4

Ich stellte meine Karre auf den Parkplatz. Unter den anderen erkannte ich die Wagen des Kleinen und von Abracadabra. Umringt von Kindern, die um mich herumtanzten wie die Indianer im Film und sich mit ihren schmutzigen Händen den Rotz und Schweiß abwischten, bewegte ich mich ohne Eile und mit einem Lächeln auf den Lippen auf die Gäste zu. Meine Tante kam mir entgegen, um mich zu begrüßen. Sie trug ihr schwarzes, von wenigen weißen Fäden durchzogenes Haar zu einem Kranz zusammengebunden. Sie war alt, hoch gewachsen und immer schwarz gekleidet. Einige Meter von mir entfernt hielt sie inne, öffnete die Arme und kam lächelnd auf mich zu.

»Man sieht sie dir nicht an«, sagte sie, als sie mich in ihre Arme schloss.

»Was sieht man mir nicht an, meine Schöne?«

»Deine dreißig Jahre, Dummkopf.«

»Ihnen auch nicht, meine hübsche Brünette.«

»Vor dreißig Jahren hat man sie mir auch nicht angesehen«, antwortete sie, kokett wie immer, hakte sich unter und führte mich in gemächlichem Schritt zum Tisch.

Ich begrüßte alle Gäste. Es waren um die zwanzig. Da war der Kleine Italo, und ich erkannte einen von Abracadabras Leibwächtern. Jemand reichte mir ein Glas Rotwein. Wir stießen an und machten die gleichen Witze wie immer. Die Frau meines Cousins Toto war in fortgeschrittenem Stadium mit ihrem vierten oder fünften Kind schwanger.

»Man sieht, dass ihr nie ins Kino geht, Mann«, sagte ich zu ihnen.

»Halt die Klappe«, sagte Toto. »Wenn du wüsstest, wie viel Arbeit mich das kostete, sie alle zu machen!«

Ich machte den Kindern aller Eltern und Freunde Komplimente: »Aus ihr ist eine richtige junge Frau geworden. Hat sie schon einen Freund? Und dieser Bengel! Er übertrifft dich bereits um Kopfeslänge! Pass bloß auf, noch ein Jahr und er poliert dir die Fresse!«

Man führte mich zu meiner Cousine Lilia, als ob nichts wäre. Sie war hoch gewachsen, dunkelhaarig, jung und schön und hatte ein blödes, angestrengtes Lächeln. Sie trug Kriegsbemalung, stellte einen unglaublichen Rücken zur Schau und trug eine eng anliegende weiße Hose, unter der man einen winzigen Slip erahnen konnte. Ihr schwarzes, gewelltes Haar – ähnlich dem von Roxana – und ihr dick aufgetragenes Make-up machten deutlich, dass sie eben erst einen Schönheitssalon besucht hatte. In ihrem Quartier.

»Sie hat die Nudeln gemacht, hm«, sagte Tante Marta, ihre Mutter, »ihr wisst also, an wen ihr euch mit euren Beschwerden wenden müsst, hm?«

»Hallo, Lili, gut siehst du aus«, sagte ich zu ihr.

»Was treibst du so, du Streuner? Endlich sieht man dich mal wieder. Papa und Mama sprechen dauernd von dir, aber du schaust nie vorbei. Du lässt uns im Stich.«

In Wirklichkeit, glaube ich, bin ich in meinem ganzen Leben nicht mehr als vier- oder fünfmal in ihrer Wohnung gewesen. Ihr Vater, Onkel Roberto, arbeitete als Buchhalter für den Onkel. Ich nehme an, sie ließen sie auf mich los, weil sie über die Sache mit der Lizenz und der Autowerkstatt Bescheid wussten. Oder weil sie nicht mehr Jungfrau war. Oder wegen beidem.

»Ich ersaufe in der Arbeit. Ich habe nicht einmal Zeit, ins Kino zu gehen. Und du, was treibst du so?«

»Ich arbeite als Sekretärin des Onkels und außerdem lerne ich Englisch«, sagte sie lachend, wackelte mit ihren Hüften und Brüsten, rieb sich die Hände mit den künstlichen Fingernägeln und vollführte mit ihren Texasstiefeln eine Art Stepptanz.

»Falls dich dieser alte Wüstling zu sehr an sich drückt, erzähl es der Tante. Sie wird ihm unverzüglich sagen, wo’s lang geht.«

Alle blickten verstohlen zur Tante hin, lächelten gezwungen und gaben die zu erwartenden Albernheiten von sich: »Wenn das deinem Onkel zu Ohren kommt, setzt es was.«

»Jeder misst die anderen an sich selbst.«

»Schau her, wie der von seinem eigenen Onkel spricht.« …

Bei dieser Gelegenheit schenkte mir Lilia ein Lächeln, das eine Spur zu ungezwungen war, und sie wusste nicht so recht, was sie mit ihren Händen anfangen sollte. Schließlich verschränkte sie ihre Arme, drehte ihre Hüften und schaute mir in die Augen.

»Wollen wir uns nicht setzen, mein Junge, oder warten wir auf ein Defilee?«, fragte die Tante.

Bevor ich einen Stuhl auswählen konnte, nahm sie mich erneut beim Arm und sagte mit ihrer gewohnt ruhigen Stimme, die gleichzeitig sanft und autoritär war:

»Dein Onkel erwartet dich in seinem Büro. Der Kleine und Abracadabra sind auch bei ihm.«

Die Gäste hatten gemäß Familienstruktur und Hierarchie an den Tischen Platz genommen.

Ich bat um Erlaubnis, mich zu entfernen, und wollte gleichzeitig bei den Gästen einen guten Eindruck hinterlassen. Ich setzte das Guter-Junge-Gesicht auf und lächelte, dann hob ich die rechte Hand auf Kopfhöhe und sagte mit lauter Stimme:

»Entschuldigt mich bitte, meine Freunde, das Vaterland ruft.«

»Geh in den Schatten, mein lieber Cousin, sonst holst du dir einen Sonnenbrand«, sagte Lilia, und rang sich ein übertriebenes Lächeln ab, das nett sein wollte.

Ich lächelte zurück und ging auf das Haus zu. Auf dem Boden des großen Saales mit seinen teuren, bequemen und mit grauem Leder bezogenen Sesseln lag ein langhaariger Teppich. Es roch nach Raumdeodorant. Alle Wände waren mit ebenfalls teuren Gemälden und Silbertellern geschmückt. Unter einem Botero saß Cipriano und las die Sportseiten. Er war ein indianischer Typ, groß und kräftig, mit einem riesigen Schnurrbart und einem wenig Vertrauen erweckenden Gesicht. Ich glaube nicht, dass er irgendeinen Freund hatte. Er trennte sich nie von meinem Onkel. Als ich klein war, fuhr er mich zur Schule und wartete, bis sie aus war. Sonntags gingen wir zusammen in den Zoo. Ich war noch ein Jüngling, als er mich auf die Pferderennbahn und ins Bordell mitnahm. Er erhob sich, ohne zu lächeln, und wir umarmten uns. Er trug eine Waffe.

»Sieh an! Ein Gespenst? Herzlichen Glückwunsch. Komm herein. Der Generalstab erwartet dich im Büro.«

Ich klopfte zweimal an die schwere Mahagonitüre und trat ein.

Das Arbeitszimmer meines Onkels war altmodisch möbliert, es hatte dunkle Holzwände, einen Gobelin, noch mehr teure Bilder und eine Bibliothek mit um die dreitausend gebundenen Büchern. Die schweren Vorhänge waren gezogen, und die drei unterhielten sich im Halbdunkel. Sie saßen im spärlichen Licht einer Lampe, die getragen wurde von einer Frauenfigur aus Ebenholz von beinahe realen Ausmaßen. Ihr Oberkörper war nackt, und sie trug einen goldenen Turban und einen blumengeschmückten Blätterrock. Ich kannte die Schwarze aus dem Gedächtnis, denn als ich jung war, pflegte ich mich vor sie hinzusetzen und zu masturbieren, so oft ich Gelegenheit dazu hatte. Sie saßen in drei der vier großen Sessel, die um den kleinen, niederen Tisch aus Glas und Holz herumstanden. Der Tisch überquoll von Aschenbechern aus Silber, Porzellan und Kupfer. Da standen auch drei Gläser mit Whisky, und zwischen den Aschenbechern ein großer, geschlossener weißer Umschlag. Niemand rauchte.

Mein Onkel erhob sich und umarmte mich. Er küsste mich auf die eine Wange und gab mir einen sanften Klaps auf die andere. Er war sechzig, sah aus wie siebzig, und sein Haar war schlohweiß. Er trug ein Hemd aus natürlicher, cremefarbener Seide, eine Hose aus grauem Flanell und Pantoffeln. Seine Füße waren geschwollen.

»Wir haben auf Sie gewartet, mein Neffe«, sagte er. »Ich nehme an, die Freunde hier kennen Sie bereits, nicht?«

Der Kleine lächelte mir zu und hob die Hand zum Gruß, ohne aufzustehen.

»Wir sind uns eben erst begegnet«, sagte er zu den anderen.

Abracadabra erhob sich lächelnd, aber nicht ohne Anstrengung. Er war dick und hinkte mehr und mehr, je älter er wurde. Er war längst über fünfzig, hatte breite Schultern, einen vorstehenden Bauch und maß bloß einen Meter sechzig. Er hatte einen Bart und eine Glatze mit sehr dunklem Haarkranz, den er mit Brillantine kämmte. Er trug Manschettenknöpfe, eine Uhr und einen goldenen Fingerring. Die Schmuckstücke waren sehr groß. Seine Hände waren immer sehr gepflegt, obwohl sie dick und hässlich waren.

Abracadabra umarmte mich, küsste mich auf die Wange und sagte:

»Gib Väterchen ein Küsschen.«

Ich musste mich zu ihm hinunterbücken. Er packte mich resolut beim Nacken und zog mich bis auf wenige Zentimeter an sein Gesicht heran. Er schaute mir in die Augen und lächelte. Ich konnte nicht verhindern, dass ich mich ein bisschen versteifte, denn er zog mich mit viel Kraft zu sich hin. Ich befreite mich sofort und strauchelte rückwärts. Er gab mir einen kräftigen, schallenden Klaps, den ich auch mit einer intuitiven Kopfbewegung kaum abschwächen konnte. Ich hielt den Blick gesenkt und lächelte.

Die Ohrfeige bedeutete, dass mich Abracadabra definitiv akzeptierte. Abras Gestensprache war die beste von all den Jungs im Milieu. Unter Freunden waren seine Gesten ausführlich und offensichtlich. In der Öffentlichkeit waren sie kaum erkennbar, aber immer klar. Manchmal, während eines augenscheinlich banalen Gesprächs, schaffte er es, parallel dazu eine Botschaft in integraler Form zu übermitteln, indem er sich nahezu unsichtbarer Handbewegungen bediente. Selbst wer ahnte, worum es ging, verstand nichts, wenn er diese geheime Sprache nicht kannte. Die Leute, die mit diesen Codes vertraut waren, mussten sehr gut aufpassen, wenn sie den Faden nicht verlieren wollten. Er konnte mit bloßen Handbewegungen jedes Problem lösen.

Abra drehte mir den Rücken zu und faltete die Hände wie zum Gebet. Er senkte den Kopf und legte die Fingerspitzen auf Nase und Mund. Er drehte sich mit großer Behändigkeit um, ohne dass sich in seiner Gestik etwas geändert hätte. Er hob die Brauen, schaute mir in die Augen, und deutete mit ernster Miene mit dem Zeigefinger auf mich, während er die linke Hand hinter seinem Rücken verschwinden ließ.

»Gratuliere, Carlitos! Ich gratuliere dir doppelt: Zum einen zu deinem Geburtstag.« Er ließ den Blick zum Onkel und zum Kleinen hinüberschweifen und setzte die Fingerspitzen der geöffneten Hände auf seine Brust. »Dreißig, das ist ein Alter, das alle hinfälligen Alten wie unsereins gerne zurückhätten«, sagte er lächelnd, um mit weit geöffneten Augen gleich wieder ernst zu werden und erneut mit dem Zeigefinger auf mich zu deuten. »Zum anderen, und das ist bedeutsamer, zu der Entscheidung, die du gefällt hast. Sehr gut, Carlitos, sehr gut. Wir haben ein Geschenk für dich.«

Abracadabra setzte sich und bedeutete mir mit einer Bewegung seiner rechten Hand und der Handfläche nach oben, in dem Sessel gegenüber Platz zu nehmen.

Ich setzte mich, und der Onkel schenkte mir aus einer Kristallflasche, die immer in seiner Reichweite auf dem Tischchen stand, einen Whisky ein.

»Dazu ist es ein bisschen früh«, sagte ich.

»Was für ein Heuchler!«, erwiderte Abracabra und lachte mit den andern zwei, die mit den Fingern auf mich zeigten.

»Heute ist dein Geburtstag, da wird es dir dein Onkel sicher erlauben. Lasst uns anstoßen, bevor wir ihm die Überraschung mitteilen«, sagte der Onkel.

»Ich trinke mit euch, aber nur Mineralwasser«, sagte der Kleine. »Ich habe einen übersäuerten Magen.«

»Auf euch alle und das Unternehmen«, sagte der Onkel.

Wir stießen an, ohne aufzustehen. Als ich das Glas wieder absetzte, sah ich, wie mich die drei anguckten und lächelten.

»Sie haben uns die Lizenz gegeben«, sagte Abra. »Wir haben ideale Räumlichkeiten, und wir beginnen in zwei Wochen. Was die Autowerkstatt betrifft, du hast die Kohle bis nächste Woche, um sie einzurichten. Hier, diese Scheine sind für dich, damit dir die Zeit nicht lang wird«, sagte er, deutete auf den weißen Umschlag, setzte sein rechtes Handgelenk unter das rechte Auge und zog die Haut hinunter. Ein riesiger, weißer, runder, von roten Äderchen überzogener Augapfel kam zum Vorschein. »Und wirf es nicht für Weiber zum Fenster hinaus, sonst hast du in einem Monat nichts mehr. Capisci? Nichts mehr.«

Ich nahm den Umschlag vom Tisch und steckte ihn, ohne ihn zu öffnen, in die Brusttasche und zwar in die auf der Innenseite, die näher beim Herzen lag. Als ich ihn zwischen den Fingern hielt, spürte ich sofort, dass er neue Noten enthielt.

»Es sind amerikanische Dollars. Geh vorsichtig damit um, denn sie sind echt. Ich selbst habe sie erst heute Nachmittag gemacht.«

Alle lachten über den uralten Witz. Das Lachen dauerte nicht lange. Abracadabra setzte eine ernste Miene auf, legte seine behaarten Hände auf seinen Bauch, kreuzte die kurzen stämmigen Beine und räusperte sich.

»Was treibst du gerade?«, fragte er.

Alle drei wurden ernst. Ich hob die Brauen und betrachtete aufmerksam die Vase.

»Nichts, Abra, nichts. Keine Ahnung. Ich gehe von der Arbeit nach Hause, von zu Hause an die Arbeit.«

Ich lächelte, aber die alte peronistische Losung rief auf diesen drei Gesichtern, denen die Muskeln abhanden gekommen zu sein schienen, nicht das geringste Lächeln hervor.

»Ich bin den ganzen Tag über in der Autowerkstatt, obwohl es nicht viel zu tun gibt«, fuhr ich fort. »Ich unterhalte mich und gehe abends ab und zu mit einem Mädchen aus. So in der Art. Ich führe ein ruhiges Leben. Nichts Besonderes.«

»Und was ist mit diesen Drogen, Carlitos?« Abracadabra wurde noch ernster.

Der Kleine und der Onkel folgten dem Gespräch aufmerksam.

»Ab und zu ziehe ich mir mit einem Kumpel oder mit irgendeiner Möse eine Linie. Aber nichts Außergewöhnliches. Was alle tun, halt.«

Ich hatte wieder dieses Zittern. Stärker als zuvor. Ohne dass er seine Haltung veränderte, schien sich Abracadabra in seinem Sessel anzuspannen.

»Heiße Autos, Waffen, gefälschte Papiere?«

Ich wusste, dass Abracadabra bezüglich meiner Tätigkeiten auf dem Laufenden war, dass er genauestens darüber informiert war, was ich tat und was nicht, und dass dies eine Einladung war, mich zu entschuldigen.

»Abra«, sagte ich, »ich schwöre dir, dass ich in nichts verwickelt war, seit ich draußen bin, in absolut nichts. Ich will es schaffen, Abra, ein für allemal. Ganz legal. Ich suche keinen Ärger. Wieso sollte ich alles für eine Dummheit aufs Spiel setzen? Was hätte ich davon?«

Während ich redete, beobachtete ich auch den Kleinen und den Onkel.

»Glaubst du, ich weiß nicht, dass es für mich aus ist, wenn ich es noch mal versaue? Jetzt, wo ihr mir diese Gelegenheit bietet« – Ich wusste, das würde ihnen gefallen –, »werde ich nichts wegen einer Dummheit verspielen. Das war einmal, jetzt ist es aus und vorbei. Wir können viel Kohle machen. Alles ganz legal, das ist gut für uns alle. Ihr investiert das Geld absolut ohne Risiko, und ich setze auf meine Arbeit und auf etwas, das mir Kohle bringt und Ruhe. Ich will in Ruhe leben, Abra, das schwöre ich dir. Ich will keine Probleme mehr haben.«

Der Kleine blickte mit entspannter Miene auf sein Glas Mineralwasser. Der Onkel musterte mich und Abra aufmerksam und nickte nachdenklich und ernst mit dem Kopf.

Abra stützte seine Ellenbogen auf die Armlehnen seines Sessels und kreuzte die Finger vor seinem Kinn. Trotz seines heiteren Ausdrucks hatten seine Augen den gleichen tierischen Ausdruck wie immer. Er seufzte, blickte einige Sekunden an die Decke und fixierte mich wieder mit seinem Blick.

»Schau, Carlitos …«, begann er mit sanfter und ruhiger Stimme, schloss die Augen und löste seine Hände. »Du weißt sehr gut, dass ich kein Engelchen bin. Ich habe bereits Scheiße gebaut, als ich noch in kurzen Hosen umherlief. Mein Alter war Maurer und Kalabrese, er ruhe in Frieden. Er hat nie lesen und schreiben gelernt. Er war solch ein Rüpel, dass wir es nie schafften, ihn zu überzeugen, zum Scheißen auf die Toilette zu gehen. Um zu scheißen, ging er in ein brach liegendes Gelände im Quartier oder an die Ufer des Riachuelo-Flußes. Als ich Kohle hatte, kaufte ich ihm ein Haus mit allem Drum und Dran im Barrio Norte. Weißt du, was der Alte jeden Morgen tat? Er nahm die Tram Nr. 17 und ging hin, um auf irgendeinem unbebauten Stück Land in La Boca zu scheißen. Er wischte sich den Arsch mit alten Zeitungen ab.«

Wir schmunzelten alle sehr diskret.

»Ich wollte nie Maurer werden, Carlitos, und pass auf: nicht etwa, weil ich nicht arbeiten wollte.« Er stieß sich seinen päpstlichen Zeigefinger beinahe ins Auge. »Nein, ich wollte Kohle, aber ich wusste, als Maurer würde ich nie anständig Geld machen. Ich verdiente viel Geld. Ich versichere dir, es war nicht einfach, Carlitos. Ich machte dies und das. Ich will nicht prahlen, der Herr vergebe mir.« Er kreuzte seine Hände vor der Brust und deutete auf den Kleinen und den Onkel. »Meine Freunde können es dir bestätigen: ich habe wirklich viel durchgemacht. Ich hatte ein Glück« – wieder hob er seinen Zeigefinger »wie ihr drei es nicht hattet« – und er umfasste uns alle mit dieser luftigen Umarmung mit den nach oben gerichteten Handflächen –, »und ich sage das ohne Geringschätzung: ich war nie im Knast.« Mit geballten Fäusten verschränkte er die Arme. »Heute, Carlitos, und ich erzähl dir all das, weil ich dich liebe wie meinen eigenen Neffen, heute ist fast alles, was ich mache, legal. Ich gehe mit Gott« – er bekreuzigte sich rasch »und mit dem Teufel.« Er formte mit der linken Hand die Hörner. »Klar, dass ich zwischendurch die Korken knallen lasse, wie jedermann. Ich kann es mir erlauben.«

Abra machte eine Pause und deutete mit seinem Finger auf mich, als wollte er mir damit die Nase abschneiden.

»Aber du nicht, Carlitos! Ich werde dir helfen, weil ich deinen Großvater kannte, weil dein Onkel für deine Moral bürgt, weil der Kleine auch mit von der Partie ist, weil du das Geschäft kennst, und weil ich glaube, dass man den Jungen, wenn sie es wert sind, unter die Arme greifen sollte. Warum auch nicht? Es gibt auf dieser Erde so viele Dreckschweine. Solange du keine Dummheiten machst, wird alles laufen wie geschmiert, sogar dein Strafregister wird mit der Zeit … Ich will dir nichts versprechen, aber es wird sich arrangieren lassen. Aber Achtung! Mit der Zeit«, betonte er, und zog wieder mit dem Finger das Unterlid hinunter.

»Ich versichere dir, Abra …«

Ich beging den Fehler, ihn zu unterbrechen. Der Onkel brauchte mich nicht einmal anzublicken. Er zog bloß die Brauen zusammen und ich verstummte.

»Lass mich ausreden, Carlitos!«, sagte Abra ganz ruhig. »Ich versichere dir, wenn du wieder krumme Dinger drehst, fliegst du auf und wir alle mit dir.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf die anderen beiden und setzte sich den Daumen auf die Brust. »Wenn ich in diese Sache Kohle reinstecke, Carlitos, dann weil ich mehr will, als ich schon habe. Jemandem einen Gefallen tun, ist das eine, was aber schließlich zählt, ist die Kohle. Wir machen einander nichts vor. Ich fasse mich kurz und sage dir bloß dies: Wenn du mit deinen krummen Touren anfängst, mit geklauten Autos krumme Dinger drehst, wenn du mit irgendwelchen Drogen Geschäfte machst, dich auf der Straße in Schlägereien verwickeln lässt und einem Taxifahrer das Gesicht …«

»Aber Abra! Das war doch nichts … der Typ …«

Ich wiederholte den Fehler, ihn zu unterbrechen. Zwei Punkte Abzug.

»Lass mich ausreden, Carlitos, bitte.« Er lehnte sich vornüber und sprach die Wörter überdeutlich aus. »Wenn du noch einmal Scheiße baust, dann denk ich nicht daran, noch einen Finger für dich zu rühren, und … Nun gut, in den Knast würde ich dich zwar nicht schicken.« Er berührte mit dem Zeigefinger und dem Mittelfinger der rechten Hand die linke Schulter. »Ich würde dich auch nicht …« Er tat, als hielte er eine Pistole in der Hand und zielte auf mich. »Aber glaube ja nicht, dass ich dir gratulieren würde, wenn ich deinetwegen viel Kohle verloren hätte und dastünde wie ein Idiot.«

Er machte eine Pause, rieb sich die Hände und blickte an die Decke.

»Ich sage noch einmal, dass es diesmal mehr als gut laufen wird, wenn du dich gut verhältst. Aber du musst deinerseits viel reinstecken. Das sind die Bedingungen, die ich als Geschäftspartner stelle. Was die Ratschläge betrifft, ich erteile sie dir in aller Freundschaft in Gegenwart zweier gemeinsamer Freunde.«

Er machte eine Bewegung, als wollte er sich Staub von den Händen schütteln, öffnete sie dann und präsentierte uns seine Handflächen.

»Ich glaube, klarer kann ich nicht werden. Dies sind meine einzigen Bedingungen. Das ist nicht viel verlangt, nicht wahr?«

Ich ließ, den Blick auf den Boden gerichtet, einige Sekunden verstreichen und nickte mit dem Kopf.

»Natürlich nicht, Abra, ich verstehe dich sehr gut, Abra, und denke nicht, ich sei dir nicht dankbar, ich sei euch nicht dankbar, dass ihr mir diese Gelegenheit bietet.«

»Carlitos«, sagte der Onkel, »dein Onkel Roberto, mein Cousin, wird der Buchhalter der Firma sein und als Zeichen des Vertrauens, das ich dir schenke, wird deine Cousine Lilia deine Privatsekretärin. Sie ist ein braves Mädchen. Durchgeknallt, aber effizient, und sie passt uns allen«, sagte er lächelnd. »Ach, wär ich doch nur so jung wie du! Nun, ich glaube … das ist der beste Vertrauensbeweis, den ich euch geben kann. Ich habe mit deiner Ex-Frau gesprochen.«

Ich blickte ihn leicht verwirrt an. Mit einer Handbewegung bedeutete er mir zu warten.

»Sie ist einverstanden, dass du deinen Sohn einmal pro Woche sehen kannst. Das ist gut so; es ist nicht sehr viel, aber immerhin. Mit der Zeit, wenn sie merkt, dass bei dir alles ruhig läuft, dass du ein normales Leben führst, dass du Geld hast … wer weiß … Du weißt, wie Mütter sind. Das sind meine Bedingungen. Einverstanden?«

»Einverstanden, Onkel, ich bin einverstanden.« Ich wollte noch etwas sagen, aber es fiel mir nichts ein.

letzt war der Kleine an der Reihe.

»Carlitos«, sagte er, »nun zu meinen Bedingungen. Du weißt, wie sehr ich dich schätze, versteh sie deshalb auch als Rat, denn es geht um dein Wohl und um das der anderen.«

Er zog ein Briefchen mit Kokain aus seiner Tasche und knallte es auf den Tisch. Es waren etwa fünf Gramm.

»Heute ist der letzte Tag, an dem du Drogen nimmst. Du wirst auch kein Gras mehr rauchen, außer am Sonntag und mit Freunden. Mit Freunden, sage ich, weder mit Nutten noch schrägen Typen oder Hippies. Sauf so viel Whisky, wie du Lust hast, aber hab die Menge im Griff. Sei nicht um zwei Uhr nachmittags besoffen, damit du imstande bist, am nächsten Tag zu arbeiten. Du streitest dich nicht mehr mit deiner Mutter. Du hörst auf, Roxana zu sehen. Ich begleite dich zu dir nach Hause, du gibst mir alle Drogen, die du hast, und ich spüle sie vor deinen Augen die Toilette hinunter. Danach nimmst du ein Beruhigungsmittel und schläfst bei mir zu Hause. Um vier Uhr bei mir, Capisci?«

»Capito, Kleiner, capito.«

Es wurde still. Es war an mir, zu sprechen. Die drei blickten mich wohlwollend an. Ich musste lachen.

»Ihr macht mich nicht nur reich, ihr macht aus mir auch einen Heiligen.«

Sie lachten laut heraus und kommentierten meinen Witz unter sich. Der Onkel gab mir mit der Handfläche einen Klaps auf das Knie. Wir stießen noch einmal an, und der Onkel nahm eine Perlmuttdose mit einem Silberlöffelchen aus dem Schreibtisch. Nachdem ich mir ein paar Linien gezogen und einige Whiskys getrunken hatte, fühlte ich mich legitimerweise gerührt und stolz. Mit ernster Miene streckte ich die rechte Hand auf wie in der Schule und bat darum, etwas sagen zu dürfen.

Sie schauten mich alle drei an, ruhig und lächelnd.

»Als ich«, hob ich an, »heute Nachmittag in dieses Haus kam, war ich glücklich, weil ich gekommen war, um euch zu sehen. Euch und natürlich all die anderen Gäste, die hier zusammengekommen sind. Ihr wisst, was ich getan habe, und alle anderen wissen es auch, aber zwischen euch dreien und der Tante und allen anderen, die es wissen, gibt es einen Unterschied. Und der besteht darin, dass ihr nicht nur wisst, was ich getan, sondern auch, was ich durchgemacht habe. Ich bin nicht hierher gekommen, um Mitleid zu erwecken«, erklärte ich. »Ich bin hier aus drei Gründen: Erstens will ich euch danken für das Vertrauen, das ihr mir schenkt, und euch gleichzeitig garantieren – das steht euch zu –, dass dieses Vertrauen nicht verraten wird. Weder durch meine Worte noch durch mein Handeln.«

Ich kam mehr und mehr in Fahrt und fühlte, dass es den Alten ebenso erging.

»Und der zweite ist der«, fuhr ich fort, »dass wir einander nicht reinlegen sollten, dass ich das Handtuch werfe, dass mir die Scheiße bis zum Hals steht und dass ich die Nase gestrichen voll habe davon, meine Zeit zu verplempern … Ich will keinen Ärger mehr haben. Ihr wisst sehr gut, wovon ich spreche, denn ihr selbst musstet da vor meiner Zeit auch hindurch. Eines Tages … ich weiß nicht … da wachst du auf und merkst, dass die Leute, die dich lieben, und viele sind es ja wirklich nicht, dir aus dem Weg gehen und dich nicht mehr sehen wollen. Und Recht haben sie. Glaubt ihr, ich hätte das nicht gemerkt? Sogar der Dicke Tito hat mir manchmal was in der Art geflüstert. Okay, ich weiß, der Dicke Tito ist auch kein Heiliger, okay, aber er ist kein Idiot. Er ist in Ordnung, solange man mit ihm keine Spielchen treibt. Er war einer der drei Menschen, die mich besuchten, als ich im Knast war. Ihr wisst wie alle, dass ich gut arbeite. Ich kann aufstehen und mit geschlossenen Augen einen Wagen reparieren. Unser Geschäft hat Rückenwind, denn unter anderem kann ich auch auf eure moralische Unterstützung zählen.«

»Er spricht gut, der Junge! Was für ein ausgezeichneter Einseifer! Und wie gebildet er ist!«, sagte Abra, »… und wie elegant!«

Ich machte eine Pause. Der Whisky und das Kokain waren mir in den Kopf gestiegen, und ich hatte Mühe, die Worte zu finden.

»Der dritte ist persönlicher Art. Ich brauche euch als Freunde … macht euch bitte nicht in die Hose vor Lachen … aber es ist so, es ist wichtig für mich, dass mich die wenigen Freunde, die mir bleiben, zu sich nach Hause einladen, dass sie mir immer wieder ihr Vertrauen aussprechen, was weiß ich … Was ihr mir anbietet, ist sehr viel mehr, als ich verdiene, und das wisst ihr.«

Wieder lachten die Alten voller Wohlwollen.

»Nein, lacht nicht. Es ist wahr, und wir alle wissen es. Ich, na ja, was auch geschehen mag, ich werde euch nie betrügen. Ich … « Es schnürte mir die Kehle zu, und ich fing an zu weinen.

Lachend und gestikulierend unterbrachen mich die drei. Der Onkel hielt inne, lächelte und umarmte mich.

»Das nenn ich einen Neffen, verdammt noch mal! Und nicht diese Scheißkinder meiner Brüder!«

»Was für starke Worte!«, sagte Abracadabra. »Sobald diese Scheißmilitärs verschwunden sind und es Wahlen gibt, mache ich diesen Drecksack zum Abgeordneten. Was für starke Worte, was für ein Einseifer.«

Der Kleine kam zu mir und ließ seine Hand über meine Schulter gleiten.

»Nur ruhig, Carlitos, beruhige dich«, sagte er mit ruhiger und fester Stimme. »Du bist unter Freunden.«

»Hört auf, euch im Versteckten zu besaufen, und tut es in aller Öffentlichkeit!«, sagte die Tante, die eben hereingekommen war. »Unanständige Bande, was sollen die Gäste denken? Die Pasta ist bereit.«

Sie kam zu mir und strich mir über die Wange.

»Und du, mein gequältes Herzchen, wasch dir das Gesicht und komm raus zu uns in den Garten. Mein Glückwunsch, mein Lieber, ich habe immer gewusst, dass du Erfolg haben wirst. Wir werden alle sehr stolz sein auf dich.«

Als ich im Badezimmer war, um mir das Gesicht zu waschen, kam Cipriano herein, mit sehr ernster Miene wie immer.

»Ein Anruf für dich«, sagte er.

»Zur Hölle mit ihnen!« Dann dachte ich nach. »Wer kann es sein? Ich habe niemandem diese Nummer gegeben.«

»Keine Ahnung, wer es ist, es ist wohl besser, du antwortest.« Der Typ am anderen Ende der Leitung macht keinen sehr freundlichen Eindruck.

Ich ergriff den Hörer und hörte die Schreie einer Frau und Männerstimmen. Das Herz schlug mir bis zum Hals, dann fiel der Druck zusammen bis auf die Höhe der Knie, und ich wurde ruhiger. Ich dachte sofort an Roxana.

»Hallo, wer ist der Direktor dieses Zirkus’?«, fragte ich und versuchte den Tapferen zu spielen.

»Wir haben deine Tante und ficken sie durch, du Schwuchtel. Willst du sie noch ein bisschen mehr schreien hören? Wir haben auch deinen Cousin, aber der ist in Sicherheit.«

Wieder hörte ich Schreie und Männergelächter. Die Schreie der Frau waren von unterschiedlicher Intensität. Sie versuchte etwas zu sagen, aber sie hatte keine Stimme und war zu hysterisch. Entweder fehlten ihr ein paar Zähne oder sie war mit Drogen zugedröhnt.

»Fick dich, du Arschloch!«, sagte ich und legte auf.

Ich weiß nicht, wer die Frau war, aber die Stimme war die des Typen, der dauernd bei mir zu Hause anrief.

Als ich in den Garten kam, wiesen sie mir einen Platz zur Rechten des Onkels zu, der nie am Tischende saß. Dort fühle er sich alt, sagte er. Er setzte sich immer in die Mitte des Tisches, wie unser Herr Jesus Christus, und behielt die Eingangstüre im Auge. Der Kleine Maidana saß einige Meter vom Tisch entfernt unter einem Baum und aß Serrano-Schinken. Die Maschinenpistole unter einer farbigen Decke versteckt, zwinkerte mir zu, und wir lächelten beide.

Alle waren sehr zufrieden. Es gab gefüllte Oliven, marinierte Auberginen, kaltes Hähnchen mit Knoblauch und Petersilie, Mozzarella mit Olivenöl und Pfefferschoten, Sardinen und Brot. Alle tranken Wein, und einige der Kinder schliefen in den Rockschößen ihrer Mütter, Cousinen, Tanten oder Schwestern. Eines von ihnen weinte vor Müdigkeit und schlief beinahe ein. Es hatte eine blutende Wunde am Knie. Lilia und andere Frauen brachten drei riesige Kochtöpfe aus der Küche, zwei gefüllt mit Pasta, der andere mit Sauce. Alle applaudierten und stießen Freudenschreie aus. Die drei Frauen füllten die tiefen Teller bis zum Rand, und die Gäste reichten sie weiter von Hand zu Hand. Es wurden die immer gleichen Witze rund um das Essen erzählt, wie es an Festen üblich war: über die Bäuche der Männer und die Hintern der Frauen. Wir alle langten zu wie hungrige Wölfe. Lilia nahm mir gegenüber Platz. Sie blickte mir in die Augen und verschlang die Nudeln wie eine Boa. Ich aß so langsam wie möglich, damit sie mir nicht gleich wieder den Teller nachfüllten. Der Onkel machte es gleich wie ich, lächelte mir mit väterlicher Komplizenschaft zu und gab mir dann und wann einen Klaps auf den Oberschenkel oder den Arm.

»Iss!«, sagte die Tante, die zu meiner Rechten saß, »du bist nur noch Haut und Knochen!«

»Er ist kräftig, er ist kräftig«, sagte der Onkel. »Ihr werdet schon sehen, wie kräftig er ist …«

Nachdem die Nudeln verschlungen waren, wurden Chorizos, Blutwürste, Chinchulines{1}, Nierchen, Tripa Gorda{2}, Euter, Herz, Lende, Rippen, Bries, Hoden aufgetragen und weitere Flaschen Wein. Der Onkel drängte mich dazu, zwei Hoden zu essen.

»Falls du mal heiratest«, meinte er.

Alle Gäste klatschten ihm zu. Mein Neffe Salvador sang mit seiner Fistelstimme »Torna a Sorrento«. Die Tante wischte sich mit der Serviettenspitze eine flüchtige Träne aus dem Gesicht.

Dann brachten die drei Frauen eine riesige Torte mit dreißig Kerzen. Alle sangen, klatschten und drängten mich, ein Riesenstück dieser Masse zu verdrücken, die mit einer süßen Schicht bedeckt und einer widerlichen Füllung gestopft war. Es wurde bereits Whisky und Cognac getrunken.

»Ich wette, du weißt nicht, wer die Torte gemacht hat«, sagte die Tante.

»Sag nicht, es war meine Cousine Lilia.«

Gelächter. Und mit leiser Stimme sagte sie zu mir:

»Seit du hier bist, lässt sie dich nicht mehr aus den Augen.«

»Und du auch nicht. Seit ich aus diesem schmutzigen Loch heraus bin, starren mich alle an. Vorher war ich frei wie der Wind.«

»Carlitos, mein Gott, sei doch für einmal vernünftig!«, gab die Tante verärgert zurück.

»Du wirst schon sehen, dass er vernünftig ist«, sagte der Onkel. »Du wirst schon sehen.«

Er stand auf, hob sein Whiskyglas und schrie:

»Ihr werdet schon sehen, dass er vernünftig ist. Auf ihn kann man zählen.«

Die Gäste feierten seine Worte. Der Onkel zerbrach das Glas auf dem Tisch, zückte sein Gauchomesser mit Silbergriff und legte die Klinge auf das rechte Handgelenk, denn er war Linkshänder.

»Wenn nur einer daran zweifelt, öffne ich mir die Pulsader und schneide mir die Eier ab!«, schrie er noch lauter.

Die Gäste erhoben sich und feierten ihn mit stürmischem Applaus. Der Kleine Maidana tauchte mit einer Gitarre auf und begleitete den Onkel zu der Milonga »Nimm meinen Kleinen«{3}und Abracadabra zum Tango »Beichte«. Da platzte der Kleine Italo in die Feier, ging schnurstracks auf den Kleinen zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Onkel presste die Kiefer zusammen und schaute zum Horizont. Er schickte den Kleinen Italo weg, blickte zu mir, gab mir ein Zeichen und erhob sich, um durch den Garten zu schlendern. Als Maidana das Gesicht des Kleinen sah, als er sich vom Tisch erhob, nahm er schnellstens die nächste Milonga in Angriff. Beinahe niemand hatte bemerkt, dass ich mich ebenfalls vom Tisch erhob und ihm folgte.

Der Kleine erwartete mich unter Maidanas Zitronenbaum.

»Was ist los, Kleiner?«

»Sie haben den Franzosen rausgelassen, das ist los«, antwortete er, ohne mich anzusehen.

»Und, wo liegt das Problem?«

»Spiel hier nicht den Dummen, Carlitos, bitte.«

»Aber es gibt nichts zu befürchten, Kleiner. Es ist mindestens sechs Monate her, dass ich Roxana nicht mehr gesehen habe. Es ist nichts zu befürchten. Was soll schon passieren?«

»Spiel hier nicht den Dummen, Carlitos, bitte!«, sagte er lauter.

»Ich spiele nicht den Dummen, Kleiner, beruhige dich. Es wird nichts geschehen. Was könnte schon geschehen?«

»Scheiße, verdammte! Es lief alles bestens! Verdammte Drecksäcke! Scheiße, verdammte!«

»Aber beruhige dich, Kleiner, es wird schon nichts schiefgehen. Was soll schon passieren?«

»Was soll schon passieren, was soll schon passieren! Dieser Saukerl ist völlig durchgedreht. Wie kommt es, dass er frei ist? Wer hat ihn laufen lassen, verdammt noch mal? Jetzt ist es aus mit Spazierengehen. Verdammte Scheiße, ich hab die Schnauze voll von diesem Scheißdreck!«

»Hat sich wohl einen Straferlass ergattert, der ihn seine ganze Kohle gekostet hat. Er wird sich ruhig verhalten. Er hat fünf Lenze im Dunkeln zugebracht, Kleiner.«

»Und wer, verdammt noch mal, hat dir gesagt, dass du seine Frau vögeln sollst? Wer, verdammte Scheiße! Glaubst du etwa, der Typ weiß nichts davon? Und obendrein hast du ihm auch noch seine Fresse demoliert, als du mit ihm im Knast warst!«

»So war es nicht, Kleiner. Wir hatten eine etwas harte Diskussion, aber sonst war da nichts. Ich habe ihn nicht verletzt, und wir waren alleine im Scheißhaus. Es ist nichts passiert, Kleiner. Ich hatte es gut mit Roxana und auch mit ihm. Wir haben ein Jahr zusammengelebt, dann hat sie mich verlassen. Das ist alles, was geschehen ist, Kleiner. Mehr war da nicht, Kleiner. Und außerdem, ich habe sie nicht gevögelt, als sie seine Frau war. Ich habe sie erst gevögelt, und wie, als sie meine Frau war.«

»Ach, was bist du für ein Idiot, Carlitos!« Er nahm die Brille ab, deckte sich mit der anderen Hand die Augen zu und sagte mit sanfter Stimme: »Ich schwöre dir, ich habe große Lust, dir in die Eier zu treten.«

»Kleiner, tret mir nicht auf den Schwanz. Ich nehme die Sache in die Hand, sorge dafür, dass nichts passiert. Du weißt, ich bin von der Sorte, die so was zu Ende bringen kann.«

»Ach! Und ein Angeber ist er noch obendrein, dieser Idiot!«, rief der Kleine und hob die Arme und den Blick zum Himmel.

Er schloss die Augen und atmete einige Sekunden tief durch. Es sah aus, als ob er weinen würde vor Wut. Das passierte ihm oft, wenn er sich über etwas sehr ärgerte.

»Du weißt, der Franzose hat Rache geschworen, du weißt es, verdammter Idiot!«

»Okay, das hat er, aber er ist am Ende, Kleiner. Glaubst du, er kann weiter rummachen wie vorher? Er hat überhaupt keine Kohle mehr, die Bullen werden ihn Tag und Nacht verfolgen, und überdies hat er keinen einzigen verdammten Freund.«

Der Kleine schaute mir in die Augen, legte eine Hand auf meine Schulter und fragte mich mit ruhiger Stimme:

»Sag mir die Wahrheit. Hast du Roxana mal erzählt, dass wir es waren, die dem Franzosen die Ladung abgenommen haben?«

»Kleiner, ich bin vielleicht ein Idiot, aber du weißt genau, ich bin kein Verräter.«

»Spiel jetzt nicht den Beleidigten, Carlitos. Das Einzige, was ich wissen will, ist, ob wir ihn alle machen müssen oder nicht. Ich weiß, was man sich im Bett alles erzählt, Carlitos. Sag einfach ja oder nein, und ich vergesse die Sache, aber lass mich nicht so lange auf eine Antwort warten.«

»Ich habe es dir bereits gesagt, Kleiner: nein. Aber wenn du willst, erledigen wir ihn, und ich kümmere mich darum.«

»Laber hier nicht rum, bitte. Glaubst du, die Bullen wüssten nicht, wer es gewesen ist? Ist dir klar, was für ein Scheißtheater uns Abracadabra machen wird? Hast du eine Ahnung, wie viel Kohle wir in diese Scheißagentur gesteckt haben?«

Er wandte sich von mir ab, legte die Hände zusammen und blickte in den Himmel. Ich musste lachen und spielte einen Trumpf aus.

»Nun, immerhin kam die Hälfte des Geldes, das wir reinsteckten, vom Franzosen.«

Er drehte sich mit weit geöffneten Augen zu mir um und schaute mich einige Augenblicke an. Sicherlich wusste er nicht, ob er mir in die Eier treten oder lachen sollte. Er lachte, wir lachten beide und umarmten uns. Wir platzten vor Lachen.

»Du bist ein Drecksack, Carlitos, genau wie dein Großvater!«

»He! Wir sollten diesem Schweinehund eine Gewinnbeteiligung auszahlen, schließlich hat er fünfundzwanzig Prozent des Kapitals eingeworfen.«

Wir schüttelten uns vor Lachen. Wir wischten uns beide mit den Taschentüchern die Tränen ab. Das von dem Kleinen war aus blauer Seide mit kleinen, blauen Punkten, genau wie seine Krawatte.

Der Kleine wollte sprechen, aber er konnte nicht, er erstickte beinahe vor Lachen. Nach ein paar Sekunden schaffte er es.

»Erinnerst du dich …, erinnerst du dich an das Gesicht von diesem Deppen in dem Lastwagen, als er die Maschinenpistole sah?«

Wir hielten uns noch eine Weile den Bauch vor Lachen.

»Wir müssen ihn abknallen«, sagte er zu mir, wieder mit ernster Stimme. »Aber kein Wort davon zu Onkel oder zu Abracadabra. Sie werden es früher oder später erfahren. Wohl eher früher als später, leider, aber sie werden die vollendete Tatsache akzeptieren.«

Er nahm mich beim Arm und führte mich an den Tisch zurück.

»Niemand wird ihm Kohle geben«, sagte er. »Er ist verhasster als eine Ratte. Der Kleine Italo kann die Sache bestens erledigen.«

»Der Kleine Italo hat keine Erfahrung, Kleiner.«

»Doch, die hat er. Lass uns nicht wieder von vorne anfangen. Du hast mit dieser Sache nichts zu tun. Ein paar Tage, bevor wir ihn abknipsen, schicken wir dich nach Montevideo. Ich habe Freunde dort bei der Polizei. Sie buchten dich für zwei, drei Tage ein, damit kein Zweifel aufkommt, dass du dort warst, als es geschah.«

»Lass mich bei der Sache dabei sein, Kleiner.«

Der Kleine hielt inne und drückte meinen Ellenbogen mit seinem eisernen Griff.

»Du willst dir ein lästiges Problem vom Halse schaffen«, sagte er. »Du kannst ihn nicht ausstehen, deshalb willst du ihn umlegen. Das ist okay, aber gerade deswegen kann es in die Hose gehen. Auch ich will mir ein Problem vom Hals schaffen, aber ich habe nichts gegen dieses arme Dreckschwein. Deshalb, mein Lieber, übernehme ich die Sache. Capisci?«

»Capito, Kleiner, capito.«

Ich log. Es war das erste Mal, dass ich den Kleinen anlog, aber es war nicht das erste Mal, dass mir klar wurde, dass er mich liebte und ich ihn auch.

Als wir wieder zurück bei Tisch waren, bat uns der Onkel in den Salon.

»Es wird langsam ein bisschen kalt«, sagte er.

Wir begaben uns alle in den riesigen Salon, in dem zwei Kaminfeuer brannten. Die Kinder schliefen in den Sesseln. Die Frauen hielten sich im hinteren Teil auf, die Männer in der Nähe der Tür. Die einzigen Frauen, die in unserer Nähe standen, waren die Tante und Lilia. Ich fühlte, wie mein Magen zu rebellieren begann. Jedes Mal, wenn ich Whisky trank und dazu viel aß, verspürte ich den Drang zu kotzen. Die Gallenblase.

»Fühlst du dich gut, mein Lieber?«, wollte die Tante wissen.

»Nein, ich fühle mich nicht gut, meine Schöne. Ich mache mich langsam auf den Weg nach Hause …«

»Du gehst nirgendwo hin«, sagte der Onkel, und seine Entschiedenheit ließ mich vermuten, dass er über die Freilassung des Franzosen im Bild war.

»Aber Onkel, ich fühle mich nicht gut. Ich will heute früh ins Bett.«

»Wenn du dich nicht gut fühlst, schläfst du erst recht hier«, gab er zurück, »oder hat man dich in diesem Haus vielleicht einmal schlecht behandelt? Die Tante hier wird sich um dich kümmern.«

»Aber ja, sicher, meine Lieber!«, sagte die Tante mit einem Blick auf die übrigen Gäste. »Wo willst du hin um diese Zeit und bei dieser Kälte? Nach dem, was heute Morgen in dieser Kaserne passiert ist.«

»Du bleibst hier heute Nacht, Carlitos«, befahl der Kleine mit ernster Miene, »und dass du mir nicht auf die Idee kommst, dich plötzlich aus dem Staub zu machen, ich bitte dich.«

»Wo wärst du besser aufgehoben als hier, großer Dummkopf?«, fragte Abracadabra, der sofort ein Komplott gegen mich vermutete. Er dachte wohl, sie wollten, dass ich heute Nacht Lilia vögelte, womit er gar nicht so daneben lag.

»Ich gehe nach oben und nehme eine Dusche«, sagte ich, »bin gleich zurück.«

»Ciprianito!«, rief die Tante. »Wo steckt Ciprianito? Ciprianito, bitte komm her und begleite Carlitos nach oben in sein Zimmer, er fühlt sich nicht wohl!«

Cipriano kroch aus seinem Schlupfwinkel unter dem teuren Bild hervor, und ohne etwas zu sagen, nahm er mich beim Arm und führte mich zu der riesigen, mit einem Teppich ausgelegten Treppe. Ich habe keine Ahnung, wieso die Tante wollte, dass ich mit Cipriano hinaufging, aber ich vermute, es war ihr klar geworden, dass ich in dieser Nacht abhauen würde. Ich glaube, sie wusste es, bevor ich es selbst wusste.

Als wir bei meinem Zimmer angekommen waren, fragte mich Cipriano:

»Was ist los mit dir, mein Alter? Siehst ziemlich zerknittert aus.«

»Ich fühle mich nicht gut, Cipriano, bitte geh mir nicht auf den Sack.«

»Hör auf mit dem Koks und dem Whisky. Siehst aus wie ein Gespenst.«

»Hau ab und fick deine Schwester, Cipriano!«

»Nimm eine Dusche und leg dich hin, Idiot.«

»Leck mich, Arschloch!«

Cipriano antwortete nicht mehr. Er öffnete die Tür meines Zimmers, warf einen kurzen Blick in das Badezimmer, dann auf das Fenster, kratzte sich an den Eiern und gab einen Seufzer von sich.

»Wenn du sie heute Nacht nicht vögelst, dann bist du total bescheuert«, sagte er.

»Cipriano, scher dich zum Teufel und lass mich in Ruhe, verdammt noch mal!«

»Ah! Man soll den kleinen Liebling nicht ärgern heute Abend, er ist nervös. Arschloch!«

Er schaute mir in die Augen, kratzte sich noch einmal an den Eiern und ging, ohne sich zu verabschieden. Er ließ die Tür lautlos ins Schloss fallen.

Zwischen Cipriano und mir hatte es immer diese angespannten Dialoge gegeben. Während meiner ganzen Kindheit hat er meinen Arsch abgewischt. Als mein Vater im Knast war, hatte er mir zweihundert Pesos geschenkt. Er ist einer der drei Menschen, die mich besuchten, als ich im Knast war.

Nachdem ich die Nudeln, den Wein und viel Galle gekotzt hatte, fühlte ich mich besser. Ich nahm eine Dusche. Die Seife hatte einen Geruch nach Chemie, der mir Übelkeit verursachte. Ich zog mir saubere Kleider an, die mir die Tante immer kaufte und in den Schrank hängte. Ich kleidete mich nicht zu elegant, damit sie nicht auf die Idee kämen, ich wolle abhauen. Ich packte einen marineblauen Anzug und ein Paar schwarze Schuhe und warf sie zum Fenster hinaus in einen dunklen Teil des Gartens. Ich steckte meine Füße in Pantoffeln aus getriebenem Leder, die die Tante aus Arabien mitgebracht hatte, steckte den Umschlag mit den Dollars in eine Socke und den mit dem Koks in den anderen. Ich schlüpfte in einen Hausmantel aus derselben weißen Seide, wie sie der Onkel zu tragen pflegte, verstaute ein schwarzes Hemd und eine gelbe Krawatte in den Taschen und stieg in den Salon hinunter.

Die Gäste waren bereits gegangen. Die Tante, der Onkel, der Kleine und Abracadabra waren noch da. Und natürlich Lilia, die es arrangiert hatte, dass sie in der Stellung der Maya Desnuda{4} in einem der großen Ledersessel schlafen konnte.

»Na, endlich kann man dich wieder ansehen, mein Lieber!«, frotzelte Abra.

»Er sieht prächtig aus, wie immer«, sagte die Tante.

»Du bleibst heute Nacht hier, Carlitos«, sagte der Kleine. »Ich mach mich langsam auf den Weg.«

»Ich komme mit dir, mein Hübscher«, sagte Abra.

Als ich sie aufstehen und sich verabschieden sah, fühlte ich mich beinahe so allein wie immer, aber ich ließ mir nichts anmerken. Wir verabschiedeten und küssten uns. Wir wünschten uns eine gute Nacht und viel Glück wie immer. Cousine Lilia, der die Kinnlade bereits runterhing, ließ einen Rülpser fahren.

Als der Kleine und Abra gegangen waren, dachte ich, es sei jetzt ein Leichtes, abzuhauen. Ich verspürte eine unglaubliche Lust, Roxana zu sehen. Ich weiß nicht warum. Ich setzte mich mit einem unschuldigen Gesicht neben den Onkel, der bereits vor sich hin schlummerte. Die Tante beobachtete mich aus den Augenwinkeln, als wollte sie das Thema nicht berühren.

»Endlich bist du elegant gekleidet, ohne diese Jeans und Turnschuhe.«

»Danke, meine Schöne«, sagte ich und setzte mein bestes Krankengesicht auf.

»Ihr werdet schon sehen, wie der drauf ist, ihr werdet's schon sehen …«, brummelte der Onkel.

Mir war klar, dass die Alten ihre Anweisungen gegeben hatten und mich die Wache niemals mit meiner Karre aus dem Parkplatz herausfahren lassen würde. Ich erinnerte mich, dass Negrito Epilepsia, der mir aus der gemeinsamen Zeit im Knast noch ein paar Gefälligkeiten schuldig war, nicht weit vom Haus des Onkels wohnte. Ich stand auf.

»Gehst du schon schlafen, mein Lieber?«, fragte die Tante.

»Oh! Geh noch nicht, Roberto …«, sagte Lilia im Halbschlaf.

»Oh! Das Mädchen hat ein verdammt gutes Gedächtnis, wenn es schläft«, sagte die Tante. »Man sieht, sie hat viel gegessen, und jetzt hat sie Albträume. Sie war sehr aufgeregt, als sie das Fest für dich vorbereitet hat.«

»Ich geh und mach mir einen Boldotee, Tante. Soll ich für euch auch einen machen?«

»Ah! Sicher, Carlitos, das wird uns allen gut tun.«

Ich ging an Cipriano vorbei, der bereits sehr müde aussah auf seinem Wachposten.

»Möchtest du nicht einen kleinen Tee, Cipriano? Ich mach mir einen Boldo. Ich habe gekotzt wie ein vergifteter Hund.«

Cipriano schaute mich missmutig an.

»Einen Boldo«, präzisierte ich, »um die Nudeln runterzuspülen.«

»Ja, warum auch nicht.«

Ich ging in die Küche, die hell beleuchtet war und voller farbiger Möbel und automatischer Apparate, für die im Fernsehen Werbung gemacht wurde. Ich öffnete ein Büffet und nahm einige Teller heraus. Ich tastete mit der Hand die Unterseite der Abdeckung ab und fand den Umschlag mit dem Mandrax in Pulverform.

Leg das wieder zurück, Tomassini, sagte der Luzide zu mir.

»Mach keinen Lärm, Luzider. Ich wusste nicht, dass du hier bist.«

Ich kochte Wasser, holte den Boldo, löste das Pulver darin auf und wartete ein paar Minuten.

Ich zog mir rasch ein paar Linien Koks.

Cipriano kam herein. Er schaute sich kurz in der ganzen Küche um und setzte sich dann mir gegenüber. Er sah sehr müde aus.

»Zwei Minuten noch, Cipriano. Er ist gut, dieser Tee. Immer wenn ich mich schwach fühle, trinke ich ein oder zwei Tässchen.«

»Das machst du gut, das machst du gut«, antwortete Cipriano.

Ich schenkte den Tee ein, gab Cipriano eine Tasse und brachte die anderen in den Salon. Ich ergriff meine Tasse, weckte die Schlafenden und sagte:

»Da ist der Tee. Trinkt, bevor er kalt wird. Ich trinke meinen oben, ich fühle mich noch immer nicht ganz gut.«

»Ah! Geh noch nicht, Carlitos«, flüsterte Cousine Lilia in ihrem Verdauungshalbschlaf.

Ich legte mich auf mein Bett und schüttete den Tee in den Bonsai, der daneben stand. Ich wartete etwa zwanzig Minuten. Ich konnte nicht aufhören, an Roxanas Titten zu denken.

Jemand klopfte an die Tür. Die Finger einer Frau.

»Ich komme sofort«, sagte ich, und schenkte zwei weitere Whiskys ein, der eine gut gefüllt mit Mandrax.

Es war Lilia. Sie trug ein durchsichtiges Nachthemd und eine kleine rote Kampfunterhose, die mit Pailletten besetzt war. Ihre Titten sahen besser aus als vorher unter den Kleidern. Ich weiß nicht, wie es ihr gelang, sich auf den Beinen zu halten. Das Mandrax machte ihr schwer zu schaffen. Sie lächelte, so gut sie konnte, der Unterkiefer und die Lider hingen herunter.

»Lilia! Was ist los? Du hast mich erschreckt.«

»Ich habe in meinem Badezimmer kein warmes Wasser«, konnte sie noch knapp artikulieren.

»Wie seltsam! Ich habe erst gerade geduscht, und das Wasser kam kochend heiß aus der Leitung. Nimm doch hier ein Bad. Es ist ein bisschen unordentlich, aber du wirst schon wissen, wie Junggesellen-Badezimmer aussehen.«

Sie lächelte, die Hand, mit der sie sich am Türrahmen aufstützte, rutschte aus und sie schlug gegen das harte Holz. Ich glaubte, sie falle hin, aber sie fing sich auf wie ein Profiboxer nach einem üblen Schlag. Die Jugend.

»Und was führst du im Schilde, so elegant um diese Zeit?«, fragte ich galant.

»Du hast mich noch nicht gesehen, wenn ich elegant bin … Sie schlafen alle.«

»Sie schlafen alle?«, fragte ich. »Wer?«

»Der Onkel, die Tante, Cipriano … alle schlafen sie.«

Sie lächelte mich an, und ich hatte den Eindruck, sie blinzle mir zu. Aber ihr Lid blieb geschlossen.

»Komm herein, ich lass dir ein Bad ein«, sagte ich.

Ich drehte das warme Wasser auf und ließ ein Minimum an kaltem Wasser ein. Ich wusste, sie war nicht mehr sehr empfindlich, aber bei lebendigem Leib verbrennen wollte ich sie auch nicht.

Ich ging ins Zimmer zurück. Lilia lag ausgestreckt auf einem äußerst kitschigen Sofa, ein Geschenk der Tante. Sie kämpfte noch immer heroisch gegen den Schlaf an. Da fielen ihr die Augen bei halb offenem Mund vollends zu. Wie durch ein Wunder kam sie noch einmal zu sich. Ein Schiedsrichter hätte den Kampf abgebrochen.

»Wollen wir noch einen Whisky trinken und dann schlafen wie Engelchen?«, schlug ich vor.

Sie gab eine Art Seufzer von sich, und ich streckte ihr das Glas hin, das ihr aus der Hand fiel. Sie kotzte eine Riesenmenge einer klebrigen Masse, in der man die Nudeln und den Wein ausmachen konnte. Ich legte eine Decke über sie und drehte die Wasserhähne zu. Ich zog die Pantoffeln aus und stieg hinunter in den Salon.

Der Onkel und die Tante schnarchten mit offenem Mund. Ich nahm ihm die falschen Zähne aus dem Mund, knüpfte ihm den Hausmantel gut zu und legte den Onkel in den Sessel. Ich getraute mich nicht, der Tante die falschen Zähne aus dem Mund zu nehmen. Sie hätte mir das nie verziehen. Ich bedeckte sie mit einem Gobelin, machte die Lichter aus und ging in die Küche.

Cipriano war auf den Marmorboden gefallen, auch sein Mund stand halb offen. Er blutete leicht aus der Nase. Er hatte etwas von einem ermordeten römischen Kaiser an sich. Ich untersuchte seine Nase. Sie war nicht gebrochen, nur ein wenig angeschwollen. Ich nahm ihm seine Schuhe und die Pistole weg. Ich schmiss die Schuhe aus dem Fenster und behielt die Pistole und all sein Geld.

Ich ging in den Garten hinaus, wo ich meine Schuhe und meinen Anzug fand. Ich zog mir beides an und band mir die gelbe Krawatte um, kletterte auf den Eukalyptus, auf den ich in meiner Kindheit so oft geklettert war, und sprang wie ein Jaguar über die Grundstücksmauer. Ich war schon auf der Straße und unterwegs zu Negrito Epilepsia, als ich zu mir sagte: »Tomassini, du bist in der Form deines Lebens!«

Blas nicht zum Sieg, bevor es so weit ist …, sagte der Luzide, der bis zu diesem Moment nicht von mir gewichen war. Ich ging die vertraute Straße entlang wie ein junger Kater in einer Liebesnacht. Ich dachte noch immer an Roxana. Die Pistole drückte mich am Bauch, und meine Beine trugen mich, als wäre ich leicht wie Rauch.