Lektion 14

Vom Jagen

Es war Samstagabend und ich hatte so große Angst wie noch nie in meinem Leben.

Es war eine Sache, ein Entführungsopfer zu sein. Eine andere, in mystische Zwischenwelten gezogen zu werden. Eine böse Sache. Pistolenkugeln um die Ohren gejagt zu bekommen war auch recht unerfreulich. Aber all das war nun eine Woche oder länger her und kam mir beinahe surreal vor und damit gleich viel weniger dramatisch. Hey, ich hatte es doch überlebt, oder?

Nichts, rein gar nichts, kommt an die Angst heran, die dich durchfließt, wenn du am Rand einer Bühne stehst und vierhundert Augenpaare auf dir spürst.

Lukas, der mit seiner Gitarre auf der anderen Seite tanzte, lief der Schweiß in Strömen übers Gesicht. Sein Lampenfieber war längst überwunden, er beruhigte sich grundsätzlich während der ersten Songs. Die Show war bisher fantastisch gelaufen, das Publikum johlte und jubelte ihm zu. Es war kein Spaziergang gewesen. Lukas und die Death Ponys hatten alles geben müssen, um die skeptischen Leute in begeisterte Zuschauer zu verwandeln. Sie hatten mehr geschafft. Da unten standen nicht mehr bloß zufriedene Rockkonzertbesucher. Da standen Fans, die ihre Alben sammeln würden, wenn es denn welche gäbe. Lukas wusste das, dementsprechend euphorisch kündigte er den erfolgreichsten Titel der Death Ponys an. I’m burning. Sie hatten damit einen Wettbewerb gewonnen, in Kürze würde man ihn auf CD kaufen können, statt ihn illegal aus dem Netz herunterladen zu müssen. Die Menge tobte.

Ich war so nervös, dass meine Hände beim Anzünden der Poi zitterten. Die Heads rauchten trotzig und begannen einfach nicht zu brennen. Bockige Biester! Tatjana, die Schlagzeugerin, die den Takt vorgab, warf mir einen ihrer gefürchteten Wird’s-bald-Blicke zu. Ich brauchte zu lange. Verdammt.

Endlich, oh Gott, endlich standen die Heads in Flammen. Ich nickte Tatjana zu, sie drosch auf ihre Drums ein. Langsam trat ich, in auf die Musik abgestimmten Drehungen und mit schwingenden Poi, in die Mitte der Bühne. Die Hitze der Scheinwerfer schlug mir ins Gesicht. Nur nicht daran denken, wie viele Leute zusehen. Vor allem musste ich den Gedanken verdrängen, dass Dominic und Marlon zusahen. Vor Menschen, die mir wichtig waren, schwoll mein Lampenfieber grundsätzlich auf unerträgliche Maße an, weshalb Papa nicht mehr zu meinen Auftritten kam (oder sich zumindest nicht erwischen ließ). Ich schloss für ein paar einfache Formationen die Augen, konzentrierte mich auf die Musik und es lief besser. Lukas brüllte den ersten Refrain. Meine Swings wurden ausgreifender, schneller und gemäß meiner Choreografie baute ich anspruchsvollere Figuren ein. Ich ließ meine Drachen frei. Meine Ängste nährten das Feuer und machten es lebendig, bis es mein Lampenfieber ergriff und verbrannte. Lukas legte seine Gitarre ab, bewegte sich auf mich zu, tanzte mich an, kam mir so nah, dass er die Hitze meiner Drachen spüren musste. Er brüllte mir den Text ins Gesicht, war so nah, dass ich die Poi um uns beide schwingen musste. So nah, dass wir uns berührten. Brust an Brust. Er sang, ich schottete uns mit dem Feuer von der Außenwelt ab. Es war sinnlich, auf eine Art, die man nur nachvollziehen kann, wenn man sich auf einer Bühne einmal ganz einer Show hingegeben hat. Nichts ist wichtig in diesem Augenblick. Nichts existiert mehr. Nur die Darbietung. Nur er und ich, Lukas’ Stimme und mein Feuer, ein paar Takte lang, die ewig schienen. Ein Crescendo aus Euphorie.

Lukas wandte sich ab, hob seine Gitarre auf und spielte das Solo am Rand der Bühne, während ich die schwierigsten Moves meiner Choreografie tanzte, für die ich meine ganze Konzentration benötigte. Ich machte keinen Fehler und trotzdem spürte ich, wie etwas schiefging. Einer meiner Drachen ließ mich im Stich, sein Feuer verlosch. Ging einfach aus. Das passiert, wenn man die Heads nicht lange genug im Petroleum lässt. Aber auch wenn man alles richtig macht, kann es hin und wieder vorkommen. Das Feuer hat seinen eigenen Willen. Es lässt sich kontrollieren und zähmen, aber nie versklaven. Ich fluchte leise, bemühte mich aber, die Show zu Ende zu bringen. Meine letzte Einlage, der Butterfly, bei dem man das Feuer über dem Kopf flattern lässt, als würde man gleich von ihm in die Luft gehoben werden, sah mit nur einem brennenden Poi erbärmlich aus. Ich lächelte gezwungen, als wären meine Mundwinkel an meinen Ohren festgetackert.

»Das war: I’m burning!«, grölte Lukas ins Mikro.

Die Leute tobten, hüpften und klatschten. Lukas schlug mir mit einem überwältigten Grinsen auf den Rücken. Er war zufrieden, trotz meines Patzers. Die Leute grölten lauter, als ich zum Gruß den noch brennenden Poi wie ein Lasso über meinem Kopf schwang. Patzer oder nicht – auch sie waren zufrieden.

Ich löschte den Poi am Bühnenrand, ließ beide abkühlen und verstaute meine Sachen. Dann huschte ich in den Zuschauerraum, um von der ersten Reihe aus gemeinsam mit Marlon und Dominic die zweite Zugabe der Death Ponys anzusehen.

Die beiden gratulierten mir. Marlon küsste meine schweißfeuchte Stirn, nahm mir den Rucksack ab und reichte mir eine Wasserflasche, die ich leer trank, ohne abzusetzen. Während des letzten Songs, einer ruhigen Nummer – fast zu romantisch für Lukas’ Verhältnisse –, hielt Marlon mich von hinten umschlungen, als wollte er mich nie mehr loslassen.

»Du warst toll«, raunte er mir ins Ohr, »und ich vergehe vor Eifersucht auf diesen Typen.«

Ich sah ihn über die Schulter an und wunderte mich, wie heiß, wütend, frostig und warm zugleich sich sein schwarzer Blick anfühlte. Sein Kiefer war steinhart, so stark biss er die Zähne zusammen. Das war also keine Übertreibung gewesen – Marlon war tatsächlich eifersüchtig. Ich beschloss, das ein wenig auszureizen, und entschuldigte das vor mir selbst mit dem Adrenalin in meinen Adern.

»Ich war mal in ihn verliebt.«

Ich hörte Marlons Atem durch seine Zähne stoßen. »Jetzt nicht mehr?«

Lächelnd griff ich in seinen Nacken. »Nein, jetzt nicht mehr. Du hast mich vollkommen verändert.«

»Niemals.« Er sprach leise, aber so dicht an meinem Ohr, dass ich jedes Wort hören und fühlen konnte, egal wie laut es um uns herum war. »Niemand sollte einen anderen Menschen verändern. Niemand hat so viel Macht über dich. Nie! Nur du allein und nur, so lange du es willst.«

Ich prägte mir seine Worte gut ein, denn ich ahnte, dass sie irgendwie wichtig waren.

Nach der Zugabe verließen die Death Ponys die Bühne, auf der an diesem Abend noch weitere Bands spielen sollten. Dominic, Marlon und ich trollten uns nach einem knappen Abschied, schlenderten zu den Parkplätzen und unterhielten uns über das Konzert. Dominic und Marlon kamen gut miteinander aus. Sie hatten einen ähnlichen Musikgeschmack und stellten fest, dass sie sogar schon auf denselben Konzerten gewesen waren. Während Dominic noch von einem Linkin-Park-Auftritt berichtete, merkte ich plötzlich, wie sich Marlons Miene verspannte.

Ich drückte seine Hand. Alles okay?, sollte das heißen. Dann sah ich den dunklen Fleck auf der Windschutzscheibe von Emmas Auto, mit dem Marlon heute unterwegs war, weil es weniger auffällig war als sein eigenes. Nichts war okay.

»Steigt sofort ein!«, rief Marlon und schloss die Beifahrertür auf.

Ich huschte auf den Rücksitz und trieb Dominic zur Eile an, der uns verwirrt anblickte. Marlon hastete um das Auto herum, wischte den kleinen toten Vogel mit dem Handrücken von der Windschutzscheibe und glitt auf den Fahrersitz. »Türen zu!«, wies er an.

Dominic reagierte nicht, ich griff an ihm vorbei und drückte den Knopf runter. Marlon bretterte los, Kies spritzte unter den Reifen weg und hagelte gegen parkende Autos.

»Würde mir jemand verraten, was hier abgeht?«, fragte Dominic verwirrt.

Marlon und ich gaben keine Antwort. Wie sollten wir es ihm auch erklären?

Ich legte eine Hand auf Marlons Schulter. Die Huntsmen waren uns sehr nahe gekommen. Zu nah. Dass sie uns hier, beim Konzert, erwischt hatten, konnte nur eins heißen: Sie waren an mir dran. Was das für mich bedeutete, konnte ich noch nicht überschauen. Für Marlon war die Sache klar. Er war nicht mehr sicher in meiner Nähe. Meine Hand zitterte, während ich mich an ihm festhielt.

Wir brachten Dominic nach Hause, erzählten ihm etwas von Streitereien und fuhren dann auf Umwegen zum Drachenhaus. Ich war auf der Rückbank sitzen geblieben, hielt mich an meinem Rucksack fest und tröstete mich mit dem Geruch des Feuers, der ihm anhaftete. Ängste rotierten in meinem Kopf, wurden zu Wirbelstürmen, die alles mitrissen. Mit meinem neuen Handy, das Marlon besorgt hatte, rief ich meinen Vater an, um zu hören, ob es ihm gut ging.

Marlon parkte ein paar Gehminuten vom Haus entfernt.

»Was nun?«, fragte ich beim Aussteigen.

Er gab mir keine Antwort, hielt nur den Finger an die Lippen und lauschte. Möglich, dass sie auch dieses Versteck gefunden hatten. Oh, bitte nicht! Doch Gott sei Dank blieb alles still.

Wir gingen ins Haus, ohne etwas Auffälliges zu bemerken, und setzten uns mit Corbin und Emma zusammen. Emma war die Kälte in Person. Corbin hätte mir weiterhin egal sein müssen, aber ich machte mir Sorgen um ihn. Er sah krank aus. Ernsthaft krank.

»Ich glaube nicht, dass sie uns dort gefunden haben, weil sie Noa gefolgt sind«, sagte Marlon. »Sie jagen nicht Noa. Vermutlich haben sie Emmas Auto erkannt.«

»Na, so ein Zufall«, höhnte Emma.

Frost schneite aus Marlons Gesicht, als er sie ansah. »Vielleicht auch Gedankenlosigkeit. Kennen sie dein Auto, Em?«

»Jetzt schon, aber das ist nicht meine Schuld.«

»Oder kannten sie es vorher schon und du hast vergessen, uns das wissen zu lassen?«

»Schluss damit!«, fuhr Corbin leise dazwischen. Hätte er gebrüllt, wäre er sicher von den beiden ignoriert worden. Doch seine schwache Stimme ließ sie verstummen. »Uns bleibt noch exakt eine Woche. Beschissene Ausgangslage, um über Autos zu streiten.«

»Du hast recht, tut mir leid«, stimmte Marlon ihm zu. »Zumal ich glaube, dass wir den Huntsmen gerade gehörig auf den Leim gehen. Die wollen uns nervös machen, uns zu Fehlern verleiten.«

»Das vermute ich auch.« Knapp blickte ich mich um. Ich wusste nicht recht, ob meine Meinung in dieser Runde gefragt war. Bisher hatte ich mich rausgehalten, schließlich war ich keine von ihnen. Doch niemand bedeutete mir, still zu sein, also teilte ich meine Gedanken mit ihnen. »Der Parkplatz war abseits des Geländes, auf dem das Konzert stattfand, und da es noch in vollem Gang war, lag er ziemlich ausgestorben da. Die hätten uns dort leicht erwarten und auflauern können. Haben sie aber nicht, sie haben nur den toten Vogel auf der Windschutzscheibe hinterlassen. Die wollen uns ärgern.« Ich hatte ganz bewusst und mit provokativer Betonung uns gesagt.

»Die wissen etwas, das wir nicht wissen«, überlegte Marlon laut und starrte mich dabei an, als wäre ich ein faszinierendes, neu entdecktes Insekt mit schillernden Flügeln. »Die toten Vögel sind einfach nur ein perfider Spaß. Die sind uns einen Schritt voraus und machen sich über uns lustig.«

»Ja, ich lach mich gleich tot«, meinte Corbin trocken, womit er sich einen scharfen Blick von seinem Bruder einhandelte. Corbin seufzte. »Okay, nehmen wir mal an, die sind schlauer als wir. Wie können wir daran etwas ändern, wenn selbst ein Nintendo-DS-Intelligenztraining zu lange dauert?«

Marlon ballte seine Hände zu Fäusten. »Mein Wagen gehört dem, der die Antwort hat.«

Ich verstand seinen Frust. Die letzte Woche waren wir unentwegt durch die Stadt und die angrenzenden Orte gefahren und hatten nach Mitteilungen der Harpyien geforscht. Er hatte im wahrsten Sinne des Wortes jeden Stein umgedreht.

»Seid ihr denn ganz sicher, in der richtigen Stadt zu suchen?«, fragte ich.

Corbin stöhnte genervt auf. »Bevor wir herkamen, sind wir auf etliche Hinweise gestoßen, die uns genau hierher geschickt haben, um auf weitere Anweisungen zu warten. Die Entscheidung, wo es zur Metamorphose kommt, wird erst kurz vorher verraten, um das Risiko zu minimieren, dass die Huntsmen dahinterkommen.«

Ehe ich etwas Patziges erwidern konnte, sagte Marlon: »Wir können die Stadt jetzt nicht mehr verlassen und auf gut Glück versuchen, irgendwo über einen neuen Hinweis zu stolpern. Selbst wenn es einen gäbe: Wo sollten wir jetzt noch anfangen zu suchen? Nein, wir müssen hier weitermachen. Vielleicht haben wir nichts gefunden, weil die Informationen bislang geheim sind und erst noch eingesungen werden.«

Die Aussicht, all die abgeklapperten Orte wieder und wieder aufzusuchen, demotivierte uns alle.

Auch Emma sah betreten zu Boden. »Ich wünschte, meine Leute könnten euch helfen.«

»Das würden die ganz bestimmt«, meinte Marlon ironisch.

Emma zog eine Grimasse. »Es ist nicht meine Schuld, dass frisch verwandelte Raben gefährlich sind.«

Ich sah zwischen den beiden hin und her. »Sie sind doch nicht gefährlich.«

»Wenn man ein Star ist und nur so groß«, Emma maß knappe zwanzig Zentimeter mit den Händen ab, »dann schon.«

Marlon schlug die Beine übereinander. »Die Größe ist egal, es kommt auf die Technik an.«

»Ja«, meinte Emma gedehnt. »Und ich traue dir und Corbin genug Technik zu, um mich aufs Kreuz zu legen. Flugtechnisch, versteht sich. Und dann werde ich vernascht.« Sie wurde wieder ernst und wandte sich mir zu. »Vom Sicherheitsaspekt mal abgesehen, geht es wirklich nicht. Jeder Schwarm hat seine eigene Magie.«

»Ich habe nie herausgefunden, ob es für Kuckucke eine Ausnahme gibt«, überlegte Marlon. »Die legen ihre Eier schließlich in fremde Nester.«

Corbin zeigte ihm einen Vogel und stand schwerfällig auf. »Löst ihr das Rätsel der Kuckucke. Ich guck mal, was mein Bett macht.« Er schlurfte aus dem Wohnzimmer und wir anderen warfen uns betretene Blicke zu.

Guter Gott, er machte Schritte, als hätte er Angst, seine Knochen würden brechen, sobald er stärker auftrat. Es musste ihm wirklich schlecht gehen.

»Wie hoch ist seine Temperatur?«, fragte Marlon leise, nachdem die Zimmertür hinter seinem Bruder zugefallen war.

»Zu hoch«, erwiderte Emma müde. »Er kontrolliert sie nicht mehr, vermutlich, weil es ihm Angst macht. Ich schätze, sie liegt konstant über 38 Grad.«

Marlon machte Anstalten, auf den Tisch zu schlagen, zog seine Hand jedoch auf halbem Weg zurück. »Warum nimmt der Hornochse keine Medikamente! Ein Fiebermittel würde ihm vielleicht ein paar Tage geben. Bei normaler Temperatur gibt es keine Metamorphose.«

Emma legte beruhigend eine Hand auf seinen verkrampften Unterarm. »Marlon. Er nimmt die Medikamente. So viele, dass ihm davon übel wird. Er muss auf die Verwandlung hoffen, anderenfalls braucht er bald eine neue Leber.«

In diesem Moment wurde Marlons Gesicht erst bleich, dann starr. Wächsern. Er sah durch Emma hindurch, als würde er auf etwas lauschen. Ich hörte es auch. Gitarrenmusik. Und kurz darauf Corbins leise, raue Stimme, die dazu sang.

»All my bags are packed, I’m ready to go …«

Er sang diesen alten Song von John Denver. Leaving on a Jet Plane.

»Das hat er seiner Freundin immer vorgesungen«, flüsterte Marlon.

Ich wollte nicht wissen, was es bedeutete, dass er das Lied nun allein sang. Ich ahnte den Grund, aber ich erlaubte dem Gedanken nicht, sich auszuformulieren.

Keiner von uns wagte zu atmen. Wir hörten zu. Versuchten, keinen der gedämpft durch die Tür dringenden Töne zu verpassen. Das war alles, was wir für Corbin tun konnten.

»So kiss me and smile for me. Tell me that you’ll wait for me. Hold me like you’ll never let me go.«

Marlon war es, der die Stille brach, die daraufhin entstanden war. Heftig zog er die Nase hoch. Er weinte. Und dann sprang er auf, rannte zu Corbins Tür und hämmerte mit beiden Fäusten dagegen. »Hör mit dieser Scheiße auf!«, brüllte er. »Du bleibst hier, hast du mich verstanden? Du blöde Missgeburt bleibst bei deinem Missgeburtsbruder, bis wir beide so weit sind! Kapierst du das? Ich lass dich nicht gehen! Ich lass dich, verdammt noch mal, nicht gehen!«

Ich trat zu ihm und schlang meine Arme um ihn. Er bebte, als würden ihn Krämpfe schütteln. Immer noch schlug er auf die Tür ein.

»Ich brauche ihn«, wisperte er irgendwann und ließ die Fäuste sinken. »Ich schaff das nicht ohne ihn. Er kann jetzt nicht –«

»Er wird kämpfen«, versprach ich ihm. Da war ich sicher. Ob er es schaffen würde? Wie konnte ich das wissen? Emma und Marlon wussten mehr über diese Metamorphose, ich war völlig ahnungslos. Ihre Gesichter gaben sehr viel preis. Angst, Ungewissheit, Trauer. Aber Hoffnung? Ich konnte keine erkennen.

Marlon blieb vor Corbins Tür stehen, die Stirn an das Holz gepresst. Ich konnte nichts tun, außer bei ihm zu bleiben, auch wenn ich nicht wusste, ob das richtig war. Auch Emma kam zu uns. Sie setzte sich auf den Boden, lehnte den Kopf gegen die Wand in ihrem Rücken und summte leise vor sich hin. Das Lied ließ uns zur Ruhe kommen. Ich fragte mich, ob Corbins Sinne sich schon dem Vogeldasein angepasst hatten. Wenn ja, dann hörte er es sicherlich auch. Der Gedanke tröstete mich ein wenig.

Irgendwann öffnete Corbin die Tür, sodass Marlon ihm fast entgegengefallen wäre. Die beiden sahen sich an. Corbin wieder gefasster, Marlon wütend. Er formte etwas mit den Lippen, ich konnte es nicht verstehen.

»Großer Mist«, meinte Corbin. »Ich wünschte, ich könnte es ändern. Ich tue, was ich kann.«

»Das wird nicht reichen«, entgegnete Marlon.

»Ich werde mich bessern.« Corbins Stimme klang feierlich, wie bei einem Schwur. »Ich war ein blöder Bruder, ein mieser Mensch und auch als Freund habe ich nichts getaugt. Aber ich werde ein toller Vogel sein.«

Marlon nickte und versuchte sich an einem Grinsen. Er wandte sich ab, ging zu seinem Zimmer und bedeutete mir, ihm zu folgen. »Du warst kein blöder Bruder, und das weißt du. Du bist mein einziger Bruder. Und mein Freund. Mein bester. Denk daran, bevor du Mist baust!«

Corbin lächelte schief.

Marlon tippte sich zu einem altmodischen Abschiedsgruß an die Schläfe und verharrte in dieser Bewegung.

In diesem Augenblick begriff ich, was er dachte. Es war so deutlich, als hätte er zu mir gesprochen. Er fürchtete, Corbin würde die Nacht nicht überstehen. Und da war noch mehr. Er dachte: Ich gehe nicht ohne dich. Wenn du mich alleinlässt, werde ich als Mensch sterben. Wir sehen uns im Himmel, so oder so.

In dieser Nacht bekam ich zum ersten Mal wirklich eine Ahnung davon, was mir bevorstand.

Ich würde Marlon verlieren.

Es war so deutlich zu spüren, weil ich mich ganz fest an ihn klammerte und ihn doch nicht erreichte. Er war weit weg. Seinen Körper festzuhalten änderte daran nichts. Ich schwitzte, eng an seinen warmen Rücken gepresst, und suhlte mich bewegungslos in der Furcht, dass auch seine Körpertemperatur bereits anstieg. Irgendwann zog ich mein T-Shirt aus. Nicht um ihn zu erregen, er nahm mich ohnehin kaum wahr, sondern weil mir so heiß war. Ich hegte den kleinen Wunsch, er würde reagieren, als ich meine Brust an seinen Rücken schmiegte, aber er atmete nicht einmal tiefer. Er blieb einfach liegen, gab vor zu schlafen. Diesmal schauspielerte er erbärmlich. Er schlief die ganze Nacht nicht.

Wieder fuhren wir von einem Ort zum nächsten und suchten nach Steinen. Marlon berührte sie, drückte sich an sie, boxte dagegen. Nichts. Immer stärker wurde der grausame Verdacht, dass die Harpyien Corbin und ihn vergessen hatten. Ich spürte, wie sein Körper sich stündlich mehr verspannte, auch wenn er sich noch so sehr bemühte, es mich nicht merken zu lassen.

»Rede endlich mit mir«, forderte ich ihn auf, als er mit Eis und zwei Getränkedosen, die er an einem Kiosk im Stadtpark gekauft hatte, auf mich zukam.

Wir setzten uns auf eine akkurat gestutzte Wiese, gleich unter ein Schild, das das Betreten der Grünflächen für verboten erklärte. In diesem Park war ohnehin alles verboten. Er wurde nur gebraucht, wenn die jährlich neu erscheinenden Ansichtskarten der Stadt fotografiert wurden. Dafür wurde er sogar abgesperrt, damit kein langes Gesicht die Schönwetteraufnahmen trübte und niemand seinen Müll vor die Kameralinse warf.

Marlon kühlte seine lädierten Fingerknöchel mit Vanilleeis und seufzte. »Man muss die Zeit nutzen – jeden Tag, den man hat. Daran glaube ich. Und was tue ich? Ich verschwende deinen Sommer. Was wir hier tun, ist vollkommen vergeblich.«

Ich nahm einen Schluck. Es hatte keinen Sinn, Marlon zu widersprechen, das nahm er sowieso nicht ernst, also ließ ich mir mit meiner Antwort Zeit. »Jemandem zu helfen, ist nie vergebens«, sagte ich schließlich.

»Auch nicht, wenn man scheitert?«

»Besser man scheitert gemeinsam als allein.«

Er leckte sich das Eis von der Faust und sah in den Himmel, der sich harmlos gab mit seinen weißen Federwölkchen vor babyblauem Grund. »Ich hatte mir das anders vorgestellt. Ich würde dir gerne eine schöne Woche bieten, wenn du für mich schon all deine Freunde vernachlässigst.«

»Die verstehen das«, gab ich gedankenlos zurück. Das war nicht ganz richtig, sie verstanden es eigentlich nicht und maulten, weil ich keine Zeit für sie hatte. Aber wie sollten sie auch, konnten sie doch nicht wissen, dass Marlon in nicht einmal einer Woche verschwinden würde. Vielleicht für immer. Rosalia hätte es masochistisch genannt, eine Beziehung einzugehen, die zum Scheitern verurteilt war. Aber war das so ungewöhnlich? Ewige Liebe gab es nicht, irgendwann trennte man sich immer. Diese Beziehung hatte den Vorteil, dass ich wusste, wann das sein würde. Die Fakten lagen auf dem Tisch. Prima! Ich musste nicht einmal den Status des galligen Entliebens durchmachen. Hey, ich war ein Glückskind, oder etwa nicht? Meine romantische Freundin würde das anders sehen, aber wenn ich eins nicht wollte, dann Mitleid.

»Ich wünschte«, meinte Marlon ganz leise, »ich hätte dich nie getroffen. Dann müsste ich dir nicht wehtun. Ich dachte, es würde mich erleichtern, mit einem Mädchen, das ich lieb habe, Hoffnung zu finden. Aber es macht nichts leichter. Ich war ein Idiot.«

»Du bist ein Idiot«, korrigierte ich ihn. »Mach es nicht schwerer, als es ist. Hör auf mit dem Was-wäre-wenn. Es ist, wie es ist. Du bist hier und ich auch.«

»Jetzt.«

»Ja, und das Jetzt ist entscheidend. Wir sollten gleich weitersuchen. Wie viel Zeit haben wir, um Pause zu machen?«

»Eine halbe Stunde.« Es klang wie eine Frage.

»Gut, dann nutzen wir sie besser.« Ich lehnte mich über ihn, schmiegte mich an ihn und küsste ihn.

Es dauerte eine Weile, bis er mich zurückküsste, aber dann hatte ich den Eindruck, dass es die Furcht vertrieb. Wir küssten uns auf dieser Wiese unter den abfälligen Blicken von Menschen, die mit gesenkten Köpfen durch den Park eilten. Wir küssten uns länger als eine halbe Stunde, viel länger, bevor wir weitersuchten.

Am frühen Abend rief ich Rosalia an, lauschte ihren Erzählungen von Rom und berichtete, so unverfänglich, wie ich konnte, was hier zu Hause los war. Ich nannte Marlon einen losen Flirt und schämte mich dafür. Es klang wie Verrat.

»Hast du eigentlich gelesen, dass sie die Ermittlungen zum U-Bahn-Unglück eingestellt haben?«, fragte Rosa und traf mich damit völlig unvorbereitet.

»W…was?«, stotterte ich und presste das Telefon gegen mein Ohr, bis es schmerzte. Sie hatte recht, die Bahnen auf der Unglücksstrecke fuhren seit Kurzem wieder. Selbstredend ohne mich. »Woher weißt du das?«

»n-tv.de«, erwiderte sie in ihrem Zwitscherton. »Es wurde dort kurz erwähnt. Der Unfall wurde wohl durch einen technischen Defekt an einer Weiche verursacht.«

»Diese miesen Lügner!«

»Was sagst du?« Meine Freundin klang verwirrt und mir wurde bewusst, dass ich laut gedacht hatte.

»Nichts, ist schon gut. Ich glaube das nur nicht.« Nein, ich wusste es besser. Hatten die Behörden es sich tatsächlich so einfach gemacht, den Fall für nicht existent zu erklären, weil sie ihn nicht lösen konnten? Das war zweifellos das Beste für Marlon und seine Leute … aber es ließ mein Vertrauen in die Polizei erneut gehörig wanken. Worauf konnte man überhaupt noch vertrauen?

»Vielleicht«, überlegte Rosalia und ich hörte, dass sie nebenbei irgendetwas aß, »behaupten sie auch nur, nicht weiterzuermitteln, damit die Täter unvorsichtig werden.«

Das war durchaus möglich und daher rief ich, nachdem Rosa sich verabschiedet hatte, Marlon an.

Er lachte bitter. »Ich habe das auch gelesen und es wundert mich kein Stück. Alles, woran die Huntsmen beteiligt sind, endet früher oder später als Unfall oder technischer Defekt. Sie wollen nicht, dass die Namen ihrer Leute in zu vielen Akten auftauchen. So was macht sich nicht gut im Lebenslauf. Du musst wissen, dass nicht wenige von ihnen genau zu diesem Zweck Jobs bei der Polizei oder beim Militär haben.«

Mir lagen ein paar Worte des Bedauerns den Opfern gegenüber auf der Zunge, aber ich zerbiss sie zwischen den Zähnen, dass es knirschte. Ich hatte beinahe vergessen, wer den Unfall verursacht hatte. Um ehrlich zu sein, hatte Marlon in meinem Kopf mit all dem nur am Rande zu tun. Es gelang mir nicht, ihn für schuldig zu halten. Für mich lag die Verantwortung überwiegend bei den Huntsmen und ein bisschen auch bei Corbin und Emma. Und obwohl ich genau wusste, dass ich es mir damit zu leicht machte, drängte ich dieses Wissen zurück und hielt an der einfachen Variante fest. Rosa Brille? Wohl eher rosa Kontaktlinsen, die sich trotz hartnäckigem Pulen und Kratzen am Augapfel nicht entfernen ließen.

Gern hätte ich etwas Tröstliches gesagt, denn ich spürte durch das Schweigen hindurch, dass Marlon litt, aber wenn ich Ich liebe dich gesagt hätte, wäre unweigerlich ein trotzdem mit herausgerutscht, und damit hätte ich ihm erst recht wehgetan. Andererseits wär das seine Schuld gewesen und nicht meine.

Entgegen unserer Art, nach der ich immer zu viel Falsches sagte und Marlon gar nichts, überlegte ich still, bis Marlon das Wort ergriff.

»Magpie, du fehlst mir gerade mehr, als ich es bis eben überhaupt für möglich gehalten hätte.«

Ich setzte mich aufs Bett und zog die Decke über meine Knie. »Ich bin bei dir. In Gedanken.«

»Das reicht nicht.«

Ich weiß. Bald wird es aber reichen müssen. »Wir sehen uns morgen.«

Als ich allein in meinem Bett lag, um das Verständnis meines Vaters nicht überzustrapazieren, kam mir erstmals der Gedanke, was geschehen würde, wenn wir die Hinweise nicht fänden. Er traf mich während des Eindösens, als Vernunft und Verstand schon schliefen, aber ein Teil meines Bewusstseins – offenbar der egomanische Rest von mir – noch anwesend war. Er flüsterte mir zu, dass Marlon ein Jahr bliebe, wenn unsere Suche erfolglos verlaufen würde.

Ich schrak hoch. Mein Herz raste, als hätte mich jemand bei etwas Verbotenem erwischt. Ich schämte mich. Es war wahr – Marlon würde dann ein weiteres Jahr bleiben. Und er würde es bestimmt auch schaffen, redete ich mir ein. Corbin war zwei Jahre älter als er und hielt bis heute durch. Doch Corbin – und das war der Grund, warum das Hoffnungsflackern in meinem Kopf mich so beschämte – würde in diesem Fall sterben.

Ich lag lange wach in dieser Nacht, und sobald ich einschlief, quälten mich angsterfüllte Träume, die wie Wasser zerrannen, wenn ich aufwachte. Es gelang mir nicht, die Bilder und Gefühle festzuhalten. Trotzdem blieb so viel von ihnen in meinem Bewusstsein zurück, dass meine Angst ins Unerklärliche stieg. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass etwas vor sich ging, da draußen in der Dunkelheit. Ich glaubte, die Raben schreien zu hören. Doch als ich das Fenster öffnete und kühle Nachtluft mich umfing, vernahm ich nichts als das immerwährende Pochen der nahen Stanzerei. Die Stadt war so still, wie sie nur sein konnte, und kein Rabe zeigte sich mir. Sie waren vor vielen Tagen verschwunden, ihre Schreie nichts als Träume.

Dass meine nächtlichen Ängste nicht unbegründet waren, bestätigte sich am nächsten Morgen. Mein Handy klingelte – ich schrak zusammen, als Emma sich meldete. Sie klang, als wäre sie stundenlang gerannt. Ihr Atem war rau und hastig.

»Du musst herkommen!«

»Was ist passiert?« Ich schrie beinahe. »Ist etwas mit Marlon?«

Emma japste etwas. Ich verstand nur ein Wort: »Ebony!«

Marlons Schwester. Die Harpyie. Sie hatte ihn nicht vergessen. Sie würde ihn mit sich nehmen.

»Will sie ihn … holen? Emma, sag was! Will sie ihn holen?«

Nervenzerreißendes Schweigen. Dann: »Ja.«

»Lass ihn nicht gehen! Ich komme, so schnell ich kann.«

Ich holte mein Fahrrad aus dem Keller, weil das Drachenhaus mit dem Bus schwer zu erreichen war, und trat in die Pedale. Ob ich dadurch Zeit sparte, wusste ich nicht, doch die Vorstellung, an einer Haltestelle stehen und tatenlos auf den Anschlussbus warten zu müssen, erfüllte mich mit Grauen. Und die körperliche Anstrengung lenkte mich ein wenig ab. Solange ich das Brennen in den Oberschenkeln spürte, wusste ich, dass ich noch nicht vor Panik verrückt geworden war. Sie konnte ihn nicht einfach mitnehmen – er würde mich nicht ohne Abschied verlassen!

Schweißnass stand ich schließlich vor dem Haus und hatte Mühe, die richtigen Tasten auf meinem Handy zu drücken. Emma ging gar nicht erst ran, sie kam direkt zur Tür und öffnete. Ihr Gesicht war gerötet, besonders an den Lidern. Hatte sie geweint?

»Sie sind oben. Sei vorsichtig, rede am besten nicht mit ihr. Sie ist … wirklich seltsam.«

Mir wurde schwindelig vor Erleichterung.

Wir gingen die Treppe hoch; ich wäre zwar lieber gerannt, aber Emma hielt mich zurück und erzählte von Ebonys Ankunft. »Die Jungs haben noch geschlafen, als sie kam. Marlon war in der Nacht unterwegs gewesen und hat nach Hinweisen gesucht. Er war völlig fertig.«

Das wusste ich. Er suchte ganz besessen, um Corbin zu retten. Wie erleichtert musste er nun sein.

»Daher haben sie es nicht gehört, als plötzlich etwas gegen die Scheiben schlug«, fuhr Emma fort. »Ich war früh auf, weil ich heute aufbrechen will. Zum Ort meiner Metamorphose. Heiliger Himmel, zuerst dachte ich, die Huntsmen würden angreifen. Doch dann sah ich sie – die Frau auf dem Fensterbrett. Sie hämmerte gegen die Scheibe und sie war … nun ja … nackt. Ihre Haut war bläulich, ihr Haar nass und ganz verfilzt. Da wurde mir klar, dass sie sich gerade verwandelt hatte. Vermutlich nicht mit Absicht, denn das Fensterbrett war so schmal, dass sie fast hinuntergestürzt wäre. Also habe ich sie hereingelassen.« Emma verlangsamte ihre Schritte und warf mir einen verstörten Blick zu, als spräche sie von einem blutrünstigen Monster. »Versteh mich nicht falsch, Noa. Ich kann mir vorstellen, dass man nach über zehn Jahren als Vogel nicht wie aus dem Ei gepellt aussieht, aber dass es so sein würde …«

»Beschreib es mir.«

»Ihr Blick war leer. Sie sah durch mich hindurch und krächzte Laute, die ich erst als Worte erkannte, nachdem sie wütend wurde und mich anschrie. Sie brüllte die Namen ihrer Brüder. Ich lief in Marlons Zimmer, rüttelte ihn wach. Da stand sie schon hinter mir. Sie fiel vor ihm auf die Knie, klammerte sich an ihn und weinte. Dann kam Corbin dazu und war ganz außer sich vor Erleichterung, Ebony zu sehen. Ich wollte ihnen Zeit geben, habe ihr etwas zum Anziehen gebracht und mich zurückgezogen. Etwas später kamen sie dann alle in die Küche. Die Jungs haben gescherzt und gerangelt und Ebony hat gelächelt, als würde sie sich an ihre gemeinsame Kindheit erinnern. Sie hat uns erzählt, dass man Marlon und Corbin in diese Stadt geführt hat, hier aber keine weiteren Hinweise in die Steine singen konnte, weil auch einige Huntsmen begannen, den Steinen zu lauschen. Also entschied man, Ebony persönlich zu schicken, doch es dauerte lange, bis sie sich ausreichend an ihre Menschlichkeit erinnern konnte, um sich zu verwandeln. Sie muss Marlon schon länger verfolgt haben, aber der letzte Impuls zum Verwandeln hatte noch gefehlt.«

Ich dachte an die Raben. Meine Raben, so hatte ich sie genannt. Marlons Schwester musste einer von ihnen gewesen sein, auf der Suche nach ihrem Bruder. Ich fürchtete mich ein wenig, die Wohnung zu betreten.

In der Küchentür blieb ich stehen und suchte Marlons Blick. Er lehnte an einem Schrank und lächelte mich an, aber sein Mund wirkte verkrampft, seine Augen erschöpft. Die Frau, Ebony, saß Corbin gegenüber am Tisch und ignorierte Emma und mich offenkundig. Sie sah tatsächlich aus, als wäre sie einem Horrorfilm entsprungen. Ihr Teint erinnerte an den einer Wasserleiche und ihre schwarzen Augen glänzten wie Murmeln aus Glas. Emmas T-Shirt (diesmal mit dem Aufdruck Ich sehe blöde Menschen) spannte über ihren muskulösen Schultern und die Jogginghose reichte nur bis zur Mitte ihrer Waden. Ich konnte nicht anders, als auf ihre Füße zu starren. Wahnsinn, dass Frauen so große Füße haben konnten – das musste wahrlich Marlons Schwester sein. Schön war sie trotz allem. Schaurig-schön, wie die Zombiefrau aus dem Film Jennifers Body.

»Hallo, Noa«, begrüßte mich Corbin und betonte dabei meinen Namen, als hätten sie bereits über mich gesprochen. Er stützte sich mit beiden Unterarmen auf den Tisch – selbst im Sitzen schien er leicht zu schwanken.

Marlon bedeutete mir, zu ihm zu kommen, und empfing mich mit einem zarten Kuss, dann stellte er Ebony und mich einander vor. Sie würdigte mich weiterhin keines Blickes und trotzdem fühlte ich mich von ihr fixiert. Mir war, als würde sie meinen Bewegungen lauschen, meine Präsenz erfühlen. Ich hatte einer Frau aus Stein gegenübergestanden, doch diese hier war mir gegenüber noch härter.

»Wir haben gerade über meine Möglichkeiten zu bleiben geredet«, flüsterte Marlon mir zu.

»Nichts haben wir.« Ebonys Stimme klang, als hätte sie Sand in der Kehle, als würde ihr jedes Wort Schmerzen bereiten. Sie verursachte eine Gänsehaut bei mir. »Wir haben festgestellt, dass das Wahnsinn ist.«

»Aber Marlon ist erst achtzehn«, wandte Emma ein und sprach damit aus, was ich im Stillen dachte. »Corbin ist schon zwanzig und hat es bisher auch geschafft.«

»Corbin ist stärker, schau ihn doch an«, rief Ebony. »Marlon übersteht kein weiteres Jahr. Corbin, bring ihn zur Vernunft.«

»Er kennt meine Einstellung«, erwiderte Corbin und starrte weiterhin auf den Tisch. »Aber seine Entscheidung muss er selbst treffen.«

Erstaunt sah ich zu ihm. So viel Verständnis hatte ich ihm nicht zugetraut.

Ebonys Kopf ruckte zu mir herum und ich machte unweigerlich einen Schritt zurück. »Die ist es«, zischte sie mich an. »Sie vernichtet ihn! Trifft sich mit den Jägern und lockt ihn in sein Verderben.«

Sie konnte mir viel vorwerfen. Aber das nicht.

»Bullshit! Du kennst mich nicht, also behaupte nicht so einen Mist!«

Ihre Augen schienen zu glühen. »Sie klammert sich an ihn. Hält ihn am Boden. Im Dreck!«

»Nein, ich –«

Marlon fiel mir ins Wort. »So redest du nicht mit Noa! Reiß dich zusammen.«

Ebony sprang auf, ihr Stuhl krachte zu Boden. »Du verrätst deine Familie, Marlon! Für was? Für einen Menschen?« Sie spuckte ein abfälliges Lachen aus. »Wir brauchen keine Menschen. Die sind nur Spielzeug für uns. Nur Dreck!«

Ich schauderte angesichts ihrer Worte. Stephan Olivier hatte dieselben gewählt.

Corbin ließ den Kopf hängen, Marlon durchfuhr ein wütendes Zittern. Sogar Emma bedeckte den Mund mit einer Hand – zum ersten Mal sah ich Angst in ihrem Gesicht. Keinen Zorn, keinen Hass, sondern reine Angst. Angst, dass auch ihr eine solche Veränderung bevorstand.

»Raus!«, sagte Marlon leise.

Niemand rührte sich.

Er wiederholte es. »Raus, Ebony! Ich bin unseren Eltern nichts schuldig, dir ebenso wenig und ich lasse mich nicht beleidigen. Nicht von jemandem, der mich vor langer Zeit vergessen hat. Das hier ist mein Leben. Verschwinde daraus.«

»Das ist nicht dein Ernst«, krächzte sie. Sie trat näher an ihn heran und Marlon schob mich hinter sich.

»Mein voller Ernst. Du bist gekommen, um uns den Ort der Verwandlung zu nennen. Das hast du getan, danke. Corbin wird zur Lammas-Nacht da sein. Und ich verspreche dir, dass ich es mir gut überlegen werde. Mehr nicht. Geh jetzt.«

Für eine Sekunde stand Ebony bewegungslos da. Dann ging alles sehr schnell. Ihre Faust schoss nach oben – sie wollte ihn schlagen! Marlon fing ihre Hand ab und drehte seiner Schwester den Arm auf den Rücken. Er sagte etwas, aber es verlor sich in Ebonys Kreischen. Corbin sprang auf, stürzte beinahe, riss fast den Tisch um und taumelte aus der Küche, als wäre der Teufel hinter ihm her. Gleichzeitig blendete mich gleißendes Licht und plötzlich schrie auch Marlon, dann Emma. Das Nächste, was ich wahrnahm, waren zu Boden fallende Kleider. Etwas Schwarzes schoss in die Höhe, stieß an die Decke und dann gegen das geschlossene Fenster.

»Mach es auf!«, rief Emma.

Ich brauchte einen Augenblick, bis ich verstand, wen sie meinte. Mich.

Der Rabe klatschte ein zweites Mal gegen die Scheibe.

»Schnell, sonst verletzt sie sich!«

Ich gehorchte, riss das Fenster auf und Ebony flüchtete.

Schwer atmend wandte ich mich um. Wohin war Marlon verschwunden? Allein Emma stand noch in der Küche und starrte mich an. Schweiß bedeckte ihre Haut, sie zitterte wie Espenlaub.

»Sie wollte das nicht«, wimmerte sie. »Es ist einfach so passiert. Hast du das gesehen? Oh mein Gott.« Sie schwankte. Ich fasste instinktiv an ihre Stirn. Heiß. Da begriff ich, dass sich die Magie von Ebonys Verwandlung auf die anderen auswirkte. Auf Emma vermutlich noch am geringsten, weil sie ein Star war und kein Rabe.

»Marlon!« Ich stürzte an Emma vorbei und fand ihn vor Corbins Zimmertür kniend. Ich war ganz sicher, einen bläulichen Schatten über ihn hinwegflattern zu sehen, doch als ich näher kam, verschwand dieser. Seine Haut war bleich, doch sie glühte. Fiebrig starrte er durch mich hindurch.

»Bleib bei mir, bleib bei mir«, flüsterte ich gefühlte hundert Mal.

Er schnappte flach nach Luft, immer wieder, als erreichte sie nur seine Kehle, aber nicht seine Lunge. Seine Haut war so heiß, dass ich fürchtete, er würde kollabieren. Er streckte die Hand nach Corbins Zimmertür aus, versuchte aufzustehen und bewegte den Mund, um etwas zu sagen, aber nichts davon gelang. Krämpfe schüttelten ihn. Sein Körper wehrte sich mit aller Kraft gegen die Magie, die an ihm riss. Ich konnte sie fast spüren: ein Vibrieren und Knistern, das sich um Marlon schmiegte wie eine zweite Haut. Hektisch schüttelte ich ihn an den Schultern, rieb seine Oberarme und kratzte ihn dabei in meiner Panik. Es konnten nur Sekunden vergangen sein, aber mir kam es vor wie eine Ewigkeit, bis er endlich gleichmäßiger atmete und ein Wort herausbekam.

»Corbin.«

Mir war, als würde der Boden unter mir nachgeben. Wir starrten uns an wie paralysiert.

Im nächsten Moment hörte ich aus dem Zimmer hinter der Tür ein Klatschen, als würde jemand mit der flachen Hand gegen die Wand schlagen.

Marlon kämpfte sich auf die Füße, stolperte zur Tür und rüttelte an der Klinke. Corbin hatte abgeschlossen. Ich hörte Emma hinter mir wimmern, sie zog mich ein Stück zurück.

Wieder dieses schreckliche, klatschende Geräusch.

Marlon nahm Anlauf und warf sich gegen die Tür. Das Holz um das Schloss herum splitterte, aber er musste noch einen Tritt nachsetzen, ehe es nachgab.

»Oh nein, oh nein, oh nein«, weinte Emma.

Corbin war fort.

Stattdessen flatterte ein Rabe kopflos in dem kleinen Raum umher, prallte gegen das Fenster, dann gegen die Wand und fiel zu Boden. Dort blieb er liegen, die Flügel zur Seite ausgestreckt, als hätte er keine Kraft mehr, um sie schützend an sich zu ziehen. Blutflecken an den Wänden verrieten, wo er dagegengeprallt war. Das Klatschen hallte in meinem Kopf nach.

Marlon taumelte näher und der schwarze Leib zuckte. Der Vogel konnte nicht einmal mehr den Kopf heben. Ein schwaches Beben verriet, dass er noch atmete. Noch. Unter ihm breitete sich eine Blutlache aus. Winzig eigentlich, doch erschreckend groß für so einen kleinen Körper.

Emma griff nach meinem Arm und flüsterte: »Lass uns gehen. Er hat sicher Angst vor uns.«

Ich zögerte, wollte Marlon nicht alleinlassen.

Langsam und in größtmöglichem Abstand zu dem Raben ließ er sich nieder. Dann begann er zu wispern – ruhige, monotone Worte, wie eine Litanei. Vielleicht ein Lied. Für Corbin würde es fremd sein, er besaß keine Erinnerungen mehr. Ich musste unwillkürlich daran denken, wie die beiden das letzte Mal beisammengesessen hatten. Corbin starr vor Wut, doch Marlon war einfach bei ihm gewesen und hatte seinen Schmerz ausgehalten, genauso wie er es nun tat. So gerne ich etwas getan hätte, jede meiner Regungen würde stören. Emma zog sachte an meinem Arm und ich schlich mit ihr aus dem Zimmer.

»Corbin«, sein Name klang wie ein Schluchzen, weil ich ihn durch meine zugedrückte Kehle pressen musste, »wird es nicht schaffen, oder?«

»Nein.« Es musste an ihrem streng zurückgebundenen Haar liegen, dass sich in Emmas Miene nichts regte. Oder sie stand unter Schock.

»Kann man gar nichts tun?« Mir widerstrebte es, das Wort Tierarzt auszusprechen, aber wer sonst konnte einem Vogel helfen? »Wir müssen etwas tun. Wir können ihn nicht einfach sterben lassen!«

»Stress tötet uns am schnellsten«, flüsterte Emma so leise, als würde sie mit sich selbst sprechen. »Ein Vogelherz ist groß, verglichen mit dem Rest des Körpers. Aber auch empfindlich. Ein Schock reicht aus, um uns zu töten. Nach der Verwandlung haben wir ohne Schwarm keine Chance. Aber verletzt und ohne Schwarm –«

Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, doch es wurden immer mehr. »Aber er lebt noch.«

»Nein, Noa. Er hat nur noch nicht begriffen, dass er tot ist.«

Ich blieb eine gefühlte Ewigkeit in Emmas Zimmer, wagte mich nicht hinaus. Sie hielt meine Hand. Oder ich ihre? Die Trauer ließ uns alles, was zwischen uns gewesen war, vergessen.

Doch dann hörte ich schwerfällige Schritte im Flur und nun hielt mich nichts mehr. Ich rannte fast und blieb dann wie angewurzelt vor Marlon stehen. Er war bleich, fast grau im Gesicht, seine Augen matt und vor Müdigkeit rot gerändert. Aber geweint hatte er nicht und das bereitete mir Sorgen.

»Ist es vorbei?« Meine Stimme klang hohl.

Es schien, als bemerkte Marlon mich nicht, er ging einfach weiter, den Flur entlang und in sein Zimmer.

Ich konnte nicht anders, ich musste zu Corbin. Wir hatten unsere Probleme gehabt, er und ich, doch das war jetzt völlig unbedeutend. Es war nicht fair. Er hatte das nicht verdient. Ich strich mit meinen Fingern über einen seiner Flügel. Sein Gefieder war ganz weich, aber darunter verborgen spürte man noch, dass diese Flügel Kraft besessen hatten. Kraft, die Corbin nie wieder würde einsetzen dürfen. Behutsam hob ich ihn auf – er war beängstigend leicht – und legte ihn auf sein Bett, damit der harte Betonboden seine empfindlichen Federn nicht abknickte. Dann ging ich zurück zu Marlon.

Er stand in seinem Zimmer am Fenster und sah hinaus in den Tag. Leere lag in seinem Blick, das Schwarz seiner Pupillen schien bodenlos und düster wie die Nacht an einem Ort, wo es keine Sterne gab und niemals geben würde.

»Komm her«, flüsterte ich, aber er bewegte sich nicht. »Marlon, bitte, ich brauche dich jetzt.« Und du brauchst mich.

Vielleicht war es ungerecht, meine Bedürfnisse vorzuschieben, aber er gehorchte und ließ sich in den Arm nehmen. Wir standen Stunden dort am Fenster. Mein Gesicht an seiner Brust, seins in meinen Haaren. Sein Herz schlug kräftig und nur geringfügig schneller als meins. Ich klammerte mich an diesen Takt, denn er sagte mir, dass Marlon noch hier war. Dass Marlon noch Marlon war. Meine Haare wurden nass, ich spürte seine Tränen an meinen Ohren, an meinem Hals. Sie sickerten in mein T-Shirt. Irgendwann wollte er sich von mir lösen, aber ich hielt ihn weiter fest. Er sagte kein Wort, deutete nur mit dem Blick zur Tür.

»Wir kümmern uns um alles. Wir werden ihn begraben. Dazu ist noch genug Zeit. Ruh dich ein bisschen aus.« Ich zog ihn aufs Bett, legte mich neben ihn und umarmte ihn fest, damit er nicht aufstand.

Er widersetzte sich mir nicht. Und sprach kein Wort. Ich streichelte ihm die angetrockneten Tränen von den Wangen, strich ihm durch die Haare, bis sie von meinen feuchten Händen strähnig waren, und hoffte darauf, er würde endlich etwas sagen. Marlons Finger zuckten unkontrolliert und ohne Rhythmus an seinem Oberschenkel. Er schwieg.

Er schwieg noch immer, als wir zu Emma gingen, die ihn in den Arm nahm und tröstende Worte murmelte. Worte, die aus meinem Mund nichtssagend geklungen hätten, doch von ihr gesprochen so viel Mitgefühl bargen, dass mir gleich wieder die Tränen kamen. Er reagierte kaum darauf, verschwand in Corbins Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

»Gib ihm Zeit.« Emma musste aufgefallen sein, wie sorgenvoll ich Marlon nachsah.

»Er redet nicht mit mir«, flüsterte ich. »Kein Wort.«

»Das wird er wieder. Er steht unter Schock.«

»Ich fürchte, es ist schlimmer als das.« Er hatte ihr nie von seinem Sprachproblem erzählt. Emma konnte nicht wissen, was sich vor mir ausbreitete wie die Seiten eines offenen Buches.

Marlon hatte nicht nur seinen Bruder, sondern auch seinen Takt verloren, und ohne diesen konnte er nicht sprechen.

»Hör mal«, sagte Emma und schien sich dabei sichtlich unbehaglich zu fühlen. »Es wird nicht leicht werden, aber wir werden Corbin … verbrennen müssen.«

Ich ließ das Gesicht in die Hände sinken. Ich hatte Marlon versprochen, dass wir ihn begraben würden. Aber verbrennen? Ich stellte mir den Geruch von versengten Federn vor und schluckte an zu viel Speichel, um nicht zu würgen.

»Wir haben das einander für diesen Fall versprochen.« Ihre Stimme war fest, aber ihre Hände spielten nervös am Saum ihrer Bluse. »Wenn die Huntsmen tote Harpyien in die Finger bekommen, bringen sie diese in ihre Versuchslabore. Keiner von uns will aus dem Grab geholt und auf ihren Labortischen zerschnibbelt werden. Erst recht nicht Corbin.«

Ich nickte mechanisch. Sie waren für das Schlimmste gewappnet, hatten an alles gedacht. Wie schrecklich sich der Gedanke anfühlte, dass auch Marlon mit seinen achtzehn Jahren schon wusste, was nach seinem Tod mit seinem Körper geschehen würde.

Trotz Emmas Vorwarnung fühlten sich die nächsten Stunden surreal an. Ich beobachtete uns wie durch Nebel, fühlte mich abwesend, weil ich nicht gebraucht wurde. Zwar war ich in Marlons Nähe, aber er schien trotzdem unendlich weit weg. Ich sah unsere Reflexionen in dem großen Spiegel in Corbins Zimmer, aber ich sah uns nicht. Ich streckte die Hand nach ihm aus und konnte ihn doch nicht erreichen. Wenn er wenigstens irgendetwas gesagt hätte. Womöglich hätte er es versucht, wenn ich ihn darum gebeten hätte, aber ich wagte es nicht, aus Angst, es würde ihm nicht gelingen.

Er bettete Corbins sterbliche Überreste auf zusammengeknülltes Papier in einem Karton. Ich erkannte ein paar Seiten aus Marlons Lieblingsbüchern, viele Zeichnungen. Seine Art, Corbin etwas von sich mitzugeben, oder reine Verzweiflung? Ich wusste es nicht und erstmals seit vielen Tagen fiel mir auf, wie wenig ich ihn kannte, den Jungen, der mit einer Automatikpistole so selbstverständlich umging wie mit einem altmodischen Füllfederhalter. Er legte das Foto von sich und Corbins Freundin in den Karton. Bewegungen wie einstudiert, wie tausendmal ausgeführt und in Fleisch und Blut übergegangen. Wie schwer ihm das fallen musste.

Ich hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als Marlon plötzlich auffuhr, nach Corbins Gitarre griff und sie gegen die Wand schlug. Der Korpus brach, Marlon schlug erneut zu. Wut oder Tränen hätten mich erleichtert – ich hätte alles gegeben, um ihn schreien zu hören –, doch er ging vor, als würde er Holz hacken. Kraftvoll, aber emotionslos. Als das Instrument nur noch Schrott war, riss er die Saiten ab und legte sie zusammen mit einem Stück Klangholz in den Karton. Dann schloss er den Deckel und nickte mir zu.

»Du musst nicht mitkommen«, sagte Emma in der Diele zu mir. »Du und Corbin …«, sie lächelte unglücklich, »und auch ich … Ich kann gut verstehen, wenn du –«

»Ist schon gut«, unterbrach ich ihr hilflos anmutendes Gestammel. »Ich habe ihm verziehen. Und dir auch.« Wenn vielleicht auch nur um Marlons willen.

Wir fuhren schweigend. Marlon saß steif aufgerichtet hinter dem Steuer seines Wagens, Emma auf dem Beifahrersitz, sie hielt die Schachtel auf dem Schoß und streichelte über die Pappe. Ich hockte zusammengesunken auf dem Rücksitz, neben mir eine Tasche mit Dingen, die mir vertraut waren, mich nun jedoch ängstigten: Brennspiritus und Zündhölzer.

Zunächst wusste ich nicht, wohin wir fuhren, doch dann bekam ich eine Ahnung, die sich bestätigte, als Marlon auf dem Hof der alten Wassermühle parkte. Er stieg aus und den ganzen Weg über war sein Blick eine stille Bitte um Verzeihung.

Ich presste die Lippen zusammen. Er wollte Corbin an einem Ort verbrennen, wo wir beide uns geküsst hatten – am Ufer des Kanals. Es dauerte einen Moment, bis ich das verdaut hatte. »Es ist okay. Es ist ein wunderschöner Platz.« Und genau das verdiente Corbin.

Wir kämpften uns durch den Stacheldraht und die Wand aus Brennnesseln. Am Ufer begann Marlon Holz zu sammeln und aufeinanderzuschichten. Seit Tagen hatte es nicht mehr geregnet, sodass wir den Brennspiritus nicht benötigten, der dem Feuer seinen unangenehm scharfen Geruch aufzwingen würde. Ich nahm große Steine und bildete damit einen Kreis um die Feuerstelle. Emma zerknüllte Papier, schob es zwischen die Äste und füllte die verbleibenden Zwischenräume mit Reisig auf.

Marlon war es, der das Feuer anzündete, und Marlon war es auch, der den Karton obenauf stellte, sobald es brannte. Er ließ seine Hand auf der Schachtel liegen, bis die Flammen daran leckten, das Feuer die Pappe schwärzte, Löcher hineinfraß und seine Finger versengte. Ich zog ihn zurück, versuchte sanft zu sein und brauchte doch all meine Kraft. Die Hitze strahlte uns in die Gesichter, aber wir wichen nur so weit zurück, dass es auszuhalten war, und setzten uns auf den Boden. Ich hatte das Gefühl, meine Wimpern würden schmelzen. Glutflöckchen stoben auf und schneiten als Asche auf uns nieder. Knisternd, fast säuselnd, verzehrte das Feuer Corbins Leichnam. Wir sahen kaum mehr als einen schwarzen Schatten, der sich im Licht der Flammen auflöste. Mit ihm schmolz das Foto. Es wirkte friedlich.

»All my bags are packed, I’m ready to go«, begann Emma leise zu singen.

Marlon und ich wandten ihr die Köpfe zu.

Sie erwiderte Marlons Blick fragend und wartete auf seine Zustimmung, ehe sie das Lied weitersang. Sie erhob ihre Stimme über das Feuerknistern, eine warme, volle Stimme von einer Tiefe, die ich der zierlichen Emma nicht zugetraut hätte.

Marlon legte den Kopf an meine Schulter – nur ein zaghaftes Zeichen, dass er langsam zu mir zurückkehrte, aber immerhin ein Zeichen. Ich berührte seine Wange und fühlte, dass er sich ein wenig entspannte. Er nahm meine Hand, umfasste zart mein Handgelenk und Emma sang Leaving on a Jet Plane.

Wir saßen dort, bis das Feuer heruntergebrannt war und sich die Sommerwärme auf unserer erhitzten Haut kühl anfühlte. Nichts als Asche und einzelne, noch glimmende Scheite waren übrig geblieben.

Emma sah mich lange an und seufzte. »Tu mir einen Gefallen, Noa. Bring ihn irgendwohin, wo er sich einen Tag ausruhen kann.« Sie redete von Marlon, als sei er gar nicht da. Als könnte er uns nicht hören, nur weil er nicht mehr sprach. Dann stand sie auf, ging um ihn herum, hockte sich vor ihn und legte ihre Hände auf seine Schulter. »Es wird Zeit für mich. Ich komme allein nach Hause, mach dir keine Gedanken. Aber morgen werde ich nicht mehr da sein.«

Ich schnappte erschrocken nach Luft. »Du musst schon gehen?«

»Ich habe einen weiten Weg.« Sie lächelte hoffnungsvoll, aber da war auch Angst in ihren Augen.

»Viel Glück, Emma.« Ich hätte geweint, wenn meine Augen nicht so wund und leer geweint gewesen wären.

»Euch auch. Ich würde gern sagen, dass ich euch nie vergesse, aber …«

Marlon zog sie an sich und umarmte sie. Dann stand Emma auf, drehte sich wie eine Tänzerin um und verließ uns auf dem Weg, den wir gekommen waren. Sie blickte kein einziges Mal zurück, vielleicht, weil ihr dann die Kraft zum Weitergehen abhandengekommen wäre. Wir sahen ihr nach, bis das Rascheln ihrer Schritte verstummte und es, vom Rauschen des Kanals abgesehen, ruhig um uns herum wurde. Stille, die sich wie eine eiserne Klammer um mein Herz schloss. Sie wisperte etwas von Einsamkeit.

Marlon war jetzt ganz allein.

»Können wir gehen, Noa?«

Ich musste tief durchatmen, um vor Erleichterung nicht übertrieben heftig zu reagieren. Seine Stimme klang belegt, tiefer und samtiger als gewöhnlich. Älter. Nein, gealtert. Ein wenig fremd, aber er redete.

»Wir gehen zu mir«, entschied ich.

Er erhob sich bedächtig, als schmerzte jeder seiner Knochen, und half mir auf. Dann trat er noch einmal an die Feuerstelle, griff in die Asche und streute eine Handvoll davon in den Kanal. Er murmelte etwas, das ich nicht verstand. Es endete mit: »So oder so, Corbin.«

Dann nahm er meine Hand ungeachtet dessen, dass er mich mit Asche beschmierte – es machte mir sehr viel weniger aus, als ich erwartet hatte –, und wir gingen.

Die Fahrt zu mir nach Hause verlief anders als gedacht. Zum einen, weil Marlon einen Umweg machte von gefühlten hundert Kilometern, um auf einer Landstraße das Gaspedal voll durchzutreten und den Audi auf 180 Sachen zu bringen. Erlaubt war exakt die Hälfte. Zum anderen – und das war der Grund, warum es keinen Sinn hatte, ihn zu bitten, langsamer zu fahren –, weil er das Radio bis zum Anschlag aufdrehte. Die Lautstärke machte mich taub, das Dröhnen der Bässe vibrierte in jedem meiner Knochen. Als er wieder in die Stadt einbog und die Musik ausschaltete, wirkte er gelöster.

»Normalerweise trinkt man auf jemanden, der gestorben ist«, sagte er – seine Stimme klang noch immer fremd. »Aber ich habe Corbins Lieblingswhisky nicht mitgenommen.« Na, Gott sei Dank! »Sieh das Tempo als Gruß an meinen Bruder. Er fühlte sich erst ab 150 Sachen wohl, und solange man noch sein eigenes Wort verstand, war die Musik zu leise. Er machte solche Fahrten immer, wenn er nicht mehr weiterwusste.« Marlon lächelte schief. »Danach wusste er zwar auch nicht weiter, aber es störte ihn weniger.«

»Hilft es?«, fragte ich. »Geht es dir besser?«

»Nee.« Das halbe Lächeln blieb bestehen. »Eher schlechter. Aber –«

»Es fühlt sich weniger taub an«, nahm ich ihm die Worte ab. »Es tut weh, wird wirklich. Echt.«

»Ja. Und man kann damit besser leben als mit Schmerzen, die man nicht spürt, von denen man aber weiß, dass sie da sein sollten.«

Ich strich über seinen Unterarm, von der Ellenbeuge bis zum Handrücken. »Es tut nicht für immer weh.« Im gleichen Moment ahnte ich, etwas Falsches gesagt zu haben.

Marlons Miene veränderte sich abrupt, als hätte er unerwartet auf etwas Bitteres gebissen. »Nur bis nächste Woche. Dann werde ich ihn vergessen.«

»Ich denke für dich an Corbin.« Ich umfasste seinen Arm fester. »Ich vergesse ihn nicht. Ich werde alles aufschreiben, was ich über ihn weiß, und hebe es für dich auf. Du wirst dich erinnern und zurückkommen – und nichts wird in Vergessenheit geraten sein.«

Er rieb sich über das Gesicht. »Ist es dann nicht längst zu spät? Wenn ich mich erst erinnern muss, dann habe ich ihn doch bereits vergessen.«

»Nein, denn du kannst nicht wirklich von Vergessen sprechen, wenn du dich wieder erinnerst«, erwiderte ich. »Vergessen ist endgültig. So wie Sterben.«

»Dann ist Erinnern wie Wiedergeborenwerden?«

Wir sahen uns einen Moment an und wussten beide keine hundertprozentige Antwort. Ich nickte schließlich, wenn auch unschlüssig.

»Wow.« Marlon hielt an einer Ampel und spielte mit dem Blinker. »So habe ich das noch nie betrachtet. Das ist das Ei des Kolumbus.«

Er neckte mich. Wie erleichternd sich das anfühlte, nachdem er mich angeschwiegen und mir mit seiner Raserei Angst gemacht hatte. Er war noch immer Marlon. Die Betonung lag auf noch und davon musste ich mich ablenken. Ich zog ein wichtiges Gesicht. »Und ich habe dieses Ei gelegt. Ich sollte mich für den Philosophie-Leistungskurs einschreiben, wenn die Schule wieder losgeht, was meinst du?«

Unser beider Lachen war nicht mehr als ein Schnauben. Ausgestoßene Luft und bemüht hochgezogene Mundwinkel. Aber es wirkte wie eine gute, lindernde Medizin. Nicht schnell und mit Nebenwirkungen, sondern indem es sachte die Heilung unterstützte. Nur ein klein wenig, aber allein das ließ uns schon aufatmen.

Der Atem stockte mir in der Kehle und gefror dort zu Klumpen, als wir in mein Viertel einbogen und ich den Wagen hinter uns bemerkte. Er fuhr zu dicht auf, nur darum erkannte ich den Fahrer.

Stephan Olivier. Neben ihm saß eine Frau, vielleicht die aus dem Wald, ich war mir nicht sicher.

»Marlon!« Ich schrie seinen Namen fast.

»Ich habe ihn gesehen.« Binnen eines Lidschlags schlug sein Gesichtsausdruck um. Das angestrengte Lächeln, der Schmerz in seinen Augenwinkeln, all das Zerbrechliche, das eben noch da gewesen war, schwand. Sein Gesicht wurde schlagartig eiskalt. Er schaltete einen Gang runter, der Motor grollte drohend und ich wurde durch die Beschleunigung in den Sitz gedrückt. Zu meinem Erschrecken lächelte Marlon herablassend. »Er jagt uns mit einem Golf. Der hat vielleicht Nerven. Was glaubt er, was ich hier fahre, eine Postkutsche?« Der Abstand vergrößerte sich, doch dann war Marlon zum Bremsen gezwungen, weil die Straße ein paar enge Kurven machte. Er bog rabiat nach links ab, Richtung Schnellstraße.

Ich musste mich am Türgriff festhalten. »Er kriegt uns nicht, oder?«

Marlon warf einen Blick auf den Tacho. »Wir haben 180 Pferdchen unter der Haube und genug Hafer im Tank, um jedes einzelne eine ganze Weile glücklich zu machen. Sobald wir aus der Stadt raus sind, hat er keine Chance mehr.«

Ich fand einen Moment Zeit, seine Coolness zu beneiden. Mir war das zuvor schon aufgefallen. Wenn Marlon in eine Situation geriet, die einem Panikanfall würdig war, dann wurde er frostig. Jetzt war er Eis. So kalt, dass sich die von ihm abstrahlende Kälte schon wieder heiß anfühlte. Es ist kein Scherz, dass man sich an Trockeneis Verbrennungen zuziehen kann. Marlon war noch kälter. Offenbar steckten wir wirklich in der Klemme. Oh Scheiße!

»Wie konnten die uns finden?«

Er zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und reichte es mir. »Mach es aus, ich muss mich auf die Straße konzentrieren. Vermutlich haben sie es mittels deiner alten Handynummer geschafft, deine Daten zu hacken. Damit haben sie auch meine Nummer und können uns orten.«

»Ist das möglich?«

»Keine Ahnung. Hast du eine bessere Idee? Schmeiß es bei Gelegenheit aus dem Fenster, aber so, dass sie es nicht mitbekommen. Wir werden dein neues Handy auch entsorgen müssen. Und leider kennen sie jetzt auch mein Auto. Schon wieder.« Kurzes Bedauern streifte sein Gesicht.

Ich versuchte mich unauffällig nach unseren Verfolgern umzusehen. Sie blieben stur hinter uns. »Dein wievieltes Auto ist das?«

»Das dritte.«

»Wie lange, sagtest du, hast du den Führerschein?«

»Ich bin im Februar achtzehn geworden.«

Sparsamer Verbrauch war etwas anderes.

Die Schnellstraße mündete in eine Gabelung. Es ging durch einen Tunnel hindurch Richtung Stadt oder halb rechts auf die Landstraße. Marlon ignorierte eine dunkelgelbe Ampel und wählte die Landstraße. Der Golf klebte uns am Heck.

»Oh Gott. Ich glaube, sie kommen näher. Was, wenn sie wieder schießen?«

Marlon antwortete, indem er diabolisch lachte. Er musste sich sehr sicher in seinem Auto fühlen. Oder große Angst haben. Ich hoffte auf Ersteres.

»Greif mal hinter dich, Noa. In der Rückseite des Beifahrersitzes ist ein Loch.«

Ich hatte keine Ahnung, was ich dort finden würde, aber als meine Finger den Lauf einer Pistole ertasteten, wurde mir schwindelig. Dennoch zog ich sie hervor und reichte sie ihm.

Marlon legte sich die Waffe in den Schoß und hatte die Nerven, meine Wange zu berühren.

»Hab keine Angst, okay?«

»Klar«, gab ich zurück und versuchte nicht einmal, meinen Zynismus zu verbergen. Die Bitte war so aussichtslos wie der Versuch, das Vaterunser auf Mandarin aufzusagen.

Erneut drehte ich mich um – unsere Verfolger holten tatsächlich auf, sie waren so nah, dass ich Oliviers Gesicht erkannte sowie das Frettchen auf seiner Schulter. Die Frau neben ihm war älter als er. Sie telefonierte, gestikulierte dabei weit ausholend.

Verstärkung. Das Wort schoss mir in dem Moment durch den Kopf, als ein zweiter Wagen, eine dunkle, sportliche Limousine, aus einer Querstraße gejagt kam.

Marlons Augen wurden schmal. Der Grund war klar. Diesen Wagen würden wir nicht abhängen. Das war uns ja noch nicht einmal bei dem verdammten Golf gelungen. Und jetzt?

Marlon trat aufs Gas, ignorierte jegliche Geschwindigkeitsbegrenzung und überholte ein paar Autos, die vor uns über die Landstraße zockelten. Ein paar verfallene Fabrikgebäude und ein letzter, ärmlicher Wohnblock schossen rechts und links an uns vorbei. Der Wald zeichnete einen gezackten dunkelgrünen Scherenschnitt vor das Azurblau des Himmels. Die Limousine hielt sich in unserem Rückspiegel, der Golf blieb zurück. Ob das gut oder schlecht war, konnte ich nicht beurteilen. Marlon kannte Stephan Olivier als Gegner, doch den Mann, der uns nun verfolgte, hatten wir beide noch nie gesehen.

Die Straße tauchte in den Wald ein, wurde schmaler und wand sich in Schlangenlinien einen Berg hinauf. Fichten türmten sich zu beiden Seiten der Fahrbahn und schluckten das Licht. Ich begann unweigerlich zu frieren. Noch konnte Marlon die achtzig Stundenkilometer halten. Noch …

»Die Straße macht gleich eine enge Kurve«, warnte ich ihn.

»Gut. Hoffentlich weiß der Jäger das nicht.« Er stellte das Autoradio auf CD-Betrieb um und drehte den Ton auf. Als er die Hand wieder um das Lenkrad schloss, sah ich das Zucken seiner Unterarmmuskeln, so krampfhaft hielt er sich fest. Die Kurve näherte sich und mit ihr die rot-weißen, reflektierenden Warnschilder. Marlon ging vom Gas, trotzdem spürte ich keine Verringerung der Geschwindigkeit. Er riss das Lenkrad herum, der Wagen rutschte in die Kurve, das Heck brach aus und wir schlitterten auf die Leitplanke zu. Ich wollte die Augen zupressen, aber es gelang mir nicht. Starr wie ein vom Fernlicht geblendetes Reh glotzte ich die näher sausende Leitplanke an. Als ich glaubte, wir würden jeden Moment mit voller Wucht gegen das Metall schlagen, drückte Marlon den Rücken in den Sitz und trat das Gaspedal bis zum Bodenblech durch. Möglich, dass ich schrie. Der Laut ging in der dröhnenden Musik von Linkin Park unter. Das Auto schoss nach vorne, die drohende Leitplanke entfernte sich.

Ich keuchte, griff zitternd nach dem Lautstärkeregler und drehte die Musik leiser. »Wie oft hast du das geübt?«

Er lachte atemlos und diesmal erkannte ich die Angst darin mit Gewissheit. »Cool, oder? Hab ich mal in einem Film gesehen.« Er sah in den Rückspiegel und auch ich drehte mich um. Die Limousine tauchte auf, aber der Abstand war viel größer geworden.

Nach der nächsten Kurve, die Marlon ein bisschen weniger waghalsig, aber immer noch mit schlitternden Reifen nahm, wuchs unser Vorsprung weiter. Wir erreichten eine Kreuzung: Geradeaus verlief die asphaltierte Straße weiter, links ging eine schmalere Allee ab und rechts war ein unbefestigter Schotterweg zu erkennen. Marlon entschied sich kurzerhand für Letzteren und bog nach knapp fünfzig Metern auf einen Parkplatz ein – das Gelände einer Baumschule. Wir saßen still im Wagen und wagten kaum zu atmen. Aber es passierte nichts. Unser Verfolger hatte uns offenbar nicht abbiegen sehen und war geradeaus weitergefahren.

Marlon lehnte seine Unterarme gegen das Lenkrad und bettete die Stirn darauf. Sein Rücken bebte. Diese Reaktion tröstete mich ein wenig, mit seiner Kälte schaffte er es wirklich, mir Angst einzujagen.

Mir bot das Verschnaufen erstmals Zeit, darüber nachzudenken, was nun weiter geschehen würde. Die Fakten waren, dass die Huntsmen vermutlich längst mehr über mich wussten, als hinnehmbar war. Marlon konnte mich keinesfalls mehr nach Hause begleiten, was bedeutete, dass auch ich nicht mehr dorthin zurückkonnte. Sie hielten mich inzwischen sicher längst für eine Harpyie. Sie würden mir auflauern.

»Noa, bist du okay? Du bist ganz blass.«

Scherzkeks. Wem würde bei solch einer Auto-Stunt-Nummer nicht die Farbe aus dem Gesicht rinnen? Doch Marlon spürte, dass da mehr war. Ihm konnte ich nichts vormachen.

»Ich kann nicht mehr nach Hause, oder?«

Er senkte den Blick. Seine Wangen röteten sich und ich erkannte das dahinter verborgene Gefühl. Scham.

»Marlon, sag mir, woher sie erfahren werden, dass ich keine Harpyie bin, wenn du fort bist.«

Nun schloss er die Augen und nickte, so leicht, dass es kaum zu erkennen war. Bingo. Ich hatte gerade das Problem erkannt, das ihm schon seit Tagen Kopfzerbrechen bereitete.

»Ich werde in diesem Jahr nicht gehen«, antwortete er leise. »Wir werden die Harpyien aufsuchen, meine Familie, wenn du sie so nennen willst. Sie müssen uns sagen, wie wir vor den Huntsmen beweisen können, wer du bist. Normalerweise wäre das kein Problem. Die Jäger beobachten deine Eltern, stellen ihnen vielleicht eine Fangfrage und können sicher sein, ob Harpyienblut durch deine Adern fließt oder nicht.«

»Nur dass meine Mutter längst wieder in Japan ist.« Und gefühlt so weit weg wie der Mond.

»Da lag mein Fehler. Das hatte ich nicht bedacht. Den Huntsmen wird es verdächtig vorkommen, dass sie deine Mutter nicht ausfindig machen können. Es sieht aus, als wäre sie geflohen.«

Das Bild vor meinen Augen klärte sich. Ich war also nun nicht mehr eine zufällige Begleiterin des Gejagten. Ich war selbst eine Gejagte. Ich kommentierte das Ganze mit einem »Hm«, da für mehr keine Luft übrig war.

»Hey«, meinte Marlon leise und drehte mein Gesicht in seine Richtung. »Ich lasse dich nicht allein. Versprochen.«

»Schaffst du es denn ein weiteres Jahr?« Erst am Morgen hatte er diesen heftigen Verwandlungsanfall gehabt. Und er glaubte, er würde ein ganzes Jahr durchhalten?

»Na klar.«

Sicher. Und ich war Emma Watson. Er glaubte es selbst nicht, aber ich sollte es ihm abkaufen. Was zum Geier hatte er vor? »Was tun wir jetzt?«, fragte ich.

»Wir fahren ans Meer. Machen Urlaub.« Er spielte die Unbekümmertheit beinahe überzeugend. »Wir finden meine Verwandtschaft und sie geben uns Antworten.«

»Du weißt bestimmt, dass sie Antworten haben?«

»Wenn nicht, dann gibt es auch keine.«

»Und was machen wir dann?«

Er sah mich an, ohne dass sich etwas in seiner Miene regte, und doch wurde sein Gesicht finsterer und zugleich wärmer. Ein Schutzwall aus Schwärze, um mich darin zu verstecken. »Dann sorge ich dafür, dass kein Jäger diese Hatz überlebt. Ich schwöre dir eins, Magpie. Wenn ich fortgehe, wirst du sicher sein.«

Wir fuhren mehrere Stunden. Ich hatte den Verdacht, dass Marlon wie üblich Umwege einlegte, um mögliche Verfolger auf falsche Fährten zu locken, aber ich fragte ihn nicht danach, sondern döste, den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt. Ein Ortseingangsschild, das so schnell an uns vorbeischoss, dass ich es nur als gelben Klecks wahrnahm, ließ mich hochschrecken.

»Verdammt«, murmelte ich und rappelte mich auf. »Marlon, wie heißt diese Stadt?« Ich hatte den Ortsnamen nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen und doch brach mir der Schweiß aus. Der Name sagte mir etwas.

»Mitterhafen«, gab Marlon verwundert zurück.

Und nun fluchte ich wirklich, denn diesen Namen kannte ich. Er stand auf dem kleinen Zettel, den ich im Portemonnaie von Stephan Olivier gefunden hatte.

»Sie erwarten uns hier«, stellte ich sachlich fest und hätte am liebsten den Kopf irgendwo dagegengeschlagen. Warum hatte ich diesem Zettel nicht mehr Beachtung geschenkt? Ich hatte ihn vollkommen vergessen.

Wir sahen uns genau um, doch die Ortschaft schien friedlich dazuliegen. Viele Einfamilienhäuser, klein, aber mit eigenem Grundstück darum herum. Verkehrsberuhigte Zonen, wohin man sah. Kinder, die auf den Straßen Fahrrad fuhren oder Seil sprangen und winkend Platz machten, wenn wir heranrauschten. Ältere Leutchen, die uns nachsahen und angesichts des fremden Nummernschilds sogleich wissend nickten. In ihren Augen waren wir junge, aber sicher wohlhabende Touristen, die ans Meer wollten. Für uns waren das einheimische Spitzel, die uns allesamt an den erstbesten Jäger verraten würden, der freundlich nach uns fragte.

Herrgott. Wir mussten von hier fort und konnten nicht.

»Es ist jetzt umso wichtiger, dass wir meine Familie finden. Wenn wir sie nicht finden, tun die Huntsmen es bei Vollmond.«

Marlon hatte es erfasst.