Kapitel 22
Adrian stürzte sich auf den Dämon und biss die Zähne zusammen, während er sich anstrengte, den Mistkerl nach unten zu ziehen. Kehksut hieb mit einer Hand nach ihm, in der er ein Messer hielt, und erwischte Adrian an der Wange. Dieser aber merkte es gar nicht, denn nun übernahm der Berserker in ihm, und er kämpfte mit derselben Unerbittlichkeit wie in der Eishöhle, hackte mit seinem Schwert auf den Dämon ein und bombardierte ihn mit seiner Magie.
Kehksut setzte alles daran, ihm zu entkommen, und schon schmeckte Adrian erste Vorboten des Triumphs. Wenn er den Dämon töten konnte, würde er Tain und seine Brüder zurückrufen und Tain helfen können, ohne dass der Dämon sie störte.
Er knallte Kehksut den Schwertgriff ins Gesicht und genoss es, die Kieferknochen krachen zu hören. Aus dem Augenwinkel sah er Valerian Drachengestalt annehmen, und lächelte, als Valerians riesiges Gesicht neben Kehksut erschien.
»Mmm, ein Dämonensnack!«
Adrian kämpfte weiter und setzte alles daran, den Dämon nicht entkommen zu lassen. Kehksut schaffte es, sich umzudrehen und einen Schwall schwarze Magie auf Valerian zu schleudern, der vor Wut brüllte, als er zurückgedrängt wurde, und mit den Flügeln schlug, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Er konnte Kehksut nicht mit einem Feuerstrahl attackieren, solange Adrian im Weg war, also verlegte er sich darauf, den Dämon mit seiner gewaltigen Klaue zu packen.
Kehksut lachte. Finsternis strömte aus seiner Brust und traf Valerian mit solcher Wucht, dass es ihm ein Bein geradewegs in den Oberkörper trieb. Er wich zurück und ließ den Dämon los. Diesmal fing er sich nicht noch im Flug ab. Adrian schlang seinen Arm um den Dämon, während Valerian sich noch im Sturz in einen Menschen zurückwandelte und mit einem scheußlichen Knall unten aufprallte. Sabina in Wolfsform huschte zu ihm.
Aus dieser Höhe konnte Adrian unmöglich erkennen, ob Valerian viel passiert war. Er holte mit dem Schwert aus, so voller Rage und Licht von dem Zauber, dass die Todesmagie, mit der ihn der Dämon angriff, an ihm abprallte. Kehksut sah besorgt aus, und Adrian grinste, als er mit Ferrin zum tödlichen Schlag ausholte.
»Adrian!«, schrie Kelly unter ihm. »Amber ist tot!«
Adrian sah für einen Sekundenbruchteil nach unten, wo Kelly am Rand des Kreises stand, dessen Blumen überall verstreut waren. Ihr Gesicht war kummerverzerrt und leuchtete tränennass im roten Licht des Notarztwagens, der herbeigebraust kam. Männer in dunkler Kleidung mit reflektierenden Streifen liefen mit einer Trage auf Amber zu, die reglos am Boden lag.
Kehksut nutzte die Ablenkung. Er trat Adrian ins Gesicht, befreite sich aus seiner Umklammerung und tauchte nach oben in die sich schließende Öffnung ab. Unterdessen blickte Adrian fassungslos nach unten, wo die Männer über Amber gebeugt waren, während der Wind an ihrem langen Gewand zupfte.
Über ihm schloss sich dröhnend der Spalt im Himmel, und ein letztes Mal flammte weißes Licht auf. Dann war alles vorbei, und Adrian fiel zu Boden. Erst im letzten Augenblick dachte er daran, seine Magie zu benutzen, um den Sturz zu verlangsamen und unverletzt zu landen.
Kaum berührten seine Füße die Erde, schritt er übers Gras. Er war sich gar nicht bewusst, wie schnell er ging, vorbei an Sabina, die weinend über Valerian gebeugt war. Der Drachenmann lag nackt und regungslos da. Detective Simon kam von seinem Polizeiwagen aus ebenso schnell herbei wie Adrian. Sie erreichten Amber in dem Moment, als einer der Rettungssanitäter sie für tot erklärte.
Simon blickte Adrian über die Trage hinweg an, sein kantiges Gesicht von blankem Entsetzen erfüllt. Adrian nahm ihn kaum wahr. Sein Schwert fiel mit einem dumpfen Aufprall zu Boden, als er neben Amber auf die Knie sank.
Sie lag so still auf der Trage, ihr Gesicht grau und blutleer im grellen Licht des Notarztwagens. Ja, sie war tot. Ihr Herz schlug nicht mehr, ihr Blut pulsierte nicht mehr, und ihre Lebensessenz schwand rapide. Der Rückstoß der Macht war zu viel für sie gewesen, und sie hatte keine Kraft gehabt, um sich im Sturz abzufangen.
Schweigend schnallte er sie von der Trage ab, ohne auf die Männer zu achten, die ihn aufhalten wollten. Er stieß sie einfach weg und hob Amber an seine Brust. Schon früher hatte er Sterbliche verloren, die ihm etwas bedeutet hatten, aber da empfand er nur Trauer über ihren Verlust, nicht jedoch diesen alles verschlingenden, unermesslichen Kummer.
Er spürte etwas Dunkles neben sich. Es war Septimus, der in die Hocke ging, wobei er sorgsam vermied, dass seine elegante Hose den Boden berührte. Adrian wurde wie durch einen Nebel klar, dass der Dämon so viel schwarze Magie verbreitet hatte, dass Septimus und andere dunkle Kreaturen nun gefahrlos näher kommen und Ärger machen konnten.
»Adrian«, sagte Septimus mit seiner tiefen sanften Stimme, »ich kann sie zurückholen.« Seine Vampirzähne wölbten sich unter den roten Lippen, und seine Augen schimmerten freudig in Erwartung einer Verwandlung.
Einen Moment lang zögerte Adrian. Wenn er ihm Amber gab, würde sie wieder leben, in gewisser Weise jedenfalls, und sie wäre beinahe so stark und unsterblich wie Adrian. Er könnte mit ihr zusammen sein. Aber sie wäre eine Untote, eine Kreatur der schwarzen Magie, und sie würde seiner überdrüssig werden, bis ihre Liebe sich schließlich in Abscheu verwandeln würde. Sie würde wie alle weiblichen Vampire in Septimus’ Club werden: ein sinnliches Wesen, das lebte, um Sex mit seinen Opfern zu haben, während es ihr Blut trank.
»Nein.«
»Besser, als sie zu verlieren.«
»Nein!«, wiederholte Adrian ungleich schärfer. Mit Amber in den Armen richtete er sich auf und wehrte Detective Simon ab, der ihn wütend zurückhalten wollte und ihm irgendetwas zuschrie. »Gib mir mein Schwert!«
Septimus hob es mit gespreizten Fingern auf, als könnte er die Berührung von etwas so Lebensmagischem kaum ertragen, und reichte es ihm. Adrian nahm es und schnitt mit der Klinge die Nacht auf. Ein Spalt erschien, durch den schwaches Licht hinausdrang. Während Septimus und Detective Simon ihn fassungslos anstarrten, schritt Adrian mit Amber durch den Spalt.
Die Nacht verschwand hinter ihnen, als wäre sie nie da gewesen. Sie wurden von kühler Meeresluft empfangen, und jenseits einer japanisch anmutenden Holzterrasse und einem weißen Sandstrand ging die Sonne auf. Zu Hause. Ravenscroft.
Adrian legte Ambers leblosen Körper auf eine dicke Matte. Sie rührte sich nicht und atmete auch nicht mehr. Behutsam nahm er ihr den Blumenkranz ab, den sie immer noch trug, und richtete ihr Kleid mit zitternden Fingern.
»Isis«, rief er leise. Er neigte den Kopf auf Ambers unbewegte Brust und wartete.
Nach einiger Zeit – er wusste nicht, wie lange er so hier gehockt hatte – hob er den Kopf und sah, dass die Sonne hoch am Himmel und Isis am Rand der Terrasse stand. Ihre fast durchsichtige ägyptische Tunika schmiegte sich an ihren Leib, und ihr Kopf war von Hörnern gekrönt, die direkt oberhalb ihrer Ohren herauszuwachsen schienen.
Isis glitt auf ihn zu und legte ihm die Hände auf den Kopf. »Du trauerst, mein Sohn. Das ist natürlich.«
»Ist es nicht!«, erwiderte er mit gebrochener Stimme. »Gib sie mir zurück! Du kannst es.«
Isis schüttelte den Kopf. »Sie ist sterblich. Sterbliche hören auf zu leben.«
Adrians Gesicht war nass von Tränen, ohne dass er gemerkt hatte, sie geweint zu haben. Er wischte sie weg und sah, dass seine Hand blutverschmiert war.
»In Tausenden von Jahren habe ich zum allerersten Mal wahres Glück gefunden«, sagte er rauh. »Du könntest es mich wenigstens fünf Minuten lang auskosten lassen.«
»Und was würdest du damit machen?«, fragte Isis in ihrer Altstimme. »Mit diesen fünf Minuten wahren Glücks?«
»Sie lieben. Gut zu ihr sein. Alles für sie tun.«
»Und wenn es das Beste für sie ist, zu sterben?«
Er wurde wütend. »Lass diese kryptischen Göttersprüche! Du weißt, dass ich sie liebe, du weißt, was sie mir bedeutet. Als du Osiris verloren hast, gabst du nicht auf, bis du ihn gefunden und wieder zum Leben erweckt hast. Tu das auch für mich!«
Isis betrachtete ihn eine ganze Weile stumm. Adrians Hand lag auf Ambers Brust. Er vermisste das Pochen ihres Herzens, ihres Lebens. Mit bebenden Lippen beugte er sich hinunter und küsste sie auf die Stirn.
»Was willst du dafür aufgeben?«, fragte Isis ihn.
Ihre Augen ähnelten seinen: dunkel und unergründlich. Was immer sie denken mochte, man konnte es nicht an ihrem Blick ablesen.
»Meine Unsterblichkeit«, antwortete er. »Macht. Magie. Was immer du willst.«
»Es fiele dir schwer, dich einem weltlichen Leben ohne deine Magie anzupassen. Du könntest es mit der Zeit verabscheuen.«
»Dann lerne ich eben, wie man einen Dosenöffner bedient und den Müll hinausbringt. Aber ich wäre bei ihr, und das allein zählt.«
Isis lächelte matt. »Ich brauche dich als Unsterblichen, Adrian. Ich brauche dich für das, was kommen wird. Deine Brüder werden helfen, aber am Ende musst du zur Stelle sein, um Tain zu helfen.«
»Und deshalb lässt du Amber sterben?«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich fragte, was du aufgeben würdest. Du sagtest, deine Unsterblichkeit und deine große Stärke. Lass mich etwas Schwierigeres wählen. Gib Tain auf. Zieh dich zurück, und lass deine Brüder die Aufgabe übernehmen, ihn zu finden. Heile Amber, lehre sie, liebe sie. Lass Tain los!«
Er schluckte. »Sie könnten ihn verletzen.«
»Das könnten sie.«
»Warum muss ich einen für den anderen opfern?«, fragte er. »Kehksut wollte dasselbe von mir.«
»Kein Opfer – das verlange ich nicht von dir. Ich bitte dich, ihnen zuzutrauen, dass sie ihn finden. So muss es sein, Adrian, damit alle Teile sich wieder zum Ganzen fügen.«
»Erzähl mir jetzt bitte nicht, dass das alles ein ausgeklügeltes Spiel der Göttinnen ist, mit dem sie ihre Kinder auf die Probe stellen oder so etwas!«
Sie lachte. »Du nimmst alles viel zu wörtlich, Adrian. Das hast du immer getan. Denk über mein Angebot nach. Bleib bei Amber, heile und liebe sie. Überlass den anderen die Suche nach Tain.«
Adrian nahm Ambers schlaffe Hand in seine und drückte ihr einen Kuss auf. Isis sagte, er hätte eine Wahl, aber eigentlich war es keine.
Tain und sein Dämon hatten Amber und ihre Schwester ausgesucht, weil sie wussten, dass Amber genau die richtige Frau war, um Adrians Herz zu erobern. Sie wussten, dass Amber ihn von seiner Suche nach Tain ablenken würde, sobald Tain bereit war, mit dem Auslöschen der Lebensmagie auf der Welt zu beginnen.
»Meine Brüder sind sich des Problems nicht einmal bewusst«, sagte er. »Der Ruf versagte.«
»Aber der Hexenzirkel des Lichts ist sich dessen sehr wohl bewusst. Sende sie aus, die Unsterblichen zu finden, und sie werden es beenden. Tain braucht dich.«
Amber braucht mich mehr.
Er wusste, dass er seine Liebe zu Amber hinter sich lassen, sich in die Schlacht stürzen und für die Vergeltung leben lassen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er sich binnen eines Wimpernschlags gegen Amber entschieden. Aber nun lag Amber vor ihm, so nah und zugleich so unendlich fern, und er begriff, dass ein Leben für die Rache entsetzlich leer wäre.
»Bring sie mir zurück!«, forderte er. »Ich habe jahrtausendelang getan, was du wolltest. Tu dies eine für mich!«
»Du überlässt Tain deinen Brüdern?«
»Ja.« Er seufzte. »Mögen die Göttinnen ihnen beistehen!«
»Wir werden.« Isis kam näher, beugte ihre riesige Gestalt vor und küsste ihn auf die Stirn. »Es ist schon geschehen.«
Ambers Lider öffneten sich zögernd, und sie stieß leise Atemgeräusche aus, bewegte sich jedoch nicht. Ganz still lag sie da, ruhig atmend, während Adrian ihre Hand in seiner hielt und sie ansah. Minuten vergingen, bis ihre wunderschönen Augen vom Glanz des Bewusstseins erhellt wurden. Sie schien überrascht.
»Ich war bei der Göttin«, sagte sie verwundert und mit matter Stimme. »Und ich habe dich so sehr vermisst.«
Adrian nahm sie in seine Arme. Isis war fort, und die Schatten am Strand von Ravenscroft wurden länger, aber das hier war ein Ort außerhalb der Realität, in dem die Zeit sich nach einem eigenen Rhythmus bewegte. Er drückte ihr einen Kuss aufs Haar und genoss die seidige Wärme, die das Leben ihr einhauchte.
»Ich habe dich auch vermisst, Süße«, flüsterte er.
In den noch dunklen frühen Morgenstunden des ersten Mai saß Amber mit ihren Freunden am Küchentisch und sah von einem zum anderen. Kelly hatte Manny von Los Angeles eingeflogen, und der Italiener klapperte mit Töpfen und Pfannen, während er ihnen Pancakes, Omeletts und Sonstiges zum Frühstück bereitete.
Amber war in Adrians Armen zu sich gekommen. Da lag sie neben dem Krankenwagen auf der Erde. Sie hatte die Hand ausgestreckt und sein Gesicht berührt, das sich blutig und stoppelig anfühlte. Doch sein Lächeln und sein Blick wärmten sie durch und durch.
Sie erinnerte sich an einen Traum von der Göttin, die sie zur Begrüßung umarmt hatte, und an ihr eigenes Bedauern, weil sie Adrian zurückgelassen hatte. Aus dem Bedauern war rasch brennende Sehnsucht geworden, und dann hatte sie ihn in dem Traum gesehen, wie er sich vorgebeugt und sie aufs Haar geküsst hatte. Gleich darauf war sie wieder in ihrem Garten gewesen, wo das Krankenwagenlicht geblinkt hatte, Detective Simon ungeheuer wütend gewesen war und Kelly geweint hatte.
Sie war gerührt, dass alle so besorgt um sie gewesen waren. Aber mir geht’s gut, ehrlich!, hatte sie ausrufen wollen. Ihre Stimme war zu schwach gewesen, und sie hatte sich einfach Adrian überlassen, der sie auf seinem Schoß gewiegt und geküsst hatte, und obwohl der Zauber versagt hatte, hatte sie sich glücklich gefühlt, ja, geradezu gesegnet.
Die Sanitäter hatten darauf bestanden, sie ins Krankenhaus zu bringen. Valerian war im selben Wagen mitgefahren und hatte während der gesamten Fahrt geknurrt. Sabina hatte ihn ermahnt, ruhig zu sein und die Sanitäter ihre Arbeit machen zu lassen. Am Ende war nichts Schlimmeres herausgekommen als ein gebrochener Arm. Unterdessen hatten die Ärzte in der Notaufnahme festgestellt, dass Amber überhaupt nichts fehlte. Sie waren geradezu überrascht gewesen, wie gesund sie gewesen war, und hatten sie nach Hause geschickt.
Jetzt schenkte sie sich mehr Tee ein, um Mannys himmlisches Brot hinunterzuspülen, und betrachtete ihre Freunde. Sogar Septimus war geblieben, saß entspannt in ihrer Küche und schien sich kein bisschen um den Sonnenaufgang zu scheren, der in einer Stunde bevorstand.
»Also«, fing Valerian an. »Das mit dem Ruf hat nicht geklappt, der Dämon – wie nannte Amber ihn noch gleich? Kehksut? – und Tain laufen nach wie vor frei herum, und wir haben keinen Schimmer, wo die Unsterblichen sind.«
»Wir müssen sie trotzdem finden«, sagte Amber. »Wir müssen sie zusammenbringen, und wenn alles andere nichts hilft, dann eben mit konventionellen Methoden.«
Eigentlich erwartete sie, dass Adrian ihr beipflichtete und ein paar Ideen lieferte, wo sie anfangen könnten, aber er war befremdlich ruhig. Er nahm ihre Hand und umfasste sie, beteiligte sich allerdings nicht an dem Gespräch.
»Ich schätze, da gehört Herumfliegen dazu«, knurrte Valerian und hob demonstrativ seinen Gipsarm. »Mein Flügel ist gebrochen.«
»Schon gut, Schnucki«, sagte Sabina. »Vielleicht lassen sie dich in ein Flugzeug.«
Valerian verzog das Gesicht. »Ich hasse Flugzeuge! Die letzten beiden waren bis zum Anschlag voll mit Vampiren.«
»Du schienst indessen nicht unfroh, dass sie rechtzeitig kamen«, bemerkte Septimus.
»Na ja, mit Vamp-Air zu fliegen war immer noch ein bisschen besser, als auf einer Eisscholle zu krepieren«, erwiderte Valerian missmutig. »Unwesentlich besser, aber trotzdem besser. Und beim zweiten Flug wollte ich einfach schnell hier sein und Adrian den Arsch retten.«
Septimus zuckte nur milde mit den Achseln, und Amber hob winkend die Hand, um sich Gehör zu verschaffen.
»Wir haben keine Ahnung, was der Zauber bewirkte«, sagte sie. »Soweit wir wissen, kann er die Unsterblichen zusammengebracht oder quer über den Globus verstreut haben. Ebenso gut kann es sein, dass er gar nichts bewirkte. Ich werde eine Weile brauchen, bis ich bereit bin, etwas wie diesen Zauber noch einmal zu versuchen, und wer weiß, vielleicht wird Kehksut beim nächsten Mal nicht dazwischenfunken. Auf jeden Fall müssen wir nach Adrians Brüdern suchen, ohne Magie zu benutzen.«
»Klingt anstrengend«, murrte Valerian.
»Aber wir sind ein gutes Team.« Amber sah wieder von einem zum anderen. »Ein Drache, ein Werwolf, ein mächtiger Vampir, ein Filmstar, ein Polizist, falls er mitmachen will, und nicht zuletzt ein Unsterblicher.« Sie drückte Adrians Hand und wunderte sich abermals, wie still er war. Nein, er war mehr als still: resigniert. Das machte ihr Sorge.
Sie fuhr dennoch fort: »Und die beste Quelle von allen ist der Hexenzirkel des Lichts. Sie leben überall auf der Erde verteilt, und die Unsterblichen könnten überall sein. Ich habe ihnen schon gemailt, dass der Zauber versagte. Sie stehen auf Abruf bereit und fragen, was ich als Nächstes machen will.«
»Und was willst du als Nächstes machen?«, fragte Septimus ruhig. Sein Blick wanderte kurz zu Adrian, als würde auch er sich fragen, warum Adrian sich nicht an der Unterhaltung beteiligte.
»Eine Woche lang schlafen.« Sie lachte kurz auf. »Nein, ich werde dem Hexenzirkel sagen, dass er mit allen Mitteln nach den Unsterblichen suchen soll. Ich bitte alle hier, die ich kenne, ihnen zu helfen, selbst wenn das bedeutet, dass sie nach Nepal fliegen müssen, um den Gipfel des Everest abzusuchen. Wir können dieses Haus als Basislager benutzen, nachdem Adrian den Schutz verstärkt hat. Hier können wir auch die Unsterblichen hinbringen, und dann überlegen wir uns, wie wir Tain finden und aufhalten.«
Septimus äußerte einen vorsichtigen Einwand: »Soviel ich über Unsterbliche weiß, ist Adrian der Einzige, der sie hierherschleifen kann. Auf andere hören sie nicht unbedingt.«
Valerian nickte zustimmend. »Und was sagt Adrian der Allmächtige?«
Adrians Augen verfinsterten sich – wie immer, wenn er in einer undurchschaubaren Stimmung war –, und er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Dabei ließ er Ambers Hand los und griff nach seinem Kaffeebecher. »Ich mache bei der Suche nicht mit.«
Alle starrten ihn stumm an. Valerian schien verwundert, Sabina machte den Mund auf, ohne etwas zu sagen, und Septimus zog fragend die Brauen hoch. Nur Kelly betrachtete Adrian sehr nachdenklich.
»Was meinst du mit ›nicht mitmachen‹?«, fragte Valerian. »Wieso sollen wir die ganze Drecksarbeit machen? Tain ist dein missratener Bruder!«
»Ich werde hier sein, um Amber zu helfen«, erklärte Adrian seelenruhig. »Ich finde einen Weg, Kehksut zu töten und Tain zu befreien. Aber ihn und die anderen Unsterblichen aufzutreiben, das überlasse ich euch.«
Valerian wirkte zusehends entgeistert. »Dann haben wir also nicht bloß keine Ahnung, wo wir anfangen sollen, zu suchen, sondern du kneifst auch noch?«
»Ich kneife nicht«, korrigierte Adrian ihn. »Ich halte mich bedeckt. Sollen meine Brüder sich zur Abwechslung einmal der Probleme annehmen.«
»Verstehe … Du willst, dass vier durchgeknallte Unsterbliche herumlaufen statt nur einer.«
»Ich kann sie nicht bändigen«, sagte Adrian. »Aber wenn ihnen klar wird, dass die Gefahr zu groß ist, werden sie eingreifen. Das Problem ist nicht, sie zu überreden, Tain zu finden, sondern vielmehr, ihm nichts zu tun, wenn sie ihn haben. Und dafür brauche ich euch.« Er sah alle am Tisch an.
Valerian schüttelte den Kopf und starrte finster in seinen Kaffee. »Wenn ihr mich fragt: Diese Geschichte wird immer witziger!«
Ein Grinsen huschte über Adrians Lippen, aber es verschwand gleich wieder. »Kehksut dürft ihr ruhig in kleine Scheibchen hacken. Dagegen hätte ich nichts.«
Amber saß schweigend da. Mit keinem Wort hatte Adrian erwähnt, dass er beschlossen hatte, sich zurückzulehnen und den Hexenzirkel sowie seine Freunde die Welt allein retten zu lassen. Sie erwartete von ihm, dass er mit ihnen da draußen kämpfte, sobald er erst geduscht und etwas gegessen hatte. Vor allem aber musste er sich wieder auf die Suche nach Tain machen, um ihn davon abzuhalten, noch mehr Unheil anzurichten.
Adrian sah sie kurz an, doch wieder einmal konnte sie seinen Blick nicht deuten. Sie wollte ihn fragen, und sie spürte, dass auch die anderen eine Menge Fragen hatten, aber sie hielt den Mund.
Mehr war offensichtlich nicht zu sagen. Amber schob ihren Tee beiseite und sagte, sie würde den Hexenzirkel kontaktieren. Die anderen verzogen sich und ließen sie mit ihrem Computer allein.
Die nächste Stunde verbrachte sie damit, Fragen zu beantworten und den Hexen zu erklären, was sie tun sollten: Sucht nach den Unsterblichen Darius, Hunter und Kalen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie aussahen, wenngleich Adrian ihr einiges erzählt hatte. Sie wusste nur, dass jeder von ihnen irgendwo auf dem Körper ein Pentagramm trug.
Amber fügte ein paar gemeinsame Merkmale hinzu, die sie an Adrian und Tain gesehen hatte: kräftig gebaut, auf eine rohe Art gutaussehend, mit erstaunlicher Kraft gesegnet und unglaublich magisch. Alle Hexen aus dem Zirkel versicherten ihr, sich sofort auf die Suche zu begeben und sich zurückzumelden, sobald sie etwas hatten. Außerdem versprachen die Hexen, die online waren, jene auf dem Laufenden zu halten, die keinen Internetzugang hatten.
Schließlich seufzte Amber, streckte ihre müden Finger und stand auf. Im Haus war alles still. Sie hatte gehört, wie Septimus und Kelly zusammen mit Manny abgereist waren, und Valerian hatte Adrian sehr laut erklärt, er würde Sabina nach Hause bringen. Die Werwolfsfamilie schien es ihm angetan zu haben.
Amber machte sich auf die Suche nach Adrian und fand ihn in der Küche, wo er das schmutzige Frühstücksgeschirr ziemlich fantasievoll in den Geschirrspüler räumte.
»Du musst die Teller erst abspülen«, erklärte sie und lehnte sich gegen den Türrahmen.
Adrian hielt einen sirupverschmierten Teller hoch. »Ich dachte, die Maschine soll den sauber machen?«
Langsam ging sie auf ihn zu. »Tut sie auch, aber schöner, wenn man ihn vorher abspült.«
Adrian zuckte mit den Schultern, holte die Teller wieder heraus und stellte sie in die Spüle. Dann drehte er das Wasser auf, so dass das Rauschen jede Unterhaltung unmöglich machte.
Amber langte um ihn herum und stellte den Wasserhahn ab. »Wann wolltest du mir alles erzählen?«
Für einen Moment blickte er betont unschuldig, als wollte er fragen: Was erzählen? Stattdessen stützte er sich mit den Fäusten auf der Spüle auf und starrte auf die nassen Teller und Pfannen.
»Ich hatte gehofft, dass dir nicht auffällt, dass ich immer noch hier bin.«
Sie lachte unsicher. »Klar, Adrian! Und wie sollte ich das nicht mitbekommen? Ich meine, um nur ein Beispiel zu nennen: Du trägst eine Kobra am Arm!«
Er sah sie an. »Ich habe meine Wahl getroffen. Erinnerst du dich, wie Kehksut mich aufforderte zu wählen? Ich sollte entscheiden, ob du von der Folter verschonst wirst oder Tain. Und ich habe dich gewählt – für immer.«
Amber kräuselte die Stirn. »Was hat der Dämon mit deiner Suche nach deinen Brüdern zu schaffen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Die Göttinnen führen irgendetwas im Schilde. Ich habe zwar keine Ahnung, was, aber Isis will auf jeden Fall nicht, dass ich mich einmische. Sie sagte mir, ich solle mich von meiner Besessenheit verabschieden, Tain zu finden, und alles meinen Brüdern überlassen. Im Gegenzug bot sie mir an, hier bei dir zu bleiben, und ich nahm an.«
»Warum solltest du?«, fragte Amber erschrocken. »Adrian, ich fühle mich geschmeichelt, dass du gern mit mir zusammen bist, aber hierzubleiben wird dich verrückt machen. Ich komme mit dir. Lass mich ein paar Tage ausruhen, dann bin ich bereit.«
Er brachte sie zum Verstummen, indem er sie gegen den Küchentresen lehnte und küsste. Seine starken Hände umfassten ihre Schultern, während seine Zunge in ihren Mund drang.
»Du bist den Preis wert«, flüsterte er.
Seine Augen waren dunkel, die Pupillen schwarz, geweitet und von denselben wirbelnden Funken erfüllt wie damals, als sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten. Mit jeder Faser ihres Seins sehnte Amber sich danach, genau das wieder zu erleben.
Er glitt mit den Händen über ihren Rücken und unter den Bund ihrer Jeans. Gleichzeitig rieb er seine Erektion an ihr. Mühelos zerriss Adrian die Nähte ihrer Hose, um sie besser streicheln zu können. Amber schmiegte sich an ihn und erwiderte seinen Kuss.
Doch inmitten des einsetzenden Liebestaumels kam ihr ein Gedanke, und sie öffnete die Augen.
»Welchen Preis?«, fragte sie atemlos.
Adrian riss ihre Jeans noch weiter auf, bis sie ihr schließlich zu Füßen fiel. Dann hob er Amber hoch und setzte sie auf den Tresen, die Hände auf ihren Oberschenkeln.
Sie wollte ihn wegschieben, aber der Mann war ein Muskelberg. »Adrian, welchen Preis?«
Statt zu antworten, spreizte er ihre Beine, stellte sich zwischen sie und hakte ihre Knie über seine Arme. Amber funkelte ihn wütend an, wenngleich ihr Körper sie anflehte, den Mund zu halten und alle Fragen auf später zu verschieben.
»Ein Versprechen, das ich Isis gab. Aber darüber möchte ich jetzt nicht reden«, sagte Adrian schließlich.
»Ich schon!«
Er zog an ihrem Slip, bis auch der zerriss und sie die kühle Luft direkt an ihrer Scham fühlte.
»Ich schon«, wiederholte sie, allerdings weniger energisch.
»Später.« Er küsste sie wieder, voller Ungeduld.
»Jetzt!« Sie legte ihre Hände auf seine. »Was hast du Isis versprochen? Dass du aufhörst, Tain zu verfolgen? Warum?«
»Verdammt!« Adrian hob den Kopf. Und auch wenn er keinen Millimeter zurückwich, hatte Amber doch das Gefühl, er würde sich von ihr entfernen. »Ich wollte es dir nicht sagen.«
Klopfenden Herzens wartete sie.
»Es war der Preis für dein Leben«, sagte er leise. »Isis gab mir dein Leben zurück, und ich versprach dafür, die Suche nach Tain aufzugeben.«
Amber erstarrte. »Mein Leben?«
Sie erinnerte sich an Lichtblitze in der letzten Nacht, an den Dämon, der sie mit seiner Todesmagie gepackt hatte, und an den Rückstoß des Zaubers. Außerdem war da ein unsagbarer Schmerz gewesen, gleich danach jedoch Frieden. Und als sie die Augen geöffnet hatte, hatte Adrian sie angelächelt. Sein Gesicht war blutverschmiert gewesen, und sein Wappenrock hatte ihm in Fetzen vom Leib gehangen.
»Ich war in Lebensgefahr? Aber die Ärzte sagten, mir ginge es gut …«
»Du warst gestorben«, erklärte Adrian ruhig. »Kehksut tötete dich und brach den Zauber. Ich brachte dich nach Ravenscroft, und Isis gab dir dein Leben zurück.«
Amber verstand gar nichts mehr. »Wieso sollte sie? Ich bin nur eine sterbliche Hexe, niemand Wichtiges.«
»Weil ich sie darum bat. Ich bat sie, es für mich zu tun, denn ich war noch nicht bereit, dich aufzugeben.«
»Oh!« Sie bemühte sich, alles zu begreifen, aber was er ihr erzählte, war unglaublich: tot, Ravenscroft, Isis, ihr Leben zurückgegeben? »Ich bin aber doch nicht so eine Art Zombie oder Vampir oder so?«
»Nein, es ist ein richtiges Leben, verstärkt durch die Lebensmagie einer Göttin.«
Sie lächelte unsicher. »Tja, kein Wunder, dass ich mich so beschissen fühlte, als ich aufgewacht bin.«
»Ich war noch nicht so weit, dich aus meinem Leben verschwinden zu lassen«, sagte Adrian und strich ihr das Haar aus der Stirn. »Falls du willst, dass ich gehe, musst du es nur sagen, dann bin ich weg.«
Eine ganze Weile betrachtete Amber ihn schweigend – sein kantiges Gesicht, die zarten Falten in seinen Augenwinkeln, das dunkle Haar, das über über die hohe Stirn fiel. Er war so stark und innerlich so zerrissen. Er lachte, wenn er zum Töten auszog, und weinte, als er erstmals die Zeichnungen von Tain sah.
Amber berührte Ferrin, der als Silberreif um Adrians Oberarm geschlängelt war. »Ich will, dass du bleibst«, flüsterte sie.
»Ich ließ dich durch die Hölle gehen, und du bist meinetwegen gestorben.«
»Nicht nur deinetwegen. Letzte Nacht wurde ich verwundet, weil ich dachte, ich könnte den Zauber beherrschen, weil ich dachte, ich könnte dir helfen, deine Brüder und Tain zu finden und die Welt zu retten. Ich hätte den Zauber einer mächtigeren Hexe überlassen sollen, aber ich bin genaus egoistisch, wie Susan es war, und genauso blöd.«
»Nicht blöd – mutig!« Er strich ihr sanft über die Wange. »Susan hatte keine Ahnung, worauf sie sich da einließ. Du wusstest es und hast trotzdem den Dämon gejagt. Du hast mich befreit, als er mich folterte. Auf Schritt und Tritt bist du mir gefolgt und hast du mir geholfen.«
»Jetzt werd nicht rührselig!«, ermahnte sie ihn lächelnd und küsste ihn. »Wir wollten gerade zum netten Teil kommen.«
Wieder trat das Funkeln in seine Augen. »Netten Teil?«
»Na, ich hoffe doch, du hast mir nicht die Klamotten zerrissen und mich hier raufgesetzt, nur damit ich keine Fragen mehr stelle.«
»Eigentlich nicht.«
»Tja dann.« Sie schlang die Arme um seinen Nacken. »Legen wir los! Hinterher denken wir zwei uns etwas aus, das wir tun können, während die anderen nach deinen Brüdern suchen.«
Er lächelte verführerisch. »Was glaubst du, weshalb ich sagte, du seist den Preis wert? Weil ich das hier nun so oft tun kann, wie ich will.«
Mit diesen Worten glitten seine Hände erneut über ihre Schenkel, und seine Daumen tauchten in ihre Scham ein.
Amber legte beide Hände an seine Wangen und küsste ihn. »Liebe mich!«
»Das war meine Absicht«, erwiderte er, streifte sich in Windeseile seine Hose ab und ließ Amber ein weiteres Mal sehen, dass er sich die Unterwäsche gespart hatte.
Amber warf den Kopf in den Nacken und lachte vor Wonne zur Decke hinauf, als Adrian tief in sie eindrang. Und dann nahm er sie fest in die Arme.
»Ich liebe dich«, sagte er. »Ich liebe dich, meine Hexe!«
»Und ich liebe dich«, flüsterte sie und stöhnte, als sie sich dem Höhepunkt näherte – zu früh, viel zu früh. »Willkommen daheim!«Danksagung