Wie man Steine singen hört
Das Klackern, mit dem die Haustür geöffnet wurde, brach durch meinen Schlaf. Ich spürte, wie ein Teil meines Unterbewusstseins sich damit abmühte, das Geräusch des Schlüssels im Schloss in meinen Traum zu integrieren, damit ich weiterschlafen konnte, doch der andere Teil war strikt dagegen. Es dauerte einen Moment, bis ich verstand, warum ich heute nicht länger schlafen durfte.
Ich hatte etwas versprochen. Ich musste auf ihn aufpassen.
Durch den Gedanken an Marlon unter Strom gesetzt, schoss ich in die Senkrechte. Es grenzte an ein Wunder, dass ich ihn dabei nicht aufweckte, denn die Matratze wackelte heftig, aber Marlon schlief weiter, atmete ganz ruhig, selbst seine Lider waren entspannt. Nur seine Hand, die mit der Handfläche nach oben auf dem Laken lag, zuckte ein wenig. Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht, klebten an seinen Wangen. Ich musste lächeln. Und mich dann sehr beherrschen, um sie ihm nicht zurückzustreichen. Nebenan hörte ich meinen Vater, der Blick auf den Wecker – grausame sieben Uhr am Morgen – war eigentlich unnötig.
Ich krabbelte aus dem Bett, schloss meine Zimmertür so leise auf wie möglich und ging in die Küche, wo mein Vater gerade Wasser aufsetzte. Ohne seinen Melissentee mit Honig konnte er nach einer Nachtschicht nicht einschlafen.
»Morgen, Noa.« Er gähnte herzhaft. »Habe ich dich geweckt?«
»Ja, du warst schrecklich laut. Ich bin aus dem Bett gefallen. Nee, Quatsch, mach dir keine Gedanken. Guten Morgen.« Ich küsste ihn auf die Wange.
Ich musste mich nur vergewissern, dass er keinen Verdacht schöpfte oder nachher noch in mein Zimmer kam, um nach mir zu sehen. Streng genommen verteidigte ich gerade die Tür, hinter der Marlon schlief. Wenn das angesichts der Uhrzeit keine Heldentat war, dann wusste ich es auch nicht. Um meine Absichten zu verschleiern, füllte ich ein Glas mit Leitungswasser und trank einen Schluck. Der Gedanke an Frühstück hatte etwas Verlockendes, gleichzeitig erschrak ich dabei. Verdammt! Ich hatte Marlon problemlos über Nacht in meinem Zimmer verstecken können, aber beim Frühstück würde er auffallen, wenn ich ihn nicht vorher rauskomplimentierte – was ich nicht vorhatte. Besser also, mein Vater gewöhnte sich an Marlons Anwesenheit.
»Nimm’s mir nicht übel, Noa, aber ich bin vollkommen platt. Ich werde direkt ins Bett gehen.«
»Du, Papa?« Ich druckste herum. »Ich habe ein Geständnis und eine Bitte. Das Geständnis ist, dass ich jemanden zum Frühstück eingeladen habe. Du weißt schon, das berühmte Rührsei à la Noa. Mir war völlig entgangen, dass du Nachtschicht hast.«
Er brummte. »So viel zu: Mein Haus ist meine Burg. Seid wenigstens leise, ja?«
»Kein Alkohol und keine Drogen vor dem Mittag«, versprach ich.
»Na, dann ist ja gut.«
Ich küsste ihn auf die andere Wange. »Das wäre meine Bitte gewesen.«
Ich musste dringend zur Toilette und der Geschmack von Schlaf im Mund drängte mich zum Zähneputzen. Aber ich wartete, bis Papa in seinem Schlafzimmer verschwunden war, ehe ich meine Zimmertür aus den Augen ließ, um ins Bad zu gehen.
Als ich zurückkam, schlief Marlon noch immer. Behutsam ließ ich mich wieder auf mein Bett gleiten, aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Denken war überhaupt recht kompliziert. Stattdessen starrte ich die Decke an, die Vorhänge und das dahinter heller werdende Licht, dann die Innenseite meiner Augenlider. Hin und wieder warf ich einen Blick zur Seite, wo Marlon so bewegungslos schlief, als hätte ihm jemand eine Vollnarkose verpasst, aber ich schaute immer schnell wieder weg. Wenn ich ihn ansah, flatterten meine Nerven so sehr, dass ich befürchtete, sie könnten ihn aufwecken. Irgendwann musste ich dann doch eingenickt sein, denn ich erwachte, weil ein Finger meinen Nasenrücken entlangstrich, und ich hätte mich zu Tode erschreckt, wenn es nicht Marlons Finger gewesen wäre.
»Entschuldigung«, sagte er, ein Grinsen spielte in seinen Mundwinkeln. »Ich wollte dich nicht wecken, aber ich konnte nicht widerstehen.« Er sah vollkommen verschlafen aus und ich freute mich ein bisschen, dass ich ihm diesmal mit der Morgenwäsche voraus war und mein Anblick damit zumindest keine Katastrophe.
»Gut geschlafen?« Meine Frage war überflüssig, ich wusste, dass er gut geschlafen hatte. Seine Antwort schmeichelte mir trotzdem.
»So gut wie lange nicht mehr«, erwiderte er, und dann verursachte er beinahe einen Herzinfarkt bei mir, denn er rollte sich mit einer fließenden Bewegung einfach auf mich drauf, sodass mein Gesicht an seine Schulter gepresst war. Ich roch diesen überwältigenden Hauch von Zimt, als ich erschrocken die Luft einzog, doch ehe ich darüber nachdenken konnte, was er vorhatte, war Marlon schon über mich hinweggerollt, stand mitten im Raum, streckte sich demonstrativ und ließ die Gelenke knacken.
»Ich vermute, dein Vater ist inzwischen wieder zu Hause«, murmelte er und angelte sich seine Jeans von der Stuhllehne. »Ich sollte dann besser …«
»Zum Frühstück bleiben.« Ich nahm ein Paar frische schwarze Socken aus der Schublade und warf es ihm zu. »Ich mache Rührsei.«
»Das heißt Rührei.«
»Nein, Rührsei. Kommt von ›Rühr das Ei‹ und heißt so, weil du das tun wirst. Ich meine, solange du nicht …« Mir schoss Hitze in die Wangen. Oh verdammt, er war doch ein Vogel … oder so was in der Art. Seine Verwandten waren in jedem Fall zurzeit Vögel. Und ich unglaublich dumme Kuh wollte ihm Eier servieren.
Marlon legte den Kopf schief und zuckte mit einer Schulter. »Wenn ich nicht … was?«
Meine Güte, wie peinlich. »Nur für den Fall, dass du nichts dagegen hast … na ja, eben … Eier zu … essen.«
Ich hatte einen Lachanfall erwartet, stattdessen blickte er starr in die Luft und biss sich auf die Lippe. Vermutlich hatte ich gerade etwas Schlimmeres getan, als mich lächerlich zu machen. Ich hatte ihn in Verlegenheit gebracht. Oder ihn beleidigt. Vermutlich beides. Ach, Herrgott noch mal!
»Unter einer Bedingung«, sagte er schließlich und senkte den Kopf. »Du machst das Huhn drum herum vorher ab.«
Mir polterten ganze Felsbrocken vom Herzen und an dem Schalk in seinen Augen sah ich, dass Marlon das bewusst war. Dieser Schuft! Noch einmal würde ich nicht auf ihn hereinfallen. Meine Socken waren ihm zu klein, die Ferse hing ihm irgendwo an der Fußunterseite, was albern aussah und bestimmt unbequem war, aber ich gönnte ihm beides.
»Komm, du Vogel!«, befahl ich schroff und zog ihn in die Küche.
Wir hantierten lautlos, um meinen Vater nicht zu wecken, aber nicht ohne Albereien. Als die Eier fertig waren, trugen wir die Teller in mein Zimmer, wo ich die Raben durchs Fenster entdeckte. Wir ignorierten sie beide und ich lenkte Marlon von einem Hauch sich einschleichender Schwermut ab, indem ich ihm mitteilte, er würde wie ein Spatz essen.
»Spatzen«, erklärte er, pickte sich eine erbsengroße Menge Ei auf die Gabel und steckte sie in den Mund, »essen nur so wenig, weil sie ein so grausames Futterangebot vorfinden.«
»Soll das eine Anspielung auf meine Kochkünste sein? Die Eier sind echt gut geworden, wenn man sich ein bisschen Pfeffer und sehr viel Butter wegdenkt.«
»Ja, wirklich gut. Der Fettgehalt erinnert mich fast an …« Er formte still das Wort Meisenknödel mit den Lippen und wir kringelten uns ein weiteres Mal über meinen Teppich.
Als wir etwas später aufbrachen, um Emma das Auto zurückzubringen, kam uns jemand entgegen, den ich seit Tagen völlig vergessen hatte.
»Lukas!«, rief ich erstaunt. Ich hätte nicht gedacht, dass er wusste, wo ich wohnte, aber er wollte eindeutig zu mir. Der Blick, mit dem er Marlon abcheckte, gefiel mir nicht. Dass Marlon mit ähnlicher Miene zurücksah, fand ich hingegen süß.
»Was machst du denn hier?« Ich stellte die beiden rasch vor: Lukas, Leadsänger einer Band und ein Kumpel, Marlon, mein Freund. Gestatten, ich war Noa, die kleine struppige Brünette, die sich angesichts der Skepsis in den Gesichtern der beiden äußerst unbehaglich fühlte.
»Ich dachte, ich komme mal vorbei, nachdem du ja nicht mehr ans Telefon gehst.« Lukas, dessen Haar in der Sonne wie buntes Herbstlaub schimmerte, warf Marlon einen anklagenden Blick zu.
Stimmt, mein Handy hatte ich tags zuvor abgeschaltet und danach vergessen. So was aber auch.
»Hast jetzt Besseres vor, ja? Willst du nicht mehr mitmischen, wenn wir auftreten?«
Meine Schultern strafften sich automatisch. »Doch, natürlich.« Wie konnte er nur denken, dass ich an den Auftritten kein Interesse mehr hatte! Ich registrierte, dass Marlon einen Schritt zurück machte, aber ich beachtete ihn kaum, ich musste zuerst die Sache mit Lukas klären. »Ich hatte mir die Hand verstaucht und durfte eine Weile nicht Poi spielen. Das weißt du doch.«
Lukas steckte eine Faust tief in seine Hosentasche – eine Pose, die ich an ihm immer so unwiderstehlich cool gefunden hatte, dass ich sie manchmal imitierte. »Dominic sagt, du spielst seit Tagen wieder.«
Dieser Verräter! »Nur leichtes Training.«
»Trifft sich gut. Morgen ist Probe, Samstag haben wir einen Gig.« Das war mehr als nur reine Information. Das war eine klare Aufforderung à la Friss oder stirb!.
»Diese Woche schon …« Ich zog Luft durch die Zähne. Der Juli lag in den letzten Zügen, der August raste uns schon entgegen. Wollte ich ihn mit Lukas und der Band verbringen? Marlon lehnte inzwischen knapp zwei Meter entfernt an einem Zaun und sah die Straße hinunter.
»Wenn du keinen Bock mehr hast«, fuhr Lukas fort, »dann sag Bescheid. Wir halten dir einen Platz frei, Fire, aber nur, wenn du ihn wirklich willst. Du weißt, dass auch noch diese Schlangentänzerin darauf wartet, mit uns aufzutreten.«
»Ich weiß. Ich will den Platz.« Das klang wenig überzeugend und ich schämte mich dafür. Vor Kurzem hätte ich noch ein Verbrechen begangen, um mit Lukas und den Death Ponys aufzutreten – ich hätte der Reptilientussi einen Knoten in ihre Schlange gemacht, um meine Chancen zu verbessern –, und jetzt war es mir beinahe lästig?
»Dann«, Lukas legte mir eine Hand auf den Oberarm und streichelte mit dem Daumen meine Schulter, »solltest du morgen kommen, Fire. Ehrlich, solltest du.«
»Ich weiß ni–«
»Sie kommt!«, rief Marlon zu uns rüber. Mich wunderte, dass er uns überhaupt verstehen konnte, und noch mehr, dass er Entscheidungen für mich traf.
Lukas zog seine Hand weg und steckte sie zurück in seine Hosentasche. »Ach, wirklich?«
Gute Frage, die hätte von mir kommen können.
Lukas legte nach: »Entscheidest du das, du Freak? Wer bist du, dass du Fire Vorschriften machst?«
So hätte ich es nun nicht ausgedrückt.
Marlon zuckte mit den Schultern und ich hätte gerne dasselbe getan, aber ich sagte stattdessen schnell: »Ist schon okay, ich komme. Am Sportplatz, wie immer?«
Lukas nickte, ich versicherte ihm, pünktlich zu sein, dann verabschiedete er sich und ging. Zum ersten Mal war ich froh, ihn nicht länger sehen zu müssen, und das verwirrte mich. Er hatte sich schließlich nicht verändert, war derselbe Lukas wie immer. Okay, ich schwärmte nun nicht mehr für ihn, aber warum war er mir gleich unsympathisch?
»Was sollte das?«, wollte ich von Marlon wissen, als wir zum Auto gingen.
Seine gute Laune war wie weggeblasen. »Du solltest wegen mir auf nichts verzichten und niemanden verprellen«, sagte er ohne Umschweife. »Ich bin bald fort.«
»Aber jetzt bist du hier.«
»Ja. Und ich möchte in meinen letzten Wochen nichts kaputt machen. Nicht, wenn es zu vermeiden ist. Geh zu der Probe und mach deine Auftritte. Morgen, nächste Woche und nächsten Monat. Lass das nicht sausen, nur weil ich jetzt hier bin oder später fort sein werde. Das Entscheidende ist: Du wirst hier bleiben, also lebe dein Leben. Umso weniger wird es dir wehtun.«
»Sprichst du aus Erfahrung?«, gab ich ein wenig patzig zurück. Im gleichen Moment fand ich die Antwort selbst. Natürlich tat er das. Auch er war zurückgelassen worden. Von seinen eigenen Eltern. Ich brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen, als er antworten wollte, nahm seine Hand, drückte sie und murmelte: »Entschuldigung.« Während wir zu Emmas Auto gingen, hing jeder von uns seinen Grübeleien nach. Beim Einsteigen kam mir eine Erkenntnis, die ich mit ihm teilen wollte.
»Du wirst gar nicht fort sein. Sondern nur woanders.«
Ich hatte ihn aufmuntern wollen, doch das Gegenteil trat ein. Er lächelte, aber es sah aus, als wollte er weinen. Und er entgegnete nichts.
Wir fuhren zu ihm nach Hause – eher gesagt, zu dem Ort, den er aktuell als sein Zuhause bezeichnete. Zum Drachenhaus. So nannte ich es, der Graffiti wegen, aber auch weil der wilde Wein, der das Gemäuer einhüllte, an die Schuppen von Drachenhaut erinnerte. Marlon wurde blass, als er seinen Wagen vor dem Eingang stehen sah.
»Corbin muss ihn geholt haben«, sagte er tonlos. »Dieser dumme Sturkopf.«
Ich dankte Corbin innerlich, denn so musste Marlon sich nicht in Gefahr bringen. »Dafür sind große Brüder doch da.«
Er schüttelte den Kopf. »Das kannst du nicht verstehen. Für ihn sollten andere Regeln gelten.«
Ich hakte nach: »Was meinst du?«, aber er suchte die Worte mal wieder erfolglos und gab vorschnell auf.
Wir gingen in die Wohnung und stellten fest, dass die anderen nicht da waren. Das Wohnzimmer schien ein wenig belebt als am Tag zuvor, Corbins Gitarre lag auf einem der Sofas, in einer Ecke stapelten sich ein paar Bücher. Während Marlon in die Küche ging, um uns Getränke zu holen, blätterte ich das oberste durch. Ein Foto fiel heraus und segelte zu Boden. Ich hob es auf, betrachtete es. Marlon, Arm in Arm mit einem hübschen blonden Mädchen, beide lachten. Das Bild versetzte mir einen Stich, aber ich konnte den Grund nicht benennen. War ich eifersüchtig? Auf ein Foto? Ich wollte das Bild schnell zurücklegen, als Marlon durch die Tür trat. In seiner Miene veränderte der Anblick des Fotos etwas, so als hätte jemand einen Schalter umgelegt.
»Woher hast du das Foto?«
»Es lag in einem der Bücher. Wer ist das?«
Er nahm es mir aus der Hand, ohne es anzusehen, klappte das Buch auf, das ganz oben auf dem Stapel lag, und warf mir einen fragenden Blick zu. »Dieses Buch?« Er schob das Bild zwischen die Seiten, als ich nickte.
»Es gibt ein paar Dinge, über die wir nicht reden«, erklärte er mir dann. »Sie gehört dazu.«
Ich ignorierte den Teil mit dem Nicht-Reden. »Und wer ist sie? Deine Freundin? Exfreundin?« Oh bitte, lass es Letzteres sein!, flehte ich innerlich.
»Corbins Freundin.« Marlon sah durch mich hindurch, dass es mir Angst machte. »Sie ist tot, Noa.«
Ich stand einen Moment unbeweglich da, schluckte dann heftig und schmeckte Salz in meiner Kehle. Sicher hätte ich ihm Fragen stellen können, aber ich wusste nicht, ob ich die Antworten erfahren wollte, daher murmelte ich nur betroffen »Tut mir leid«.
»Mir auch«, erwiderte Marlon.
Eine Weile lungerten wir unschlüssig herum. Wir wollten nicht weiter über das Mädchen sprechen, aber es schien irgendwie falsch, einfach das Thema zu wechseln, also schwiegen wir. Es war nur zu Anfang unangenehm. Man konnte fast spüren, wie sich die Stimmung nach einiger Zeit wieder aufhellte, bloß weil wir uns ansahen.
»Spielst du auch?«, fragte ich irgendwann und deutete auf die Gitarre.
Er grinste und nahm sie an sich. Ich setzte mich auf den Boden und lehnte den Rücken an die Backsteinwand. Mir gefiel es, den rauen Stein durchs T-Shirt zu spüren. Mein Haar verklettete sich mit dem Gemäuer, als ich den Hinterkopf dagegendrückte. Marlon zupfte ein paar Saiten. Der Rhythmus stimmte nicht, ich erkannte erst zum Schluss, was es darstellen sollte.
»Das Intro von den Simpsons?« Ich lachte und er zuckte mit den Schultern.
»Ich kann nur das.«
»Das eignet sich natürlich weniger dazu, um es in einen Stein einzusingen.« Ich drehte den Kopf, sodass mein Ohr an der Wand lag, und lauschte. »Wenn man ein Lied in einen Stein einsingen kann, dann müsste sich eine Hauswand als Plattensammlung nutzen lassen.«
Marlon winkte amüsiert ab. »Ein Stein braucht eine gewisse Größe, damit die Töne darin schwingen können, ansonsten sind sie nicht hörbar. Und es muss ein ganzer Naturstein sein, zwei zusammengemauerte oder Backsteine kann man nicht besingen. Du glaubst mir also inzwischen, dass es möglich ist?«
»Ich habe es gehört«, erwiderte ich verwirrt. »Das habe ich dir doch gestern erzählt.«
Marlon legte die Gitarre weg, kniete sich neben mich und sah mich an, als wäre mir eine zweite Nase gewachsen. »Du hast einen Stein singen hören?«
»Das sagte ich bereits.« Ich reckte spöttisch das Kinn. »Hörst du mir denn nicht zu?«
Marlon hatte den Anstand, hauchfein zu erröten. »Ich dachte, du wärst betrunken.«
Das war nicht ganz falsch. Ich war betrunken gewesen, andernfalls hätte ich nie zugegeben, tatsächlich etwas gehört zu haben. »Wie kommt es, dass ich so etwas nie zuvor wahrgenommen habe? Ich bin doch nicht zufällig, kurz nachdem ich dich kennengelernt habe, am ersten singenden Stein meines Lebens vorbeigelaufen, oder?«
Er zuckte mit den Schultern. »Man hört es erst, wenn man weiß, dass es möglich ist. Ich kann es dir nicht erklären, aber das scheint immer so zu sein, bei allen.«
Ich presste mein Ohr fester gegen die kalte Wand, aber alles, was ich hörte, war das Gurgeln von Wasserleitungen.
»Vielleicht ist es so, wie wenn man sich ein Auto einer bestimmten Marke kauft«, sinnierte Marlon. »Du glaubst, es wäre selten. Aber plötzlich siehst du es überall.«
Ich bezweifelte, dass an jeder Straßenecke Autos standen, wie er eins fuhr, nickte aber, weil es logisch klang.
»Jetzt verrate mir, wo du den Stein gefunden und was du gehört hast!«, verlangte er und ballte die Fäuste. Die Spannung in seinen Muskeln ließ mich vermuten, dass er sofort aufspringen und dort hinfahren würde. Zum Friedhof, wo ihn die Huntsmen gestern erwartet hatten. Für ein paar Sekunden spielte ich mit dem Gedanken, ihn anzulügen. Dann fiel mir etwas Besseres ein.
»Ich kann es nicht genau erklären, aber ich könnte dir den Ort zeigen. Wenn …«
»Wenn was?« Seine Ungeduld rührte mich. Was immer diese Steine sangen, es schien wichtig zu sein. Ich erinnerte mich an das Lied, ein Kinderlied, und überlegte, ob es vielleicht eine Nachricht seiner Mutter sein könnte.
»Ich werde mit dir dort hingehen, wenn du der Meinung bist, dass es sicher ist.«
»Verstehe.« Er wich meinem Blick aus. »Der Stein steht auf dem Friedhof, nicht wahr?«
Och nee. War ich so leicht zu durchschauen?
»Ich war bisher immer nur sonntags dort. Sie werden mich heute nicht da vermuten.«
»Dann komme ich mit dir.«
»Nein, Noa. Das ist zu gefährlich.«
»Ach? Gerade war es noch ganz harmlos!« Ich streckte den Rücken durch. »Ohne mich musst du viel zu lange nach dem richtigen Stein suchen. Ich kann dir zeigen, wo er steht, du hörst ihn dir an und wir sind innerhalb von fünf Minuten wieder weg. Außerdem kenne ich mich in der Gegend besser aus als du. Falls wir wirklich flüchten müssen, weiß ich gute Verstecke.«
Marlon gab nicht gerne nach, wusste aber, dass ich die besseren Argumente hatte. Und so fuhren wir los. Auf dem Weg erklärte er mir, was er genau in den Steinen suchte.
»Unsere Verwandlung sollte im letzten Jahr stattfinden. Für Corbin war es da bereits höchste Zeit und ich wollte ihn begleiten, auch wenn ich noch problemlos ein Jahr hätte warten können.« Er legte den Gang unnötig ruppig ein, bemerkte es und atmete durch, um sich zu beruhigen, bevor er weitersprach. »Doch wir waren nicht vorsichtig genug, die Huntsmen fanden heraus, wo wir uns mit den anderen Harpyien treffen wollten. Wir wurden angegriffen und mussten fliehen. Die alles entscheidende Lammas-Nacht, in der die Magie stark genug ist, um der Verwandlung ihre Gefahr zu nehmen, verging. Kurz darauf lernten wir Emma kennen. Sie wusste von dem Angriff auf uns, ohne dass wir uns erklären konnten, woher.«
Er machte eine Pause und ich sprach meine Vermutung aus: »Sie hat es in einem Stein gehört?«
Marlon sah aufs Lenkrad. »Ja. Die Fähigkeit, Steine zu besingen, haben nur Harpyien. Angeblich ist diese Fähigkeit nur der Anfang und wir können Steine nicht nur als reine Informationsspeicher, sondern noch viel weitreichender nutzen. Legenden zufolge gab es Harpyien, die Portale in den Stein singen konnten, durch die man von einem Ort zum anderen gehen konnte. Vielleicht sogar durch die Zeit – wer weiß. In jedem Fall lassen sich Steine sowohl oberflächlich als auch sehr tief besingen, sodass unter einem Lied noch sehr viel mehr versteckt liegen kann. Aber so etwas braucht viel Übung und auch ein gewisses Talent. Und es ist nicht immer ungefährlich.«
»Du glaubst, in dem Stein, den ich gehört habe, ist noch mehr als nur ein Lied verborgen? Eine Botschaft?«
Er warf mir einen amüsierten Blick zu. »Verrate mir doch bitte mal, warum jemand ein Kinderlied in einem Stein hinterlassen sollte.«
Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht. »Und denkst du auch, dass du diese Botschaft verstehen kannst?«
»Von Corbin, Emma und mir bin ich der Beste, was das Zuhören betrifft«, antwortete er ohne jeden Stolz. »Wenn sie jemand versteht, dann bin ich das.«
Ich dachte eine Weile darüber nach, erinnerte mich daran, wie er an den Statuen gelauscht hatte. An sein fast schon verzweifelt konzentriertes Gesicht an dem Tag, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte.
»Was genau suchst du eigentlich so verbissen?«
Marlon seufzte laut, es war fast ein Stöhnen. »Den Treffpunkt«, sagte er dann sehr leise. »Die Stelle, zu der wir in diesem Jahr in der Lammas-Nacht kommen müssen. Ich bete den Himmel an, dass Corbin es noch so lange durchhält. Wenn wir diesen Ort nicht finden, ist er verloren. Er schafft es noch ein paar Tage. Keinesfalls ein weiteres Jahr.«
»Dann sind zwanzig Jahre so was wie die Grenze?«
»Ideal sind sechzehn oder siebzehn Jahre. Achtzehn geht auch noch. Bei neunzehn Jahren wird es wirklich kritisch und zwanzig ist eigentlich schon nicht mehr möglich.«
»Bei Corbin schon?«
»Ja.« Marlon nickte entschlossen. »Ja, bei Corbin schon.«
Er parkte direkt vor dem Friedhof, nachdem er mehrmals um das Gelände herumgefahren war und auf die am Straßenrand stehenden Autos geachtet hatte. Er suchte nach ortsfremden Nummernschildern – ein Hinweis, dass Huntsmen in der Nähe waren –, fand aber keine. Inzwischen war es früher Nachmittag und außer Marlons Audi stand nur ein Kleinwagen auf dem Parkplatz. Mir fiel auf, wie nervös er sich umsah. Seine Unruhe befiel mich wie ein Virus und ich schaffte es kaum, meine Gedanken zu Ende zu denken.
»Warum machen sie es euch so schwer?«, wollte ich wissen, als wir ausstiegen. »Warum kommen sie nicht zu euch und sagen euch, wohin ihr in dieser Nacht gehen müsst?«
»Jetzt hast du mir nicht zugehört.« Er wandte mir und dem Auto den Rücken zu, hielt den Schlüssel über seine Schulter und schloss den Wagen per Fernbedienung ab. Er sprach erst weiter, als ich wieder neben ihm war: »Sie erinnern sich nicht an uns. Manche denken irgendwann daran zurück, dass sie einst ein Mensch waren, und können zwischen den Gestalten wechseln. Bei meinen Eltern war es so, bis ihnen das Wechselspiel nichts mehr gab und sie endgültig zurück in den Himmel gingen. Meine Großeltern dagegen blieben Menschen, weil sie sich dem Kampf gegen die Huntsmen verschrieben hatten. Die meisten vergessen ihre Menschlichkeit allerdings auf immer und werden zu von Trieben gesteuerten Tieren. Manche von ihnen scheinen die Erinnerungen zu suchen und nähern sich uns – ich vermute instinktiv. Und die wenigen, die wieder zu Menschen werden, wissen nicht, nach wem sie suchen müssen, verstehst du?«
Um ehrlich zu sein: Nein. Mein ratloser Blick musste Bände gesprochen haben, denn Marlon seufzte lautlos und fuhr fort.
»Nach der Rückverwandlung zum Menschen bleibt ein tierischer Instinkt zurück: den Schwarm zu vergrößern, weitere unserer Art zu finden. Es hat nichts mit Gefühlen zu tun, es ist eine Aufgabe, so wie Bienen die Aufgabe haben, Blütenstaub zu sammeln, oder Kraniche im Herbst gen Süden fliegen. Aber Harpyien können dazu kaum eine Kontaktanzeige aufgeben oder eine Facebookgruppe gründen. Sie wissen nichts von uns, wissen nicht, nach wem sie suchen, sie erkennen uns nicht mal, wenn nicht durch Zufall eine gemeinsame Vergangenheit existiert. Alles, was sie wissen, ist, dass es verlorene Kinder gibt, die zum Schwarm zurückfinden müssen. Und dass alle Harpyien Steine singen hören. Es liegt nahe, darüber mit uns Kontakt aufzunehmen. Aber es bleibt, was es ist: ein Instinkt. Mehr nicht.«
Er erzählte mir das vollkommen unbekümmert, aber der Sinn seiner Worte brachte den Kloß in meiner Kehle zum Wachsen.
Seine Familie hatte ihn vergessen.
Außer uns waren nicht viele Besucher auf dem Friedhof; nur ein paar alte Leute, die vermutlich täglich herkamen, weil sie sonst keinen Grund fanden, ihre Wohnungen zu verlassen. Sie benetzten die Blumen auf den Gräbern mit Wasser aus ihren Gießkannen, obwohl die Erde von dem Unwetter in der Nacht noch vollkommen durchnässt war. Jeder laue Windstoß ließ einen weiteren Schauer aus den Bäumen auf uns herabregnen.
Wir beeilten uns und ich sah mich dabei ebenso unruhig um wie Marlon, dessen Blicke wie immer überall waren. Niemand schien verdächtig, trotzdem ließ die Nervosität nicht von uns ab.
Als wir den Stein erreicht hatten, hielt ich Wache, während Marlon von hinten an das Grab herantrat, um die Hände auf den Marmor zu legen. Ich beobachtete ihn genau, achtete auf jedes Zucken seines Mundes, auf jedes Anzeichen einer Veränderung in seinen Augenwinkeln. Er zeigte Interesse angesichts dessen, was er hörte, war sogar ein wenig erstaunt, aber ich glaubte ihm anzusehen, dass es nicht ihn persönlich betraf. Plötzlich jedoch zeichnete tiefes Erschrecken sein Gesicht, er presste sein Ohr dichter an den Stein. Als er sich schließlich aufrichtete, schien er etwas von unfassbarer Tragweite begriffen zu haben, aber ich erkannte nicht, ob es eine gute oder schlechte Nachricht war, die er empfangen hatte.
»Was ist?«, fragte ich.
Er zuckte mit den Schultern, als müsste er Zeit schinden. »Ein Kinderlied.«
»Mensch, darauf wäre ich nie gekommen. Aber was soll es bedeuten?«
Erneutes Achselzucken. Ich knuffte ihn gegen die Brust. »Nun sag endlich. Du weißt mehr als ich.«
»Ich glaube«, begann Marlon und ich spürte seinen Kampf mit den Worten, »dass es die Botschaft einer Mutter an ihren Sohn ist. Das Lied muss so etwas wie eine Erkennungsmelodie sein. Hast du auf den Text geachtet?«
Klar, der war wirklich etwas abgefahren, denn wer sang schon Schlaflieder in Steine? »Twinkle, twinkle, little star. Es klang zumindest so.«
Marlons Blicke tasteten die Umgebung ab. »So ähnlich«, antwortete er mit verhaltener Stimme. »Die Melodie stimmt, aber der Text wurde verändert: Blinker, Blinker, dann und wann, zeigst du uns die Richtung an.«
Ich zog die Stirn kraus. Diese Version klang reichlich albern, selbst für ein Kinderlied.
»Aber dahinter liegt noch etwas«, fuhr Marlon fort und legte seinen Arm um meine Taille, um noch näher neben mir gehen und noch leiser sprechen zu können. Das war mir nur recht. »Kein Gesang, sondern eine Anweisung. Sie ist schwer zu verstehen und muss noch schwerer in den Stein einzusingen gewesen sein. Eindeutig eine Botschaft, die nicht jeder hören soll.«
»Und du kannst sie hören.«
»Ja. Aber sie ist nicht für mich bestimmt.«
»Sondern? Herrgott, lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Wie lautete die Botschaft?«
Marlon räusperte sich. »So viele Jahre wuchs Hass. So viele Jahre nährte dich Einsamkeit an meiner Statt. Aber ich erinnere mich an dich. Tritt durch das Tor und finde zu deinen Wurzeln. Tritt durch das Tor und finde deinen Frieden. Tritt durch das Tor und finde mich.«
Ich schauderte. Es klang unheimlich, aber anfangen konnte ich damit nichts. »Das scheint kein Hinweis darauf zu sein, wohin ihr gehen sollt.«
»Nein, sieht auf den ersten Blick nicht danach aus. Aber ich ahne, welches Tor die Frau meint. Ein Tor aus Stein. Und«, Marlon zögerte, »ich glaube zu wissen, an wen die Worte gerichtet sind. An Olivier, Stephan Olivier.«
Ich sog laut und langsam die Luft ein.
Marlon beantwortete meine unausgesprochene Frage: »Ich habe Gerüchte über ihn gehört. Du weißt schon: Respektiere die Privatsphäre deines Freundes, aber nie die deines Feindes. Alte Harpyien-Weisheit. Es heißt, dass er als Kleinkind von seinem Vater in die Hände der Huntsmen Federation gegeben wurde, nachdem Harpyien seine Mutter ermordeten. Fakt ist, dass die Frau verschwand und irgendwann für tot erklärt wurde, aber eine Leiche wurde nie gefunden. Möglicherweise ist sie–«
»Nicht fort, sondern nur woanders«, unterbrach ich ihn.
»Einiges in dieser Geschichte spricht dafür, dass sie sich ihnen angeschlossen hat, und das wiederum bedeutet, dass die Frau selbst eine Harpyie sein muss. Ich glaube auch nicht, dass wir zufällig über diesen Stein gestolpert sind. Ich war bereits einige Male auf diesem Friedhof und habe nie einen singenden Stein wahrgenommen. Er wurde erst kürzlich besungen. Das heißt, die Frau weiß, dass Olivier häufiger hier ist. Sie versucht, ihn zu erreichen. Ich verstehe allerdings nicht, warum sie dann nicht direkt zu ihm geht.«
»Moment mal.« Ich hatte meine liebe Not, das alles zu verstehen, und musste es zusammenfassen. »Du sagtest, die Botschaft läge hinter dem Lied, sodass sie nicht von jedem, der an die singenden Steine glaubt, gehört werden kann.«
»Nur von Menschen oder Harpyien mit besonderem Talent«, bestätigte Marlon.
»Dann hofft sie nicht nur darauf, dass ihr Sohn das Lied im Stein überhaupt hört, sondern auch …«
»Dass er talentiert genug ist, die Botschaft dahinter zu verstehen. Ja. Du hast recht, das ist eigenartig. Entweder steckt da etwas anderes dahinter« – eine Falle, war mein erster Gedanke, aber den behielt ich vorerst für mich – »oder sie hat wirklich verdammt wenig Vertrauen in die deutsche Post.«
Ich zog angesichts seines flachen Witzes die Mundwinkel hoch.
»Der Grund, warum ich dem nachgehen werde, ist allerdings ein anderer«, fuhr Marlon fort. Wir verließen den Friedhof durch das von Efeu überwucherte Haupttor und er entspannte sich zusehends. »Ich ahne, von welchem Tor sie spricht, also werde ich da hingehen.«
»Mir gefällt das nicht«, murmelte ich.
Marlon drückte auf den Autoschlüssel und der Audi blinkte uns zu. Wir stiegen ein, doch Marlon startete den Motor nicht, sondern sah mich abwartend an. Er wollte hören, was ich zu sagen hatte, und das gefiel mir. Er nahm mich ernst, achtete auf meinen Rat. In seiner Gegenwart fühlte ich mich erwachsen. Mehr Frau als Mädchen.
»Nehmen wir mal an, sie wäre wirklich eine Harpyie«, sagte ich, woraufhin er, zum Zeichen, dass er etwas einwenden wollte, die Hand hob, statt mich zu unterbrechen.
»Wir brauchen nicht darüber zu spekulieren, ob sie eine Harpyie ist. Es steht fest. Ausgeschlossen, dass ein Mensch einen Stein auf zwei Ebenen besingt.«
Ich glaubte ihm, da ich selbst nichts davon verstand. »Gut. Aber wenn sie sich nicht freiwillig verwandelte und euch gegenüber nun Hass empfindet? Ihr Sohn gehört zu den Huntsmen, und das, obwohl seine eigene Mutter zu denen zählt, die er jagt. Was, wenn du nun dieses ominöse Tor aufsuchst und sie dir nicht wohlgesonnen ist?«
Marlon sah mit unergründlichem Blick durch die Windschutzscheibe nach draußen und löste die Handbremse. »Sie hat durchaus recht«, murmelte er. »Es kann gewaltiger Hass heranwachsen, wenn man völlig alleingelassen wird.«
Darauf konnte ich nichts erwidern. Ich wünschte mir so sehr, dass er mit mir darüber sprach, wie er damals verlassen wurde. Vergessen. Wie alt er zu diesem Zeitpunkt wohl gewesen war? Doch hier auf dem Parkplatz schien nicht der richtige Ort für solche Gespräche, daher legte ich nur still meine Hand über seine, die immer noch die Handbremse umklammerte, als müsste er sich daran festhalten.
Eine Weile blieb Marlon reglos sitzen. Er blinzelte nicht einmal. Dann lächelte er mich an, sagte kaum hörbar: »Schon gut«, und nach einer weiteren Pause: »Danke.« Er drehte den Schlüssel um, fuhr los und wir schwiegen eine Viertelstunde lang, bis er irgendwo am Stadtrand, wo ich noch nie gewesen war, rechts ranfuhr.
»Von hier aus müssen wir laufen, aber das Tor ist ganz in der Nähe.«
Ich war, gelinde gesagt, irritiert, dass er direkt hierhergefahren war, ohne mich zu fragen, ob ich überhaupt mitkommen wollte. Allerdings hätte ich in diesem Fall darauf bestanden und so ließ ich mir meine Überraschung nicht anmerken.
Wir gingen zügig, denn im Schatten des in einem Tal versunkenen Waldes war es kühler als in der Stadt. Ich fröstelte in meinem dünnen T-Shirt und verkniff mir die Frage, wie weit es war. Wir stapften durch eine knöchelhohe Schicht aus feuchtem Laub, das unter unseren Füßen raschelte und den Anschein erweckte, als sei längst Herbst. In einem Baum hämmerte ein Specht. Er starrte auf uns herab, Marlon blickte zurück und der Vogel schoss wie ein Dartpfeil davon. Sein Schrei durchbrach die Geräusche der Natur – Vogelzwitschern, Geraschel hier, Geknirsche da –, dann wurde es plötzlich still. Zu still. Marlon schien das nicht zu bemerken, er führte mich immer tiefer in den Wald. Der Weg verengte sich und schlängelte sich durch Senken und im Zickzack steile Böschungen hinauf. Die teils noch nasse Erde war glitschig, ich war froh, als Marlon mir seine Hand anbot, und das nicht nur, weil sie sich warm anfühlte.
»Wie kommt es, dass du dich hier so gut auskennst?«, wollte ich von ihm wissen. Ich hatte mein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht, aber hierher war ich noch nie gekommen. Und Marlon stammte nicht einmal aus dieser Gegend.
»Ich habe mich nach auffälligen Steinen und Statuen umgehört«, erklärte er und hielt ein paar Zweige zur Seite, um mir den Weg freizumachen. »Da erzählte man mir von diesem Torbogen und ich sah ihn mir gleich an. Damals erfolglos, aber möglicherweise finden wir heute mehr. Was bedeutet, dass in den letzten beiden Wochen eine Harpyie hier gewesen sein muss. Und wo eine ist«, er sah mich bedeutungsschwer an, »da sind weitere selten fern.«
»Du erwartest dir von dieser Frau, dass sie weiß, wo ihr in der Lammas-Nacht hingehen müsst, oder?«
Er nickte knapp, mehr als etwas vage Hoffnung war in der Geste nicht zu erkennen. »Es ist wegen Corbin. Wenn er die Verwandlung dieses Jahr nicht schafft, hat er keine Chance mehr.«
»Eins verstehe ich nicht. Hoppla!« Mein Fuß rutschte weg und ich fiel nur deshalb nicht auf den Hosenboden, weil ich mich an Marlon festklammerte, der mich hielt, als wöge ich rein gar nichts. »Danke.« Ich blieb einen Moment länger als nötig an seinem Hals hängen, die Nase in sein T-Shirt gepresst, und kam nur widerwillig zurück auf die Füße. »Warum braucht ihr andere Harpyien, um euch zu verwandeln? Wie funktioniert das? Hat es etwas mit Magie zu tun?«
»Das auch«, antwortete er. Ich hatte den Eindruck, dass es ihm immer leichter fiel, über diese Verwandlungsgeschichte zu sprechen. »Es ist außerdem so, dass wir nach der Verwandlung in Panik geraten. Stell dir einen Vogel mit plötzlicher Amnesie vor. Er weiß nicht, wo er ist, wer er ist oder was er tun soll. Vögel haben im Vergleich zu ihrem restlichen Körper ein enorm großes Herz, womit das Risiko eines stressbedingten Infarkts ansteigt. Dazu kommt, dass eine Vogellunge anders funktioniert als eine menschliche. Als Mensch atmest du ein, die Luft verweilt in der Lunge, bevor du sie auf demselben Weg wieder ausatmest. Eine Vogellunge wird permanent von Luft durchströmt, wie ein Kanal. Nach der Verwandlung müssen wir das Atmen von Neuem lernen.«
Ich spürte bei seinen Worten einen Druck auf dem Brustkorb, der nicht von dem Marsch herrührte. Die Vorstellung von Marlon – denn irgendwie würde er Marlon bleiben, nicht wahr? –, wie er um Atem rang, nach Orientierung suchte und wie sein angsterfülltes Herz immer härter und schmerzvoller gegen viel zu filigrane Rippen donnerte, tat mir weh. So weh, dass ich die Zähne zusammenbeißen musste.
Er sprach ungerührt weiter. »Der Schwarm vermittelt uns, dass alles in Ordnung ist. Von den anderen können wir uns abschauen, was wir zu tun haben. Das hört sich banal an, aber wir haben in diesem Moment nichts außer unseren Instinkten. Davon hängt alles ab. Außerdem ist das Leben als Vogel gefährlich, erst recht, wenn du die Gefahren nicht kennst, die auf dich warten. Wir werden von den Älteren an einen sicheren Ort gebracht, um zu lernen, dieses Leben zu überstehen.«
Ich konnte kaum fassen, wie ruhig Marlon blieb, während er mir all das erzählte. Doch er wusste davon nicht erst seit gestern. Er hatte viele Jahre Zeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Die Selbstverständlichkeit, mit der er zu mir sprach, sollte es mir leichter machen. Mit lächerlich wenig Erfolg. Mir schwindelte jedes Mal, wenn er von seiner ungewissen Zukunft sprach. Ich hatte das Gefühl, der einzige Mensch auf der Welt zu sein, der solch ein unglaubliches Geheimnis in die Hände gelegt bekam, und verstand den Grund dafür nicht im Ansatz. Er hätte lügen können. So leicht hätte er mir eine glaubwürdige Geschichte erzählen können, mit der ich mich zufriedengegeben hätte. Aber er hatte nicht gelogen, sondern mir die Wahrheit gesagt. Zögernd, ja. Vor Unsicherheit stockend, auch das. Aber ohne eine Lüge. Bedingungslos ehrlich.
»Warum?« Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass ich die Frage laut gestellt hatte. »Warum erzählst du mir das alles? Warum verrätst du mir diese Wahrheiten?« Mir, die dir nicht helfen kann, Marlon! »Mir, und niemand anders?«
Er blieb stehen und hielt mich an den Schultern fest. »Weil ich will, dass du dich an mich erinnerst, wenn ich es nicht mehr kann. Du, und niemand anders.«
Ich hätte ihn beißen können, da küssen nicht ausreichen würde, so sehr rührten mich seine Worte. Stattdessen erwiderte ich seinen Blick, verengte die Augen, damit er nicht sah, dass sich Wasser in ihnen sammelte. Kniff die Lippen zusammen, weil ich befürchtete, sie würden sonst zittern.
Plötzlich wandte er sich mit einem gezischten Fluch ab, verbarg das Gesicht hinter einer Hand und gestikulierte, als würde er gleich auf den nächsten Baum eindreschen und sich nur aus Rücksicht auf mich zusammenreißen. »Verdammt, entschuldige!«, stieß er zwischen den Zähnen hervor.
Was bitte war denn nun wieder schiefgelaufen?
»Marlon, warte.« Ich lief ein paar Schritte hinter ihm her und berührte ihn an der Schulter.
Er drehte sich so vorsichtig zu mir um, als würde er befürchten, dass ich nach ihm schlug. Blickte mich an und schien erstaunt über das, was er sah. »Du bist mir nicht böse?«
Ich schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich böse sein?« Verwirrt – okay. Überfordert, verzaubert, verzweifelt – ja, ja, ja. Verliebt – möglicherweise bis ganz bestimmt, da war ich mir nicht sicher. Aber … »Nicht böse.«
»Du sahst aus, als wärst du es. Ich sollte mehr mit dir reden, statt alles in mich hineinzufressen.« Er zog mich am Bund meines T-Shirts zu sich, wobei seine Finger die nackte Haut meiner Taille streiften.
Ich murmelte zustimmend, suchte mit meinen Lippen die seinen und fand, dass er mich lieber küssen sollte, statt zu reden, weil das viel einfacher war und weniger Potenzial für Missverständnisse bot.
Er küsste meine Stirn und ich vergrub mein Gesicht in seiner Halsbeuge. Daraufhin ließ er den Kopf in den Nacken sinken. Ich spürte ihn lautlos lachen, dann schüttelte er den Kopf und legte die Wange gegen meinen Scheitel.
»Du wärst mir besser böse, Magpie, denn ich nutze dich nur aus. Alles, was ich will, ist, dir wehzutun. Ich will dir so wichtig sein wie du mir, sodass es grausam ist, dich dann zu verlassen. Das sollte dir, verdammt noch mal, weniger gefallen.«
Ich schmeckte tausend Zärtlichkeiten, die mir auf der Zunge lagen. Dinge wie: Manche Gefühle sind schön genug, um hinzunehmen, dass sie Schmerzen bereiten. Süße Floskeln, wie sie auf diesen Karten stehen, auf denen pfeildurchbohrte Herzen abgebildet sind oder Rosen mit Dornen, von denen ein Tropfen Blut rinnt. Doch so etwas auszusprechen, war nicht meine Art (gegen Gedanken kann man sich leider weniger wehren). Ich knuffte ihn in die Seite und flüsterte: »Selbstmitleid und Melancholie sind seit hundert Jahren out. Mach dir keine Sorgen. Ich weiß, worauf ich mich einlasse.«
Er schob mich ein Stück von sich. »Und genau deshalb«, ließ er feierlich verlauten, »damit du es weißt, habe ich dir die Wahrheit erzählt. Los, komm, lass uns weitergehen.« Damit wandte er sich ab, als sei alles gesagt.
Bis ich geblinzelt und den Inhalt dieser Aussage registriert hatte, war er bereits ein paar Schritte den Berg hinaufgestapft. Ich musste mich beeilen, um wieder zu ihm aufzuschließen.
Als wir den Bergkamm erreichten, sah ich in der Böschung den Stein, von dem Marlon gesprochen hatte. Es musste der richtige Stein sein, denn er hatte die Form eines Bogens und war mannshoch, sodass er wie ein Tor wirkte, das von seinen Mauern vergessen im Wald stand. Die Jahre hatten auf den Stein eingewirkt, im unteren Bereich war er von Pilzen und Flechten bewachsen und weiter oben hatten ihn Wind und Wetter fast glatt poliert. Irgendein Idiot besonderen Ausmaßes hatte ein Hakenkreuz daraufgesprüht. Das Tor neigte sich in Richtung des Hanges, als würde es jeden Moment umstürzen.
Marlon rannte auf den Stein zu, ich hatte Mühe, hinter ihm herzulaufen, ohne dabei auszurutschen und ihm auf dem Hintern zu folgen. Ich hörte das Klatschen, das seine Hände verursachten, als er sich an der Seite des Bogens abfing, und fürchtete, das ganze Ding würde umfallen und mit Marlon zusammen die Böschung herunterstürzen. Doch der Stein stand unbeweglich.
Marlon lachte nervös auf. »Volltreffer!« Er schloss die Augen, lehnte die Stirn und beide Handflächen gegen den Stein und schien im gleichen Moment der Welt entrückt.
Ich fühlte mich ein wenig unbehaglich, fast einsam, als hätte er mich unvorbereitet allein im Wald zurückgelassen. Von Ausflügen in brachliegende Gärten einmal abgesehen, war ich ein Stadtkind und dementsprechend mulmig war mir zumute. Obwohl es helllichter Tag war, erreichte kein Sonnenstrahl die Erde. Der Wind flüsterte hier nicht in den Baumkronen, er säuselte und zischte. Vipernhaft. Irgendwo in der Ferne hörte ich Äste knacken, als trampelte ein Tier durchs Unterholz. Ein verdammt großes Tier. Ich rückte etwas näher an Marlon heran, raschelte dabei mit dem Laub unter meinen Füßen, worauf er leise »Scht« machte, um dem Stein besser lauschen zu können. Ich selbst vernahm aus diesem nur ein kaum wahrnehmbares Summen, ähnlich einem alten Fernseher auf Stand-by.
»Hörst du etwas?«
»Still!«, gab er ungeduldig zurück.
Ich atmete tief, aber ganz leise durch und rieb meine Oberarme, auf denen sich eine Gänsehaut ausgebreitet hatte. Ich hörte allerhand. Knistern, Rauschen, Knacken und Krachen.
Marlon verzog frustriert das Gesicht, presste sich dann noch enger an den Fels, als wollte er hineinkriechen. Wer immer da gesungen hatte, er hätte es ruhig ein wenig lauter tun können. Meno piano, hieß es, wenn ich mich richtig an den Musikunterricht erinnerte – weniger leise. Die Geräusche um uns herum dagegen wurden lauter. Più forte. Eindeutig. Oder bildete ich mir das nur ein, weil ich mich so darauf konzentrierte? Waren da Stimmen? Die Kühle auf meiner Haut wurde frostig, ich trat von einem Bein aufs andere und sah mich um. Hundebesitzer, versuchte ich mich selbst zu beruhigen. Gute Hundebesitzer gingen mit ihren Tieren auch mal in den Wald, statt sie immer nur kurz angeleint an die Fassaden der Nachbarhäuser pinkeln zu lassen. Warum beruhigte mich das nicht? Ich fand keinen plausiblen Grund, aber meine Nervenenden vibrierten, mein Körper weigerte sich, seine Habachtstellung aufzugeben.
»Noa?« Marlons Stimme schräg hinter mir ließ mich zusammenfahren. »Noa, was ist los?«
»Nichts«, flüsterte ich. Ich verwandelte mich nur gerade in ein hysterisches Weibsbild. Das Ganze erinnerte mich an den Moment, bevor die Bahn entgleist war, lediglich die innere Stimme fehlte. Vielleicht stieg mir auch einfach nur die Aufregung zu Kopf. Ich kühlte meine Wangen mit den Rückseiten meiner eisigen Finger und versuchte, die Angst abzustreifen. »Es ist wirklich nichts. Ich dachte, ich hätte etwas gehört, aber es sind sicher nur Spaziergänger.«
Marlon nahm meine Nervosität nicht auf die leichte Schulter. »Lass uns hier verschwinden«, hauchte er in mein Ohr.
»Warum?« Mein Herz donnerte. Er sah mir erschrocken auf die Brust, als könnte er es hören. Vermutlich war genau das der Fall; sein Gehör schien meinem weit überlegen. »Hörst du auch etwas?«
»Nein, aber du«, erwiderte er. »Du bist der aufmerksamste Mensch, der mir je begegnet ist. Ich vertraue deiner Intuition mehr als meiner. Los, komm. Leise!«
Leise? Das war ein Anwärter für www.nichtlustig.de. Das Laub raschelte nicht mehr unter unseren Schritten, es machte einen Höllenlärm. Plötzlich schienen Hunderte von Ästen darunter verborgen zu liegen, die krachend zerbrachen.
Wir rannten über den Bergkamm zurück, auf dem gleichen Weg, den wir gekommen waren. Als wir den höchsten Punkt – und damit die Stelle, von wo aus wir am besten zu sehen waren – überwunden hatten, bedeutete Marlon mir, stehen zu bleiben. Er legte einen Finger an die Lippen und ich bemühte mich vergeblich, meinen heftigen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Was Marlon nun hörte, gefiel ihm nicht; ich sah ihm die Besorgnis an.
»Lauf!«, formte er stumm mit den Lippen, setzte sich selbst aber nicht in Bewegung, sondern horchte weiter.
Ich stolperte ein paar Schritte voran, wartete dann aber auf ihn. Inzwischen hörte auch ich das Krachen von berstendem Unterholz, Schritte sowie verhaltene Rufe von Männern. Da kamen keine Hundebesitzer. Das waren Jäger. Huntsmen.
Marlon preschte los und riss mich am Arm mit sich. »Sie haben uns gesehen! Lauf, Noa!«
Ich erkannte im Augenwinkel die Silhouetten unserer Verfolger. Drei Personen. Der Abstand war groß, aber das bedeutete nichts. Ich wusste, dass sie Pistolen hatten. Auch Marlon wusste das, er blieb hinter mir, als wollte er mich mit seinem Körper schützen. Der Hinweg zu dem bogenförmigen Stein hatte sich schon gezogen, nun kam es mir vor, als nähme der Wald kein Ende, dabei liefen wir bergab. Sosehr wir auch rannten, wir kamen kaum vorwärts, die Straße und das rettende Auto tauchten einfach nicht vor uns auf. Ich hatte Angst zu stolpern, hinzufallen und mich zu verletzen. Würde Marlon dann ohne mich flüchten? Was, wenn er es nicht tat? Inzwischen hörten wir die Stimmen der Huntsmen sehr deutlich. Als ich mich umwandte, erkannte ich, dass es sich um zwei Männer und eine Frau handelte. Sie waren so schnell. Mir schlug ein Zweig ins Gesicht, ich strauchelte. Sie brüllten, wir sollen stehen bleiben. Marlon zischte: »Lauf schneller!«
Der Wunsch, mich auf den Boden zu werfen und sie anzubetteln, uns in Ruhe zu lassen, wurde übermächtig. Wir hatten ihnen nichts getan!
Und dann peitschte der erste Schuss durch den Wald. In meinen Ohren rauschte es, ich rannte um mein Leben. Die zweite Kugel schlug in einen der Bäume vor uns. Borke platzte von seinem Stamm, direkt auf Höhe meines Kopfes. Die machten ernst. Ich hatte nicht gewusst, wie schnell ich rennen konnte. Ein weiterer Schuss. Noch einer. Wieder hatten sie nicht getroffen. Marlon stolperte, fiel, überschlug sich und rollte durchs Laub.
»Steh auf!«, kreischte ich ihn an, zerrte an seinem T-Shirt, sodass der Saum an der Seite aufriss. Er kam auf die Füße, fluchte atemlos. Einer unserer Verfolger brüllte etwas, das ich nicht verstand. Wir rannten weiter. Als ich gerade glaubte, dass wir uns verlaufen hatten und wie gehetzte Tiere planlos durch den Wald flohen und ein gutes Ziel abgaben und bald keine Kraft mehr hätten und niemals entkommen würden und verloren waren und am Arsch und eigentlich schon tot … da schimmerte die Straße zwischen den Bäumen hindurch. Wir brachen durch eine letzte dornige Hecke, stürzten durch einen Graben, in dem etwas Wasser stand und dessen Hänge von Brennnesseln überwuchert waren, und sahen das Auto. Ob wir schnell genug gewesen waren oder sie uns auf der Straße, wo Zeugen drohten, nicht mehr verfolgten, wusste ich nicht. Es war mir egal. Wir erreichten den Wagen, warfen uns in die Sitze und Marlon jagte mit kreischenden Reifen los.
Er fuhr. Ich zitterte. Er fingerte an der Heizung herum. Ich rieb meine Oberarme. Er murmelte: »Scheiße, Scheiße, war das knapp.« Ich starrte aus dem Beifahrerfenster und dachte: Ja, ja, ja. Knapp.
Irgendwann fuhr er rechts ran, taumelte aus dem Wagen und übergab sich am Straßenrand. Erst als er zurückkam, erkannte ich den Grund.
Seine linke Schulter war rot verschmiert. Blut. Es rann ihm über den Arm. Tropfte von seinen Fingern. Bildete Flecken auf dem Asphalt.
Diese Drecksschweine! Die hatten ihn getroffen.