Vom Scheitern und Weitermachen
Die Morgensonne malte einen Kringel auf den Teppich. Ich war allein. Es dauerte einen Moment, bis ich mich orientiert hatte und begriff, dass der fremde Raum unser Hotelzimmer war. Doch etwas fehlte. Marlon. Ich setzte mich auf und rief seinen Namen. Vielleicht war er im Bad.
Keine Antwort.
Fröstelnd zog ich die Knie an die Brust. Er würde mich nicht ohne ein Wort verlassen. Sicher nicht?, höhnte es in meinen Kopf. Nein, sicher konnte man sich bei Marlon nie sein. Inständig hoffte ich, er würde keine Dummheiten machen.
Ich grübelte noch, als das Sonnenlicht schon weit über den Teppich gewandert war und plötzlich ein Schlüssel im Türschloss klapperte. Erschrocken zog ich mir die Decke bis unters Kinn.
Zu meiner Erleichterung war es Marlon, der eintrat. Er schien bester Laune und freute sich gleich noch mehr, als er sah, dass ich noch im Bett lag. Ich ärgerte mich über meine Schreckhaftigkeit. In der Hand hielt er eine Papiertüte, der ein verlockender Duft entstieg. Er warf sich zu mir auf die Matratze, schleuderte seine Schuhe von sich und riss die Tüte auf, sodass sie wie eine Picknickdecke zwischen uns auf dem Bett lag. »Ich habe Frühstück gemacht«, verkündete er selbstzufrieden.
Die warmen Croissants ließen mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Außerdem hatte er ein Glas Waldhonig besorgt, in das wir die Gebäckstücke tief eintauchten. Der Honig zog Fäden, tropfte tiefgolden auf das Laken, klebte an unseren Fingern und an meinem Kinn und schmeckte verboten gut. Mich pikten Krümel in den Hintern. Da nichts anderes da war, tranken wir den abgestandenen Sektrest dazu.
»Ich möchte ein paar Dinge klären«, sagte Marlon schließlich. Er klang ernst, aber seine Augen lächelten. Vermutlich hatte er allen Grund dazu. Ich hatte Honig im Haar oder Haare im Honig, wie man es sehen wollte. In jedem Fall sah ich gewiss bescheuert aus, fühlte mich schrecklich albern und äußerst wunderbar dabei.
»Wir sollten über deine Freunde reden.«
Verwirrt hielt ich inne. »Meine Freunde?« Ich hatte sie in den letzten Tagen sträflich vernachlässigt, was mir leidtat. Sie wussten nicht einmal, wo ich war. Natürlich gab es gute Gründe für mein Schweigen, aber die konnte ich ihnen ja wohl kaum offenbaren.
»Würden dir Rosalia und Dominic glauben, Noa?«
Ich blinzelte langsam – ein Zeichen meiner Ratlosigkeit. Was meinte er damit? Was sollten sie mir glauben? Marlons Geschichte? Das konnte nicht sein Ernst sein!
»Schau nicht wie ein Mondkalb«, neckte er mich. »Angenommen, du erzählst ihnen alles – würden sie es dir glauben?«
»Was meinst du mit alles?«
»Alles.«
Ich überlegte. »Dominic ganz sicher. Rosalia … nun ja … Die Geschichte ist tragisch und romantisch, oder?«
»Sehr«, stimmte er seufzend zu.
»Dann auf jeden Fall. Aber du kannst doch nicht wollen, dass ich es ihnen erzähle.«
Marlons Blick sagte etwas anderes. »Ich will nicht, dass du es in dich hineinfressen musst. Ich wäre verrückt geworden, wenn ich in den letzten Jahren niemanden zum Reden gehabt hätte. Vertraust du den beiden?«
Ich nickte benommen.
»Dann tu ich es auch. Erzähl es ihnen, tu mir den Gefallen. Und noch etwas: Geh mit diesem Lukas aus.«
»Wie bitte? Warum sollte ich mit Lukas ausgehen?«
»Weil du das wolltest, als ich noch nicht bei dir war.«
»Aber du bist …«
»… bald wieder fort.« Ich wollte widersprechen, aber er legte mir seinen Zeigefinger auf meine Lippen und schmunzelte, weil sie vom Honig klebten. »Streite nicht mit mir. Nicht heute. Geh mit ihm aus. Es muss nicht sofort sein, aber irgendwann. Bitte, Noa. Versuch es wenigstens. Wenn er dir nichts bedeutet, dann suchst du dir einen anderen. Ich kann dich nicht einsam und allein zurücklassen.«
»Aber du kommst zurück.«
»Wenn es nur die geringste Möglichkeit gibt, dann ja. Falls nicht, muss ich wissen, dass es dir gut geht. Auch ohne mich. Du brauchst mich nicht, verstanden?«
Ich presste die Lippen zusammen, damit sie nicht zitterten, und deutete ein Nicken an, von dem ich nicht wusste, ob ich es mir abkaufte.
»Deiner Mutter«, fuhr Marlon fort, »wirst du unter vier Augen erzählen, dass ich ein irrer Stalker war, der dich bedroht hat.«
Ich würgte ein Lachen hervor. »Was soll das bringen?«
»Manche Leute brauchen einen Weckruf. Andere einen Schrei. Ich glaube nicht, dass du sie so wenig interessierst, wie du denkst. Sie muss es nur merken.«
»Was ist mit meinem Vater?«, fragte ich mit einem Kloß im Hals.
»Dem erzählst du das Märchen vom Biologiestudium, das mich auf eine Expedition quer durch die ganze Welt und in bisher unerforschte Regionen führt, die so exotisch sind, dass du ihre Namen nicht aussprechen kannst, wo ich meinen Doktor in Ornithologie machen werde. Kann man in dem Bereich überhaupt einen Doktor machen? Vermutlich nicht, ist mir aber egal. Schließlich«, er lächelte ein klitzekleines bisschen, »will ich irgendwann wiederkommen. Falls du mich dann noch willst, möchte ich nicht an deinem Vater scheitern.«
Ich schluckte, weil sich ein salziger Geschmack in meiner Kehle ausbreitete. »Wie lange, glaubst du, wird diese Expedition denn dauern?«
»Bis ich weiß, dass es dich gibt und ich dich finden muss, Magpie. Keinen Tag länger.«
Etwas später machten wir uns auf, um Ebony zu treffen. Wir beschlossen, zu Fuß zu dem Treffpunkt zu gehen. Das Wetter war herrlich: warm, doch durch die frische Brise, die vom Meer übers Land hauchte, nicht zu heiß.
Ebony hockte neben dem Rad aus Stein auf einem Sockel, ein zartes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Das hast du wirklich gut gemacht«, sagte sie zu Marlon und deutete auf die Skulptur. »Du hast keine Worte verwendet, die zu viel verraten könnten, nur Töne. Trotzdem ist die Warnung sehr deutlich, allein durch die Melodie. Du rufst Gefühle durch Töne hervor. Wie machst du das?«
»Vielleicht war mein Vater kein Rabe«, antwortete Marlon spöttisch. »Sondern eine Nachtigall.« Ich knuffte ihn in die Seite. Er wurde ernst, als Ebony nicht auf seinen Scherz einging.
»Erinnerst du dich an den Jungen, den ich geliebt habe?«, fragte sie und sah zum Himmel. Mir fiel auf, dass sie dieselben Kleider trug wie am Vortag. Schmutz haftete daran. Sie musste sie irgendwo versteckt haben, als sie in ihren Rabenkörper zurückgekehrt war. Sie seufzte, ehe sie weitersprach. »Nein, wie solltest du auch, ich habe ihn nur ein Mal nach Hause mitgebracht und du warst noch so klein damals. Er hat geheiratet. Man könnte meinen, ich hätte mich umsonst erinnert.«
»Wie kannst du so etwas sagen?«, erwiderte Marlon leise. »Bedeutet es dir gar nichts, ein Mensch zu sein?«
»Es bedeutet, Sorgen zu haben. Weißt du, warum Menschen nicht fliegen können? Weil die ganzen Sorgen sie am Boden halten.«
»Menschen haben bloß keine Flügel«, entgegnete Marlon entschieden. »Dafür haben sie Träume.«
»Hältst du das für mehr wert?« In Ebonys Stimme lagen weder Spott noch Tadel. Sie wollte seine Meinung hören.
Marlon legte eine Hand auf sein Herz. Eine Geste, die bei jedem anderen theatralisch gewirkt hätte. Bei ihm gehörte sie einfach dazu, sie war notwendig, denn er brauchte einen Takt. »Ich kann nur für meine Träume sprechen. Sie sind das Zehnfache des Himmels wert.«
Ebony warf mir einen freundlichen Blick zu, den ersten freundlichen Blick überhaupt. »Er kommt zurück«, sagte sie und ich fühlte mich geehrt, allein, weil sie mit mir sprach. Sie lehnte sich an Marlon und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ich ahnte, dass sie ihm einen alternativen Verwandlungsort verriet, daher trat ich einen Schritt zurück. Ich wollte es gar nicht wissen und sah Marlon an, dass es ihm ebenso ging.
Dann verspannte sie sich urplötzlich.
»Was ist?«, fragte ich, doch im gleichen Augenblick spürte ich es auch. Ein Kribbeln im Nacken, heftig wie von Nadelstichen.
Ein Wagen rollte vor die Zufahrt des Parkplatzes und versperrte sie. Aus einem Auto, das vor dem Hotelrestaurant stand, stiegen zwei Frauen. Im Gebüsch hinter uns, das in dichten Wald überging, knisterte es. Stimmen. Schritte. Scheinbar überall.
Mir brach eisiger Schweiß aus.
»Huntsmen«, flüsterte Marlon.
Sie hatten uns umzingelt.
Ich nahm die hektischen Blicke voller Misstrauen wahr, die von Marlon zu Ebony und von Ebony zu mir schossen. Keiner der Geschwister schloss in der ersten Schrecksekunde einen Verrat aus. Wie auch, sie kannten sich überhaupt nicht. Doch dann beugte sich Ebony vor und hauchte Marlon letzte Anweisungen zu.
Daraufhin rief sie laut: »Zeit, zu verschwinden!«, stand elegant auf und streckte ihren langen Körper dem blauen Himmel entgegen. Wie zu einer Statue erstarrt sah sie auf uns herab. Kalt, hart und gleichgültig. »Ich lenke sie ab. Du solltest laufen, Marlon.«
Marlons Finger schlossen sich wie Schraubzwingen um meinen Unterarm. »Liefern wir ihnen etwas Show«, raunte er mir zu. Mit der linken Hand zog er seine Pistole aus dem Hosenbund. Ich hatte nicht gewusst, dass er sie bei sich trug. Geduckt eilten wir zwischen die parkenden Autos.
Die Tür zum Restaurant öffnete sich und Stephan Olivier trat aus dem Haus. Die Gardinen bewegten sich, neugierige Gesichter lugten hindurch. Von dort konnten wir keine Hilfe erwarten. Vermutlich hatten die Jäger den Leuten Lügen erzählt. Doch vor Zeugen würden sie auch nicht schießen. Oder?
Ebony stand hoch aufgerichtet wie eine Zielscheibe neben dem steinernen Wagenrad. Die Huntsmen näherten sich ihr, die Finger bereits an den Waffen. Sie redeten auf sie ein. Floskeln wie »Ganz ruhig«, »Es passiert Ihnen nichts« und »Alles ist gut«. Ja, ganz bestimmt! Und morgen kam der Weihnachtsmann.
»Sie wird sich verwandeln«, wisperte Marlon.
Wir huschten von einem Auto zum nächsten, Marlon rüttelte an jeder Tür. Alle verschlossen. Fuck! Wir mussten hier schleunigst weg! Wenn Ebony sich in Marlons Nähe verwandelte, würde er im besten Fall zusammenbrechen und im schlimmsten Fall nie mehr aufstehen. Ich drängte ihn, schneller zu laufen.
Einer der Jäger rief uns etwas nach. »Macht doch keine Dummheiten! Ihr habt keine Chance.«
Ich zischte einen Kraftausdruck, Marlon entsicherte die Waffe. Hinter einem Van gingen wir in Deckung.
»Atme durch!«, befahl er im Flüsterton, den Rücken an den Kotflügel gepresst.
Ich schloss die Augen, versuchte meinen Körper zu entspannen und seiner Anweisung zu folgen, um loszustürmen, sobald er es mir sagte. Überdeutlich nahm ich den Geruch des Reifens wahr, neben dem ich kauerte.
Ein unmenschlicher Schrei zerriss, was eben noch angespannte Ruhe vor dem Sturm gewesen war. Wie zerschnittenes Gummi sprang diese Ruhe nun auseinander und die Hölle war los.
Marlon und ich rannten Richtung Wald, ohne nach links und rechts zu schauen. Autos, Bäume und Sträucher wurden zu verschwommenen Farbklecksen. Schreie und Schüsse vermischten sich zu einer Welle aus Krach, die sich hinter uns auftürmte und uns vor sich herjagte. Wir flohen vor den Jägern sowie Ebonys Zauber, der Marlon wie eine Druckwelle nachrollte und ihn zu Boden schleuderte. Ich packte nach ihm, zerrte an seinem Arm. Seine Haut glühte.
»Weiter«, trieb ich ihn an.
Sein Blick entsetzte mich. Seine Augen waren immer schwarz gewesen, aber für eine Sekunde war nichts Menschliches mehr in ihnen. Ich schlug ihm ins Gesicht und er kam zu mir zurück. Wir hasteten weiter, vernahmen Schüsse hinter uns, lautes Fluchen und das Gezeter eines Raben. Oder war es ein Lachen? Das Einzige, was ich wusste, war, dass Ebony ihren Kugeln entkam. Sie flog über uns hinweg und ich erkannte sie.
Pinsel.
Sie war Pinsel.
Hinter uns schwoll ein Geräusch an, das mich zunächst erleichterte. Motoren. Mit ihren Autos konnten sie uns nicht in den Wald folgen, die Pappeln, Kiefern und Nusssträucher standen hier dicht an dicht. Dann zerbröselte diese Erleichterung, denn ich erkannte ein Motorrad, knapp dahinter ein zweites. Marlon warf sich herum, als sie näher kamen, zielte mit vor Anstrengung zitterndem Arm auf die Jäger. Sein Gesicht war wie von Schmerzen verzerrt, all die Kälte geschmolzen. Schweiß rann ihm über die Stirn, lief seinen Nacken hinab und versickerte in seinem T-Shirt.
»Verpisst euch!«, brüllte er. Der Pistolenlauf schwankte zwischen den beiden Verfolgern hin und her. »Verschwindet, bleibt zurück oder ich knall euch ab!« Die Waffe in seiner Hand zitterte wie eine Schlange, die nicht wusste, welchen Angreifer sie beißen sollte. Das Zögern kostete uns den Kampf.
Ich presste mich an Marlons ungeschützte Seite und versuchte, die Tränen zurückzuhalten, während die Motorräder auf uns zukamen. Wir hatten immer noch die Waffe. Und dennoch keine Chance, das erkannte ich jetzt. Marlon würde nicht als Erster schießen. Er war nicht skrupellos. Kein Mörder. Er wollte niemanden töten, hatte es nie gewollt. Ich schloss die Arme um ihn, schmiegte mein Gesicht an seine Schulter, ohne die Jäger aus den Augen zu lassen. Irgendwie tröstete es mich, dass er nicht kaltblütig abdrückte.
»Es ist gut«, stammelte ich, nur damit er wusste, dass ich ihm keinen Vorwurf machte.
Er hob die Hand, als Zeichen der Kapitulation, rief unseren Verfolgern zu, dass er sich ergeben würde. Ich spürte, wie Marlons Herz polterte, wie er Atem holte, um mir etwas zu sagen.
Ein peitschendes Geräusch verschluckte seine Worte. Mir blieb schlagartig die Luft weg. Marlon brüllte übelste Beschimpfungen. Schüsse donnerten, ich roch Rauch. Er schoss! Marlon feuerte die Waffe mehrfach hintereinander ab. Mein Blick fiel auf meine Hüfte, wo sich ein kühles Prickeln ausbreitete. In meinem Fleisch steckte ein Pfeil. Ein albernes Ding mit neonpinkfarbenen Federn. Ich griff danach. Sie waren erstaunlich weich. Ganz harmlos, ich hatte nicht einmal Schmerzen. Ein leichter Schwindel erfasste mich. Ich zog an dem Pfeil, aber er entglitt meinen Händen. Ich spürte, wie Marlon mich zu stützen versuchte, aber ich rutschte trotzdem zu Boden. Sein Brüllen hörte nicht auf, nur die Lautstärke nahm ab. Statt der Schüsse hörte ich nun ein Klicken. Ein unaufhörliches klick, klick, klick. Klickklickklick. Ein Kranz aus Dunkelheit umrahmte mein Blickfeld, in der Mitte wurde es immer heller. Ich spürte noch, dass Marlon mich an sich zog, wie betrunken meinen Namen lallte. Was dann geschah, zerlief in Nebel.
Es schmerzte dort, wo meine Hände sein sollten. Bewegen ließen sie sich nicht. Ich blinzelte mehrmals, damit sich der Schleier vor meinen Augen lichtete. Langsam kam ich zu mir – zumindest mein Kopf. Mein Körper schien noch fest in der Hand der Ohnmacht. Ich hörte Stimmen, fremde Stimmen, schloss die Augen, da ich niemanden wissen lassen wollte, dass ich wach war, und lauschte. Es dauerte einen Moment, ehe ich sie durch das Rauschen in meinen Ohren verstehen konnte.
»… permanent ein Mann vor dem Haus positioniert. Wir können bedenkenlos bis Sonntag hierbleiben und die Aktion wie geplant starten.«
»Mal im Ernst, Olli. Sie glauben doch nicht, dass es hier morgen eine Metamorphose geben wird. Wir sollten die beiden einladen und verschwinden. Die Vögel flattern davon, von denen sehen wir hier keinen mehr.«
»Bei allem Respekt, General, aber das denke ich nicht.« Eine Pause dehnte sich aus und zerrte an meinen Nerven. Dann sprach Olivier weiter. »General, die Familienbande dieser Kreaturen scheinen eng, besonders bei den Raben. Der Schwarm wird in der Nähe bleiben, solange der Junge hier ist. Außerdem ist da noch der ältere Bruder. Der ist schon zwanzig und hat keine Zeit mehr. Es wird eine Metamorphose geben, vertrauen Sie mir.«
»In Ordnung, warten wir also noch ab. Auf den Tag kommt es nicht an. Übrigens, gute Arbeit, Olli.«
»Gute Arbeit wäre es gewesen, wenn wir Adrian nicht verloren hätten«, erwiderte Olivier bitter. »Der Junge hat ihn mit drei Kugeln erwischt, er war sofort tot.«
»Tut mir leid für Sie. Sie haben lange zusammengearbeitet, richtig?«
»Vier Jahre, General.«
»Der Junge wird seine Strafe bekommen. Was macht eigentlich Ihr Arm? Ich habe gehört, Sie sind auch getroffen worden.«
»Glatter Durchschuss, kaum der Rede wert.«
Ich hielt die Luft an. Wenn Marlon seine Strafe bekommen würde … dann war er noch am Leben.
Schritte näherten sich. Ich spürte, dass mir mein Rock über die Oberschenkel gerutscht war, meine Beine lagen nackt auf kaltem Steinboden. Das Stillhalten fiel mir so schwer wie noch nie in meinem Leben, aber ich hatte nicht den Mut, diesen Leuten ins Gesicht zu sehen.
»Was ist mit dem Mädchen?«, fragte der Mann, den Olivier General genannt hatte. Ich spürte seine Blicke auf mir. Mir wurde ganz schlecht. »Gibt es schon Gewissheit, was sie ist?«
»Noch nicht, General. Zu den Raben gehört sie nicht, so viel steht fest. Sieht eher aus wie ein Spatz. Der Junge hat gestammelt, sie hätte nichts damit zu tun, bevor er das Bewusstsein verloren hat.«
»Natürlich nicht«, höhnte der General. »Diese Vögel haben ja nie mit irgendetwas zu tun.«
»Die reinsten Friedenstäubchen. Verwunderlich ist nur, dass dieses Spätzchen ständig um unsere Vögel herumflattert. Aber um ehrlich zu sein, halte ich sie eher für ein Opfer dieser Kreaturen.«
»Armes Ding.« Der Tonfall des Generals klang spöttisch und ich hasste ihn dafür. »Nun, wir werden es bald genau wissen.«
Die beiden Männer entfernten sich, ich verstand nicht mehr, was sie sagten. Ich hörte ein rollendes Donnern, schließlich einen Knall und dann folgte tiefste Stille. Erst jetzt wagte ich, die Augen wieder zu öffnen. Ich lag mit dem Gesicht einer nackten Wand zugewandt. Zunächst versuchte ich hastig, meinen Rock nach unten zu ziehen, was sich als schwierig herausstellte, man hatte mir die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Ich warf mich herum und ein Schrei brach über meine Lippen – Marlon lag auf der anderen Seite der Garage, sein Gesicht ruhte in einer Blutlache. Was hatten sie ihm nur angetan? Ich mühte mich auf die Knie, kroch zu ihm und presste die Lippen an seine Halsbeuge. Seine Haut war kühl, aber darunter spürte ich einen Puls. Ich wisperte seinen Namen. Mehr als ein Zucken seiner Lider bewirkte ich damit nicht. Sein linkes Auge war völlig zugeschwollen, die Lippe aufgeplatzt. Seine Hände waren wie meine gefesselt. Mit Kabelbindern, wie ich jetzt erkannte. Eilig sah ich mich nach etwas um, womit ich uns befreien konnte, aber die Garage war vollkommen leer. Nur ein stinkender Ölfleck am Boden und eine Leuchtstoffröhre an der Decke leisteten uns Gesellschaft. Lieber Gott, das sah böse aus.
Ich stieß Marlon an, aber erreichte nur, dass er mit dem Gesicht über den Boden schrammte. Das ging so nicht, ich musste etwas tun. Ich riss an meinen Fesseln. Sinnlos. Wenn ich die Arme wenigstens vor den Körper bekäme, dann würde ich mich nicht mehr wie ein Käfer fühlen, den man aufs Kreuz gelegt hatte. Ich machte den Rücken rund, rollte mich zu einer Kugel zusammen und schob die gefesselten Hände unter meinem Po hindurch. Es war Millimeterarbeit, ich brauchte viel Kraft und die Kabelbinder schnitten mir in die Handgelenke. Wären meine Arme nur einen Zentimeter kürzer gewesen, hätte ich es unmöglich geschafft. Ich kippte um, stieß mir schmerzhaft die Schulter, doch es gelang. Mit den Beinen durch das O zu schlüpfen, das meine Arme um die Oberschenkel formten, war ganz leicht. Nun waren meine Hände zwar immer noch zusammengebunden und durch die engen Fesseln wurden meine Finger bereits blau, aber ich machte mich sofort daran, die Plastikschlinge mit den Zähnen zu bearbeiten. Das war schwieriger, als ich gedacht hatte, und dauerte länger, als meine Nerven durchhielten.
Marlon kam zu sich und stöhnte leise. Ich zog seinen Kopf in meinen Schoß, was ihm ein schmerzerfülltes Keuchen entlockte.
»Tut mir so leid, Marlon. Halte durch.« Ich biss und zerrte weiter an der harmlos anmutenden Kunststoffschlinge. Wie konnte dieses beschissene Plastik nur so zäh sein? Als ich es endlich geschafft hatte, liefen mir Schweiß und Tränen übers Gesicht. Tiefe Schnitte hatten sich in die Haut an meinen Gelenken gegraben und das Blut, das nun zurück in meine Hände floss, verursachte höllische Schmerzen. Ich hatte das Gefühl, alle meine Zähne seien locker – zwischen ihnen hingen Kunststofffasern. Doch ich konnte die Finger bewegen, ich konnte Marlon das Haar aus der Stirn streichen und ich konnte die Fäuste ballen vor Wut auf diese verdammten Jäger.
Das Erste, was Marlon sagte, war: »Nein, mir muss es leidtun. Ich habe dich in all das reingezogen.« Er brauchte länger als eine Minute für diese beiden Sätze.
»Ich fürchte, ich gehöre hierher. Zu dir.«
Er schloss erneut die Augen und ich bekam ihn ein paar Minuten nicht wach. Schließlich fragte er: »Was ist passiert?«
Es dauerte qualvoll lange, bis Marlon wieder bei vollem Bewusstsein war. Er wusste nur noch, dass wir uns ergeben hatten und sie dann mit Betäubungspfeilen auf uns geschossen hatten. Nicht dass das nicht schon schlimm genug war. Ich war siebzehn Jahre alt, hatte niemandem je etwas Böses gewollt und konnte am Nachgeschmack, den ich im Mund hatte, eine Betäubung mit Chloroform von einer mittels Giftpfeilen unterscheiden. Das war doch nicht richtig! Doch so, wie Marlon aussah, konnte das noch nicht alles gewesen sein. Die hatten ihn übel zugerichtet. Seine Lippen waren blutverkrustet und so trocken, dass er kaum sprechen konnte. Die Huntsmen hatten uns nicht einmal Wasser dagelassen. Jede Bewegung tat Marlon weh. Vorsichtig tastete ich über seine Rippen, aber mehr als Schwellungen konnte ich nicht diagnostizieren. Herrgott, ich war doch keine Krankenschwester. Mein Arm juckte. Mit einem Zipfel meines Rockes tupfte ich Marlon das Blut von der Lippe und erzählte ihm von dem Gespräch zwischen Olivier und dem Mann, den er General nannte. Doch eine Sache ließ ich unerwähnt: den Toten.
»Hilft uns das weiter?«, fragte ich abschließend.
Marlon zeigte ein bemühtes Grinsen. »Offenbar schon, sonst hätten sie mich längst erschossen. Es sei denn –«
Es sein denn, sie brauchten ihn lebend. Wozu auch immer. »Hör auf!«, unterbrach ich ihn barsch und sprang auf. »Ich will so was nicht hören.« Ich lief zur Hintertür und rüttelte daran. Verschlossen. Natürlich – was hatte ich erwartet? Auch das große Schwingtor rührte sich nicht. Ich trat dagegen. »Fuck!«
»Ich hätte sie niederschießen sollen«, murmelte Marlon. »Ich hatte die beiden direkt vor dem Lauf, Magpie, aber ich konnte nicht abdrücken. Ich habe ihnen ins Gesicht gesehen und, Jäger hin oder her, ich konnte nicht, verstehst du?«
Ich nickte. Hockte mich neben ihn. Nickte noch einmal, weil es ehrlicher wird, wenn man sich näher ist. »Ist schon gut. Du hast nichts falsch gemacht, überhaupt nichts.«
Ich erzählte ihm nicht, dass er einen Mann erschossen hatte. Ein Leben auszulöschen, verändert das eigene. Auch wenn man im Krieg ist und der Getötete der Feind. Es hinterlässt Spuren auf der Seele. Wenn du jemanden tötest, so sagt man, stirbt ein Stückchen von dir mit. Dieser Tote sollte Marlons Gewissen nicht zusätzlich belasten, darum behielt ich das Wissen für mich. Richtig oder falsch? Es war mir scheißegal. Ich ergriff schlicht und ergreifend die Möglichkeit, ein wenig von Marlon zu beschützen.
»Weißt du, was ich denke?«, fragte ich. »Sie haben keine Ahnung, dass wir ihre Pläne kennen. Sie glauben zu wissen, wo die diesjährige Verwandlung stattfinden wird. Dass der Ort inzwischen ein anderer ist, haben die Jäger nicht mitbekommen.«
»Wie auch«, meinte Marlon. Seine Schultern zitterten ein wenig. »Sie können nicht wissen, dass du diesen Zettel gefunden hast.«
»Ich frage mich, wie sie von unserem Treffen mit Ebony erfahren haben. Sie waren bestens vorbereitet und haben uns ganz gezielt umzingelt.«
»Entweder sind sie uns gefolgt«, überlegte Marlon, »oder jemand hat uns verraten. Das liegt nahe, schließlich wussten sie auch von der Metamorphose in Mitterhafen. Vielleicht haben wir einen Verräter in unseren Reihen.«
»Wer sollte so etwas tun?«
»Ich kenne außer Ebony niemanden aus dem Schwarm, Noa. Ich habe nicht die geringste Ahnung. Wichtiger ist erst mal, dass wir hier rauskommen.«
»Olivier sagte, er lässt das Haus bewachen.« Ich prüfte gerade Marlons Fesseln, da runzelte er die Stirn.
»Noa, was ist das da an deinem Arm?« Sein besorgter Gesichtsausdruck erschreckte mich. Ich folgte seinem Blick. In meiner Armbeuge, die die ganze Zeit schon bestialisch gejuckt hatte, prangte ein geröteter Punkt.
»Ist das eine … Einstichstelle?« Ich rieb darüber, aber der Punkt verschwand nicht. »Wie von einer Spritze.« Bei dem Gedanken daran, dass die Huntsmen mir irgendetwas injiziert hatten, wurde mir gepflegt übel. Die bösartigsten Erkrankungen tanzten in meinem Kopf Squaredance. Ich schluckte heftig, um den Würgereiz zu unterdrücken.
»Vielleicht ein Betäubungsmittel«, versuchte Marlon mich zu beruhigen. »Möglicherweise wirkte das Mittel in den Pfeilen nicht lange genug.« Unweigerlich sah ich auf seine Arme. Keine Einstichstellen.
Ich spuckte auf den Punkt und verrieb den Speichel, als würde ich den gröbsten Dreck damit wegbekommen und der Ekel abflauen.
Marlon sah mich an, die Augen nass vor hilfloser Wut. Aber Panik hatte keinen Sinn, wir mussten Ruhe bewahren.
»Beug dich vor, damit ich deine Fesseln aufmachen kann«, sagte ich und versuchte, nicht mehr an Spritzen mit dubiosen Inhalten zu denken – schwieriges Unterfangen, äußerst schwierig, um nicht zu sagen: zum Scheitern verurteilt. Die Schlinge um Marlons Hände war deutlich fester zugezogen als meine. Ich fand mit den Zähnen keinen Ansatzpunkt und bekam sie nicht durchgebissen, ach, nicht einmal angeknabbert. Sie zog sich sogar noch weiter zu, als ich mit den Zähnen daran riss, sodass ich frustriert aufgeben musste. Ich wollte gerade einen wütenden Schrei ausstoßen, da hörte ich Schritte. Rasch griff ich nach dem zerbissenen Kabelbinder, mit dem sie mich gefesselt hatten, versteckte ihn in meiner Rocktasche und kauerte mich neben Marlon an die Wand, die Hände hinter dem Rücken versteckt.
Die Hintertür der Garage wurde geöffnet. Wir blickten erst in den Lauf einer Waffe, dann in das ausdruckslose Gesicht von Stephan Olivier. Neben ihm stand eine Frau, ebenfalls bewaffnet. Sie bewachte die Tür, während Olivier, der mit einem langärmligen Hemd und Jeans bekleidet war und einen Rucksack trug, eintrat. Er war noch immer ein enorm gut aussehender Mann und noch immer hatte er mir in der U-Bahn das Leben gerettet. Trotzdem war er zu meinem personifizierten Albtraum geworden. Dass ich Naivchen geglaubt hatte, er sei ein Schutzengel, war im Nachhinein der Gipfel an Absurdität. Ich musste fast laut lachen, verkniff es mir aber, weil ich dann sicher die Nerven verloren und einen Heulkrampf bekommen hätte. Ich beließ es dabei, die Zähne zusammenzubeißen und ihn wütend anzustarren. Marlon beherrschte diese Technik besser, denn seine Wut saß tiefer und gleichzeitig ließ er sich genau das nicht anmerken. Er sah zum Himmel schreiend arrogant aus, wie er mit zerschlagenem Gesicht im Staub kauerte und zu Olivier aufsah.
Der ging einen Meter von uns entfernt in die Knie und forschte unverhohlen in Marlons Miene. »So sieht man sich wieder.«
»Ja«, meinte Marlon trocken. »Ich bin auch höchst unerfreut.«
»Du hast geglaubt, du würdest es schaffen, oder? Soll ich dir was sagen? Bis heute Morgen dachte ich das auch. Ist schon bemerkenswert, dass wir dich an deinem letzten Tag als Mensch in die Finger kriegen.«
»Lass mich eine Nacht drüber schlafen, ob ich euch gratuliere.«
Olivier stieß zischend Luft durch die Zähne aus. »Spar dir deine gute Laune besser auf, du wirst sie noch brauchen.«
»Ich kann es mir denken und daher kooperiere ich«, entgegnete Marlon kühl und mein Herz setzte für einen Schlag aus, um dann in doppelter Geschwindigkeit weiterzurasen. »Egal was ihr verlangt. Ich sage euch, was ich weiß.«
»So, so.« Olivier spottete nicht. Er schien allerdings auch nicht erstaunt. »Wie kommt es zu diesem Sinneswandel?«
»Ein Geständnis und eine Bitte«, sagte Marlon und griff damit meine Worte auf. »Meine Freundin ist ein Mensch. Ich weiß, dass ihr solche Verbindungen verabscheut und bestraft.« Ach? »Ich will, dass ihr sie freilasst. Hier und jetzt. Ich will, dass sie unbehelligt nach Hause gehen kann.«
Olivier stand auf. »Tut mir leid. Wir haben keinerlei Interesse an deiner – wie nanntest du es? – Kooperation. Was sollen wir mit einem komischen Vogel, der singt, wenn wir zwei komische Vögel haben können, die beide früher oder später singen?«
Marlon atmete tief ein. »Sie ist keine Harpyie.« Sie weiß nichts von dem, was ihr erfahren wollt. Wir haben ihr nichts gesagt.
»Das werden wir bald erfahren«, gab Olivier gelassen zurück.
Der Mann machte mir ernsthaft Angst. Er war glatt wie eine Eisfläche und ebenso kalt. Ich fragte mich, ob in ihm überhaupt noch ein Mensch mit Gefühlen steckte oder vielleicht eher eine programmierte Maschine. Aber dann erinnerte ich mich an das Frettchen, das er oft bei sich hatte. Ein Tierfreund konnte doch nicht vollkommen herzlos sein, oder? Dass Hitler seine Schäferhündin sehr geliebt haben soll, blendete ich aus.
»Was haben Sie mit uns vor?«, wollte ich wissen. Das Beben in meiner Stimme schien mir zugutezukommen.
Olivier gab keine Antwort, allerdings warf er mir einen abschätzenden Blick zu, steckte die Pistole in das Holster und zog eine Wasserflasche aus seinem Rucksack. Er drehte sie auf, kam auf mich zu und hielt sie mir an die Lippen. Ich trank etwas, doch aus der Flasche lief zu viel, sodass ich mich verschluckte und husten musste. Er kippte einfach weiter, schüttete mir das Wasser über Gesicht, Dekolleté und Brust. Beinahe hätte ich das Wasser mit den Händen abgewehrt und mich verraten.
»Verdammt, lass sie in Ruhe, du Mistkerl!«, brüllte Marlon.
Olivier schlug ihm die Flasche gegen die Schläfe und setzte einen Tritt gegen seine Brust nach. Marlon taumelte, konnte gefesselt das Gleichgewicht nicht halten und fiel um.
In Seelenruhe schüttete mir Olivier die letzten Wassertropfen über den Kopf. Dann schlug er mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Diesmal verriet ich mich. Ich riss die Hände schützend vor meinen Kopf. Er schien das nicht einmal zu bemerken. Stattdessen verpasste er mir eine weitere schallende Backpfeife. In meinen Ohren klingelte es, dahinter hörte ich mich wimmern. Marlon trat nach Olivier und brüllte wüste Beschimpfungen.
Olivier fasste mir an die Stirn, ich wich zurück, aber er griff mir ins Haar und hielt mich fest. Die Flasche fiel herunter, zerbrach neben mir auf dem Boden. Ich spürte Scherben gegen meine nackten Unterschenkel springen.
Er legte mir erneut die Hand auf die Stirn, als würde er meine Temperatur fühlen. Dann ließ er mich los und machte einen Schritt auf Marlon zu. »Du streitest nicht ab, dich verwandeln zu wollen?«
Marlon antwortete mit einem hasserfüllten Blick.
Olivier seufzte. Er trat ihm gegen die Hüfte, holte ein weiteres Mal aus und traf ihn am Oberschenkel. Über Marlons Lippen kam ein unterdrückter Schmerzlaut.
»Aufhören!«, schrie ich. Ich verstand, was der Huntsman tat. Er dachte, durch Provokation die Verwandlung auslösen und uns damit als Harpyien identifizieren zu können. »Er wird sich verwandeln! Er hat es nie abgestritten, oder? Hören Sie damit auf!«
»Ist das wahr?« Olivier beugte sich über Marlon, der jeden Muskel anspannte, um sich vor weiteren Tritten zu wappnen. »Gibst du es zu, eine Chimäre zu sein?«
Marlon zuckte mit den Schultern. »Ich wünschte, ich könnte es abstreiten.«
Olivier nickte, wandte sich ab, verließ mit der Frau die Garage und schloss zweimal hinter sich ab.
Ich sprang über die Scherben zu Marlon, wir rückten aus der Wasserpfütze und verbrachten einige stille Minuten damit, uns aneinanderzulehnen. Dann stand ich auf, trat zur Hintertür, schlug dagegen und brüllte Beschimpfungen, bis ich heiser war.
»Besser?«, fragte Marlon, nachdem ich mich beruhigt hatte.
»Nein.« Ich hockte mich hin und suchte nach einer Scherbe. »Dreh dich um, ich versuche es noch mal.«
»Und dann?«
Ich schnaubte trotzig. Und dann? Was sollte die dumme Frage? Es gab weder ein Und noch ein Dann, denn wir konnten nichts tun. Die Tür war verschlossen. Wie das Schwingtor war sie aus Metall und würde sich ohne Werkzeug – das uns bedauerlicherweise fehlte – nicht öffnen lassen. Nicht zu vergessen, dass vor dem Haus jemand Wache hielt, der im Gegensatz zu uns bewaffnet war. Herrgott, der Mist stand uns bis zur Unterlippe! Nichtsdestotrotz musste ich irgendetwas tun. Marlons Hände vor dem Absterben zu retten war schon mal ein Anfang.
Ich fand eine Glasscherbe, die über eine scharfe Spitze verfügte, sich aber gleichzeitig durch eine abgerundete Seite gut greifen ließ. Es war eine mühsame Arbeit. Ich musste vorsichtig sein, um Marlon nicht zu verletzen, gleichzeitig aber mit Kraft vorgehen, denn so ein Kabelbinder ist wirklich verdammt zäh. Natürlich patzte ich, rutschte ab und fügte Marlon einen tiefen Kratzer zu. Er gab keinen Laut von sich, zuckte nicht einmal zusammen. Ich war mir nicht sicher, ob er es überhaupt gespürt hatte, und arbeitete weiter, ohne ihn um Verzeihung zu bitten.
Als die Plastikschlinge endlich nachgab, fielen Marlons Hände schlaff zu seinen Seiten herab. Ich seufzte erleichtert und bekümmert zugleich, denn mit dem Durchtrennen der Fessel hatte ich alles getan, was ich tun konnte. Nun schlug die Hilflosigkeit erneut wie eine Faust auf mich ein. Erschöpft sank ich gegen die Mauer. In den nassen Sachen begann ich allmählich erbärmlich zu frieren. Vielleicht fror ich auch schon die ganze Zeit, aber zuvor hatte ich es nicht bemerkt. Meine Armbeuge juckte vor Ekel, als hätten sich Maden darin eingenistet. Ich kratzte mir die Haut blutig, während Marlon seine Gelenke rieb und die Schultern dehnte. Schließlich zog er sein T-Shirt aus und reichte es mir. Ich wechselte es gegen mein nasses und breitete dieses zum Trocknen auf dem Boden aus.
Zusammen untersuchten wir noch einmal das Tor auf eine Möglichkeit hin zu entkommen. Marlon rüttelte, fühlte, schaute in jede Ritze und begutachtete das Schloss. Nichts. Schließlich trat er mit Anlauf so hart dagegen, dass mir der Donnerhall schier das Gehör aus dem Kopf blies. Fehlanzeige. Mal was ganz Neues. Der Tritt hatte Marlon nicht gutgetan, er sank weiß wie ein Blatt Papier zu Boden, krümmte sich und hielt sich die Rippen.
Ihm nicht helfen zu können machte mich rasend. Meine Hilflosigkeit ließ mich vergessen, dass ich selbst ebenso eingesperrt war; sie ließ mich die Ohrfeigen vergessen, obwohl meine Wangen heiß waren, und sie ließ mich jegliche Angst vergessen. Ich tigerte in der Garage auf und ab, ganz auf meine gleißende Wut konzentriert, die alle anderen Gefühle wie Säure auflöste. Als ich mich schließlich wieder zu Marlon setzte, hatte ich mich nicht beruhigt, sondern lediglich mit Zorn betäubt. Die Erschöpfung umfing mich, kaum dass ich den Rücken an die Wand und den Kopf an Marlons Schulter lehnte. Meine Augen fühlten sich wund an, es war eine solche Erleichterung, sie zu schließen. Nur einen Moment, ich wollte gar nicht schlafen, nur für ein paar Sekunden die Augen zumachen.
»Kleine Kämpferin«, murmelte Marlon. »Nichts und niemand kriegt dich klein. Du kommst hier raus, ich verspreche es dir.« Es klang, als spräche er durch dicke Watte. Ein flüsterndes Kribbeln verriet mir, dass er über meine Fingerknöchel strich, und ich bemerkte, dass ich immer noch die messerartige Scherbe in der Faust hielt. Bewaffnet. Und beschützt. So gut es eben ging. Mit diesen Gedanken schlief ich ein.
»Noa. Noa, wach auf.«
Worte berührten mein Ohr. Ich blinzelte gegen zu helles Licht an, während grelle Schmerzen durch meinen Rücken jagten, als wäre ich verprügelt worden. Ich saß zusammengekauert an die Wand sowie gegen Marlon gelehnt und wunderte mich, wie ich in dieser Position hatte schlafen können.
»Sie kommen«, flüsterte Marlon. »Ich höre ihre Schritte. Zwei Personen. Wenn sich eine Gelegenheit bietet, dann versuchen wir es.«
»Bist du sicher?« Ich war es nicht. Meine eigentliche Frage war allerdings eine andere. Was zum Geier wollte er versuchen?
Als er die Hände hinter den Rücken nahm, um vorzugeben, noch immer gefesselt zu sein, sah ich etwas Dunkelgrünes aufblitzen. Auch er hatte nach Scherben gegriffen. Ich wog meine in der Hand. Sie hatten Pistolen. Wir Glasscherben. Prima Aussichten. Ich verbarg meine erbärmliche Waffe in den Falten meines Rockes und schlang die Arme um den Oberkörper. Besser, sie hielten mich für ein braves Opfer. Mehr als einen einzigen Überraschungsmoment hatten wir nicht.
»Warte auf mein Zeichen«, raunte Marlon. »Dann lauf. Lass dich nicht aufhalten. Lauf, was immer auch passiert!«
Unsere Blicke verflochten sich ineinander. Seiner war undurchschaubar. Ich ahnte dennoch, was er vorhatte, und bedauerte, ihn so gut einschätzen zu können. Er wollte sie aufhalten, damit mir die Flucht gelang.
»Wenn du Dummheiten machst, Marlon, werde ich dir das nie verzeihen.«
»Abgemacht.«
Es ging ihm am Arsch vorbei, ob ich ihm verzieh.
Ich wollte ihn schütteln und anschreien, aber mir blieb keine Zeit, denn die Tür wurde aufgeschlossen. Marlon kreuzte die Füße und stemmte sich hoch, die Hände immer noch hinter dem Rücken. Seine Fingerknöchel waren weiß, doch er hielt seine beiden Glasscherben ruhig, ohne das geringste Zittern.
Olivier trat ein. Er trug etwas Schwarzes bei sich, unvermittelt schlug er es Marlon ins Gesicht. Marlon keuchte, ein Beben schüttelte seinen Körper. Ein Kratzer blieb auf seiner Wange zurück. Das Schwarze fiel vor mir zu Boden. Es war ein Rabe. Tot, die Füße mit dem gleichen Kabelband zusammengebunden, wie ich es schon bei dem Star gesehen hatte. Der Schnabel war leicht geöffnet, eine bläuliche Zunge hing zur Seite heraus. Ich presste mir die linke Hand auf den Mund. Noch lieber hätte ich mir Augen und Ohren zugehalten.
»Ein Freund von dir? Er war unser Gast, schon eine ganze Weile. Leider wollte er uns irgendwann nichts mehr sagen. Verweigerte heute Nacht endgültig die Mitarbeit und verwandelte sich. Schade.«
Ich biss die Zähne zusammen. Das war also der Verräter. Sie hatten die Informationen durch Folter aus ihm herausgepresst und ihn getötet, als sie ihn nicht mehr brauchten. In meinen Augen brannten Tränen für den Menschen, der dieser Vogel gewesen war.
»Ich hoffe, du bist eine ergiebigere Quelle«, sagte Olivier zu Marlon. »Das Mädchen kann gehen.«
Ich schnappte nach Luft, merkte erst jetzt, dass ich den Atem angehalten hatte. Plötzlich wurde mir schwindelig. »Ihr lasst mich frei?«
»Du gehörst nicht zu denen.« Olivier sah auf mich nieder, als wäre plötzlich Mitleid in ihm ausgebrochen. Er hielt mir die Hand hin, als wollte er mir aufhelfen. »Du kannst mit mir zum Haus kommen. Wir lassen dich gehen, sobald hier alles vorbei ist. Wenn diese Kreatur erledigt ist, wirst du wieder frei sein. Die böse Magie, die sie wirken lassen, um euch zu beeinflussen, ist sehr stark. Aber nicht von Dauer.«
Seine Worte zogen an mir vorbei wie Wolken. Greifen konnte ich sie nicht. Ich machte mich kleiner, duckte mich vor seiner Hand.
»Du kannst uns vertrauen«, fuhr er fort. »Wir haben dir eine Blutprobe entnommen und wissen nun, dass du keine von denen bist.«
Das erklärte die Einstichstelle. Ich starrte auf den winzigen roten Punkt. Ich zitterte und hätte mich am liebsten auf dem Boden zusammengerollt. »Bei Anna-Lena habt ihr nicht nach Blutproben gefragt.«
Er wusste sofort, von wem ich sprach. Von Corbins Freundin, die wie ich ein normales Mädchen gewesen war.
Olivier kniete sich neben mich, sah auf den Boden vor meinen Füßen statt in meine Augen.
Tu etwas, beschwor ich Marlon in Gedanken. Er hätte Olivier in diesem Moment die Nase aus dem Gesicht treten und die Kehle durchschneiden können, doch er stand still und reglos da, den Kopf gesenkt.
»Wir haben aus unserem Fehler gelernt«, erklärte Olivier schließlich und sah mich an. »Dieses Mädchen hätte nicht sterben müssen. Sie haben sich hinter ihr versteckt. Wir sind darauf reingefallen. So etwas darf nicht passieren. Es gibt keinen unter uns, der das nicht bedauert.«
»Lass uns beide gehen.« Ich erwiderte seinen Blick, so eisern ich konnte, was sicherlich wenig eindrucksvoll war, kauerte ich doch noch immer auf dem Boden.
»Das willst du nicht«, entgegnete Stephan Olivier überraschend sanft. »Er pflanzt dir diesen Wahn ein. Er versteckt sich hinter dir, so wie sich sein Bruder hinter diesem armen Mädchen versteckt hat.«
Marlon stieß den Hauch eines bösen Lachens hervor. »Wer hat dir diese Märchen erzählt? Dein Vater?«
Oliviers Miene wurde frostig. Helle Punkte tanzten in seinen blauen Augen, als schneite es in seinen Gedanken. »Halt’s Maul.«
»Du weißt, wer deine Mutter ist«, fuhr Marlon fort. »In deinen Adern fließt das Blut derer, die du so verabscheust.«
»Schnauze!« Eine Zornesfalte zerfurchte Oliviers Stirn. Diese menschliche Regung besorgte und beruhigte mich gleichermaßen. Er war keine Maschine. Er war ein Mensch. Unberechenbar. Ich hatte Angst um Marlon und zugleich schwoll Hoffnung in mir an. Marlon kämpfte.
»Du spürst es doch, nicht wahr?« Marlon lächelte wissend. »Du hörst die Stimmen in den Steinen. Ist das nicht Beweis genug?« Er bluffte. Ich hörte die Stimmen auch, man musste dazu kein Harpyienblut in sich haben. Doch Stephan Olivier wusste das offenbar nicht. Er wurde blass.
»Wir haben deine Mutter gesehen«, sagte ich zu ihm. »Sie hat nie aufgehört, nach dir zu suchen.«
Er fasste mich hart an der Schulter. »Meine Mutter wurde von ihnen geraubt. Sie haben sie uns weggenommen, verstehst du? Sie einer Gehirnwäsche unterzogen und sie zu einem Tier gemacht. Dir blüht dasselbe. Dir und vielen anderen, wenn wir sie nicht aufhalten.«
»Das ist gelogen.« Ich wagte nur zu flüstern. Olivier schien so erregt, dass ich Angst hatte, er würde gleich den Verstand verlieren. Ich sah die Pistole warnend in seinem Hüftholster stecken.
»Deine Mutter wollte sich von deinem Vater trennen«, sprach Marlon weiter. »Aber er war ein herrschsüchtiger, eifersüchtiger Mann und hat sich gerächt. Er hat dich entführt, als du ein kleiner Junge warst.«
Erinnere dich!, betete ich still.
Ich stand auf, meine Scherbe fiel aus den Falten meines Rockes und klimperte über den Boden. Ich stellte den Fuß darauf – ein armseliger Versuch, sie zu verbergen –, doch Stephan Olivier achtete nicht auf mich. Er schritt gefährlich langsam auf Marlon zu. In meiner Brust brannte es, ich konnte mich nicht erinnern, jemals mehr Angst und Hoffnung zugleich verspürt zu haben. Das eine Gefühl nährte das andere.
Marlon atmete tief ein und langsam wieder aus. »Die Harpyien, mit denen deine Mutter fortging, fingen sie auf, nachdem dein Vater sie ins Bodenlose gestürzt hatte. Deine Mutter wurde nicht geraubt. Sie wählte.«
»Du verlogener Bastard!«, spuckte Olivier ihm ins Gesicht. »Spar dir deine Geschichten. Damit kannst du kleine Mädchen beeindrucken, aber nicht mich.«
»Sieh den Tatsachen ins Auge, Stephan Olivier. Wir sind, wer wir sind. Ich kann nichts dagegen tun, dass ich mich in einen Vogel verwandle.« Er deutete zu mir. »Ich kann nichts dagegen tun, dass sie ein Mensch bleiben wird. Ich könnte sie nicht verwandeln, selbst wenn ich es wollte. Ich will, glaub mir, aber es ist nicht möglich. Ich kann nichts dagegen tun, dass ich sie sehr bald verlieren werde. Und du kannst nichts dagegen tun, dass deine Mutter von meiner Art ist.« Sein Blick fiel auf den toten Raben zu seinen Füßen. »Und von seiner. In ihrem Elend hat sie sich für ein Leben als Vogel entschieden. Dein Vater hat sie nicht brechen können, er hat sie vertrieben.«
Ich zwang mich zu sprechen, in unkontrollierten Schlangenlinien an dem Kloß aus Angst in meiner Kehle vorbei. »Stephan, du bist der Einzige von uns, der eine Wahl hat, der frei entscheiden kann.«
Olivier reagierte nicht. Wusste er vom Schicksal seiner Mutter? Ahnte er es, irgendwo tief in seinem Inneren? Möglicherweise hatte er ihr Lied im Stein ebenso gehört wie wir.
»Ihr benutzt die Menschen nur«, erwiderte er schließlich, doch sein langes Schweigen hatte seine Stimme brüchig gemacht. Der Satz war nicht echt und das begann nun auch er einzusehen.
Marlon schüttelte den Kopf. »Ich schließe nicht aus, dass es Harpyien gibt, die das tun. Aber ich nicht, meine Schwester nicht und mein Bruder nicht. Du bist es, mit dem gespielt wurde. Auf Menschenart. Ganz ohne Magie, nur durch Lügen und Gerüchte.« Marlon bewegte die Lippen weiter, aber ich hörte keinen Laut mehr. Dafür weiteten sich die Augen seines Gegenübers in ungläubigem Staunen. Ich wusste, was Marlon tat. Er sprach über das Echo der Steine direkt in Oliviers Kopf.
»Nein!« Olivier schlug ihm ohne Vorwarnung die Faust in den Magen, sodass Marlon mit dem Rücken gegen die Wand knallte. »Verlogener Bastard! Ich dresche dir deine Unverschämtheiten aus dem Leib!«
Ich erstarrte, wollte ihn aufhalten, doch meine Gedanken waren vor Schreck wie betäubt.
Olivier ging auf Marlon los, ließ die Fäuste auf seinen Körper niederprasseln. Marlon wehrte sich nicht. Er kassierte Treffer in den Bauch und auf die angeschlagene Rippenpartie und schützte nur mit fest angespannten Unterarmen und hocherhobenen Scherben in den Fäusten sein Gesicht. Er kämpfte – auf seine Art.
Ich hörte mich aufschreien, als Oliviers Hand zur Waffe schnellte. Mein Kopf war leer, mein Körper übernahm die Kontrolle. Ich griff nach der Glasscherbe am Boden, nahm Schwung und hackte sie Olivier in den Handrücken. Einen Wimpernschlag lang starrte ich auf meine lächerliche Waffe und all das Blut, das an ihr vorbeilief. Es glitzerte feucht und dunkel auf dem Glas. In Rinnsalen troff es auf den Estrich. Ein scharfer Schmerz in meinem Zeigefinger deutete darauf hin, dass ein wenig davon mein eigenes war.
»Glaub ihm!«, stieß ich hervor. »Wir können es beweisen. Hör ihm zu!«
Noa, lauf!, hörte ich Marlon von allen Seiten in meinem Kopf rufen. Doch da fegte mich schon ein Schlag vor die Schläfe von den Füßen.
Ich stürzte gegen die Wand, rutschte zu Boden und blieb einen Augenblick benommen liegen. In meinem linken Ohr pfiff es wie ein Teekessel. Vor meinen Augen drehten sich rote Spiralen und wurden zu pulsierenden Klecksen. Ich schüttelte den Kopf, umfasste ihn mit beiden Händen, weil ich glaubte, ansonsten ohnmächtig zu werden. Als mein Blick wieder klarer wurde, sah ich, wie Olivier Marlon an der Kehle packte und seinen Hinterkopf mit brachialer Gewalt gegen die Wand schlug. Ich glaubte, Knochen knirschen zu hören. Mit verdrehten Augen sackte Marlon in sich zusammen. Olivier zerrte ihn wieder in die Aufrechte.
»Ich bin noch nicht mit dir fertig, Bastard!«
Ich versuchte auf die Füße zu kommen, knickte weg und fiel neben Olivier auf die Knie. Ich wimmerte wirre Satzfragmente hervor. »Glaub uns … Hör uns an … eine Sekunde!« Die Worte mussten da sein, aber ich hörte mich selbst nicht.
Olivier zog die Pistole. Mein Verstand verlor sich in Panik. Ich kippte in abgehackten Bewegungen vor und zurück und stammelte ein Lied, ohne zu wissen, warum. Mein Körper tat instinktiv irgendetwas, was sich meiner Kontrolle entzog. Mit zugepressten Augen wartete ich auf den Knall. Der nicht kam.
Stattdessen spürte ich Berührungen an den Schultern, am Haar, im Gesicht. Jemand zog an mir, ich kippte gegen einen Körper, roch nackte Haut, Blut, Schweiß und einen Hauch von Zimt. Marlon hielt mich an sich gepresst und ich wagte aufzusehen.
Olivier stand einige Schritte entfernt, die Waffe nach wie vor auf uns gerichtet. Ich starrte in ihr schwarzes Auge. Es schien zu zwinkern. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich den Grund verstand. Seine Hand zitterte. Millimeter für Millimeter tastete mein Blick an der Waffe und dann seinen Arm entlang, bis ich sein Gesicht erkannte. Meine Sicht war verschwommen, aber ich gewann den Eindruck, dass sich in seiner Miene etwas verändert hatte. Da waren plötzlich Zweifel. Die erkannte ich, denn sie waren mir vertraut.
Er wandte sich ab, ging zur Tür und klopfte. Die Frau öffnete ihm und er nickte mir zu. »Du solltest jetzt gehen, Mädchen.«
Ich schüttelte den Kopf.
Es war keine Geste der Aufopferung, kein Heldentum und keine Tapferkeit. Es war nichts als pure Angst. Ohne Marlon, so viel war klar, würde ich es nicht einmal bis zur Tür schaffen. An das Leben da draußen, wenn er zurückblieb, wollte ich gar nicht denken.
»Noa.« Mein Name klang aus Marlons Mund wie ein Stöhnen tief aus seiner Kehle. »Geh!«
Ich sah zwischen ihm und Olivier hin und her. Da war zu viel Eis in Oliviers Augen. Marlons waren leer. Ein dünnes Blutrinnsal lief aus seinem Mundwinkel, die Tropfen fielen ihm vom Kinn auf die Brust.
»Nein.«
»Mädchen! Deine letzte Chance!«
»Noa, geh! Bitte, geh! Verschwinde!« Marlons Worte ersoffen in seinem Mund, wurden zu hastigem Gestammel, das ich kaum mehr verstand. »Er hat recht. Ich liebe dich nicht, das habe ich nie. Ich habe dich nur benutzt. Du bist mir nichts schuldig. Du musst gehen!«
Es war so absurd, dass ich lächeln musste, obwohl dazu wirklich kein Grund bestand. Wahrscheinlich eine instinktive körperliche Reaktion, ähnlich wie bei Katzen, die in Todesangst zur Selbstberuhigung manchmal schnurren. Ich versuchte Marlon zu umarmen, doch er verzog vor Schmerz das Gesicht, weil ich so unbeholfen vorging.
Als es plötzlich in meinem Rücken knallte, glaubte ich für ein paar Sekunden tatsächlich, Olivier würde uns beide erschießen. Ich fragte mich, ob ich Licht sehen, Bedauern oder Schmerz spüren würde. Dann streifte ein Luftschwall meine Schulter. Olivier hatte nicht geschossen, er hatte die Tür hinter sich zugeschlagen.
»Du bist das dümmste Wesen unter den Sternen.« Marlon wandte den Blick ab und zog die Beine an den Körper.
Ich vernahm jeden seiner schweren Atemzüge. Und Atemzug um Atemzug vernahm ich auch die Anklage hinter seinen Worten. Ich begriff meinen Fehler. Wäre ich weggelaufen, hätte ich Hilfe holen können. Die Harpyien, die Polizei, wen auch immer. Ich hatte die Chance bekommen, ihn zu retten. Und sie ziehen lassen. Sie abgewiesen. Weggestoßen. Ein eisiges Zittern lief meine Wirbelsäule hinauf und hinunter. Ich rutschte ein Stück von Marlon weg, lehnte den Kopf an die Wand und versuchte krampfhaft, an etwas anderes zu denken als an das Pfeifen in meinem Kopf. Es wurde zu einer höhnischen Melodie, die vom Versagen sang.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. War ich eingenickt? Sah ganz so aus. Das Pfeifen hatte nachgelassen. Rauer Stoff berührte mein Gesicht. Ich lag mit dem Kopf in Marlons Schoß, mit seinen Fingern kühlte er meine Wange. Der tote Vogel lag von meinem feuchten T-Shirt bedeckt in der anderen Ecke der Garage.
»Es tut mir leid«, flüsterte ich. »Ich hätte gehen und Hilfe holen müssen –«
»Schsch.« Erstaunlich, wie sanft sein Lächeln wirkte, auch wenn er mit all dem Blut und den Schwellungen im Gesicht aussah wie der Terrorist, für den ich ihn mal gehalten hatte. »Du hast ihn beeindruckt. Er glaubt dir.«
»Wen meinst du? Olivier?«
»Wen denn sonst. Er hat das Lied erkannt, das Kinderlied seiner Mutter.«
Ich grübelte. »Das habe ich gesungen? Ich kann mich kaum erinnern.«
»Ich habe es auch gesungen. Direkt in seinen Kopf, kurz bevor er ausgerastet ist. Aber geglaubt hat er dir, nicht mir. Du singst offenbar schöner als ich.« Er machte eine Pause, strich meine Augenbraue mit der Kuppe seines Zeigefingers nach. »Hast du mir denn geglaubt?«
»Dass du mich nur benutzt? Ja. Und nein. Es ist mir egal, es ändert nichts. Ich will, dass du hier rauskommst. Ohne dich gehe ich nicht.«
Er schluckte so schwer, dass ich es hören konnte. »Das wirst du müssen, fürchte ich. Jetzt mach die Augen zu, okay? Ich möchte dich anschauen.«
Ich gehorchte und schwieg, weil alles, was ich hätte erwidern können, hohle Phrasen gewesen wären.
Ein Geräusch weckte mich, das ich zunächst nicht lokalisieren konnte. Dann begriff ich, dass Marlon den Atem anhielt und das Geräusch Stille war.
»Ist alles in Ordnung?«
Im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet. Dunkelheit rahmte Stephan Oliviers Silhouette ein, es musste tiefe Nacht sein.
Zielstrebig trat er auf uns zu. Wir hatten Mühe, auf die Füße zu kommen. Meine Gelenke stachen vor Steifheit. Marlon biss die Zähne so fest aufeinander, dass sie knirschten. Seine Hände lagen auf meinen Schultern, nicht um mich festzuhalten, sondern um mich von sich wegzuschieben, sollte es nötig werden. Unmittelbar vor uns blieb Olivier stehen.
»Wenn du gelogen hast, Bastard, dann werde ich jeden vermaledeiten Vogel auf dieser Welt vom Himmel holen. Ich krieg dich in die Finger, wenn du mich linkst, glaub mir.«
Unfähig zu begreifen, was vor sich ging, starrte ich von einem zum anderen. Marlon nickte, als verhandle er nur ein harmloses Geschäft. Aber ich sah seinen Puls so hart an seinem Hals hämmern, dass ich befürchtete, er würde in Ohnmacht fallen.
»Ihr … Du lässt uns gehen?« Ich versuchte, kein Ja zu erwarten. Zertretene Hoffnungen taten mehr weh als konstante Aussichtslosigkeit.
Doch Olivier spiegelte Marlons kühles Nicken. Ob er uns wirklich glaubte oder ob die Schuld an Anna-Lenas Tod an ihm fraß und er diese durch unsere Freilassung zu sühnen versuchte, wusste ich nicht. Es war mir auch völlig egal.
Das Frettchen schaute aus Oliviers Sweatweste. Ich hatte immer ein wenig Angst vor dem Tier gehabt. Frettchen sind doch Eierräuber – das klassische Haustier, wenn man Vögel jagte –, außerdem haben sie so einen hinterlistigen Blick. Aber in diesem Moment wurde mir klar, dass Stephan Olivier es vielleicht nur deshalb bei sich trug, weil er sich einsam fühlte.
Wir traten zur Tür, meine Knie wabbelten wie Wackelpudding. Draußen war es so dunkel, dass man die Hand nicht vor den Augen sehen konnte.
»Geh nach Westen, dort liegt die Stadt«, sagte Olivier zu Marlon. »Mein General wird nicht vor Mittag von deinem Verschwinden erfahren. Bis dahin solltest du dich unsichtbar gemacht haben. Ich hoffe für dich, dass das, was du über meine Mutter gesagt hast, keine Lüge war. Denn ansonsten wirst du eines Tages schwer bedauern, dass ich dich nicht sofort erschossen habe.«
»Deine Antworten liegen auf dem Grund des Löwenbrunnens. Dort ist eine Pforte. Im Stein. Ich gehe davon aus, dass du sie passieren kannst. Du wirst deine Mutter erkennen, aber erwarte nicht, dass sie sein wird wie zuvor. Und sei vorsichtig, es ist nicht ungefährlich.« Marlon sprach ohne jedes Stottern, ohne eine Betonung. Emotionslos erfüllte er seinen Teil der stumm geschlossenen Abmachung. Dann nahm er meine Hand, betrachtete meine Finger im schwachen Licht, das aus der Garage drang. »Ich bin dir zu Dank verpflichtet. Du hast Noa gerettet, in der U-Bahn. Ich schulde dir etwas.«
Oliviers Blick fing mich ein wie ein Netz, wie gedankenverloren kraulte er das Frettchen. »Ich hätte dir nicht geholfen, wenn ich gewusst hätte, was aus dir werden würde. Das weißt du, oder?«
Ich nickte. Trotzdem hatte ich eine erste Verbindung geschaffen zwischen diesen Männern, die sich als Feinde gegenüberstanden, aber ihren Krieg für einen Moment vergaßen. Weil sie eine Entscheidung trafen, die weder richtig noch falsch war und vielleicht die nächste Katastrophe heraufbeschwor. Aus nichts als einem Quäntchen guten Willens heraus. Aus Bereitschaft, dem anderen zu glauben.
War das nicht das Wichtigste?