5. KAPITEL

Verteidigung

Max wachte davon auf, dass Bella schrie.

Er hatte sich am Fußende ihres Bettes hingelegt und dort zusammengerollt geschlafen wie ein Hund und hoffte, dass sie es in ihrer Panik, die der Verwandlung folgte, nicht bemerken würde. Während er sie bewachte, war er eingeschlafen.

Max hatte keine Zeit gehabt, sich dafür zu rechtfertigen, dass er eingeschlafen war, denn Bella zerrte vor lauter Schrecken an der Decke und an ihrer Kleidung. Sie quiekte vor Entsetzen.

Daraufhin stand er auf, nahm sie bei den Schultern und schüttelte sie leicht. „Alles in Ordnung, Baby. Ist ja gut. Ich bin doch hier.“

Ihre Pupillen wurden kleiner, als sie versuchte, zu fokussieren. Stirnrunzelnd schob sie sich die Haare aus dem Gesicht, die sich aus ihrem langen Zopf gelöst hatten. „Ich weiß, deswegen habe ich ja geschrien.“

Die Tatsache, dass sie schon wieder in der Lage war, ironische Bemerkungen zu machen, beruhigte ihn. Es ging ihr also schon wieder besser. Jedenfalls im Moment. „Du hast mich total erschreckt.“

„Genau das hatte ich nicht im Sinn.“ Ihre Stimme kippte ein wenig, als würde sie gleich losweinen. Aber natürlich tat sie es nicht. Max war sich sicher, dass Werwölfe ohne Tränendrüsen auf die Welt kamen. Und auch ohne Herzen.

„Kann ich ein Glas Wasser haben?“ Ihre Stimme krächzte, das lag wahrscheinlich am Schreien. Genauso hatte sie immer geklungen, nachdem sie miteinander …

Max verdrängte den Gedanken nicht nur. Er schlug ihn zusammen, bis er nur noch ein kleines Häufchen war, und mauerte ihn bei lebendigem Leibe ein.

Schließlich nahm er eine Flasche Wasser vom Nachtschränkchen – er war auf ihren Wunsch vorbereitet gewesen – und öffnete den Schraubverschluss, bevor er Bella die Flasche reichte.

Zum einen machte er es absichtlich, um in diesem einen Moment zu demonstrieren, dass er sie für zu schwach hielt, die Flasche selbst aufzumachen, und daraufhin ihren genervten Blick zu sehen. Zum anderen machte es ihm seltsamerweise Spaß, sich um sie zu kümmern. Er wartete, bis sie die halbe Flasche ausgetrunken hatte, bevor er fragte: „Geht es dir besser?“

Bella nickte. „Mir geht es gut. Aus irgendwelchen Gründen habe ich am ganzen Körper Muskelkater, aber sonst geht es mir gut.“

„Tja, nachdem du bewusstlos geworden bist, haben wir dich abwechselnd zusammengetreten.“ Max lächelte schwach. „Erinnerst du dich daran, was passiert ist?“

Sie schüttelte den Kopf, dann blinzelte sie und rieb sich den Nacken. „Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist, dass ich in meine Kristallkugel geschaut habe und begann, etwas zu sehen. Dann bin ich hier aufgewacht. Ich habe wirklich schlimm geträumt.“

„Erinnerst du dich an deinen Traum?“ Max überlegte kurz, ob er sich Papier und einen Stift holen sollte, aber das erschien ihm doch zu unsensibel. Nicht, dass er normalerweise auf Bella übertrieben stark Rücksicht nahm, aber sie hatte doch einiges hinter sich. Zumindest für einen Tag sollte sie ihre Ruhe haben, bevor er mit dem Verhör begann.

Als er ihr in die Augen sah, bemerkte er ein wenig Hoffnungslosigkeit in ihrem Blick. „Ich habe einen Mann gesehen … er hatte weißes Haar. Und ich habe das Orakel gesehen. Es saugte sein Blut. Ich weiß nicht, warum es mich so durcheinandergebracht hat, aber so war es.“

„Das war der Souleater.“ Max schüttelte den Kopf. „Als du ohnmächtig geworden bist … hat sich das Orakel deines Körpers bemächtigt.“

„Was?“, schrie Bella und wurde blass.

Sanft legte er ihr eine Hand auf das Knie, um sie zu beruhigen. Auch wenn zwischen seiner Hand und ihrer Haut eine Hose und die Decke lagen, spürte er, wie sie seine Handflächen versengte. „Sei unbesorgt. Sie hat nicht dafür gesorgt, dass du verrückt wurdest und jemanden getötet hast, so wie es der Souleater bei Nathan gemacht hat. Sie hat durch dich zu uns gesprochen. Im Prinzip ist sie nur in dich gefahren, um uns zu sagen, dass sie hier ist.“

Bella runzelte die Stirn. „Das weiß ich. Ich erinnere mich.“

„Na, dann warst du ja gar nicht so weit weg, wie wir dachten“, stellte Max fest, weil ihm nichts Besseres einfiel. Genauso gut hätte er murmeln können: „Morgen ist ein neuer Tag“ oder „Jede Wolke verbirgt Sonnenschein“. Das wäre ebenso einfallsreich gewesen.

„Irgendwie habe ich das gespürt. Aber woher weiß ich das alles?“ Bella begann zu zittern, ihre Augen wurden groß.

„Wahrscheinlich ist es bis in dein Unterbewusstsein vorgedrungen. Ich meine, vielleicht ist es so etwas wie eine psychische Spätfolge …?“

Bella richtete sich abrupt auf. „Spätfolge?“ „Entschuldige bitte, ich wollte nicht die gesamte psychologische Fachwelt aufschrecken.“ Er hob mit einer entschuldigenden Geste die Hände in die Höhe.

„Du bist ein Vampir. Du kennst dich doch aus mit den Blutsbanden? Bestehen sie immer noch?“

Du hast ja keine Ahnung. Wohin Max auch immer sah – Marcus’ Bett, Marcus’ Stühle, Marcus’ unanständig teure Teppiche – jeder Gegenstand erzählte von Marcus und dass er hier sein sollte.

Natürlich konnte man von einer Werwölfin nicht erwarten, dass sie das verstand. „Ich versuche doch nur, dir zu helfen.“

„Ja, ich weiß.“ Ihre Stimme war ungewöhnlich sanft. „Sie ist auf dem Weg, den Souleater zu treffen.“

Max runzelte die Stirn. „Wir hatten angenommen, dass …“

„Sie ist auf einem Boot. Es ist so eine Art Frachter, auf dem Weg nach … Boston.“ Bella schüttelte den Kopf. „Warum sollte sie euch diese Informationen geben?“

Max entschied sich dafür, einen Moment lang die kalten Schauer zu ignorieren, die seinen Rücken hinunterliefen. „Das hat sie nicht wirklich getan.“

Einen Moment lang starrten sie einander an. Allmählich begann Max, das Ticken der Standuhr wahrzunehmen und das kaum hörbare Klicken, das immer vor dem Gong erklang. Als er erschall, schraken beide hoch.

„Wie habe ich dann …“

Er unterbrach sie. „Keine Ahnung. Weißt du sonst noch etwas?“

„Vieles.“ Bella zitterte jetzt am ganzen Körper, und eine Träne rann ihre Wange hinunter. „Sie hat einen Seemann getötet, den sie hinunter in den Laderaum geschickt hatte, um etwas nachzuschauen. Laderaum. Dieses Wort benutze ich normalerweise nicht.“

„Das benutzt man auch nicht in einer alltäglichen Konversation.“ Er faltete die Hände und legte sie an die Lippen. „Vielleicht ist es ein glücklicher Zufall.“

„Warum Zufall? Ich kenne ihre Erinnerungen. Sie sind alle in meinem Kopf. Du glaubst, das sei ein glücklicher Zufall?“ Bella rutschte vor, um aufzustehen, aber Max streckte seinen Arm aus, um sie aufzuhalten.

„Du hattest keine gute Nacht. Ruh dich noch ein bisschen aus.“ Er stopfte die Decke unter ihre Füße.

„Ich soll mich ausruhen?“, schrie sie und strampelte die Decke zur Seite. „Das meinst du nicht im Ernst! Ich bin als Marionette missbraucht worden!“

„Schau mal, es gibt keinen Grund, jetzt in Panik auszubrechen. Jedenfalls jetzt noch nicht. Sie hatte nicht genügend Macht, um noch länger Besitz von dir zu ergreifen.“

Bella schlug sich die Hände vor das Gesicht. „Warum ich? Ich bin doch keine von euch. Warum hat sie sich nicht einen von euch ausgesucht? Sie ist doch ein Vampir?“

„Ich weiß es nicht.“ Max stellte sich dieselbe Frage und grübelte darüber nach, warum sich das Orakel Bella und nicht ihn ausgewählt hatte. Liebend gern hätte er mit ihr getauscht.

Noch einmal versuchte sie, aufzustehen, aber ihre Arme zitterten und konnten ihr Gewicht nicht halten. Sie fiel in die Kissen zurück und stöhnte überrascht auf, als hätte sie noch nie Schmerz oder Muskelkater erlebt.

Max half ihr, sich hinzulegen, und wiederholte: „Ganz langsam. Ruh dich aus. Du hast heute Nacht ganz schön etwas abbekommen.“

„Etwas abbekommen?“, raunzte sie. „Ich bin kräftig. Mir kann das Orakel nichts anhaben.“

„Es hat dich zwei Meter in die Luft gehoben und dich dann auf den Boden fallen lassen. Und ich bin mir sicher, dass deine Rippen aufgrund der Herz-Lungen-Reanimation wehtun.“

Elegant gelöst, Max.

„Herz-Lungen-Reanimation?“

Max verdrehte die Augen. „Herz-Lungen-Reanimation. Du wärest fast … gestorben.“

„Gestorben?“ Nun saß Bella aufrecht im Bett.

„Nur für eine Sekunde!“ Er hob seine Hände, um sie wieder zu bremsen, sollte sie noch einmal versuchen aufzustehen. „Es waren höchstens Minuten. Carrie ist es gelungen, dich wiederzubeleben.“

Bella hob eine Faust, als wollte sie ihn schlagen. Er wappnete sich, damit er nicht mit der Wimper zücken würde, für den Fall, dass sie ihn traf.

Aber sie versuchte es gar nicht erst, stattdessen brach sie in Tränen aus.

Max, der schon lange zuvor die Idee verworfen hatte, dass Werwölfe, insbesondere Bella, Gefühle hatten, war von dieser Situation vollkommen überfordert. Er wusste einfach nicht, was er tun sollte. Frauentränen erinnerten ihn an Säure, und er hätte sich niemals vorstellen können, mit ihnen jemals umgehen zu müssen.

Besonders, da Bella normalerweise immer so kontrolliert war. Nichts konnte sie aus der Ruhe bringen, sie war eiskalt … es erschütterte ihn, dass etwas sie so durcheinanderbringen konnte.

„He, nicht weinen.“ Er streckte die Arme aus, um sie an sich zu ziehen, aber es war ihm bewusst, wie unbeholfen er sich dabei anstellte. Als sie weder nach ihm schlug noch ihm einen Holzpflock ins Herz rammte, drückte er sie kurz und klopfte ihr brüderlich auf die Schulter.

Es überraschte ihn keineswegs, dass diese Geste nichts half.

„Es tut so weh“, schluchzte sie. Max konnte sie kaum verstehen, was zum Teil an ihrem Weinen, zum Teil aber an ihrem Akzent lag. „Es tut so weh, zu weinen, aber ich kann nicht aufhören.“

„Lass … ach, weißt du, lass es einfach raus.“ Vorsichtig strich er ihr über den Rücken. Wenn ihn jemand berührte, lenkte es ihn immer von seinen Sorgen ab. Vielleicht ging es ihr genauso.

„Das fühlt sich gut an.“ Bella schniefte. „Ich bin verspannt. Mein Rücken fühlt sich an wie ein Fischernetz, so viele Knoten sind drin.“

Die Gelegenheit, sich über ihre altertümliche Ausdrucksweise lustig zu machen, ließ er verstreichen und setzte sich hinter sie auf das Bett.

„Was hast du vor?“

„Nichts Anzügliches. Ich massiere dir den Rücken.“ Bevor sie sich darüber aufregen konnte, zog er sie zwischen seine Beine und fing an, ihre Schultern zu massieren.

Sie stöhnte, aber ihre Verspannungen schienen sich unter seinen Händen zu lösen. „Warte mal.“

Na also. Jetzt fängt sie doch wieder mit ihrer „Du verstehst alles falsch, ich habe diese Gefühle nicht für dich“-Nummer an.

Aber zu seiner Überraschung lehnte sie sich vor und zog ihr T-Shirt aus. „Der Stoff scheuert.“

Angesichts ihres glatten warmen Rückens traute sich Max nicht mehr selbst über den Weg. Er konzentrierte sich auf den Fluch, der auf ihren Arm tätowiert war, und schwor sich, die beiden schwarzen Träger ihres Spitzen-BHs und die beiden winzigen Leberflecken direkt über ihrem Kreuzbein einfach zu ignorieren. Zu diesen Muttermalen hatte er sich einmal hinabgebeugt, um sie zu küssen, während er sie von hinten nahm …

Aufhören! Es geht nur darum, einer verletzten Person eine kleine freundliche Rückenmassage zu geben. Behalt deinen Schwanz in der Hose!

Bella stöhnte ein wenig, während er ihr über den Nacken strich, und Max rutschte ein wenig zurück, um seine wachsende Erektion so weit wie möglich von ihrem Rücken fernzuhalten.

„Wie lange bin ich bewusstlos gewesen?“, fragte sie, während sie ihren Zopf über die Schulter nach vorn legte.

Dabei berührte die seidige Flechte seine Hand und sorgte dafür, dass sein Arm kribbelte. „Na, wir waren nicht dabei, als sie in dich hineinfuhr, und als wir endlich ins Zimmer kamen … warst du schon bewusstlos. Aber nachdem Carrie dich wiederbelebt hatte, habe ich dich hier heraufgebracht, und das ist vielleicht … vor sechs Stunden gewesen?“

Bella drehte den Kopf ein wenig zur Seite. Sie konnte ihn nicht ansehen, aber er sah ihr Profil und beobachtete, wie sich ihr Mund zu einem Lächeln verzog.

„Du hast mich hier heraufgetragen?“

Max zuckte mit den Schultern. „Du konntest ja wohl schlecht gehen.“

„Und dann bist du bei mir geblieben?“

„Ja, die ganze Zeit.“ Er räusperte sich. „Außer natürlich, als ich dir das Wasser geholt habe und ein paar Handtücher und den Erste-Hilfe-Koffer besorgt habe. Ich dachte, es könnte nicht schaden, ihn für alle Fälle hier zu haben.“

„Aha.“ Sie drehte sich wieder nach vorne um und bewegte die Schultern, um ihm zu signalisieren, dass er mit der Massage weitermachen könnte, wobei ihm gar nicht aufgefallen war, dass er damit aufgehört hatte.

Max gab sich größte Mühe, jede Bewegung seiner Finger aus rein platonischer Nächstenliebe zu machen. Er knetete ihren Rücken, dann ihre Schultern und zum Schluss ihre Oberarme, während er sich anstrengte, ihre zufriedenen Seufzer zu überhören.

Als seine Handgelenke anfingen wehzutun, zog er die Hände weg und fragte: „Ist es jetzt besser?“

„Ja, danke schön.“ Sie bewegte sich nicht.

Ganz im Gegenteil, sie lehnte sich zu seiner großen Bestürzung zurück und schlang einen Arm um seinen Nacken. „Ich habe dich vermisst.“

„Wirklich?“ Er hatte sie auch vermisst. Jedenfalls zum Teil.

Sie seufzte leise. „Weißt du, dass du nach wie vor der einzige Mann bist, mit dem ich jemals geschlafen habe?“

„Herzlichen Glückwunsch. Du hast es geschafft, einen Monat durchzuhalten, ohne mit jemandem zu vögeln.“ Er spürte, dass sie lachte, und musste selbst lächeln, obwohl er es nicht als Witz gemeint hatte. Irgendwie fand er den Gedanken daran, dass sie einen neuen Freund haben könnte, schrecklicher als die Gefahren, die das Orakel und der Souleater zusammen darstellten. „Hör mal, ich sollte jetzt gehen.“

„Nein.“ Sie drückte ihren Arm fester um seinen Hals. „Bleib hier.“

Wem würde es schaden? Max wollte nicht unbedingt die Gedanken zu Ende verfolgen, die ihn schon seit geraumer Zeit beschäftigten, aber er konnte sich nicht dagegen wehren. Jeden Augenblick des Tages hatte er an sie gedacht. Nicht, weil er es sich so ausgesucht hatte, sondern weil es in seinem Gehirn eine kaputte Leitung gab, die ständig Gedanken wie giftige Tropfen absonderte, um sein gesamtes Gehirn zu beschädigen. Und jetzt war aus dem Rinnsal eine Sturmflut geworden, und er hatte Angst, – es war eine sehr reale, lähmende Angst – dass sein Hirn nie wieder so sein würde wie früher. Für den Rest seines Lebens würde er in ihr ertrinken.

Aber es machte ihn wütend, dass er es nicht einfach abschalten konnte, so wie normalerweise, wenn er mit Frauen zusammen gewesen war. Bella war kurz davor, eine Obsession zu werden, und das war gefährlich. Und wenn er sich jetzt nicht unter Kontrolle hatte, würde es ihm wahrscheinlich nie mehr gelingen, sich zurückzuhalten.

Er schob sie von sich fort, als bemühe er sich redlich, vorsichtig zu sein. Angestrengt versuchte er, die beiden dunklen Flecke zu übersehen, die durch die Spitze des BHs sichtbar waren. „Es war eine schlimme Nacht für dich. Ich habe auch wenig geschlafen. Und du bist nicht in der Lage, etwas … Körperliches zu tun.“

„Werwölfe erholen sich rasch.“ Sie neigte den Kopf zur Seite.

„Hm, ja.“ Max kratzte sich am Kopf. Das war ein nervöser Tick, den er scheinbar nur in ihrer Gegenwart hatte. „Ich fühle mich nicht danach.“

Bella runzelte die Stirn und kam auf ihren Knien auf ihn zu, um ihn abermals zu umarmen. „Bist du verletzt worden?“

Max hielt still. „Ja.“

Endlich begriff sie. Das hatte aber gedauert.

Er sah sie an, in ihrem Gesichtsausdruck war die Enttäuschung zu lesen. Sie machte sich von ihm los. „Du bist mir doch nicht mehr böse wegen dem, was zwischen uns geschehen ist, oder?“

„Natürlich bin ich sauer!“, rief Max aus. „Meine Güte, das ist erst einen Monat her! Was bist du bloß für eine unmenschliche Schlampe, dass du mich das fragst?“

Erschrocken riss sie die Augen auf, dann kniff sie sie zusammen. „Ich bin kein Mensch. Ich dachte, dass hättest du schon begriffen?“

„Versuch nicht, das Thema zu wechseln!“ Aufgebracht rutschte er vom Bett herunter und lief auf und ab. „Das kannst du nicht machen. Du kannst nicht einfach entscheiden, dass wir jetzt Freunde sind, bloß, weil es dir so passt! Weil du einsam oder geil bist oder …!“

„Ich habe Angst!“, rief sie mit rauer Stimme dazwischen. „Ich will gar keinen Sex, ich will nur, dass du hierbleibst. Du hast so eine komische Art zu kuscheln. Ich dachte, wenn wir miteinander schlafen, dann bleibst du hier und dann wäre ich hier nicht alleine. Es tut mir leid, wenn ich damit wieder die alten Wunden, die du wegen mir hast, aufgerissen habe, aber was soll ich denn machen?“

In diesem Moment war Bella menschlicher, als sie sich selbst eingestand. Max fühlte sich wie ein Arschloch und ärgerte sich darüber, dass sie dafür sorgte, dass er sich so fühlte. „Und außerdem habe ich deinetwegen keine Wunden.“

Böse starrte sie ihn an. In ihren Augen waren Wut und Verletzung zu sehen, auch wenn sie sich jetzt auf einen weiteren Streit vorbereitete.

Eine Weile ließ er sie schmoren, dann setzte er sich zu ihr auf das Bett. „Und außerdem hättest du nur zu fragen brauchen.“

Die Art und Weise, wie er sich mit seiner rauen Stimme bemühen musste, die Worte schnell auszusprechen, damit sie überhaupt herauskamen, machte ihn verrückt. Er war kurz davor, etwas Dummes zu sagen, und wusste, dass er es nicht verhindern konnte.

„Das Einzige, was du zu tun brauchst, ist, einfach danach zu fragen. Ich werde nicht in der Lage sein, dir eine Bitte abzuschlagen.“ Er schluckte. Raus damit. „Und das ist wahrscheinlich der Grund, warum ich dich so sehr hasse.“

Sie lächelte, dann küsste sie ihn. Es war ein freundlicher kurzer Kuss auf die Wange, Gott sei Dank. Dann zog sie ihn aufs Bett zurück.

Als sie die Kissen für sie aufschüttelte, sah er kurz zur Uhr hinüber. „Du weißt, dass das nicht gerade die Zeit ist, zu der ich zu Bett gehe.“

„Bleib“, bettelte sie und nahm seine Hand, ihre Finger um seine gewunden.

Widerwillig musste er lächeln. „Und ich bin auch nicht fürs Zubettgehen angezogen.“

„Bleib“, wiederholte sie und gähnte.

Er blieb.

Tagsüber, während wir schliefen, schien sich die Atmosphäre im Haus verändert zu haben. Auch wenn das Orakel beabsichtigt hatte, uns einzuschüchtern, indem es Bella fast umbrachte, war sein Plan ins Gegenteil umgeschlagen. Als wir uns zu einem weiteren Kriegsrat – hoffentlich ohne Zwischenfälle – zusammensetzten, hatten wir irgendwie alle miteinander unseren Frieden gemacht.

Max wollte sich jedoch nicht mehr im Esszimmer aufhalten, deshalb trafen wir uns in der Bibliothek. Bella lag zusammengerollt in einer Art und Weise vor dem Kamin, die ihre Herkunft verhöhnte. Max saß neben ihr und tätschelte ihr gelegentlich den Kopf. Jedes Mal, wenn das geschah, verdrehte Nathan die Augen. Er saß neben mir im Ohrensessel.

Warnend sah ich ihn an und räusperte mich. „Also, Bella kann die Gedanken des Orakels lesen? Wie bei einem Blutsband?“

Bella schüttelte den Kopf. „Nein. Ich kenne mich zwar mit euren Vampirfamilienbanden nicht so genau aus, aber ich kann nicht beeinflussen, was ich sehe.“

„Also kontrolliert das Orakel deine Gedanken“, murmelte Nathan nachdenklich. Er starrte geradeaus, wie er es immer tat, wenn er versuchte, ein schwieriges Problem zu lösen.

„Nicht unbedingt.“ Max versuchte, Nathan in die Augen zu schauen, was ihm nicht gelang, und drehte sich deshalb zu mir um. „Es sieht eher so aus, als würde das Orakel Bella hin und wieder erlauben, seine Gedanken zu lesen. So in etwa, als würde Bella mentale Spätfolgen haben.“

„Es gibt immer noch Dinge, die mir verborgen bleiben. Ich weiß, wohin sie geht. Ich weiß, dass jemand mit ihr zusammen ist. Aber ich kann nicht erkennen, wer es ist.“ Bellas makellose Stirn lag in Falten, so sehr konzentrierte sie sich. „Es ist ein Vampir.“

„Das schränkt die Auswahl ein“, stellte Max sarkastisch fest. Als Bella ihn kurz beleidigt ansah, fügte er ein „Sorry“ hinzu.

Wir schwiegen. Nathan starrte immer noch in die Flammen im Kamin. Mit gespreizten Fingern, die er gegen seine Lippen presste, lehnte er sich vor und stützte die Ellenbogen auf seine Knie. Max sah nervös zwischen Nathan und mir hin und her.

Ich zuckte mit den Schultern. „Also, wohin will das Orakel? Ich meine, wenn wir sonst nichts wissen, dann ist das doch entscheidend.“

„Boston“, antwortete Bella unverzüglich. „Sie ist auf einem Schiff.“

„Weißt du, wann sie ankommen wird?“ Wenn sie schon an Land wäre, könnte sie wer weiß wo sein.

Bella nickte. „Bald. Sie sind noch auf See, aber sie wird unruhig. Sie werden in einigen Tagen in Boston ankommen.“

„Dann haben wir nicht mehr viel Zeit.“ Max schien kurz davor zu sein, in dasselbe Konzentrationskoma zu fallen, in dem sich Nathan bereits befand. Gott sei Dank wachte jener gerade auf. „Wir müssen uns auf den Weg machen.“

„Wir alle?“ Ich war gerade lange unterwegs gewesen und hatte keine Lust, schon wieder eine gefährliche Reise zu unternehmen. Am liebsten wollte ich wieder zurück in Grand Rapids sein und in Ruhe mit Nathan zusammenleben, obwohl die Sache mit ihm noch nicht ausgestanden war. „Ich meine, sollte nicht jemand lieber hierbleiben und versuchen, den Souleater aufzuspüren?“

„Ja, du hast recht. Vielleicht solltest du mit Nathan in Chicago bleiben?“ Max lächelte. „Nein, im Ernst, ich glaube, das ist eine gute Idee. Bella muss nach Boston, weil sie diejenige ist, die die entscheidenden Informationen vom Orakel erhält. Ich habe Erfahrungen mit dem Orakel, wenn auch aus der Zeit, als es noch unter Beruhigungsmitteln stand, aber immerhin. Und der Souleater gehört wirklich in dein und Nathans Fachgebiet.“

„So, ich nehme an, dass wir das dann geklärt hätten“, sagte ich langsam und beobachtete Nathan, um zu sehen, wie er darauf reagierte. „Ihr beiden fahrt nach Boston, und wir …“

„Niemand fährt nach Boston“, stellte Nathan fest. Bedeutungsschwer sah er uns der Reihe nach an, bevor er sich wieder in den Anblick der Flammen versenkte.

„Also bleiben wir hier nur gemütlich sitzen, während das Orakel sich mit deinem Daddy zusammentut und die Welt in ein albtraumhaftes Chaos stürzt?“ Max schüttelte den Kopf und hob einen Arm hoch wie in der Schule. „Alle, die das für eine schlechte Idee halten, melden sich bitte jetzt.“

„Es ist eine schlechte Idee“, gab Nathan zu. „Aber es ist auch keine gute Idee, sich ausschließlich auf die Informationen zu verlassen, die wir vom Orakel erhalten, schon allein deshalb nicht, wenn man den Weg betrachtet, auf dem wir sie bekommen.“

„Informationen des Orakels sind selten falsch.“ Max drehte sich zu mir um. „Erinnerst du dich an Anne, die Empfangsdame? Sie hatte dir doch erzählt, wie das Orakel ihr die Vision vermittelt hat, dass ihr Rückgrat brechen würde. Und genauso ist es dann auch geschehen.“

Es war tatsächlich exakt so eingetreten, jedes furchtbare Detail, und zwar direkt vor unseren Augen. „Aber sie wusste nicht, wann es geschehen würde. Anne sagte mir, dass das Orakel sich unklar ausdrücke, und deshalb hatte Anne nicht daran geglaubt.“

„Wenn das Orakel Bella wissen lässt, dass es definitiv in einigen Tagen in Boston ankommen wird, ist das nicht ein bisschen sehr auffällig?“ Nathan wandte sich an die Werwölfin. „Ich zweifle nicht daran, dass du Visionen hast und dass sie echt sind. Aber du hast selbst gesagt, dass es auch Dinge gibt, die du nicht erkennen kannst.“

„Glaubst du, sie stellt uns eine Falle?“ Während ich an Nathans Intelligenz glaubte, hatte ich doch meine Zweifel an der geistigen Gesundheit des Orakels. „Sie scheint nicht alle beieinander zu haben, so viel Raffinesse traue ich ihr einfach nicht zu.“

„Auch wenn ich nach Boston fahren werde, gleichgültig was ihr Dummköpfe dazu sagt, muss ich dir recht geben.“ Max stand auf und lehnte sich gegen eine der beiden breiten Marmorsäulen, die den Kamin einrahmten. „Auf der anderen Seite habe ich mit angesehen, wie sie einem Mann mir nichts dir nichts den Kopf abgerissen hat, als ob es ein Kinderspiel wäre, sodass ich der Ansicht bin, dass sie bösartig genug wäre, uns eine Falle zu stellen.“

„Na, wenigstens sind wir uns darin einig“, murmelte ich. „Sie wäre in der Lage, uns alle umzubringen.“

„Es ist nicht sonderlich förderlich, so zu denken“, warf Bella ein und sah mich genervt an.

„Wenn man anfängt, das Orakel zu bekämpfen, dann hat man schon verloren.“ Nathan stützte sich auf die Armlehnen und stand auf. „In diesem Fall nützt es nichts, starrsinnig zu sein, denn dann werdet ihr sterben!“

„Hey, hey!“, rief ich und stellte mich schnell zwischen Nathan und Max. Der Testosteronspiegel der beiden Männer war innerhalb kürzester Zeit in die Höhe geschnellt. „Es bringt uns gar nichts, wenn wir anfangen, uns zu streiten.“

„Dem kann ich nur zustimmen“, gab Bella von sich und lag weiterhin schmollend auf dem Boden.

Ich warf ihr einen wütenden Blick zu und wandte mich an Nathan. „Max und Bella könnten aber wenigstens etwas über die Situation, in dem sich das Orakel befindet, herausfinden. Und wenn das bedeutet, dass sie nach Boston fahren müssen …“

„Das mache ich sowieso“, warf Max ein.

Ich hob eine Hand, um ihn zur Ruhe zu bringen. „Wenn das bedeutet, dass sie losfahren, dann ist es vielleicht einfach so. Aber sie müssen ja nicht sofort einen Krieg mit dem Orakel anfangen. Sie können sich erkundigen, herausfinden, was es vorhat, und dann wieder zu uns zurückkommen.“

Ich wandte mich an Max. „Du musst schon zugeben, dass es ziemlich blöd wäre, nach Boston zu fahren, um das Orakel umzubringen, wenn wir noch nicht einmal wissen, was es vorhat. Woher sollen wir wissen, ob der Souleater nicht das zu Ende führt, was sie sich ausgedacht hat, auch wenn es uns gelänge, sie zu töten? Wenn sie überhaupt Pläne hat …“

„Da hast du recht“, stimmte mir Max zu.

Nathan ließ sich nicht so einfach überzeugen. „Und wenn das Orakel einen Angriff aus dem Hinterhalt plant?“

„Max und Bella sind von der Bewegung zu Vampirjägern ausgebildet worden.“ Ich erwähnte nicht, dass Bella schwer verletzt worden war und dass Nathan und Max durch das Orakel jeglichen Einfluss verloren hatten. „Sie sind sehr gut in der Lage, selbst auf sich aufzupassen. Erinnerst du dich nicht an deine Ausbildung?“

„Doch, ich erinnere mich“, antwortete Nathan mit zusammengepressten Zähnen. „Aber nehmen wir nur einmal an, dass sie dem Orakel hinterherfahren und alle seinen geheimen Pläne auskundschaften. Was machen wir dann damit?“

„Dann finden wir heraus, was der Souleater vorhat.“ Etwas Besseres fiel mir darauf nicht ein.

„Ohne dass wir Kontakt zur Bewegung haben und ohne dass wir wissen, wo das Orakel steckt?“ Nathan lachte höhnisch. „Was wollt ihr dann machen? Den Zauberstab schwingen? Oder wären wir dann wieder bei den Tarotkarten?“

Seine Selbstzufriedenheit spornte mich an, in dieser Auseinandersetzung als Siegerin hervorzugehen. „Nein. Es geht nicht um Tarotkarten. Denk doch mal darüber nach. Du hast eine Blutsbande mit dem Souleater. Ich sehe ein, dass es ein Risiko darstellt, mit ihm Kontakt aufzunehmen, aber es ist noch gefährlicher, ihn einfach so herumlaufen zu lassen, ohne ihn mal durchzuchecken.“

Ich schob meine Hand in Nathans hintere Hosentasche und zog ihn zu mir, sodass unsere Hüften aneinanderprallten. Und bevor ich überhaupt wirklich wusste, was ich damit meinte, und mir klar wurde, dass ich alle Anwesenden damit gewaltig schockieren würde, kamen mir folgende Worte über die Lippen: „Und ich habe Cyrus.“