16
Der Dicke fuhr sachte. Ich spürte leichte Schmerzen im Bein und fühlte mich ein bisschen niedergeschlagen.
»Hast du deine Schießeisen dabei?«, fragte mich Tito.
»Ja. Im Hosenbund. Ich trage unter dem Overall eine Hose und ein Hemd.«
»Du lernst dazu, mein Junge, du lernst dazu. Wie gehts mit deinem Bein?«
»Es stört ein bisschen, aber ich habe fast keine Schmerzen mehr. Was ist wohl aus dem Kleinen Italo und dem Fischgesicht geworden?«, fragte ich.
»Die sind bestimmt an einem sicheren Ort. In Uruguay, in Brasilien, auf dem Land, was weiß ich. Der Kleine wird eine Riesenscheißwut im Bauch haben, und das nicht ohne Grund, Carlitos. Wir haben fünf Leichen auf dem Konto.«
»Sie haben die Alte uns angehängt, die vom Bürgersteig«, sagte ich.
»Die Alte? Sie werden uns alles anhängen, bis hin zur Ermordung von Mahatma Gandhi, mein Lieber.«
»Laut einer Erklärung von Caputo bist du während Gandhis Staatsbesuch in dessen Nähe gesehen worden, mit Turban und Lendenschurz, Dicker.«
»Das warst wohl eher du. Jedermann weiß, dass du ein Anhänger Brahmaputras bist.«
»Leg mir eine Linie. Und halte bei irgendeinem Kaufhaus, ich brauche ein paar Whiskys.«
Wenn ich Koks zusammen mit Whisky nahm, fühlte ich mich weniger deprimiert. Wir schalteten das Radio ein und suchten eine Nachrichtensendung.
»… Gegen zehn Uhr heute morgen wurde der Wagen des Hauptkommissars Julio César Caputo von einer Gruppe unbekannter Täter attackiert. Er wollte gerade den Tatort verlassen, an dem ein Attentat fünf Todesopfer gekostet hatte, unter ihnen ein Polizeikorporal und eine ältere Dame, die auf dem Markt eingekauft hatte. Mit automatischen Waffen eröffneten die Angreifer das Feuer auf Caputos Wagen und auf den seiner Mitarbeiter, der ihm in kurzem Abstand folgte, und lösten eine wilde Schießerei aus. Als die Vertreter von Recht und Ordnung glaubten, die Lage unter Kontrolle gebracht und die Angreifer zurückgeschlagen zu haben, wurden sie von einer Gruppe Männer überrascht, die sie mit einem Granatwerfer unter Beschuss nahm, einer Waffe ausländischen Ursprungs, die am Tatort zurückblieb. Hauptkommissar Caputo, sein Stellvertreter, Kommissar Ramirez, sowie sechs ihrer Begleiter wurden getötet, zwei Polizeibeamte schwer verletzt. Zwei der Angreifer ließen im Feuergefecht ihr Leben. Wie viele von ihnen durch die Kugeln der Polizei verletzt wurden, steht zur Zeit noch nicht fest.«
Der Dicke parkte den Wagen auf der rechten Straßenseite, stieg aus, fiel auf dem Bürgersteig auf die Knie und betete. Er stieg rasch wieder ein, und wir fuhren weiter.
»Gelobt sei der Himmel und gebenedeit San Genaro!«, sagte er. »Endlich haben sie es diesen Drecksäcken gegeben!«
Während wir in Erinnerung an Caputo anstießen, trat ich mit dem Luziden in Verbindung.
Vermutlich haben die Linken Caputo im Fernsehen gesehen, sagte er, und eines ihrer Kommandos war gerade in der Nähe, und sie haben sehr schnell reagiert. Es könnten aber auch eigene Leute oder die Armee gewesen sein. Interne Auseinandersetzungen unter Vertretern verschiedener Institutionen, mein Lieber! Das Problem ist, dass sie in der ganzen Stadt Straßensperren errichten werden, und wir beide fahren mit einem Müllwagen Richtung Mülldeponie, aber ohne Müll. Wenn wir einem Polizisten begegnen, der etwas Grips hat, sind wir geliefert.
Ich sagte dem Dicken, was mir Tato erzählt hatte und was die Meinung des Luziden war.
»Du lernst dazu, Junge, du lernst dazu, aber die Schießerei ist etwa anderthalb Stunden her, und wir sind schon fast bei der Mülldeponie. Ich glaube nicht, dass sie uns anhalten werden. Wie auch immer, lebend werden sie uns niemals erwischen. Oder willst du dich etwa ergeben, du durchgeknallte Schwuchtel? Bist du nun doch eine Schwuchtel geworden, nach all meinen Anstrengungen, dich zu erziehen?«
»Fick deine Schwester, Dicker.«
»Eine Schwester hab ich keine, drum öffne du mir deine Beine. Aber jetzt ist nicht die Zeit, um von Liebe zu sprechen, mein Engel. Nimm die Uzi aus dem Sack und leg sie auf den Sitz. Und auch die letzte Granate, die wir noch haben. Wenn du eine Straßensperre siehst, schießt du. Wie hat dir meine Freundin gefallen?«
»Deine Freundin? Schrecklich! Sie ist noch hässlicher als du! Wo hast du sie bloß ausgegraben? In einer Klapsmühle für Tiere?«
»Und du erst … wie schaffst du es bloß, die dicke Lucy zu vögeln?«
»Er steht mir auch bei deiner Schwester.«
»Eine Schwester hab ich keine, drum öffne du mir deine Beine.«
Die breite Avenida wurde schmuddeliger und begann immer übler zu riechen. Am Himmel konnte man die Rauchschwaden des schwelenden Kehrichts sehen. Die Häuser waren klein, hässlich und schmutzig.
»Kannst du einen Kilometer zu Fuß gehen, oder muss ich einen Sklaven anstellen?«
»Wenn wir langsam gehen, kein Problem.«
Ich steckte die Hand in den Overall und betastete die Wunde. Sie blutete leicht. Ich kotzte Galle aus dem Fenster.
»Wir lassen den Laster hier in dieser Garage stehen«, sagte Tito, »dann gehen wir zu Fuß zur Mülldeponie. Wir sagen ihnen, sie sollen einen Ölwechsel machen und die Bremsen kontrollieren. Wir haben nur einen Schlüsselbund, und der bleibt hier. Falls wir uns trennen müssen, wissen wir, wo die Karre steht. Falls sie einen von uns abknallen, ebenfalls … Wenn sie uns beide abknallen, wird der Mechaniker Mendoza den Laster zurückgeben.«
Wir kamen ans Ende der asphaltierten Straße, es führte nur ein lehmiger Weg weiter. Die Häuser konnte man nicht mehr als Häuser bezeichnen. Es waren unvorstellbare Konstruktionen aus Holz und Karton, die mit Flicken aus Blech von Konservenbüchsen aller Art übersät waren.
»Komm, Carlitos, wenn uns diese Leute nicht für Müllsammler halten, werden sie uns nicht passieren lassen.«
»Guten Tag, Jungs! Wollt ihr zur Mülldeponie?«
Es war ein riesiger Schwarzer, groß gewachsen und kräftig. Er hatte den Körper eines Boxers. Viele der Müllsammler waren Boxfanatiker. Sie trainierten, indem sie hinter den Müllwagen her rannten und die vollen Abfallkübel zu einem Typen hievten, der oben auf der Ladefläche hockte, bis zu den Eiern in der Scheiße, und die leeren Kübel wieder hinunterschmiss. All das bei fahrendem Laster.
Da ich nicht reagierte, wandte er sich an Tito.
»Guten Tag, wir sind gekommen, um uns ein bisschen mit dem Kern zu unterhalten. Ist er um diese Zeit da?«
»Der Kern ist immer da, er geht nie weg.«
»Hab ich dich nicht im Boxclub Almagro kämpfen gesehen? Muss etwa einen Monat her sein?«, sagte Tito.
»Ach ja?«, sagte der Schwarze vergnügt. »Und? Wie war ich?«
»Gut, mein Junge. Du hast ihm recht einen auf die Rübe gegeben. Wieso hast du ihn nicht in der vierten Runde fertig gemacht? Er konnte kaum mehr stehen.«
»Weil die Wetten auf die sechste liefen, Dicker.«
Wir lachten alle drei.
»Nächsten Samstag habe ich wieder einen Kampf. Gegen einen Paraguayer. Er sagt von sich, er sei sehr gut, aber das bin ich auch, also mach ich mir keine Sorgen.«
»Trainierst du?«, fragte Tito mit väterlicher Sorge.
»Sicher, mein Lieber! Wer in diesem Beruf nicht trainiert, der dreht mit der Zeit durch.«
»Gut. Wir gehen dann, wir sind schon ein bisschen spät dran. Wir sehen uns am Samstag, nicht, Carlitos? Komm, gehen wir.«
»Sicher, Dicker«, pflichtete ich ihm bei, »ich bin schon lange nicht mehr an einem Boxkampf gewesen.«
Wir grüßten ihn und machten uns auf den Weg.
»Wieso weißt du, dass er einen Kampf im Almagro hatte, Dicker?«
»Weil ich den Kampf gesehen habe, Blödmann. Ich wollte ein bisschen mit ihm quatschen, damit er sich beruhigt und nicht auf die Idee kommt, wir seien Bullen, oder wollten Abfall klauen, einen von ihnen entführen oder abknallen. Na ja, die Bullen wagen sich gar nicht in diese Gegend. Es gibt ein Abkommen. Sie laden ihre Leichen hier ab, und die Müllsammler verbrennen sie. Jeder macht seinen Job, ohne dem andern dumme Fragen zu stellen.«
Wir gingen auf dem Weg weiter, die Abfallberge am Wegrand wurden größer und größer und bildeten bis zu drei Meter hohe Klippen. Die Rauchschwaden blieben in der Luft hängen und wurden zu dichtem Dunst. Der Boden, auf dem wir gingen, war übersät mit Abfall, der von Lastern platt gedrückt worden war.
»Was für ein Scheißgeruch, Dicker! Wie kann der Typ hier leben?«
»Wenn du dich davor ekelst, mein Süßer, dann warte mal, bis du die verbrannten Leichen siehst.«
»Werden es viele sein?«, fragte ich ihn.
»So viele du willst, mein Junge, so viele du willst.«
Die Dunstschleier wurden dichter, da und dort konnte man einen abgestorbenen Baum sehen. Ich kotzte wieder Galle. Die Sache war mir langsam nicht mehr ganz geheuer. In etwa zwanzig Meter Entfernung konnte ich in den Dunstfetzen ein paar krumme Pfähle ausmachen, die ein Zinkblech trugen. Unter dem improvisierten Dach sah ich diffuse Bündel und Schatten, konnte aber nichts Genaues erkennen.
»Warte einen Moment, hier gibt es einen Hund, der schlimmer ist als die Lepra«, sagte der Dicke und ging einige Schritte voraus.
»Kern!«, schrie er.
In diesem Augenblick löste sich aus dem Dunst ein riesiger, knurrender und bellender schwarzer Hund. Er schoss auf Tito zu, aber der blieb regungslos stehen, wo er war. Das Tier näherte sich ihm noch ein paar Schritte, knurrte Furcht erregend, runzelte seine Nase und bleckte seine Angst einflößenden Reißzähne.
»Wer bist du?«, schrie jemand aus dem Dreck heraus.
»Ich bin es, Idiot! Tito! Ich bin hier mit einem Freund. Ruf deinen Schwarzen zurück, bevor er von uns nichts als Fransen übrig lässt!«
»Negro!«, sagte die Stimme. »Komm hierher!«
Der Hund rannte auf das Zinkdach zu, und der Dicke bedeutete mir, ihm zu folgen.
Als wir näher kamen, erkannte ich einen Gasbrenner, auf dem ein Kochtopf stand, einen Tisch inmitten ein paar klappriger Stühle, ein zugedecktes Fass, ein Transistorradio und einen Hund, der am Boden saß und uns aufmerksam beobachtete. Der Kern nahm gerade einen Zug Mate. Ich erkannte ihn kaum wieder. Er hatte um die zwanzig Kilo zugenommen, seine Wimpern waren zwei narbige Linien mit vereinzelten verklebten Haaren. Er hatte Ohren wie Blumenkohl. Die Nase ließ sich nicht beschreiben. Sein Oberkörper war unbekleidet.
»Das ist ein sehr guter Freund«, stellte mich Tito vor. »Er ist Tomassinis Enkel. Erinnerst du dich an Tomassini?«
»Wie könnte ich den vergessen, meine dicke Salami! Ist er dein Partner in der Autowerkstatt?«
»ja, Carlitos. Carlitos, ihn kennst du ja, nicht?«
»Sicher, Champion«, sagte ich zu Kern. »Ich habe alle deine Kämpfe gesehen. Ich erinnere mich besonders gut an den in Tokio, gegen diesen Japaner.«
Er erhob sich und wir gaben uns die Hand. Seine war schwielig und kräftig, aber so wie es die Leute vom Land oft tun, drückte er meine kaum.
»Trinkt ein bisschen Mate«, lud uns der Kern ein.
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte der Dicke. »Wir suchen jemanden.«
»Und nach den Gesichtern zu urteilen, die ihr rumtragt, sucht jemand euch, nicht wahr? Was zum Teufel wollt ihr hier? Es gibt nur den Hund und mich.«
»Wir suchen eine Leiche, Kern«, sagte Tito.
»Eine Leiche«, lachte er. »Ich betreibe hier eine Filiale der Gerichtsmedizin, mein Junge! Und warum sucht ihr ihn, falls die Frage nicht zu indiskret ist? Das wird euch Ärger bringen.«
»Es ist ein Familienangehöriger einer Freundin von Carlitos. Ein Schlappschwanz. Wir wollen wissen, ob sie ihn abgeknallt haben oder nicht. Es geht um viel Geld, eine Erbschaft.«
»Wann ist er verschwunden?«
»Letzten Sonntag«, sagte ich. »Sie haben ihn bereits um zwei Uhr nachmittags geholt.«
»Ihr habt Glück, Jungs, denn seit Sonntag versuche ich von diesen Dreckskerlen Benzin zu bekommen, aber sie haben es mir noch nicht geliefert. Mit Diesel brennen die Leichen nicht richtig. Versteht ihr? Aus diesem Grund habe ich bis jetzt nicht eine einzige verbrannt. Ich bin im Streik, Dicker«, lachte er. »Diese Dreckskerle kommen zu mir, laden sie hier ab, und ich soll sie für sie verbrennen. Zum Glück konnte ich erreichen, dass sie mir das Benzin liefern. Stell dir vor, wenn ich nicht für sie arbeiten müsste. Das Problem für euch wird sein, ihn zu identifizieren. Denn die, die sie hierher bringen, sind schon ziemlich verstümmelt … Versteht ihr? Manchmal schneiden sie ihnen die Hände ab, verbrennen ihnen das Gesicht mit einem Schweißbrenner, nehme ich an, und durchlöchern ihre Köpfe mit Kugeln. Nun, ihr werdet sehen, dass es nicht einfach ist, sie zu identifizieren. Glücklicherweise werfen sie alle mehr oder weniger auf den gleichen Haufen. Stell dir vor, es wäre sonst absolut unmöglich, hier Leichen zu finden.« Er deutete mit der offenen Hand auf den Nebel.
»Da kann man verrückt werden«, meinte der Dicke verständnisvoll.
Wir folgten dem Kern auf einen riesigen, in der Dunkelheit liegenden Berg. Wir versanken bis zu den Knien im Müll. Das hier war der wahrhaftige Dschungel.
»Gebt Acht auf die Büchsen, Drähte und Scherben, Jungs. Wer sich hier einen Schnitt zuzieht, der hat einen Tetanus auf Nummer sicher! Es sei denn, es würde euch gefallen mit den Händen winkend zu sterben.«
Er lachte über seinen eigenen Witz. Ich setzte mich hin, weil ich das Gefühl hatte, mich übergeben zu müssen. Kalter Schweiß war auf meiner Stirn, und ich fühlte mich schwach und schwindlig. »Der Blutverlust«, dachte ich.
Kaum waren wir oben auf dem Abfallberg angekommen, stieg der Junge bereits wieder ins nächste Tal hinunter.
»All das gehört mir«, sagte er mit einem Lachen. »Dieses ganze Gebiet, durch das wir hindurchgehen, ist mein Müll. Es sieht vielleicht nicht danach aus, aber hier liegt viel Geld. Du musst allerdings sehr auf der Hut sein, dass du nicht von anderen Müllsammlern beklaut wirst. Aber im Moment ist das Problem, dass sie mir ihre Leichen hierher bringen. Früher oder später werde ich mit ihnen Ärger bekommen.«
Ich spürte, dass sich mein Zustand verschlechterte, und wollte mich auf dem Gipfel kurz ausruhen, während die anderen beiden ins düstere Tal hinunterstiegen. Neben dem Schwindelgefühl spürte ich nun auch ein Gefühl der Kälte in meinen Schenkeln, und ich hatte weiterhin diese Schweißausbrüche. Als ich die beiden den Abhang hinunter verschwinden sah, bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich vernahm hinter meinem Rücken ein unbekanntes Geräusch, das sich mir schnell näherte, und hörte auch gehetzte Atemzüge. Ich wollte das Schießeisen ergreifen, aber mein Overall war zu und ich schaffte es nicht, ihn zu öffnen. Ich duckte mich in die Scheiße und schaffte es irgendwie, einen Arm schützend vor mein Gesicht zu halten und mich umzudrehen. Es war der schwarze Hund, der die Steigung in großen Sätzen nahm und dabei bis zum Brustkorb im Schatz des Kerns versank. Ohne mich anzusehen, rannte er an mir vorbei und den Hügel hinunter seinem Herrn hinterher.
Ich hatte starken Schüttelfrost, doch ich fand das Kokain in dem vollkommen verschmutzten, öligen Umschlag und zog mir ein paar Linien.
»Carlitos!« Es war die Stimme des Dicken. »Was ist los? Glaubst du, jetzt ist der beste Moment, um zu scheißen, Dummkopf.«
»Ich komme schon!«, rief ich, strauchelte und rollte den Abhang hinunter.
Ich rutschte sechs bis sieben Meter über die schräge Fläche, bevor ich den Kern und Tito sehen konnte. Der Hund kam auf mich zu und leckte mir das Gesicht, bevor er wieder im Müll verschwand und Luftsprünge machte wie ein Müll-Delfin. Er war glücklich, weil wir ihn auf einen Spaziergang mitnahmen.
Die beiden machten sich über mich lustig. Der Dicke packte mich beim Kragen und stemmte mich in einem Zug hoch.
»Was ist los mit dir? Hast du wieder Schmerzen im Bein?«
»Nein, Dicker. Ich musste eben mal pissen und habe mich verirrt.«
Das Bein schmerzte mich nicht, aber es blutete noch immer. Ich dachte daran, dass ich den Kleinen oder den Basken besuchen wollte, nachdem wir die Leichen inspiziert hatten. Dank dem Koks war ich wieder ziemlich auf Draht. Wir gingen weiter.
Der Hund lief vorneweg, rannte wieder zurück, machte dauernd seine verrückten akrobatischen Sprünge und sah dabei etwas lächerlich aus. Dann plötzlich, außer Sichtweite, bellte er zweimal kurz.
»Er ist aufgeregt«, sagte der Kern. »Er muss eine gefunden haben.«
Wir gingen zu der Stelle, wo der Hund war, und sahen, wie er eine Puppe beschnupperte, die zur Hälfte mit Müll bedeckt war. Wir konnten einen Teil des Kopfes, des Rückens, eines Beins und schwarze Hinterbacken ausmachen. Es war eine Schaufensterpuppe.
»Hör auf, Kern!«, sagte ich. »Mach keinen Scheiß. Ich sagte dir, dass ich jemanden suche, Idiot!«
Ich dachte, der Kern und Tito machten sich über mich lustig.
Den Dicken würde ich nicht ins Straucheln bringen, aber ich beschloss, dem Kern ins Bein zu schießen. Der Hund war mir schon halbwegs sympathisch, aber ich wollte mich nicht erweichen lassen.
»Glaubst du etwa, ich sei hier, um herumzualbern, du Idiot?«, sagte der Kern und schaute mir gerade in die Augen, während er auf mich zukam. Er legte die Hand auf seine 45er, ließ sie aber stecken. Der Hund witterte etwas und bellte. Der Kern sagte zu mir:
»Okay Tarzan, schau, was wir für dich ausbuddeln.«
Er ging auf die Schaufensterpuppe zu und zog sie an einem Arm, der zur Hälfte von etwas verdeckt war, das nach verfaulten Mangold- oder Kopfsalatblättern aussah. Er zog kräftiger, und die Puppe kam langsam aus dem Schmutz heraus. Er zog sie zu mir hinüber. Sie war steif und schien aus dunklem Holz geschnitzt. Man sah, dass es sich um einen Mann handelte, obwohl sie ihm das Geschlecht und die Hände abgeschnitten und ihn mit einem Schweißbrenner verbrannt hatten. Ich öffnete seinen Mund, der sich wie Karton anfühlte. Alle Zähne waren herausgebrochen worden, aber seine oberen Schneidezähne waren nicht die Prothesen gewesen, nach denen ich suchte.
»Tut mir leid, Bruder, ich bin ein Idiot«, sagte ich zu dem Jungen.
»Folge mir, Junge, ich will dir noch ein paar meiner Schützlinge vorstellen.«
Einer von ihnen war sehr aufgedunsen. Es sah aus, als hätte er den Mund voller Luft, wie der schwarze Trompeter, den ich als Kind in Buenos Aires hatte spielen sehen. Sein Bauch war eine riesige Kugel. Man hatte ihm Stacheldraht um den Hals gewickelt und seine Hände damit auf dem Rücken zusammengebunden. Ich öffnete seine dunklen Augen.
»Der ist es auch nicht«, sagte ich, während ich wieder Galle kotzen musste.
»Du bist dir wohl den Anblick von Leichen nicht gewöhnt, was?«, meinte der Kern. »Folge mir, du wirst dich schon daran gewöhnen.«
Wir schauten uns noch fünf weitere Leichen an. Die einen hatten keine Hände, die anderen nahezu keinen Kopf mehr, andere hatte gebrochene Beine, leere Augenhöhlen. Sogar ein Bein fanden wir, vom Besitzer keine Spur.
Ich erkannte ihn an der Narbe an den Augenbrauen und, obwohl sie ihm alle Zähne herausgeschlagen und die Lippen mit einer Schere abgeschnitten hatten, an den fehlenden Wurzeln der oberen Schneidezähne und dem vernarbten Oberkiefer. Er lag bis zur Gürtellinie zwischen verfaulten Orangen.
»Helft mir, ihn herauszuziehen«, sagte ich. »Mir scheint, dieser hier ist es.«
Für Tito und den Kern, die beide kräftiger waren als ich, war es eine ziemliche Anstrengung, ihn aus dem Müll zu ziehen. Sie hatten ihm das Geschlecht zwar nicht abgeschnitten, aber es war völlig zerfetzt. Die Narben der Blinddarmoperation und des offenen Beinbruches waren da. Ich öffnete ihm die Augen, und obwohl sie mit dem Schweißbrenner angesengt waren, sahen sie blau aus oder mindestens hell. Auf dem Scheitel und auf den Backen hatte er keine Haare mehr, und die Ohren fehlten. Ich drehte ihn auf den Bauch und sah, dass ihm im Nacken noch ein paar angesengte Haare übrig geblieben waren, von denen einige rot waren.
Ich stand auf und sah ihn mir an. Statur, Gewicht und Hautfarbe schienen zu stimmen.
»Das ist er«, sagte ich und kotzte noch mehr Galle.
»Dann verschwinden wir von hier, Carlitos«, sagte der Dicke. »Jetzt, wo du weißt, dass er tot ist. Lass uns jetzt mal an uns denken, oder willst du ihn etwa begraben? Wenn du willst, bringen wir ihn mit dem Müllwagen in die Synagoge!«
»Versteckt euch, ihr Drecksäcke, da sind sie!«, sagte der Kern.
Wir trennten uns und versteckten uns im Nebel. Erst jetzt konnte ich oben auf dem Müllberg das schwere Motorengeräusch hören. Ich konnte den Fahrweg nicht erkennen, aber ich hörte, wie der Kern jemanden grüßte.
»Bringst du mir endlich das Benzin, verdammt noch mal! Die Typen hier beginnen langsam zu verfaulen«, sagte der Ex-Boxer.
»Wir haben dir dort oben zwei 40-Liter-Kanister abgeladen. Jetzt mach schon Platz, wir haben ein paar weitere Kunden für dich«, antwortete die Stimme.
Der Motorenlärm schwoll an und der Laster kippte seine Fracht hinten ab. Mehrere Bündel fielen herunter.
»He!«, schrie der Kern. »Passt ein bisschen auf, dass ihr sie nicht überall verstreut deponiert. Ich will sie nachher nicht einzeln suchen gehen! Werft sie mir alle hierhin, oder ich verbrenne sie euch nicht mehr!«
»Okay, Champion, okay. Reg dich nicht auf. Sie schicken manchmal neue Jungs vorbei, die keine Ahnung haben und sie irgendwohin kippen. Beruhige dich. Wir gehen wieder. Mach dir mit dieser Ladung ein paar Würste.«
»Ihr bringt mir in letzter Zeit viele Kunden her.«
»Ai! Schon bald wirst du damit nicht mehr alleine fertig werden. Such dir ein paar Jungs, denen du vertrauen kannst, denn alleine wirst du es nicht mehr schaffen. Nun, wir haben noch andere Orte, wo wir sie hinkippen können, also beruhige dich. In zwei bis drei Monaten werden es wieder weniger sein.«
Ich kroch einige Meter durch den Müll, bis ich ihn schließlich erkennen konnte. Er trug eine Automatik.
»Versucht mir nicht allzu viele hierher zu bringen, mein Lieber. Wo soll ich zwei Jungs hernehmen, denen ich vertrauen kann? Der Einzige, dem ich vertrauen kann, ist der Hund da.«
»Du hast Recht, Kern, du hast Recht.«
Sie verabschiedeten sich, und das Geräusch des Motors verlor sich.
»Ihr könnt wieder hervorkommen, Jungs. Sie haben mir nochmals fünf hingekippt. Verdammte Scheiße! Ich sage euch, eines Tages werde ich Ärger mit ihnen bekommen. Wieso kippen sie die Leichen nicht vor den Regierungssitz? Schau, diesem Trottel haben sie den Kopf geklaut, nun, wenigstens den größten Teil davon. Sie durchlöchern sie mit der Maschinenpistole.«
Als wir uns näherten, sahen wir die neuen verstümmelten und angebrannten Leichen. Ich erbrach wieder Galle und fiel auf die Knie. Ich fühlte, dass ich ohnmächtig wurde.
»Da sieht man, dass der Junge den Anblick von Leichen nicht gewöhnt ist«, sagte der Kern zum Dicken. »Mir ging es am Anfang genau gleich. Als ich ohnmächtig geworden war, fiel ich einmal auf eine Alte drauf, die völlig aufgedunsen und schon halb verfault war. Verstehst du? Die folgenden drei Tage kotzte ich. Beweg dich nicht, Tomassini, dein Blutdruck ist abgesackt. Atme tief durch und schau sie dir nicht an.«
»Gehts besser?«, fragte mich der Dicke. »Ich kann dich auf dem Rücken tragen, wenn du willst.«
»Nein, Dicker, es geht mir schon besser. Mein Blutdruck ist abgesackt, das ist alles. Verschwinden wir von hier, ein für alle Mal!«
Tito stellte mich auf die Füße, und wir folgten dem Kern über die toten Hügel. Unsere Füße wurden angesogen. Er hielt mich am Arm, so dass ich kaum mehr Boden unter den Füssen hatte, und ich sagte zu ihm:
»Es geht mir gut, Bruderherz, es geht mir gut …«
»Wir verlassen diesen Ort, wir gehen weg, nur ruhig. Es ist die Schussverletzung in deinem Bein. Nur einen Augenblick noch, und wir kümmern uns darum. Wir können dir das Bein absägen, und wenn wir schon dabei sind, schneiden wir dir auch gleich mit einem Draht die Eier ab. Dann denkst du nicht mehr an die Weiber und fängst endlich an, ernsthaft zu arbeiten.«
»Deine Mutter war ‘ne Nutte, dicke Schwuchtel!«, antwortete ich.
»Siehst du? Da reagierst du schon. Wie heißt es doch: ›Meine Mutter ist vielleicht eine Nutte und mein Vater ein Versager, aber deine ist schlimmer, denn sie arbeitet in einem Puff.«‹
Der Kern lachte und stieß kreischende Schreie aus. In seinen Adern floss Guarani-Blut.
»Heute bist aber sehr poetisch drauf, Dicker«, sagte ich zu ihm. »Wie ein als Arbeiter verkleideter Atahualpa Yupanqui.«
»Sobald wir dank deiner genialen Einfälle Millionäre geworden sind, kaufe ich mir eine Gitarre und einen Smoking und wir gehen nach Paris. Nur keine Eile, wir sind schon fast dort.«
Schließlich kamen wir zu Kerns Refugium. Der schwarze Hund tauchte auf. Zwischen seinen Reißzähnen klemmte eine tote Katze, die schon steif war wie ein Brett. Er begann mit ihr zu spielen.
»Er hat sie letzte Nacht getötet«, sagte der Kern. »Er hasst Katzen. Wenn er sie erwischt, zerfetzt er sie. Nehmt noch ein paar Züge Mate, Jungs, während der Kleine hier sich ein bisschen ausruht.«
»Nein, vielen Dank, Kern«, sagte ich zu ihm. »Du hättest nicht einen Schuss von etwas Stärkerem.«
»Ai, Junge! Seit ich pensioniert bin, rühre ich weder Alkohol noch Koks an. Weißt du, wie viel ich von der Scheiße genommen habe, als ich Champion war? Weltmeister, mein Lieber, ohne Bescheidenheit. Neunmal habe ich den Titel verteidigt. Ich hatte so viel Geld, dass ich es zum Fenster hinauswerfen musste. Meine Alte war gestorben, die Ärmste, und ich hatte keine Kinder. Ich vögelte sogar Japanerinnen, und dass ihre Möse quer sei, ist eine verdammte Lüge, sie haben eine wie all die anderen. Dann vögelte ich in den Vereinigten Staaten, in Venezuela, Kolumbien, Italien und Frankreich. Ich hatte Kohle, Weiber, der amtierende Präsident schickte mir Glückwunschtelegramme. Ich lebte wie ein Fürst. Früher, da gab es scharenweise Leute, die sich meine Freunde nannten. Und heute, schau mich mal an. Anwesende selbstverständlich ausgenommen, ist er der einzige Freund, der mir bleibt.« Er deutete mit seinem schmutzigen Finger auf den schwarzen Hund. »Wisst ihr, was ihr zwei tun solltet? Jetzt, wo ihr noch Zeit habt? Heiratet ein gesundes Mädchen, gebt ihr all eure Kohle, macht Kinder und eröffnet ein Geschäft. Ich habe nie ein gesundes, sauberes Mädchen kennen gelernt. Ich habe immer unter Nutten gelebt, und die wollen dir alle an die Kohle.«
Nachdenklich nickten der Dicke und ich mit dem Kopf.
»Die Nutten kamen immer auf mich zu«, sagte der Kern. »Klar, ich war Weltmeister, ging mit dem jeweils amtierenden Präsidenten zum Mittagessen. Blödmänner, jeder einzelne von ihnen! Ich hatte Kohle, jedermann kannte mich, und außerdem eilte mir der Ruf eines guten Fickers voraus. Es kam vor, dass ich drei Mädchen in einer Nacht vögelte. Manchmal jedoch hatte ich das Bedürfnis, ein anständiges Mädchen zu finden. Ich suchte in meinem Quartier, im Haus meiner Mutter, bei Freunden. Ich wollte herausfinden, ob es keine gäbe, die nicht verdorben war. Die Mädchen des Quartiers liefen mir hinterher. Was weiß ich, ich denke, die meisten von ihnen waren Jungfrauen, verstehst du. Wenn man Erfahrung hat mit Nutten, dann sieht man so etwas sofort. Und weißt du, was mir mit den Mädchen passiert ist? Mir wurde klar, dass sie mir nur hinterherliefen, weil sie mein Geld wollten. Immer nur Lächeln, Späßchen, seltsame Fragen, was weiß ich, was Frauen halt so tun, verstehst du? Und ich dachte mir: ›Warum sind sie jetzt alle so freundlich zu mir, während sie mir, als ich ein weniger erfolgreicher Boxer war, nicht einmal sagen wollten, wie spät es ist?‹ Sie wollten mich nur des Geldes wegen. Sie dachten, ich sei ein Dummkopf, ein Rüpel, verstehst du. Weißt du, ich bin nicht erst jetzt hässlich, als Mittfünfziger. Ich war von Geburt an hässlicher als eine Kröte, die von einem Lastwagen platt gewalzt wurde, mein Lieber, und dazu noch ein Indio. Dann stieg ich in den Ring. Als ich Weltmeister wurde, hatte ich bereits so eine Fresse wie die Katze, die der Schwarze kaputt gemacht hat. Oder hast du gedacht, die Weiber seien mir nachgelaufen, weil ich hübsch bin? Nein, mein Lieber, sie sind mir bloß des Geldes wegen nachgelaufen. Wenn ihr das Glück habt, ein anständiges, seriöses Mädchen zu finden, ob sie nun Jungfrau ist oder nicht, spielt keine Rolle, heiratet sie. Ob ihr so eine findet oder nicht, zieht euch aus der Welt der Männer mit den Schießeisen zurück und sucht euch etwas in meiner Art. Ich werde zwar nicht Millionär, aber ich habe ein ruhiges Leben. Klar, jetzt gibt es diese Arschlöcher, die mir all diese Leichen hierher bringen. Glaubst du, das gefällt mir? Aber man gewöhnt sich an alles. Wenn ich protestiere, dann werde ich morgen von irgendeinem anderen Blödmann verbrannt. Wie auch immer, eines Tages wird von all diesen Kommunisten, die sie abknallen, keiner mehr übrig sein. Sie müssten eigentlich schon längst alle getötet haben. Jeden Tag bringen sie mehr her. In sagen wir mal einem Jahr, wenn wir Glück haben, bleibt keiner mehr übrig, und ich habe wieder meinen sauberen Müll und ein ruhiges Leben.«
»Du hast Recht, Kern, du hast Recht«, sagte ich.
»Sicher, ja, Kern«, sagte der Dicke. »Das ist die heilige Wahrheit.«
Tito nahm die Flasche aus dem Jutesack und streckte sie mir hin.
»Nimm bloß ein paar Schlucke, damit du den Weg zurück zum Lastwagen besser überstehst. Wenn du zu viel trinkst, hast du unterwegs wieder einen Einbruch. Denk daran, wir müssen einen Kilometer gehen, und anschließend haben wir jede Menge Dinge zu tun.«
Wir verabschiedeten uns mit einer Umarmung von Kern.
»Vielen Dank für alles, Kern«, sagte ich zu ihm. »Vor allem für die Ratschläge. Sie haben mir gut getan, und ich werde ernsthaft darüber nachdenken.«
»Dazu sind wir Alten da, mein Junge«, gab er mir zur Antwort. »Sie kommen von Herzen.«
Ich fühlte mich schon besser. Wir entfernten uns langsamen Schrittes. Der Hund hörte auf, mit der Katze zu spielen, und begleitete uns bis an den Rand der Dunstglocke, im Kreis um uns herum rennend. Dann verschwand er.
»Falls dieser Idiot von Boxer da ist«, sagte Tito, »sagen wir ihm, du seist im Müll gestürzt und hättest dich dabei an einem Nagel verletzt. Du lahmst ziemlich.«
Auf festem Grund fiel mir das Gehen leichter. Wir kamen an der Hütte des Boxers vorbei, und er saß nicht vor der Tür. Um diese Zeit aßen die Leute zu Mittag und machten Siesta.
»He, Jungs!«, hörten wir eine Stimme in unserem Rücken. Es war dieser Idiot. Wir hielten an und drehten uns um. Wir grüßten einander mit einem kurzen Handzeichen.
»Ich erwarte euch am Samstag«, sagte er.
»Aber sicher!«, sagte Tito zu ihm. »Trainiere gut und vögle wenig!«
»Ich vögle mehr als zwanzig Mal am Tag, Dicker!«, antwortete er, »und dazu kommt noch das obligatorische dreimalige Wichsen!«
Wir kamen zur Autowerkstatt, holten den Laster und fuhren ohne Eile davon.