Lektion 13

Wie man durch Steine geht

Es gibt vermutlich nur einen Menschen auf der Welt, der es schafft, jemanden durch einen Blick zu wecken. Ich spürte durch meine geschlossenen Lider, dass Marlon mich ansah. Das Gefühl erreichte mich selbst im Schlaf. Nur seine Blicke verursachten dieses sehnsüchtige Ziehen, als würde er mit ihnen ein Vakuum in die Luft brennen, das mich ansog.

»Was tust du?«, murmelte ich, ohne die Augen zu öffnen. War es überhaupt schon Morgen?

»Ich denke nach.« Er klang ausgeschlafen und beinahe vergnügt.

Ich spürte, wie er mit meinen Haaren spielte, und brummte genüsslich. »Worüber?«

»Du hast die ganze Nacht in meinem Arm gelegen und ich habe mich gewundert, dass ich trotzdem schlafen konnte, denn normalerweise sieht mein Bett morgens aus wie ein Schlachtfeld, weil ich mich immer so herumwälze. Da kam mir der Gedanke, dass du etwas an dir haben musst, was mich ruhiger macht, und nun grüble ich, was das sein könnte.«

Er musste wirklich guter Laune sein, denn er rasselte die Worte nur so runter. Ich hatte ihn selten so frei von der Leber weg sprechen hören. Besser, ich öffnete die Augen, um nachzusehen, ob man ihn in der Nacht ausgetauscht hatte.

Nein, abgesehen von den zerzausten Haaren sah er aus wie immer. Beneidenswert, denn es war wirklich noch ganz früh. Das Tageslicht lugte scheu, blass und milchig durchs Fenster.

»Vielleicht, weil wir uns ziemlich ähnlich sind«, bemerkte ich und sah zu dem großen aufgesprayten Drachenherz über mir.

»So, sind wir? Was haben wir denn bitte schön gemeinsam?«

»Keine Mutter mehr«, entfuhr es mir. Ich biss mir auf die Zunge. Verdammt, warum hatte ich das gesagt? »Entschuldige. Das ist bestimmt ein blöder Vergleich. Es ist nur so, dass dieser Raum mich an meine Mutter erinnert. Sie hat ein Drachentattoo um den Knöchel.« Von diesem kleinen Drachen hatte ich geträumt, bevor Marlon mich weckte. Er streichelte mein Gesicht, strich mit zwei Fingern über meine Wangen, als zöge er die Wege von Tränen nach, die zu weinen ich mir nie erlaubt hatte.

»Entschuldige dich nicht, Noa, bitte nicht. Rede mit mir, okay? Jetzt, denn wir haben nicht viel Zeit.«

Es frustrierte mich, die Leichtigkeit dieses frühen Morgens zerstört zu haben. Doch als ich begann, von meinem Babybruder, seinem Tod und dem Verlust meiner Mutter zu sprechen, wurde mir ein wenig leichter ums Herz. Ich redete und redete und redete. War verwundert, wie viel es zu erzählen gab, angefangen von der Weichheit von Joels Haut, über die Lieder, die Sybille ihm vorgesungen hatte, bis hin zu dem süßen Geruch, den er ausatmete, nachdem er gestillt worden war. Ich erzählte Marlon, wie der Polizist, der nach Joels Tod gekommen war, mich angesehen hatte. Ich erinnerte mich genau, was er zu Sybille gesagt hatte: »Manchmal werden sie eifersüchtig.« Und ich wusste noch, was ich in Sybilles Blick gelesen hatte. Für einen Moment hatte sie tatsächlich geglaubt, ich hätte es getan. Sie glaubte, ich hätte ihn erstickt.

Ich erzählte Marlon, dass Joels Gesichtchen in meiner Erinnerung immer von kreisendem Blaulicht beschienen wurde, obwohl ich dieses Bild in der Realität nie vor mir gesehen hatte. Trotzdem hatte sich sein zahnloses Lächeln in meinem Kopf mit dem anklagenden blauen Lichtkreisel verbunden und mit der Sekunde aus Misstrauen in Sybilles Augen. Schließlich weinte ich. Erstaunlich. Ich hatte noch nie wegen meiner Mutter geweint. Ich hatte ihren Verlust als unvermeidlich hingenommen. Nun trauerte ich.

Marlon küsste mir die Tränen von der Haut, eine Geste, die ich immer als fürchterlich kitschig empfunden hatte. Doch was war Liebe ohne ein wenig Kitsch? Ob kitschig oder nicht – es half. Es war schön. Traurig und schön.

»Ich war fünf«, sagte Marlon später unvermittelt.

Das mochte unspektakulär klingen, aber ich erkannte, was an diesen drei Worten so besonders war. Zum allerersten Mal begann er über seine Kindheit zu sprechen, ohne dass ich ihn darum bat oder ihm eine Frage stellte.

»Corbin sieben, Ebony fünfzehn.« Ich horchte auf. Von einer Schwester hatte er mir nie erzählt. »Unsere Eltern konnten nicht mehr warten, sie waren schon immer lieber in den Wolken gewesen statt am Boden. Leider«, er lächelte schmal, »schlüpfen Kinder nicht aus Eiern, ansonsten hätten sie sich vermutlich niemals in Menschen zurückverwandelt. Ich muss ihnen im Nachhinein danken, dass sie uns auf den Abschied vorbereiteten. Wir wussten, dass sie uns verlassen würden. Sie waren immer ehrlich.«

»Wo sind sie … nun ja … offiziell?« Im nächsten Moment wünschte ich, ich hätte nicht gefragt. Was, wenn sie für tot erklärt worden waren?

»Ausgewandert«, erwiderte Marlon, als sei das eine Selbstverständlichkeit. »Es existieren Papiere, die sie als kenianische Staatsbürger ausweisen. Sie haben sogar Steuern gezahlt, kannst du dir das vorstellen? Ob sie in Kenia je angekommen sind, kontrolliert doch kein Mensch.«

Sein halbherziges Grinsen beruhigte mich nicht, aber ich wagte mich dennoch weiter vor. »Was ist dann mit euch passiert? Kamt ihr in ein … Heim?«

 »Natürlich nicht.« Er wirkte fast entsetzt, dass ich seinen Eltern so etwas zutraute. »Sie hatten Pflegeeltern für uns ausgewählt. Es waren gute Freunde und noch bessere Menschen. Es war eigentlich nicht schlimm.«

Doch, das war es, und das wusste er auch. Ich konnte mir Marlon erschreckend gut als kleinen Jungen vorstellen, mit seinen schwarzen Knopfaugen, einem Holzschwert in der Hand und riesengroßen bunten Gummistiefeln. Und buchstäblich mutterseelenallein.

»Ich habe nur immer viel zu gerne Geschichten erzählt«, meinte er halb bedauernd, halb amüsiert, »und den anderen Kindern gesagt, dass meine Eltern Vögel geworden sind. Du kannst dir vorstellen, was passierte.«

»Sie haben dich ausgelacht.«

»Das auch. Zunächst war es harmlos, sie haben mir nicht geglaubt. Wie sollten sie auch? Was wehtat, waren Sprüche wie: He, Marlon, da kommt deine Mutter. Wo? Da oben, da fliegt sie doch, pass auf, sie kackt vom Himmel, sie scheißt auf dich!«

Er versuchte, mich die Bitterkeit, die er fühlte, nicht sehen zu lassen. Doch ich sah sie in dem Hauch von Anspannung um seine Augen und sagte: »Blöde kleine Mistkröten!«

Er zuckte mit den Schultern. »Vermutlich. Aber irgendwann glaubte ich, ich sei es, der einen Vogel hatte.« Er tippte sich an die Stirn, aber keiner von uns lachte.

»Und dann hast du aufgehört zu sprechen.«

»Für zwei Jahre, ja. Anschließend musste ich es völlig neu lernen, was sich über mehrere Jahre hinzog. Als Corbin begann, Gitarre zu spielen, fing ich heimlich an zu singen, und unsere Pflegeeltern ertappten mich dabei. Daraufhin schickten sie mich zu einer Therapie, in der man das Sprechen über das Singen neu erlernt.«

Ich hatte längst bemerkt, dass er mit dem linken Mittelfinger wieder einen Takt auf die Bettdecke trommelte.

Es war schon später Vormittag, als wir Marlons Zimmer verließen und uns in der Küche Frühstück machten. Emma kam dazu, lehnte sich in den Türrahmen und beobachtete Marlon, wie er Instant-Cappuccino aufgoss. Mich beachtete sie kaum, sie schürzte bloß wissend die Lippen, als sie sah, dass ich eins von Marlons kurzärmligen Hemden trug.

»Du scheinst ja jede Menge Zeit zu haben, Marlon«, säuselte sie in einem unangenehm zuckersüßen Tonfall. »An deiner Stelle hätte ich Besseres zu tun, als einen ganzen Tag mit sinnloser Flirterei zu verschwenden.«

Marlon ignorierte sie.

»Warum suchst du deinen blöden Treffpunkt nicht selbst und lässt ihn in Ruhe«, knurrte ich.

Emma lachte herablassend und sah weiter Marlon an. »Du kommst schon noch zur Vernunft. Wenn du dich erst verwandelt hast, wirst du an all deine Sorgen hier nicht mehr denken.« Sie wandte sich ab und schlenderte davon.

Marlon stellte meine Tasse so ruppig vor mir ab, dass der Kaffee überschwappte. »Emma kennt ihren Treffpunkt schon. Die Schwärme treffen sich an unterschiedlichen Orten, sie gehört zu einem anderen als wir und war bei der Suche wesentlich erfolgreicher. Vielleicht weil sie sich so sehr darauf freut. Sie erwartet die Verwandlung, es macht sie wütend, dass Corbin und ich das nicht auch so sehen. In ihren Augen verraten wir unsere Art, wenn wir nicht bereit sind, uns hinzugeben.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe lange versucht, es wie sie zu sehen. Aber es ist mir nie gelungen.«

Ich stand auf, umarmte ihn von hinten, während er eine Scheibe Brot mit dem Messer misshandelte, statt sie mit Butter zu bestreichen. »Dann wird es dir auch gelingen, dich zu erinnern«, sagte ich, den Kopf an seinen Rücken gelehnt. »Du wirst dich wiederfinden, ich weiß es.«

Wir erreichten die Innenstadt und setzten uns zunächst unauffällig auf den Rand des Brunnens. Der steinerne Löwe warf seinen Schatten über uns. Wir beobachteten die Leute, achteten auf jedes Anzeichen einer Gefahr.

»Geht tagsüber hin«, hatte Corbin uns geraten. »Dann fallt ihr weniger auf. Man wird zwar misstrauisch angesehen, wenn man am helllichten Tag Statuen befingert, aber das Schlimmste, woran die Menschen denken, ist Vandalismus, daher behalten sie dich bloß im Auge. Kommst du nachts, erwarten sie das wahre Böse und rufen gleich die Polizei.«

Marlon war nicht begeistert gewesen, als ich ihm erklärt hatte, mit ihm zu kommen, aber da er selbst behauptete, es sei nicht gefährlich, konnte er es mir schlecht ausreden.

Inmitten der Stadt, wo man im Sommer allenfalls riskierte, in einen Hundehaufen zu treten oder von einem drängelnden Kind mit Eiscreme beschmiert zu werden, fühlte ich mich sicher. Der Tag war sonnig, nur schmale weiße Wolkenstreifen trieben langsam über den hellblauen Himmel. Ein angenehmer Wind hielt die Wärme davon ab, zur Hitze zu werden. Die Menschen strömten in Scharen durch die Straßen und wirkten für die Verhältnisse der Stadt gut gelaunt, beinahe vergnügt. Aber klar, es war ja auch Sommerschlussverkauf.

Marlon hatte die linke Hand auf mein Knie gelegt, vermutlich weil wir dadurch unauffälliger wirkten. Mit der rechten strich er das Löwenbein entlang nach oben. Seine Konzentration war so deutlich spürbar, dass man sie in Flaschen abfüllen und an ADHS-Patienten hätte verkaufen können. Ich spürte seine Finger auf meinem Bein beben – er lauschte. Ich hörte nur das Schwatzen der Leute, die an den Tischen des Eiscafés saßen, die Schritte der Passanten und harmlose Popmusik, die aus einem der nahen Modegeschäfte dudelte. Ein paar Tauben tummelten sich um den Brunnen und pickten nach Essbarem. Um Marlon und mich machten sie einen großen Bogen.

»Hörst du etwas?«, fragte ich nach einer Weile ungeduldig.

Zu meinem Erstaunen nickte er. Er sprang auf, begab sich auf die andere Seite des Brunnens und fuhr den Rücken des Löwen mit den Händen nach. Die Leute um uns herum begannen ihn anzustarren. Ich ließ die Beine baumeln, lächelte und versuchte, Harmlosigkeit zu demonstrieren. Marlon ließ sich nicht irritieren. Er umkreiste den Löwen, berührte ihn an mehreren Stellen, schüttelte etliche Male den Kopf und ließ sich schließlich mit einem Seufzen neben mir nieder.

»Da ist etwas. Eindeutig. Aber ich kann nicht ausmachen, wo genau.«

»Vielleicht ist die Stimme diesmal einfach zu tief eingesungen.«

»Zu tief«, wiederholte er fasziniert, drehte sich um und sah in das trübe Wasser, das im Brunnen stand. Müll und zahllose Zigarettenkippen trieben auf der öligen Oberfläche. Marlon hielt sich mit der linken Hand am Brunnenrand fest. Sein Gesicht verzerrte sich, der Arm musste noch mehr schmerzen, als er zugab. Ungeachtet dessen streckte er die andere Hand ins Wasser und lehnte sich nach vorne.

»Meine Uhr ist reingefallen«, rief ich einer Frau zu, die allzu skeptisch betrachtete, was er da tat.

Sie schüttelte angewidert den Kopf. »Dann soll er dir eine neue kaufen. Igitt!«

Das trübbraune Wasser war tatsächlich ekelerregend. Als Marlon den Arm bis zur Schulter hineintauchte, griff ich schnell nach seinen Haaren und hielt sie zurück, ehe die Haarspitzen ins Wasser fielen.

»Und?«, raunte ich.

Er grinste breit. »Volltreffer. Ich erreiche den Grund nicht, aber ich spüre mehr als genug. Sie hat den Boden des Brunnens besungen.«

»Was bedeutet das?« Ich ahnte etwas, aber das hieß nicht, dass ich es auch hören wollte.

Marlon sagte es trotzdem. »Ich muss da rein.«

Während er den Arm zurückzog und sich aufrichtete, tat ich, als müsste ich mich übergeben. »Das willst du nicht wirklich. Ich bin als Kind mal da reingefallen. Damals war das Wasser noch viel sauberer, ich bin trotzdem sofort krank geworden. Rotavirus. Habe drei Wochen lang reihern müssen. Salmonellen sind nichts dagegen.«

Marlon zuckte mit den Schultern und meine Worte taten mir sogleich leid. Er hatte schließlich keine Wahl.

»Lass uns gehen«, meinte er dann, schüttelte alle Sorgen ab und sah mich erwartungsfroh an. »Ich will dir ein Eis holen und mir die Hände waschen.«

»Bitte in umgekehrter Reihenfolge. Wann kommen wir zurück?«

Er überlegte. »Nachts. Erinnerst du dich, was ich noch im Torbogen gehört habe? Es ging um das Spiegelbild des Löwen. Das Brunnenwasser ist viel zu dreckig, als dass sich irgendetwas darin spiegeln könnte.« Er deutete auf einen Scheinwerfer, der an einer Hausfassade gleich hinter dem Brunnen befestigt war. »Ich könnte mir vorstellen, dass es nachts, wenn die Lampe eingeschaltet ist, trotzdem eine schwache Reflexion gibt. Außerdem will ich nicht gesehen werden, wenn ich da reinsteige. Nachher hält man mich noch für verrückt.«

Na, das würde mich aber wundern.

Wir verbrachten den restlichen Tag damit, uns Normalität vorzuspielen, und schlenderten durch die Stadt. Marlon schien sich kaum vor den Huntsmen zu fürchten. Er erklärte mir, dass sie nie vor vielen Zeugen angriffen und die Menschenmenge daher einen sicheren Schutz darstellte. Dennoch behielt er wie immer den Überblick und sah sich permanent um. Ich hatte das für Nervosität gehalten, erkannte aber nun, dass es in Fleisch und Blut übergegangene, ständige Aufmerksamkeit war. Insgeheim gestand ich mir ein, dass er wirklich viel mit einem Raben gemein hatte. Auch diese waren immer wachsam, jederzeit fluchtbereit, aber dadurch nicht weniger neugierig und verspielt.

Am frühen Abend brachte er mich nach Hause. Als ich ihn vorwarnte, dass mein Vater daheim sein würde, entschied Marlon, dass es Zeit war, sich vorzustellen. Ich widersprach zunächst halbherzig, doch er bestand darauf und so betraten wir gemeinsam die Wohnung.

Papa saß am Computer und sah zunächst nur flüchtig auf, als wir Hallo sagten. Dann gefroren ihm die Gesichtszüge. Er rollte auf seinem Drehstuhl aus der Büroecke zum Esstisch und forderte uns auf, Platz zu nehmen. Sein »Setzt. Euch. Doch!« klang, als ob ein Zeichentrickschurke Freundlichkeiten vortäuschte. Wir gehorchten beide unverzüglich.

»Kaffee?«, fragte Papa und zu meinem Entsetzen antwortete Marlon: »Gerne.«

»Noa, du weißt sicher, wie dein Freund seinen Kaffee trinkt. Machst du uns bitte welchen?«

Ich biss die Zähne zusammen. Dieser hinterhältige Schuft! Er tat das nur, um mich loszuwerden. Marlon wirkte jedoch amüsiert statt bis ins Mark verängstigt, und so seufzte ich genervt, ging in die Küche und knallte die Kaffeekanne in die Maschine.

Als ich mit dem Kaffee in der einen und drei Tassen in der anderen Hand zurückkam, schien Marlon noch immer entspannt. Gerade berichtete er meinem Vater mit melodischer Stimme, aus der die T und D herausklangen, dass er im Sommer ein Biologiestudium beginnen würde, zu dessen Zulassung ein besonderes Stipendium nötig war, das er ergattert hatte. Ich musste mir das Lachen verkneifen. Aber was sollte er sonst sagen? Im Gegensatz zu Papa sah ich, wie Marlons Finger den Takt vorgaben, zu dem er sprach. Er war nervös. Er wollte meinem Vater gefallen. Auf irgendeine Art berührte mich das.

Marlon lenkte das Gespräch geschickt von seinen Zukunftsplänen weg, indem er Papas CD-Sammlung ansprach. Eine Viertelstunde lang sprachen sie über Musik, Marlon gespielt, aber glaubwürdig gelassen, mein Vater unvertraut wortkarg. Dann sah Papa auf die Uhr und erklärte, dass er für den Abend noch etwas vorhatte. Kino und essen mit Corinna.

Marlon schüttelte ihm förmlich die Hand. »Es freut mich, Sie kennengelernt zu haben, Herr Grau.«

Papa warf ihm ein Lächeln hin. Genauer gesagt, schmiss er es ihm vor die Füße. »Hoffentlich bleibt das so, mein Freund.«

Auweh, das war deutlich. Dass er Marlon das Du noch nicht angeboten hatte, gefiel mir ebenso wenig.

Marlon und ich gingen zu meinem Zimmer. Vor der Tür blieb ich stehen. »Geh schon mal rein«, sagte ich lauter als nötig. »Ich hole uns noch etwas zu trinken.«

Mein Plan ging auf, Papa folgte mir in die Küche.

»Der?«, fragte er gedämpft, zeigte aber unverhüllt, dass er mich angebrüllt hätte, wären wir allein gewesen. »Ich dachte, es ging um eine Übernachtung bei Dominic.«

Ich lehnte mich an die Arbeitsplatte und untersuchte meinen Nagellack auf Risse. »Habe ich das gesagt?«

»Nein, aber du hast auch nicht –«

»Du magst ihn nicht«, warf ich ihm unvermittelt vor.

Er breitete die Arme aus. »Das hat nichts mit Mögen zu tun. Er gefällt mir bloß nicht. Das ist etwas anderes.«

Ich verdrehte die Augen. »Er soll mir gefallen, nicht dir. Und das tut er. Sehr.«

»Noa, versteh mich nicht falsch«, versuchte mein Vater es versöhnlich. »Aber der Junge ist doch viel zu routiniert für dich. Er benimmt sich, als würde er jede Woche in einem anderen Wohnzimmer sitzen und besorgten Vätern Honig ums Maul schmieren. Der ist nicht echt, glaub mir das. Der spielt dir etwas vor.«

Ich unterdrückte ein Grinsen. Papa hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Marlon spielte tatsächlich etwas vor. Allerdings ihm. All die gelassene Ruhe war nur Show. Die Angst dahinter sah nur ich.

»Dominic«, sagte Papa und verstellte mir den Weg zum Schrank, aus dem ich Gläser nehmen wollte, »wäre mir lieber gewesen.«

Ich grinste müde. »Dominic ist mein Kumpel, ich habe ihn wirklich gerne. Aber mehr nicht. Dominic hat vor allem und jedem Angst.«

»Kann sein, aber dieser junge Mann da –«

»Er heißt Marlon!«, erwiderte ich gereizt.

»Meinetwegen. Dieser Marlon, der hat vor nichts Angst. Der ist nichts für dich, der hat schon zu viel gesehen.«

Oh, mein Vater hätte mich außer Landes gebracht und in einem katholischen Kloster versteckt, wenn er wüsste, wie recht er hatte.

»Ich hab’s im Griff, Papa. Glaub mir, ich weiß, worauf ich mich einlasse. Ich kenne Marlon.«

Papa schwieg mir penetrant ins Gesicht.

»Vergnüg dich mit dem Jungen«, meinte er schließlich achselzuckend und tat so, als wäre er der lockere, für alles Verständnis zeigende Vater, der er gern wäre. »Für einen anderen Tipp ist es ja ohnehin zu spät. Aber pass auf dich auf. Denk an«, er stockte und errötete, »na, an den Verhütungskram eben.«

Ich musste lächeln und hatte Papa allein für seine Befangenheit bei gewissen Themen schrecklich lieb. Leider war und blieb er ein Trampeltier und zerstörte diese Zuneigung mit dem einzigen Satz, den ich ihm nicht verzeihen konnte.

»Lass dir nicht wehtun, hast du mich verstanden?«

Tja, so blöd das für mich war, aber für diesen Rat war es zu spät. Ich grinste auf vielsagend anzügliche Weise und verließ die Küche, ließ ihn im Glauben, dass zwischen Marlon und mir schon längst viel mehr passiert war.

Es war fast Mitternacht, als wir erneut zum Brunnen kamen. Keine Menschenseele kreuzte unseren Weg, dafür jede Menge Schatten. Marlon war ungern bei Nacht unterwegs und ich begriff, warum. Inmitten von Einsamkeit saß man auf einem Präsentierteller für jene, die nach etwas Lebendigem suchten. Ich fröstelte unter meiner Jeansjacke und fingerte nervös an den Trägern von Marlons Rucksack herum. Darin befanden sich Kleidung zum Wechseln und ein Handtuch. Ich war nicht zimperlich, aber diesmal bedauerte ich es, kein Desinfektionsspray gefunden zu haben.

»Schau mal«, unterbrach er meine Gedanken und deutete in das ölig schwarze Brunnenwasser.

Er hatte recht behalten: Gesäumt von der ovalen Mauer, sah man die Silhouette des Löwenkopfes, der von einer gelblichen Lampe beleuchtet wurde. Der Anblick war so schaurig, dass sich jedes Härchen an meinem Körper einzeln aufrichtete, und zwar so stark, als wollten sie sich aus der Haut losreißen und das Weite suchen.

Marlon zog sich ungerührt Schuhe, Strümpfe und die Jeans aus. Er knöpfte sein Hemd auf, ließ es von den Schultern rutschen und reichte es mir. Dann setzte er sich auf den Brunnenrand, schwang die Beine darüber und atmete tief ein. Ich konnte den Blick nicht von seinem Oberkörper abwenden, betrachtete das Spiel seiner Muskeln; seine Bauchdecke, die sich hob und senkte; das Pflaster auf seiner Schulter, das sich an den Rändern wellte. Ich hatte viel zu viel Angst, um romantische Gefühle zu empfinden, aber es war auch nicht nur Angst, was mir im Magen kribbelte. Marlon mochte kein Traumtyp im klassischen Sinne sein wie Lukas, aber auf eine ihm ureigene Art war er bedrückend schön. Besonders bei Nacht. Und – der Gedankenblitz verstörte mich – ich wollte ihn nicht verlieren. Er sollte dort nicht reingehen!

Er zog den Bauch ein, als seine Füße ins Wasser eintauchten. »Es ist viel zu kalt«, sagte er irritiert. Dennoch ließ er sich hineinrutschen und gab nur kleine Laute des Unbehagens von sich. Das Wasser war so schwarz wie seine Augen und reichte ihm bis zur Brust. So tief hatte ich es gar nicht in Erinnerung.

»Sag schon, ist da was?« Die Ungeduld kribbelte in meinem Körper. Er sollte bitte schön sofort erfahren, was er wissen musste, und schnell wieder herauskommen. Mir war so schrecklich bange zumute. Ich rieb mir über die Arme, aber obwohl die Nacht lau war, fraß sich grässliche Kälte unter meine Haut.

»Ich weiß nicht recht. Noa? Ist alles in Ordnung?« Die Frage war nicht auf mich bezogen. Er brauchte meine Einschätzung, wollte wissen, ob ich etwas spürte.

Ich zuckte hektisch mit den Schultern, warf den Kopf herum, sah jedoch nichts und niemanden. »Beeil dich einfach!«

Marlon tastete unter der Wasseroberfläche die Innenseite der Brunnenmauer ab, arbeitete sich langsam zum Boden vor und beugte sich dabei immer weiter ins Wasser. Ich kämpfte den Ekel nieder, als es ihm bis ans Kinn schwappte. Er sog kurz und heftig Luft durch die Nase ein und sah zu mir auf. Erschrecken stand in seinem Blick.

»Was ist, hast du –?« Meine Frage versoff in einem spitzen Schrei, als er plötzlich untertauchte. Ich presste mir beide Hände vor den Mund, zwang mich zur Ruhe. Das Herz prügelte gegen meine Rippen, der Schreck durchfuhr mich so eisig, dass ich nicht einmal mehr zittern konnte. Er war weg! Marlon war weg!

Ich versuchte mir einzureden, dass er tauchte – aber kein Mensch tauchte mit offenen Augen und offenem Mund in eine derartige Brühe ab. Nicht absichtlich! Und ich sah nicht einmal Luftblasen. Das Wasser lag still da wie eine Onyxscheibe.

Ich warf mich bäuchlings auf den Brunnenrand und durchpflügte die Brühe mit beiden Händen. Der raue Stein kratzte mir die Haut am Bauch auf. Ich rutschte weiter vor, um weiter in den Brunnen langen zu können. Nichts!

»Marlon!«, wimmerte ich, mir bewusst, wie sinnlos das war.

Aber – guter Gott! – er konnte doch nicht einfach verschwunden sein! Das war ein Zierbrunnen, es gab nur schmale Rohre, durch die das Wasser ein- und ablaufen konnte. Ich hatte das Becken im leeren Zustand gesehen – es gab da unten keinen Ausweg. Ich fand nur eine Erklärung: Marlon musste am Grund des Brunnens liegen. Womöglich bewusstlos. Aber dazu war er viel zu schnell abgetaucht, fast als risse ihn etwas in die Tiefe. Und trieb man nicht nach oben, wenn man bewusstlos war? Doch eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Ich zögerte nicht länger und ließ mich ins Wasser rutschen. Eisig tränkte es meine Kleidung. Ich tastete mich vorsichtig mit den Füßen über den Grund. Spürte, wie mir heiße Tränen über das Gesicht liefen. Denn da war … überhaupt nichts.

Ich tauchte. Tauchte mit zusammengekniffenen Augen und dem Geschmack von Galle in Mund und Nase bis nach unten. Das Wasser war so kalt, dass es an meinen Lidern brannte und mein Kopf jäh zu schmerzen begann. Ich berührte mit beiden Händen den glatten steinernen Grund.

Und plötzlich … fiel ich. Ich fiel und fiel und fiel. Dann schrie ich auf und stürzte auf die Knie.

Ich musste das Bewusstsein verloren haben, denn ich hockte unvermittelt auf Kies und meine Knochen schmerzten. Das Wasser war verschwunden, doch ich war klitschnass und fror entsetzlich. Ein beißender Wind fuhr mir unter die Kleider.

»Noa? Verdammt, Noa, was machst du denn?«

Ich erkannte Marlons Stimme, aber sie kam von überall.

Aus der Dunkelheit stürzte er auf mich zu, fasste mich bei den Schultern. »Noa! Bist du okay?«

»Ich …« Ich wusste es nicht. Wie, zum Geier, waren wir hierhergekommen?

»Ich bin dir gefolgt«, stieß ich schließlich über meine zitternden Lippen. »Aber wie? Wo sind wir?«

Wir mussten uns in einem Tunnel befinden. Alle Wände warfen schauerliche Echos. Mehr war nicht auszumachen.

Marlon zog mich in seine Arme, rieb über meinen Rücken und half mir auf. »Es muss einen in den Stein eingearbeiteten Durchgang geben«, flüsterte er mir zu. »Ich habe bisher nur einmal von etwas Derartigem gehört und es für ein Märchen gehalten. Ich habe keine Ahnung, wo wir sind.«

»Und wo ist der Ausgang?«

Wir befanden uns tatsächlich in einer Art Tunnel aus glatt poliertem Stein. Das Heulen, Pfeifen und Winseln des Windes ließ erahnen, dass der Gang viele Kilometer lang sein musste. Ich erkannte etliche Abzweigungen und Panik wuchs in mir heran. Das war ein gottverfluchtes Labyrinth! Und Marlon wollte mir nebenbei erzählen, dass wir nicht durch ein Loch im Stein hierhergekommen waren, sondern durch den Stein selbst? Ich merkte, dass ich meinen Atem nicht mehr kontrollieren konnte. In meiner Brust brannte es, weil meine Lunge Sauerstoff brauchte, doch ich konnte nicht mehr als japsen, wobei schrille Laute entstanden, die als Echos zu mir zurückkamen. Wie Gespenster, die höhnisch um mich herumtanzten. Waren wir ertrunken? Gestorben, und dies war der Vorhof zur Hölle? Ich hielt mir beide Hände vors Gesicht und wünschte mir, aus diesem Albtraum zu erwachen oder wenigstens ohnmächtig zu werden.

Marlon hielt mich fest, streichelte mein Gesicht, versuchte mich zu beruhigen und schüttelte mich schließlich, als das alles nicht half.

»Du wolltest es so«, knurrte er. Dann verpasste er mir eine widerwillige Backpfeife und setzte einen Kuss nach. Einen sehr langen Kuss. Während er mich küsste, schälte ich mich aus meiner Panik. Ich presste mich an ihn, als wäre unter seiner Haut genug Platz, um mich dort zu verstecken.

»Besser?«, fragte er nach einer Weile leise.

Ich nickte und zog die Nase hoch. Verdammt, ich hatte nicht gleich ausflippen wollen. Leider musste ich feststellen, dass man über die Frage, wann das persönliche Fass voll ist, nicht selbst entscheiden darf. Mein Fass hatte dank meines Sturzes durch den Stein einen gehörigen Stoß bekommen und war übergeschwappt. Nun gut, nicht mehr zu ändern. Ich biss die Zähne zusammen. »Es geht wieder.«

»Lass uns mal sehen, wohin der Tunnel führt«, meinte Marlon und legte seinen Arm um meine Schulter. »Wenn jemand etwas so Schwieriges tut, wie einen Stein in ein Portal zu verwandeln, dann nicht ohne Grund. Hier unten ist irgendwas.«

Ich war mir nicht sicher, ob ich diesem Irgendwas begegnen wollte, aber blieb uns eine Wahl?

Wir folgten dem Gang, schritten dem Wind entgegen, der so zornig blies, als wollte er uns fortpusten.

Einige Minuten wanderten wir frierend durch monoton wirkende Gänge und Tunnel. Es gab keine Lampen, doch es war auch nicht vollends dunkel. Dieser Ort schien jenseits von Licht und Schatten. Der Wind flaute ab, ohne dass die Kälte nachließ, und schließlich mündete einer der Gänge in eine große, kreisrunde Halle, über die sich eine kuppelförmige Decke spannte, an der man Reliefs erahnen, aber nicht genau erkennen konnte. Am anderen Ende machte ich vage Umrisse aus, die sich beim Näherkommen als Statuen herausstellten. Von der Decke hingen Lüster, doch statt Kerzen steckten abgebrochene Stalaktiten in den Haltern. Oh Gott, es gab hier nichts als Stein! Stein über Stein, aber kein Leben, niemanden, der uns helfen konnte! Ich wollte gerade laut fluchen, als die steinerne Nachbildung einer Frau eine Bewegung tat.

Zunächst dachte ich, die Statue würde im Windstoß kippen. Marlon vermutete dasselbe, er packte mich grob am Arm und riss mich zurück. Doch dann erkannten wir, dass sie nicht umfiel.

»Sag, dass das nicht wahr ist«, wimmerte ich, aber Marlon reagierte nur mit einem Wort, das ich nicht hören wollte: »Scheiße!«

Sie ging! Die Frau aus Stein ging auf uns zu!

Mit bedächtigen Schritten, fast mechanisch, trat sie von dem Podest, auf dem sie gestanden hatte, und kam die Treppenstufen herunter.

Ich wechselte einen ungläubigen Blick mit Marlon, dem der Mund offen stand. In seinen Augen las ich Erstaunen, etwas Angst, aber auch Faszination.

»Es ist keine Legende«, wisperte er. Als ihm bewusst wurde, dass ich – Legende oder nicht – keine Ahnung hatte, wovon er sprach, erklärte er flüsternd: »Sie sagen, eine zu intensive Verbindung mit den Steinen lässt die Seele selbst versteinern. Darum ist es gefährlich, Steine zu besingen. Weil der Stein immer mehr vom Sänger will. Der Drang, es wieder zu tun, zu singen, tiefer zu singen, wird übermächtig und irgendwann …« Er sah zu der Frau auf, die nun die letzte Treppenstufe hinter sich ließ und auf uns zukam.

Irgendwann wurde man zu Stein? Wie auch immer, was in mir übermächtig wurde, war der Drang, vor diesem Wesen aus monochromem Grau fortzulaufen. Doch da Marlon stehen blieb, tat ich es auch.

»Sie ist nicht böse«, raunte er mir zu. »Sie wird uns nichts tun. Glaube ich.«

Glaubte er? Ich lachte kurz und hysterisch auf und hoffte, dass er recht behielt. Die geschlossenen Augen der Erscheinung machten mir Angst. Sie war die Nachbildung einer Frau, gekleidet in eine enge steinerne Hose und eine Bluse, doch der grau melierte Stein wirkte, als wäre die Statue vor Jahrhunderten geschaffen worden. Bei jedem Schritt durchzogen haarfeine Risse ihren Körper. Winzige Steinfragmente splitterten ab, hagelten zu Boden und knirschten unter ihren Füßen. Sie hielt auf Marlon zu, mich schien sie nicht zu beachten. Als sie noch gut einen Meter von ihm entfernt war, blieb sie stehen. Unter dem Knirschen ihres Nackens hob sie den Kopf, ohne jedoch die Augen zu öffnen. Dafür regten sich ihre Lippen. Sie öffnete sie einen Spalt, doch es kam kein Laut heraus, nur etwas Staub.

Marlon schluckte so laut, dass ich es hören konnte. Dann trat er vor und streckte die Hand aus. Erschrocken griff ich nach seinem Arm, erreichte ihn im gleichen Moment, als er mit den Fingerspitzen die Lippen der steinernen Frau berührte. Sie begann zu summen. Die Stimme drang so tief aus dem Inneren der Frau, dass ich zunächst glaubte, mir das Lied nur einzubilden. Marlon und ich sahen uns an, um zu erfahren, ob der andere es auch hörte. Doch mit jedem Ton wurde es deutlicher, lauter, schallte durch den Saal und durch die Tunnel, bis die Wände es zurückwarfen. Ich kannte das Lied. Es war die eigenartige Version von Twinkle, Twinkle, Little Star.

Und es tat mir im Herzen weh.

»Hörst du sie sprechen?«, fragte Marlon. Er schloss die Augen, als ich den Kopf schüttelte, und legte seine Hand an die Wange der Steinfrau. »Sie will wissen, ob ich sie wiedererkenne. Ob ich … ihr Sohn bin.« Niedergeschlagen sah er mich an.

Ich begriff sehr langsam, aber die steinerne Dame schien sich ohnehin nichts aus Eile zu machen. Wenn Marlons Vermutung stimmte, handelte es sich bei ihr um die Mutter von Stephan Olivier, dem Huntsman. Oder eher gesagt … um das, was von ihr noch übrig war. Ich stöhnte auf. Marlon suchte nach Antworten, um einen Weg zu finden, Corbin zu retten, und fand die Mutter seines Erzfeindes. Versteinert! Prima, wirklich ganz prima. Primstens!

Marlon schien zu gebannt von den Geschehnissen, um sich dessen bewusst zu werden.

»Das erklärt es. Sie besingt die Steine von hier unten. Sie kann hier nicht mehr weg, aber sie erreicht die Steine auch so, weil sie selbst einer ist.« Er schloss erneut die Augen.

Ich sah, wie seine Lippen sich bewegten, doch ich vernahm keinen Ton. Ich spürte nur ein Vibrieren in der Luft, ein Prickeln auf der Haut und hatte das Gefühl, dass mir diese Empfindungen nicht unvertraut waren, auch wenn ich mich nicht erinnern konnte, sie je zuvor gespürt zu haben. Dann begriff ich, dass Marlon sang. Ich hörte ihn nur darum nicht, weil er sein Lied, seine Antwort – oder wie auch immer man es nennen wollte –, in den Stein sang.

Er trat zurück, blickte die Statue skeptisch an. »Ich habe ihr gesagt, dass ich nicht ihr Sohn bin, aber ihre Hilfe brauche, um –«

Im gleichen Moment schlug die Steinfrau die Lider auf. Sie sah Marlon aus leeren Augen an und blinzelte langsam. Das Schaben, mit dem ihre Lider über die Augäpfel schleiften, jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken. Erneut bewegten sich ihre rissigen Lippen, Staub krümelte über ihr Kinn.

»Nicht … mein … Sohn?«, fragte sie knirschend. Ich hätte mir fast die Ohren zugehalten, so grausam kalt war der Klang. Wie raue Felsen, die man aneinanderrieb und damit Töne erzeugte, die zu Worten wurden.

»Nein, tut mir leid«, antwortete Marlon. »Stephan hat Ihre Botschaft nicht vernommen. Er hört die Steine nicht singen.«

»Was sagst du da?« Sie klang verärgert. »Er hört. Er ist wie wir.«

»Eine Harpyie? Sie irren sich.« Marlon senkte den Kopf. »Er war ein Mensch wie sein Vater und nun ist er noch mehr. Ihr Sohn ist ein Jäger. Ein Huntsman.«

»Jäger?«, kreischte das Wesen. Nun konnte ich nicht mehr anders, ich hielt mir die Ohren zu.

»Der Vater Ihres Sohnes war keiner von uns, nicht wahr?«

Unter Krachen und Knirschen und dem Abbröckeln kleiner Steine schüttelte die Steinfrau den Kopf.

»Das erklärt alles. Es ist selten, dass aus der Verbindung von Mensch und unsereins ein Kind hervorgeht. Und noch seltener wird das Kind eine Harpyie. Ihr Mann« – die Frau wich bei diesem Wort einen Zentimeter zurück – »hat das Kind den Huntsmen gegeben. Darum konnten Sie ihn nicht finden.«

Ich wusste nicht, ob es klug war, der Steinfrau all das zu erzählen, solange wir auf ihre Hilfe angewiesen waren. Es schien in der steinernen Halle immer kälter zu werden. Nun bildete sich ein kleiner Riss in ihrem linken Auge. Ein Tropfen Wasser rann daraus hervor und lief über ihre Wange.

Oh Gott, sie weinte. Ich krallte meine Hände ineinander und schluckte gegen die Beklemmung an.

Plötzlich bewegte sich die Statue sehr schnell. Weder abrupt noch hastig, nur sehr schnell und fließend. Sie ergriff Marlon mit ihren steinernen Händen und zog ihn an sich.

Ich verschluckte einen Schrei und versuchte, ihre Finger von seinen Schultern zu lösen, aber eher hätte ich Granit zerbrechen können. Da Marlon ruhig blieb, gab ich auf und beherrschte mich. Ihre Lippen bewegten sich, seine ebenso. Marlon schloss die Augen. Obwohl es hier so kalt war, glänzte seine Stirn schweißfeucht. Die Steinfrau presste sich an seinen nackten Oberkörper, woraufhin mir ganz anders wurde. Konnte ein Stein begehren? So, wie ihre Hände über seine Brust glitten und blutige Schrammen hinterließen, war ich sicher, dass sie es konnte.

Plötzlich versteifte Marlon sich, schlug die Augen auf und warf mir einen Blick zu, aus dem Panik schrie.

Gott, sag mir, was ich tun soll, Marlon!

Doch dann schloss er die Lider erneut und legte seine Hände um die Taille der Frau. Sie ließ von ihm ab, er kam zu mir und nahm meine Hand. Der Blick der Steinfrau lastete tonnenschwer auf mir, ich konnte kaum atmen, schmiegte mich an Marlon und berührte zart die Schrammen, die sie ihm zugefügt hatte.

»Küss mich«, hauchte er in mein Ohr.

»Was? Warum?«

»Weil ich es will. Küss mich wie noch nie zuvor! Als ginge es um dein Leben.«

Ich zögerte, aber sein Gesichtsausdruck bedeutete mir eindringlich, zu tun, was er sagte. Und so küsste ich ihn, erst ganz scheu, und als sich sein Puls beschleunigte und in meinem Körper widerhallte, heftiger. Ich küsste ihn, als säße mir der Teufel im Leib, und als Marlon den Kopf in den Nacken sinken ließ, küsste ich seinen Hals, sein Schlüsselbein und die Schulter, meine Hände in seinem Haar vergraben, damit er bei mir blieb.

»Okay«, flüsterte er schließlich. Ich bemerkte, dass die Steinfrau sich abwandte und an den Platz zurücktrat, wo sie zuvor gestanden hatte.

»Was hat sie mit dir gemacht?«, wisperte ich und konnte kaum aufhören, die Kratzwunden auf seiner Brust anzustarren.

»Sie hat mir von ihrem Leben erzählt«, antwortete er ebenso leise. »Und dann sagte sie, dass sie mich zurückschicken würde. Ich fragte nach dir, aber sie verneinte, weil du kein magisches Wesen bist. Sie sagte, sie darf das bisschen, was von ihr noch übrig ist, nicht für einen unbedeutenden Menschen opfern.« Der Hauch von Spott in seiner Stimme hielt meinen Verstand zusammen.

»Weißt du, was ich daraufhin zu ihr gesagt habe, Noa?«

»April, April?«, riet ich nervös. Dummerweise hatten wir Ende Juli. Je nachdem, ob die Zeit draußen weiterlief, seit wir hier drin waren, müsste es inzwischen August sein.

Marlon lächelte. »Ich sagte, du seist das magischste Wesen unter der Sonne und dem Mond, denn du bist in der Lage, eine Harpyie mit einem Zauber zu belegen, wie es sonst nur Harpyien bei Menschen schaffen. Sie wollte wissen, wie stark dein Bann wäre, und ich sagte, er sei so stark, dass ich eher eine Ewigkeit mit dir hier unten verbringen würde, als dich allein zurückzulassen.«

Ich versuchte zu schlucken, aber es ging nicht. Die Luft war so staubig, dass sie meinen Hals austrocknete.

Marlon knuffte mich in die Seite. »Daraufhin meinte sie, ich hätte gleich sagen sollen, dass du meine Freundin wärst. Sie hätte zwar ein Herz aus Stein, aber ein Unmensch wäre sie nicht, und solltest du mich auch lieben, würde sie dich nach Hause bringen. Komm jetzt, es geht los.«

Ich verstand nicht, was losgehen sollte, aber es bedeutete wohl, dass wir hier rauskamen, also folgte ich Marlon die Stufen hinauf. Seine bloßen Füße hinterließen Spuren im Staub, der kein Dreck, sondern pulverisierter Stein war. Darunter schimmerte der Boden, wie über viele Jahre von tausend Füßen blank poliert.

Die steinerne Frau legte beide Hände an die Wand und begann zu flüstern. Sie bebte. Die Halle vibrierte. Dutzende von Stimmen erhoben sich, schwollen an und ab wie Gezeiten, doch ich hörte sie nicht mit meinen Ohren, sondern vernahm sie in meinem Inneren. Staub schneite von der Decke und der uns umschließende Stein bekam Risse. Oh Gott, sie musste aufhören, die Halle würde einstürzen!

Unvermittelt packte Marlon mich am Arm und schleuderte mich gegen die Wand. Schwer zu sagen, ob die Wand sich auflöste. Vielleicht zerfiel auch ich in meine Bestandteile. Zurück blieb ein irrsinniger Druck auf meinem Brustkorb und ein Zwang, der lautlos durch meinen ganzen Körper kreischte.

Atmen!

Marlon hielt mich unter den Achseln und schüttelte mich. Mein Kopf schlackerte hin und her, als wäre mein Genick aus Gummi. Ich biss mir auf die Lippe und stieß einen Schmerzenslaut aus.

»Na endlich, da bist du ja wieder!« Er atmete so heftig, als hätte er es lange unterdrückt. »Alles in Ordnung?«

Wir standen bis zur Brust in eiskaltem, moderig stinkendem Wasser. Um uns herum türmten sich die Brunnenwände auf, über uns waren nichts als Dunkelheit und ein paar Sterne. Doch wir befanden uns nicht mehr in der Welt aus Stein. Wir waren zurück. In der Realität. Und lebendig noch dazu!

Ich starrte Marlon an – seine Brust, auf der die Kratzer als Beweis zurückgeblieben waren. Oder stammten sie von dem Versuch, aus dem Brunnen zu klettern? Das Pflaster über seiner Schusswunde löste sich von der Haut. Oh, mein Gott, diese Siffsuppe würde ihm eine Blutvergiftung bescheren!

»Ist das gerade wirklich passiert?«, flüsterte ich und erschrak, weil meine Stimme so laut vom Gemäuer zurückgeworfen wurde. Mir war, als wollte mich jeder Stein verspotten, indem er meine brechende Stimme nachäffte.

»Wenn nicht, Noa, dann schmeißen die Leute hier jede Menge Drogen in den Brunnen. Los jetzt, wir müssen hier raus.«

Er machte eine Räuberleiter und katapultierte mich so schwungvoll nach oben, dass ich fast über den Brunnenrand gestürzt und gefallen wäre. Er selbst kam wesentlich eleganter aus dem Wasser.

Die Lampe oberhalb des Löwen war ausgegangen, nur der Mond schien auf den stillschweigenden Marktplatz. Marlons Oberkörper leuchtete, doch nicht nur bläulich, wie es jede feuchte Haut im Mondlicht tat, sondern auf irgendeine Weise auch petrolgrün.

Rabenfarben.

Er wirkte nachdenklich, geradezu frustriert, was ich nicht im Ansatz verstand. Mich erleichterte es zu sehr, aus dieser steinernen Zwischenwelt wieder hinausgekommen zu sein.

Wir hüllten uns notdürftig in die trockenen Sachen und das Handtuch, stolperten bebend zu Marlons Auto und fuhren zu mir nach Hause, da es keiner von uns mehr bis zum Drachenhaus geschafft hätte.

Mein Vater war längst wieder daheim. Ich hörte Schritte aus seinem Schlafzimmer, als wir die Wohnung betraten, und während wir uns im Bad abwechselten, hätte ich schwören können, dass er hinter der Tür stand und lauschte. Sollte er ruhig. Wir waren zu erschöpft, um etwas zu tun, das einen unsittlichen Eindruck erwecken könnte. Tatsächlich nickte ich bereits mehrfach kurz ein, als Marlon sich noch die Haare abtrocknete. Gefangen zwischen Schlafen und Wachsein sah ich, wie er aus dem Fenster blickte. Er wirkte unsagbar traurig, aber ich war zu müde, um ihn zu trösten.

Mitten in der Nacht erwachte ich aus einer traumdurchsetzten Leichtschlafphase, weil ich eine murmelnde Stimme hörte.

»Was hast du erwartet?«

Ich rieb mir die Augen und brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass ich im Schlaf gesprochen hatte und davon wach geworden war.

Marlon drehte sich zu mir. »Einen Ausweg«, flüsterte er. »Ich war ein naiver Idiot. Ich dachte, sie wüsste eine Möglichkeit, wie wir … wie ich …« Er legte einen Arm über sein Gesicht. »Sie hat mir von sich erzählt, weißt du? Sie verwandelte sich als junges Mädchen in einen Vogel, kehrte aber zurück. Sie verliebte sich in einen Menschen, heiratete und bekam ein Baby. Stephan Olivier.«

»Und dann hat sie ihre Familie wieder verlassen?«

Marlon schüttelte den Kopf. »Ihr Mann war ein kranker Mensch, der sie kontrollierte, einengte und schließlich brutal wurde. Er warf ihr ihren Freiheitsdrang vor und die Sehnsucht nach dem Himmel, die sie immer wieder überkam, und nahm ihr schließlich ihren Sohn weg. Das Kind war damals gerade erst zwei Jahre alt. Sie hat mir erzählt, dass der Kleine Autos liebte. Bei allen Kinderliedern musste sie die Texte ändern und von Autos singen.«

Ich lächelte freudlos. Das war also die Erklärung für das merkwürdige Lied.

»Sie suchte nach ihm«, fuhr Marlon fort, »viele Monate, doch fand ihn nicht. Irgendwann gab sie auf, verwandelte sich und flog zurück zu den Harpyien. Aber der Wunsch, ihren Sohn zu sich zu holen, hat sich nie gelegt.«

Ich musste sehr schwer schlucken. »Doch den hat sein schrecklicher Vater in die Hände der Huntsmen gegeben, aus Hass auf die Harpyien, die ihm seine Frau weggenommen haben.«

»So wird er es gesehen haben«, bestätigte Marlon. »Vielleicht war er ein Mistkerl, mag sein. Oder aber auch nur … von ihr besessen.«

»Von ihrer Magie, meinst du?«

Er antwortete nicht.

Ich schob den Arm von seinem Gesicht, um ihn anzusehen. »Und das macht dir Angst?«

»Nein, Noa.« Selbst in der Dunkelheit sah ich, wie Marlons Augen feucht zu glänzen begannen. »Ich habe geglaubt, dass sie nach ihrem Jungen sucht, um ihn zu sich zu holen. Das hat mir Hoffnung gemacht. Von Anfang an, seit ich die Vermutung hatte, dass es sich um Stephan Oliviers Mutter handelte, dachte ich, sie hätte einen Weg gefunden, einen Menschen zu einem von uns zu machen.«

Mein Herz pumpte einen Schwall Eiswasser durch meine Adern. Ich lag ganz starr. Die Frage pulsierte unausgesprochen zwischen uns: Würde ich ihm folgen? Ins Ungewisse? Nein, schlimmer noch, ins menschliche Nichts?

»Ich würde nicht mit dir kommen«, hörte ich mich wispern. Wie gerne hätte ich etwas anderes gesagt, hätte ich ihm geschworen, bei ihm zu bleiben, wenn es eine Möglichkeit gäbe. Aber wir hatten uns Ehrlichkeit versprochen.

»Ich weiß.« Er strich mir durch die Haare, kämmte meine schulterlangen Strähnen mit den Fingern. »Weil du Noa bist, nicht Magpie. Und das ist gut so, denn darum«, er zögerte, überlegte lange und sprach es dann doch aus, »darum liebe ich dich. Davon abgesehen, gibt es diese Möglichkeit ja auch nicht. Aber man wird doch noch träumen dürfen?«

Tränen brannten in meinen Augen. »Ich muss doch hierbleiben. Würden wir zusammen gehen, gäbe es für uns keinen Grund zurückzukommen.«

»Genau.« Er lächelte zärtlich, nahm meine Hand und legte sie auf sein Herz. »Ich bleibe trotzdem bei dem Namen Magpie, wenn du nichts dagegen hast. Er passt so gut zu dir und ich muss träumen, so lange ich noch kann.«

»Meine Oma sagt immer, wenn Träume Flügel hätten, würde keiner mehr laufen. Ist das nicht witzig?«

»Sehr witzig«, erwiderte Marlon trocken. »Ich schlafe eine Nacht darüber, vielleicht lache ich morgen.« Er schloss die Augen, und entweder schlief er sofort ein, oder er schauspielerte sehr überzeugend.