock sucht. Weißt du eigentlich, wie köstlich du im Mondlicht aussiehst? «

Sie betrachtete seine breiten Schultern und schmalen Hüften. »So unangenehm siehst du auch nicht aus. «

Er zog sie an sich. »Wenn du so weitermachst, kommen wir nie mehr nach Larenston zurück. Wo waren wir vorhin stehengeblieben? «

»Du sagtest, dein Kopf brächte dich um. «

»Komm her, Mädchen«, flüsterte er, während er sie in das Laub hinunterzog.

Es war eine ziemlich kalte Nacht, aber sie merkten es nicht…

Sie wurden schon am frühen Morgen in ihrem Laubbett von einem Knurren geweckt. Stephen reagierte spontan auf die Meldung des Wolfshundes. Er setzte sich auf und schob Alicia hinter sich. Er starrte auf den Mann, der etwa zwanzig Schritte entfernt war. Es war ein untersetzter, drahtiger Mann mit braunen Augen und Haaren. Er trug die Kokarde der MacGregors.

»Guten Morgen«, sagte er herzhaft. »Ich wollte nicht stören. Ich wollte nur etwas Wasser holen, doch dein Hund ließ mich nicht vorbei.

Stephen hörte, wie Alicia hinter ihm Luft holte zum Sprechen. Er drehte sich um und warf ihr einen warnenden Blick zu. Sie war halb begraben im Laub. Nur ihr Kopf und die nackten Schultern sahen heraus.

»Morgen! « rief Stephen ebenso herzhaft, und seine Stimme hatte einen schweren schottischen Akzent. »Rab, komm her, laß diesen guten Mann passieren. «

»Ich danke Euch, Sir«, sagte der Mann und ging ein paar Schritte weiter zu einem Bach.

»Rab, hol unsere Kleider«, befahl Stephen und sah dem Hund nach, der den Hügel hinaufeilte. Dann blickte er zu dem Mann, der am Bachrand stand und neugierig das nackte Paar beäugte. »Ein bißchen wie Adam und Eva, nicht wahr? « meinte Stephen lachend.

Der Fremde lachte ebenfalls. »Dasselbe hatte ich auch gedacht. «

Er schöpfte Wasser und stand wieder auf. »Ich habe weder einen Wagen noch Pferde gesehen. Ich hatte keine Ahnung, daß noch Leute in der Nähe sind. «

»Um ehrlich zu sein«, sagte Stephen, »wir haben nur das, was wir auf dem Leib tragen. «

Alicia sah zu, wie er hinter seinem Rücken die Kokarde der MacArrans von seiner Kappe riß.

»Wir wurden von Dieben überfallen. «

»Diebe! « rief der Mann, »auf dem Land des MacGregor? Das wird ihm aber gar nicht gefallen. «

»Nein, das ganz bestimmt nicht«, pflichtete Stephen dem Mann bei. »Schon gar nicht, weil die Diebe MacArrans waren. Oh, Entschuldigung, Liebes, ich wollte dich nicht bei den Haaren ziehen«, sagte er geistesgegenwärtig, als Alicia wütend hinter ihm schnaubte.

»Ah, die MacArrans«, sagte der Mann. »Ein niederträchtigeres, ehrloseres und feigeres Gesindel hat die Welt noch nicht gesehen! Weißt du, daß sie vor kurzem den MacGregor fast umgebracht hätten, nur weil er ein Stück weit über das Land der MacArran ritt? Die Hexe hat ihn fast mit ihrem Messer in Stücke gehackt. Ich hörte, sie versuchte, ihn zu kastrieren. Vermutlich aus Eifersucht. «

Stephen packte Alicia an den Schultern, damit sie ihn ansehen mußte und der Mann ihr Gesicht nicht betrachten konnte. »Komm, ich mache dir die Brosche zu«, sagte er in seinem schweren schottischen Akzent.

»Ich ritzte ihn kaum«, sagte sie wütend.

»Was? « fragte der Fremde.

Stephen lächelte. »Meine Frau warnte mich eben, daß ich sie beim letztenmal mit der Nadel piekste. «

Der Mann lachte glucksend. »Ich bin Donald Farquhar vom Klan MacGregor. «

Stephen lächelte vergnügt. »Ich bin Stephen Graham, und das ist meine Frau Alicia. « Er grinste über die Grimasse, die sie ihm schnitt.

»Alicia! « sagte Donald, »das ist ein übler Name. Weißt du denn nicht, daß die Hexe, die den Klan MacArran anführt, auch so heißt? «

Stephen hielt Alicias Schultern fest wie in einem Schraubstock. »Wer kann schon dafür, was für einen Namen er trägt? «

»Ja, daran sind die Eltern schuld. « Der Mann betrachtete Alicias lange schwarze Haare, in denen ein paar gelbe Blätter steckten. »Und jeder sieht auf den ersten Blick, daß sie der anderen überhaupt nicht ähnlich ist. «

Alicia senkte den Kopf, als wollte sie Stephen die Hand küssen. Tatsächlich biß sie so heftig hinein, daß er ihre Schultern loslassen mußte. Sie wandte sich lächelnd dem Mann zu. »Und du hast natürlich die MacArran schon oft gesehen, nicht wahr? « fragte sie mit süßer Stimme.

»Ja, das habe ich — wenn auch nicht aus der Nähe; aber immerhin. «

»Und sie ist häßlich? «

»Oh, ja. Breite Schultern wie ein Mann und größer als die meisten ihrer Männer. Ihr Gesicht ist so häßlich, daß sie es ständig bedeckt halten muß. «

Stephens Finger bohrten sich warnend in ihre Schultern. Sie nickte. »Ja, so wurde sie mir auch beschrieben. Nett, jemand kennenzulernen, der sie sozusagen mit seinen eigenen Augen gesehen hat. «

Stephen beugte sich vor, um sie aufs Ohrläppchen zu küssen. »Nimm dich zusammen, oder es kostet uns beide das Leben«, flüsterte er.

Donald strahlte sie beide an. »Ihr müßt frisch verheiratet sein«, sagte er vergnügt. »Ihr klebt wie Kletten aneinander. Das kann man nicht übersehen. «

»Dir entgeht wenig, wie, Donald? « sagte Alicia.

»Ja, man sagt, ich wäre ein aufmerksamer Beobachter. Unser Wagen ist oben auf der Kuppe. Vielleicht würdet ihr gern mit uns speisen. Dann lernt ihr auch meine Frau Kirsty kennen. «

»Nein… «, hob Alicia an; doch Stephen stellte sich vor sie.

»Das nehmen wir gern an«, sagte er. »Wir haben seit gestern mittag nichts mehr gegessen. Vielleicht kannst du uns auch] sagen, wo genau wir uns befinden. Wir irrten lange durch die Gegend, als wir von den Dieben überfallen worden waren. «

»Aber die Zeit habt ihr gut genutzt«, sagte Donald lachend, während er auf die Blätter sah.

»Das stimmt! « sagte Stephen heiter und legte den Arm um Alicias Schultern.

»Nun, dann kommt. Ein MacGregor ist stets gastfreundlich zu einem MacGregor. « Er drehte sich um und kletterte hügelan.

»Tu nur nichts, was uns gefährden kann! « warnte Stephen Alicia leise, als sie die Anhöhe hinaufkletterten.

»Ein MacGregor! « murrte sie wütend.

»Und ein Engländer! « setzte er im gleichen Ton hinzu.

»Ich weiß nicht, was das geringere Übel von beiden ist! «

Stephen grinste. »Hasse mich. Er hat das Essen, ich nicht. «

Auf der Kuppe hielten sie alle an und sahen auf die zierliche Frau, die sich über das Feuer beugte. Sie war ein zerbrechliches Wesen, nicht viel größer als ein Kind, mit einer kleinen Nase und einem zarten Mund. Auffallend an ihr war der unförmige Leib. Ihr Bauch ragte vor wie ein massives Monument. Sie war hochschwanger. Einen Moment lang sah sie nur Donald, und ihre Augen leuchteten auf vor Zärtlichkeit. Als sie sich umdrehte und Alicia erblickte, ging eine Verwandlung ihres Gesichtes in mehreren Stufen vor: Fassungslosigkeit, Angst, Ungläubigkeit, was sie zuletzt in einem Lächeln zusammenfaßte.

Stephen und Alicia standen nebeneinander und hielten den Atem an. Sie erwarteten, daß die Frau jeden Moment ihre wahre Identität enthüllte.

»Kirsty! « Donald eilte zu seiner Frau und fragte besorgt: »Ist dir nicht gut? «

Sie legte die Hand auf den unförmigen Bauch und sah entschuldigend zu Alicia und Stephen hinüber. »Verzeiht, daß ich Euch nicht gebührend begrüßt habe. Das Kind. Es gab mir einen mächtigen Tritt. «

Donald blickte lächelnd zu Stephen. »Ja, er ist ein starker Bursche«, sagte er lachend. »Kommt, setzt euch ans Feuer. «

Stephen faßte sich zuerst und schlenderte gemütlich aufs Feuer zu. Alicia folgte ihm zögernd. Sie glaubte noch immer, auf Kirstys Gesicht einen Schrecken gesehen zu haben. Vielleicht wußte sie, wer sie wirklich waren, und wollte es ihrem Mann nur später sagen, damit der MacGregor sie nachts überfallen konnte.

Als Donald seine Gäste Kirsty vorstellte, lächelte diese nur, als Alicias Name fiel.

»Reicht das Essen für alle? « fragte Donald.

Kirsty hatte dunkelblonde Haare und braune unschuldige Augen. Es fiel schwer, dieser Frau zu mißtrauen. Sie sagte mit einem stillen Lächeln: »Wir haben immer so viel, daß wir auch mit anderen teilen können. «

Sie setzten sich zu einer Mahlzeit aus Gerstenkuchen und Kaninchenragout ans Feuer. Donalds Wagen stand neben der Fahrspur — ein kleines Gefährt mit einem Holzaufbau. Zweifellos ein bequemes Fahrzeug, doch nicht für weite Reisen gebaut.

Nach dem schmackhaften Frühstück schlug Stephen vor, daß Donald und er auf die Jagd gehen sollten.

Alicia stand ebenfalls auf und wischte sich die Krümel vom Rock. Offensichtlich wollte sie sich an der Jagd beteiligen.

Stephen warf ihr einen warnenden Blick zu. »Du solltest lieber bei Kirsty bleiben«, sagte er gelassen, doch mit Betonung. »Der Platz einer Frau ist am Feuer. «

Alicia merkte, wie sich ihre Wangen zornig röteten. Was wußte sie schon vom Kochen? Aber bei der Jagd konnte sie den Männern helfen. Doch dann, als sie sah, wie Donald zustimmend nickte, wußte sie, was Stephen zu seinem Hinweis veranlaßt hatte. Er sorgte sich, daß Donald Verdacht schöpfte, wenn eine Frau eine ausgezeichnete Jägerin war, jedoch keine Ahnung hatte vom Kochen. Sie seufzte ergeben. »Wir haben wenigstens den Hund als Schutz. «

»Nein«, sagte Stephen, »Rab werden wir für die Jagd brauchen. «

»Rab! « befahl sie, »du bleibst bei mir. «

»Komm, Rab«, sagte Stephen geduldig, »wir beide gehen auf die Jagd. «

Doch der Wolfshund dachte gar nicht daran, sich von Alicias Seite zu entfernen.

Donald lachte glucksend. »Du hast aber einen gehorsamen Hund, Stephen. «

»Den hat mir mein Vater geschenkt! « sagte Alicia stolz. »Dein Vater? « meinte Donald neugierig.

»Wir sollten lieber gehen«, unterbrach Stephen ihn und sah warnend zu Alicia hinüber.

Alicia setzte sich neben Kirsty ans Feuer — neben ihrer Feindin.