13. KAPITEL

Dreieck

„Das ist er. Das muss er sein.“

Ich ignorierte Cyrus’ Ausruf. Mindestens schon fünfmal, seitdem wir unterwegs waren, meinte er, Clarence erkannt zu haben. Ich hatte den Wagen nah, aber nicht zu nah an der Villa geparkt.

„Das ist er nicht.“ Ich brauchte noch nicht einmal genau hinzuschauen, um zu erkennen, dass der Mann nicht Clarence war. „Was ist mit dir los? Hast du dir den Mann niemals angesehen?“

„Ich habe ihn angesehen“, gab Cyrus ein wenig dümmlich zu. „Aber nicht so häufig.“

„Weil du ein arroganter, herrschsüchtiger Arsch bist.“ Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück und schloss die Augen. Es lag nicht daran, dass ich nicht genug Schlaf bekommen hatte. Es war einfacher, Cyrus zu ignorieren, wenn ich vorgab, bewusstlos zu sein.

Dieser Traum hatte mich wirklich durcheinandergebracht. Sogar Cyrus fühlte es, auch wenn er ein schamloser Mensch war. Da ich jetzt wieder durch die Blutsbande mit ihm verbunden war, fühlte ich mich wieder zu ihm hingezogen. Es war verhext. Aber seine Anziehungskraft war nie wirklich verschwunden. Ich denke, sie hatte nur eine Art Winterschlaf gehalten, während er kurzzeitig ein menschliches Wesen gewesen war.

Es gab keinen Weg, diese Beziehung wieder aufleben zu lassen. Ich liebte Nathan, und beinah liebte er mich auch – jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich es wieder vermasselte. Auch wenn wir uns nicht allzu gut verstanden, wäre es für Nathan ein Schlag ins Gesicht, wenn ich wieder mit Cyrus schliefe.

Cyrus sah von Minute zu Minute gereizter aus. „Warum lässt du mich nicht hineingehen, und ich spreche dann alleine mit Dahlia?“

„Weil sie dich filetiert hat, das letzte Mal, als ihr euch alleine gesehen habt und …“ Ich zwinkerte. „Du versuchst es doch bei jeder, oder?“

„Na ja, es gibt da eine, die bombardiert mich mit pornografischen Träumen.“ Er deutete auf die Straße: „Das ist er!“

„Ist er nicht. Dieser Typ ist mindestens eins neunzig und wahrscheinlich zwanzig Jahre jünger als Clarence.“

„Mindestens“, wiederholte Cyrus und sah mich irritiert an. „Tut mir leid, er sah ihm nur so ähnlich.“

„Warum? Weil er schwarz war?“ Natürlich musste ich einen weißen Herrenmenschen verwandeln.

„Weil es dunkel ist und ich nicht gut sehen kann. Offensichtlich hat es seine Wirkung, wenn man bei der letzten Wiedergeburt beide Augen verloren hat.“ Hilflos hob er die Hände. „Ich bin genauso überrascht.“

„Wir sollten dir eine Brille besorgen“, dachte ich laut nach und suchte den Bürgersteig ab. „Da ist er!“

Ich erkannte ihn daran, dass er vornübergebeugt ging und sich nah an der Mauer hielt. Seine Kleidung war sehr alt, um nicht zu sagen anachronistisch. Das war mir schon damals in Cyrus’ Herrenhaus aufgefallen, wo er von Antiquitäten umgeben gewesen war, aber hier auf der Straße wirkte er wie eine Figur aus dem viktorianischen Zeitalter. Und er bewegte sich schnell wie eine Spinne auf das Haus zu.

„Er ist es!“, stellte Cyrus fest. „Mir ist nie aufgefallen, dass er so seltsam aussieht.“

„Du bleibst hier“, befahl ich und öffnete die Tür. „Ich bin gleich zurück.“

Ich gab ihm keine Chance, dagegen zu argumentieren und schlug die Tür hinter mir zu. Clarence hatte schon fast das Tor zum Dienstboteneingang erreicht, und ich musste laufen, um ihn einzuholen.

„Clarence!“ Als ich seinen Namen rief, schien er geschockt zu sein. Er sah mich, und einen Moment lang glaubte ich, er würde davonlaufen. Aber etwas in seiner Haltung als Dienstbote schien ihn zu bremsen, und er wartete geduldig, bis ich bei ihm war.

„Doktor, was machen Sie denn hier? Wollen Sie getötet werden?“ Besorgt schaute er zum Haus. „Sie ist außer sich, weil Sie irgendetwas getan haben. Ich weiß nicht, was, aber sie ist nicht besonders glücklich.“

„Darum bin ich ja hier“, erklärte ich ihm. „Ich muss mit ihr reden.“

Clarence riss seine braunen Augen auf. „Haben Sie gehört, was ich gerade gesagt habe? Sie wird Sie töten. Sie tobt und zetert, um Gottes willen. Wenn Sie dieses Haus betreten, dann sind Sie dümmer, als ich dachte.“

Ich ignorierte, dass er zwischen den Zeilen sagte, er habe schon vorher geglaubt, ich sei nicht besonders intelligent. „Darum brauche ich Ihre Hilfe.“

„Hilfe? Wieso?“ Er sah mich misstrauisch an. Dann dämmerte es ihm, und er drehte sich um.

„Nein. Ich will nicht, dass Sie Dahlia töten! Ich will ihr nur auflauern. Cyrus hat gesagt …“

„Cyrus?“ Seine Stimme war voller Angst. „Er ist tot.“

„Jetzt ist er wieder da.“ Das hätte ich ihm besser nicht verraten sollen. Genauso gut hätte ich Cyrus mit seinem Vampirgesicht auf Clarence loslassen können. Auf der anderen Seite wunderte Clarence sich vielleicht gar nicht so sehr darüber, dass jemand, der tot war, wieder lebendig wurde. Schließlich arbeitete er doch für Vampire. Wahrscheinlich war er schon Schlimmeres gewohnt.

„Er kann nicht hierher zurückkommen.“ Clarence schüttelte den Kopf, als könne er damit etwas oder jemanden aufhalten.

„Ich hoffe, das wird er nicht tun.“ Das könnte ein Druckmittel sein. Wenn Clarence Angst vor Cyrus hatte … „Eigentlich schickt mich Cyrus her. Er möchte wissen, ob Dahlia etwas mit dem Souleater zu tun hat.“

Es war ihm anzusehen, dass es ihn schauderte. „Irgendwie haben sie miteinander zu tun, aber ich weiß nicht, wie.“

„Vielleicht könnten Sie mir helfen, das herauszufinden. Es könnte helfen, Cyrus vom Haus fernzuhalten, wenn ich es selbst in Erfahrung bringe.“ Ich benutzte seinen Namen wie eine Waffe.

Clarence durchschaute meinen Plan. „Sie werden ihn von nichts abhalten können. Versuchen Sie das erst gar nicht.“

Ständig unterschätzte ich diesen Mann. „Wie wäre es, wenn ich es mit ‚Sie sind mein Freund, Sie sollten mir helfen?‘ versuche?“

Er lachte. „Wie wäre es mit ‚Sie sind nicht meine Freundin und warum fragen Sie nicht noch einmal nach, wenn Sie mir dafür etwas anbieten können‘?“

Langsam bewegte er sich auf das Tor zu, und ich machte einen Schritt auf ihn zu, als wollte ich meine Hand auf seine Schulter legen.

Schlechter Schachzug.

Blitzschnell wirbelte er herum und funkelte mich mit zornigen Augen an. „Vampire versuchen nicht, mit mir ins Geschäft zu kommen.“

Ich dachte an die zweite Nacht, die ich in Cyrus’ Haus verbracht hatte, als Clarence mir all die Narben zeigte, die er von früheren Kämpfen davongetragen hatte. Daran hätte ich mich erinnern müssen.

Er verschwand in den Schatten zwischen den Steinsäulen, und das Tor wurde geschlossen. Ich dachte, es hätte keinen Sinn mehr, bis ich seine Stimme wieder aus der Dunkelheit hörte. „Ich weiß, wie ich auf mich aufpassen kann. Und ich kümmere mich um Ihren Freund. Sie kommen morgen Abend zurück, dann erhalten Sie Ihre Antworten.“

Ich stand mit offenem Mund auf dem Bürgersteig. Wahrscheinlich sah ich aus wie ein Karpfen. „Also, Sie helfen mir?“

„Ich werde mich nicht noch einmal wiederholen!“, fuhr er mich an. Ich hörte, wie er schnellen Schrittes über die geteerte Auffahrt davonging, und wandte mich zurück zum Auto.

Cyrus stand auf dem Bürgersteig und verschränkte arrogant die Arme vor der Brust. „Das lief ja super.“

„Steig ein, bevor ich dich überfahre.“ Was zum Teufel meinte Clarence damit, dass ich meine Antworten erhalten würde?

Auf dem Weg nach Hause schwieg Cyrus, aber er lächelte ununterbrochen in sich hinein. Ich parkte vor dem Gebäude und drehte mich dann zu ihm um, um ihn zu fragen, was sein Problem sei. Das war ein großer Fehler. Er warf sich auf mich, sodass er mich zwischen Sitz und Tür fast einklemmte.

„Was im Himmel willst du …“ Meine Wut konnte ich nicht äußern, da er mich mit aller Inbrunst küsste. Ich war zu geschockt, um zu reagieren.

Schließlich lehnte er sich zurück und strich mir die Haare aus dem Gesicht. „Du empfindest immer noch etwas für mich. Sonst hättest du nicht diesen Traum gehabt …“

„Aber es war doch nur ein Traum!“, erklärte ich. „Weißt du? Diese Bilder in deinem Kopf, die man nicht kontrollieren kann?“

„Die aus deinem Unterbewusstsein stammen und deine innersten Wünsche darstellen?“ Er hielt inne. „Und deine Ängste. Hast du immer noch Angst vor mir, Carrie?“

Ich spürte Erregung und Furcht mein Rückgrat hinabrinnen. „Nein. Ich habe keine Angst vor dir.“

„Du lügst.“

Er kam wieder auf mich zu, um mich noch einmal zu küssen, als hinter mir die Tür aufging. Ich fiel auf den Bürgersteig. Als mein Hinterkopf auf das Pflaster knallte, sah ich ein helles Licht vor meinen Augen.

Bevor mir klar wurde, was passierte, stieg auch Cyrus aus dem Wagen. Offensichtlich hatte er sich nicht im Griff. Ich hörte, wie er sich halbherzig entschuldigte – oder war es eine Erklärung? –, dann wurde er still, und ich hörte nur noch das Geräusch von aufeinanderprallenden Fäusten.

Ich versuchte, wieder aufzustehen. Ich musste mir auf die Zunge gebissen haben, denn ich schmeckte Blut. Schwankend stand ich auf dem Bürgersteig und begann, wieder klar zu sehen. Ich sah Cyrus an die Steinmauer gepresst, während Nathan ihm mit seinem Unterarm die Kehle zudrückte. Nathans Faust sauste auf Cyrus’ Nase und erzeugte dort ein ekelerregendes Geräusch, ein feuchtes Knacken.

Wie hypnotisiert stand ich da, während ich Nathan dabei beobachtete, wie er die Kontrolle über sich verlor und um sich schlug. Nie zuvor hatte ich ihn so gesehen, selbst nicht, als er mit Cyrus um mein Leben gekämpft hatte. Cyrus’ Augäpfel rollten nach hinten, während er schlaff in Nathans Armen hing.

Der Schmerz in meinem Kopf war unerträglich. Cyrus’ düstere Gedanken verwoben sich mit meiner Angst, und ich schrie Nathan an, er solle endlich aufhören. Ich hasste es, dass ich mich so flehend anhörte, aber ich hätte alles dafür gegeben, damit er von Cyrus abließ.

Auf meinen Knien flehte ich Nathan an, ihn am Leben zu lassen. Ich bettelte für Cyrus, den Mann, der mich misshandelt und gequält hatte, der mich hatte töten wollen, der mein Herz an seinen scheußlichen Vater geschickt hatte wie Essen, das man zum Mitnehmen bestellt.

Schließlich geschah etwas mit Nathan. Er ließ Cyrus los, der bewusstlos zu Boden rutschte. Nathans Gesichtsausdruck war schwer zu deuten, und einen Moment lang hatte ich an seiner Stelle ein schlechtes Gewissen. Das wich allerdings, als er sich mir näherte und mich an meinem Oberarm festhielt, indem er seine Finger in mein Fleisch krallte.

Er zerrte mich zur Tür, aber ich wehrte mich, denn ich wollte Cyrus nicht allein lassen. Meine Beine gehorchten mir nicht, als mich Nathan die Treppe hinaufschleppte. Bei jeder Stufe spürte ich einen Schmerz in meinen Beinen, meine Füße rutschten ab, und ich drohte zu fallen. Endlich gab ich es auf, mich ihm zu widersetzen, und ließ mich von Nathan ins Schlafzimmer ziehen. Er schob mich durch die Tür und knallte sie zu. Ich zerrte an der Klinke, aber er hielt sie von außen zu.

Ich handelte nicht mehr rational. Ich musste zu Cyrus. Die Sicherheit, dass er sterben würde, wenn ich nicht zu ihm gelangte, wenn ich ihn nicht beschützte, erfüllte mich. „Lass mich raus!“

Er antwortete nicht.

„Nathan, lass mich zu ihm! Er wird da draußen sterben!“ „Lass ihn verbrennen!“ Ich hörte die Dielen knarren, als sich Nathan mit dem Rücken gegen die Tür setzte.

Nie in meinem Leben hatte ich mich so hilflos gefühlt wie in diesem Moment. Es war ein schrecklicher Gedanke für mich, dass mir die Hände gebunden waren, während draußen mein Zögling hilflos auf der Straße lag. Meine Frustration brach aus mir heraus, indem ich Nathan furchtbar beschimpfte – er empfinde nichts für mich, er sei nicht in der Lage, sich um einen Menschen zu kümmern, er würde Cyrus so sterben lassen wie Ziggy und Marianne.

Auch wenn ich wusste, dass meine Worte uns beiden schaden würden, konnte ich nichts dagegen tun, dass ich sie aussprach. Ich konnte noch nicht einmal die Kraft aufbringen, mich dafür zu entschuldigen, was ich gesagt hatte. Bis zu diesem Moment glaubte ich, die Macht der Blutsbande verstanden zu haben. Aber ich hatte sie extrem unterschätzt. Ich musste mir eingestehen, dass ich meine Beziehung zu meinem Schöpfer zerstörte, indem ich versuchte, meinen Zögling zu beschützen. Und es gab für mich keinen Zweifel mehr, dass diese Zerstörung vollständig sein würde.

Auf der anderen Seite der Tür blieb Nathan still, aber ich konnte spüren, wie wütend er war, während ich ihm einen letzten bösartigen Stoß versetzte. Ich hatte keine Kraft mehr. Also legte ich mich auf den Boden und schlief ein, wachte immer wieder auf, um kurz darauf wegzudösen. Schließlich wachte ich ganz auf und bemerkte, wie viel Zeit verstrichen war. Die Tür stand offen. Nathan war verschwunden.

Draußen war es immer noch dunkel. Ich sah auf die Uhr in der Küche: Bis zum Sonnenaufgang würde es nicht mehr lange dauern. Es gab noch eine Chance für Cyrus. Ich riss die Wohnungstür auf und wollte gerade die Treppe hinunterstürmen, als ich die Notiz las, die auf der Fußmatte lag: „Sieh in deinem Zimmer nach.“

Sonst stand dort nichts, weder eine Erklärung, wo sich Nathan aufhielt, noch was er vorhatte. Ich ging zu meinem Zimmer. Die Tür stand offen. Cyrus lag im Bett, auf dem zerwühlten Bettzeug, seine blutige Kleidung klebte zerknittert an seinem Körper. Sein Gesicht war sauber gewischt, aber es war klar, dass die Wunden, die ihm Nathan zugefügt hatte, länger als einen Tag würden heilen müssen.

Das hatte Nathan getan. Er hatte es getan, um mir zu schaden und um Cyrus zu verletzen. Er hatte es getan, um sein Bedürfnis nach Rache zu befriedigen. Seine Rache war reiner Selbstzweck gewesen. Er hatte nicht überlegt, was sie für uns bedeuten würde. Ich war zwischen Zorn und Bewunderung hin- und hergerissen. Ich wartete schon lange darauf, dass Nathan einmal seinen selbstzerstörerischen Neigungen, die er so lange unterdrückt hatte, nachgeben würde. Mir tat es nur leid, dass mein Zögling darunter leiden sollte.

Mir tut es nur leid, dass er nicht an der Ecke darauf wartet, bis die Sonne aufgeht, damit sie ihn zu Cornflakes verbrennt. Er hat keine moralischen Maßstäbe.

Cyrus öffnete ein geschwollenes Auge, um seinen Gedanken mit einem entsprechenden sarkastischen Zwinkern zu unterstreichen, aber diese winzige Bewegung ließ ihn schon aufjammern. Er war so mitleiderregend, ich konnte nicht anders, als ihn zu bedauern.

Eine Stimme in mir gab ihm recht, denn ich war Cyrus’ Schöpferin. Eine zweite sagte mir, es sollte mir leidtun, was ich zu Nathan gesagt hatte. Aber ich konnte an nichts anderes denken, als dass Nathan mich von meinem Zögling getrennt hatte. Und wie würde er sich fühlen, wenn mich jemand zusammenschlagen und auf dem Bürgersteig sterben lassen würde? Ich schlüpfte zwischen Tür und Bett und kniete mich neben Cyrus.

Ich will dein Mitleid nicht. Wieder hörte ich seine Stimme in meinem Kopf.

Ich zog ihm Schuhe und Strümpfe aus, und dankbar bewegte er die Zehen. „Das weiß ich doch“, sagte ich lächelnd. „Aber du bist mein Zögling. Ich muss auf dich aufpassen.“

Er streckte die Hand nach seinem Hosenschlitz aus, aber ich schob sie beiseite, um seine Hose für ihn aufzumachen. „Ich kümmere mich um dich, okay?“

Danke. Bevor er sich in die Kissen sinken ließ, nahm er kurz meine Hand. Ich glaubte, dass er wieder ohnmächtig geworden war.

Ich zog ihm die Sachen aus, die steif waren durch das getrocknete Blut, und zog die Decke über uns beide, während ich mich zu ihm in das schmale Bett legte. Zärtlich küsste ich ihn auf die Stirn und streichelte seine Haare. Ich spürte nur eine absolute, bedingungslose Liebe zu ihm.

Im Flur knarrten die Dielen, und als ich aufsah, stand Nathan in der Tür und beobachtete uns. Er entschuldigte sich nicht, aber in seinem Blick nahm ich etwas wahr, das alles erklärte. Es tat ihm leid, was er getan hatte, und dieses Bedauern stillte meine Wut weitestgehend.

Er deutete auf Cyrus, wie man sonst nur eine Fliege verscheuchen würde. „So fühle ich mich auch, was dich angeht, weißt du?“

„Nein, das wusste ich nicht.“ Ich drehte mich zu Cyrus um und sandte Nathan durch die Blutsbande all meine Erleichterung, dass Cyrus überlebt hatte, und meine Liebe zu ihm – zum Teil auch noch aus der Zeit, in der ich ihn wirklich geliebt hatte.

„Denn du hast es mir nie gesagt.“

Ich weiß nicht, ob er darüber überrascht war, was ich gerade gesagt hatte, oder ob er meine Gefühle meinem Zögling gegenüber unterschätzt hatte. Als er wieder sprach, war seine Stimme heiser und leise. „Das fühle ich auch für dich. Und mehr.“

In diesem Moment war ich unsicher. Ich hatte das Gefühl, meine Schultern würden bleischwer, so angespannt war ich. Hieß das, dass wir jetzt wieder zusammen waren oder dass wir uns endgültig getrennt hatten?

Als Nathan wieder ansetzte, etwas zu sagen, sah er mir geradewegs in die Augen. „Und ich hätte dieselben Gefühle, auch wenn du nicht mein Blutskind wärest.“

Ich wollte aufstehen, aber Cyrus’ Gedanken hielten mich zurück. Bitte, bleib bei mir.

Nathan verstand mein Zögern und nickte. „Heute bist du bei ihm. Ich kann dich jeden Tag haben.“

Das schlechte Gewissen nagte an mir, und ich konnte Nathan jetzt nicht den Rücken zukehren. „All das, was ich gesagt habe …“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.“ Er schüttelte den Kopf, als könne er so den Schmerz loswerden, den ich ihm zugefügt hatte.

„Nathan, ich …“

„Entschuldige dich nicht“, wiederholte er. „Denn du hast es genauso gemeint, wie du es gesagt hast.“

„Du weißt, dass das nicht wahr ist.“

Er hob eine Hand. „Lass. Carrie, du wolltest mir wehtun. Wenn du das alles nicht so gemeint hättest, dann hätte es nicht so wehgetan. Also entschuldige dich nicht dafür.“

Mir traten Tränen in die Augen, und ich konnte nicht sprechen, denn meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich hätte auch dann nichts sagen können, wenn er es mir gestattet hätte.

Nathan richtete sich im Türrahmen auf und schob die Hände in die Taschen. „Wir sehen uns nach Sonnenuntergang.“

Er drehte sich um, und endlich konnte ich sprechen. „Willst du nicht wissen, wie die Begegnung mit Clarence war?“

Ich sah, wie er unter seinem T-Shirt die Muskeln anspannte. Ich wusste, dass er sich Hoffnungen machte und dass er zugegebenermaßen stolz darauf war, wie gut es in der Villa gelaufen war. In anderen Worten wusste er, dass ich ihm erklären wollte, was ich vorhatte, um mich in der zweiten Phase meines Planes in wirkliche Gefahr zu begeben. „Okay. Wie war es?“

„Es war gut. Er sagt, er würde uns helfen.“ Ich wünschte, es hätte mehr Einzelheiten gegeben, die ich ihm hätte berichten können, jetzt, da ich mit dem Thema schon mal angefangen hatte.

„Wobei will er helfen?“ Nathan klang nun amüsiert. Es war ein freundlicher Ton, der mir das Herz wärmte.

„Ich weiß es nicht. Ich bin heute Nacht wieder mit ihm verabredet.“

Nathan holte tief Luft, um die Warnungen zu unterdrücken, die er sicherlich gerne ausgesprochen hätte. „Darüber reden wir heute Abend.“

Ich sah ihm zu, wie er sich zu seinem Schlafzimmer umdrehte. „Weißt du, ich gehe auf alle Fälle“, rief ich ihm hinterher.

Aber er wiederholte nur noch einmal: „Darüber reden wir heute Abend.“