6. KAPITEL

Gespräche mit Lebendigen

„Hallo?“

Ich hatte keine Ahnung, was ich erwartete, während ich die Nummer wählte, die ich von der Auskunft bekommen hatte. Ich nehme an, dass ich immer noch so überrascht war, dass Cyrus tatsächlich im Telefonbuch eingetragen war. Als er ans Telefon ging, war ich überwältigt. Was ich auch immer gedacht hatte, dass Cyrus selbst den Hörer abnahm, damit hatte ich auf keinen Fall gerechnet.

„Hallo?“, wiederholte er. „Hören Sie, ich kann Sie atmen hören. Und das ist weder sexy noch interessant. Wenn Sie mich bitte wieder anrufen würden, wenn Sie etwas Aufreizendes oder Interessantes zu sagen haben, dann können wir gern miteinander plaudern. Bis dahin …“

„Cyrus, ich bin’s.“ Ich schluckte. „Carrie.“

Es folgte eine lange Pause. Ich fragte mich schon, ob er aufgelegt hätte, aber ich hörte kein Besetztzeichen.

„Carrie.“ Seine Stimme klang weit entfernt und leise. „Wie geht es dir?“

„Gut.“ Ich sah mich um. Nathan saß auf einem riesigen plüschigen Sofa und tat so, als würde er eine meiner zerfledderten Science-Fiction-Komödien lesen.

Ich stand neben dem Bett. Während ich seine Nummer gewählt hatte, saß ich noch, aber als ich Cyrus’ Stimme hörte, musste ich sofort aufstehen. Seine Stimme klang so vertraut. Es schien unangemessen, ja pervers, mit ihm zu telefonieren, während ich mich auf dem Bett befand und gleichzeitig Nathan im Zimmer war.

„Mir geht’s gut“, wiederholte ich und drehte mich so um, dass ich Nathan den Rücken zuwandte. „Und wie geht es dir?“

„Den Umständen entsprechend akzeptabel.“ Er seufzte schwer, und an meinem Ende der Leitung klang es, als sei die Verbindung gestört. „Ich arbeite jetzt.“

„Du arbeitest?“ Im Hintergrund hörte ich, wie Nathan grunzte und ein Lachen unterdrückte, aber ich gab mir Mühe, mich nicht darum zu kümmern. „Das ist ja toll. Was machst du denn?“

„Versprichst du mir, nicht zu lachen?“ Cyrus schien das nicht viel auszumachen, denn er fing selbst schon an zu lachen. „Ich arbeite im Lager eines Lebensmittelladens.“

„Nein!“ Allein die Vorstellung erschütterte meine Welt in ihren Grundfesten. Cyrus, der machtgierige einstige Schöpfer meines Vampirlebens aus dem alten Europa arbeitete in einem Lebensmittelgeschäft?

Er seufzte noch einmal laut. „Du würdest nicht glauben, wie häufig ich am Tag meine Seele für zwei Reißzähne eintauschen möchte. Manchmal gehe ich hinaus in den Laden und fülle dort die Regale auf. Wirklich, diese Kunden … mein Gott, als seien sie hirntot.“

Ich lachte mitfühlend, so wie sich das an so einer Stelle gehörte, aber dann schwiegen wir beide, was mich noch nervöser machte.

„Also“, begann ich zögerlich. „Dann bist du jetzt in Grand Rapids sesshaft geworden?“

Cyrus grummelte zustimmend. „Ich habe die Schwester von Mouse ausfindig gemacht. Ich kann nicht behaupten, dass ich in dieser Hinsicht große Fortschritte gemacht hätte. Aber sie weiß, was geschehen ist. Wenigstens kennt sie die beschönigte Version.“

„Wie hat sie reagiert?“ Cyrus hatte mir jedes Detail über das Mädchen, das er Mouse nannte, erzählt. Als er Grand Rapids verließ, um ihre nächsten Verwandten aufzuspüren, hatte er wenig Hoffnung gehabt, sie zu finden. Das jedenfalls war mein Eindruck gewesen.

„Sie bat mich um einhundert Dollar und bot mir an, eine … äh, Gegenleistung dafür zu erbringen.“ Es hörte sich so an, als würde ihn dieses Thema ermüden. „Der Tod ihrer Schwester war ihr völlig egal.“

„Du hast getan, was du konntest.“ Das war ein blöder Kommentar, aber ich war noch nie gut darin, mein Beileid auszusprechen. „Wo wohnst du?“

„Ich habe eine schreckliche Wohnung in der Innenstadt, in der Nähe vom College. Das schlimmste Viertel hier in der Stadt. Hippies, so weit das Auge reicht.“ Ich hörte das Lächeln in seiner Stimme, als er hinzufügte: „Übrigens, ganz in der Nähe des alten Hauses deines Schöpfers Nathan.“

„Aha.“ Toll. Die ganze Idee von der heimischen Idylle, beziehungsweise so nah Nathan und ich ihr gekommen sein mochten, wurde durch einen geografischen Zufall zerstört.

„Ich habe es mir wirklich nicht ausgesucht“, fügte Cyrus schnell hinzu. „Dahlia hat für mich die Wohnung gefunden.“

„Oh, du hast noch Kontakt zu Dahlia.“ Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Nathan mich erschrocken ansah. Auch ich war hellhörig geworden. „Das ist ja tröstlich. Was hast du getan, dass du ihre Hilfe verdient hast?“

„Ach, sind wir immer noch eifersüchtig?“ Cyrus lachte. „Keine Sorge. Es war ein Handel – ich habe die Villa gegen eine Einzimmerwohnung getauscht, mit Küchenzeile und einem winzigen Badezimmer, in dem es in der Dusche zieht, weil die Badezimmertür nicht richtig schließt. Das hört sich nicht nach einem fairen Tausch an, aber das Leben hat mich im Allgemeinen in der letzten Zeit nicht sonderlich gut behandelt.“

„Oh, wie nett. Ich wusste nicht, dass ich zur Party der Therapiegruppe für Selbstmitleid eingeladen bin“, erwiderte ich und blickte ihn abschätzend an.

Er lachte auf. „Carrie, ich stapele Pakete mit pasteurisiertem Plastik-Käse für sieben Dollar die Stunde. Sei nachsichtig mit mir, wenn ich die angenehmen Seiten meines früheren Lebens ein bisschen vermisse.“

„Hast du wenigstens auf deine Gesundheit geachtet?“, fragte ich, um das Thema zu wechseln. „Du bist jetzt nicht mehr unsterblich, wie du weißt.“

„Das ist mir schmerzlich bewusst. Es ist mir ebenso schmerzlich bewusst, dass ich keine Krankenversicherung mehr habe, und scheinbar dreht sich in dieser Welt alles nur um die Gewinne der Versicherungsanstalten.“ Er wartete einen Moment lang, bevor er die Frage stellte, aber ich wusste, dass sie kommen würde. „Vielleicht würde es dir nichts ausmachen, mich ein wenig zu unterstützen, dich ein wenig um mich zu kümmern. Nur so lange, bis sich die Dinge hier beruhigt haben. Ich habe wirklich unerträgliche Allergien …“

„Ich glaube nicht, dass das so eine gute Idee ist.“ Aus der Vergangenheit wusste ich, dass Cyrus in nicht vollständig angezogenem Zustand und ich keine gute Kombination waren. „Aber vielleicht können wir zusammen zur Apotheke gehen, wenn ich wieder zu Hause bin, und dir ein paar rezeptfreie Antiallergika besorgen. Einige davon sind zwar nutzlos, aber andere …“

„Frag ihn nach dem Souleater“, unterbrach mich Nathan. Ich hatte seine Geduld überstrapaziert. Er seufzte laut und warf das Taschenbuch fort. Es war ihm anzusehen, dass er keine Lust mehr hatte, mein Telefonat zu beaufsichtigen.

Mit zusammengekniffenen Augen schaute ich ihn an und legte meine Hand über die Sprechmuschel.

Doch es war zu spät. „Ist das da im Hintergrund Nolen?“

Ich räusperte mich und versuchte, irgendwie zustimmend zu klingen. „Jetzt ist es Nathan.“

„Ich weiß, ich weiß.“ Ich konnte an Cyrus’ Stimme praktisch hören, dass er die Augen verdrehte. „Also, wie geht es Nathan?“

Er ist aufgeregt. Immer noch sah er mich erwartungsvoll an, während er seine kräftigen Arme vor der Brust verschränkte. „Ihm geht es gut. Er möchte wissen, ob du etwas von deinem Vater gehört hast.“

„Ja, natürlich habe ich von ihm gehört.“

Na, das ging ja glatt. „Ach ja?“, fragte ich vorsichtig.

„Ja. Wir sind angeln gewesen, dann haben wir uns ein Baseball-Spiel angeschaut, und danach sind wir in einen Spielzeugladen gegangen, und er hat mir alle Spielsachen gekauft, die ich haben wollte. Und ein Pony.“ Wenn Ironie flüssig wäre, würde ich jetzt in einer Pfütze stehen.

„Du weißt, dass ich dich das fragen musste“, fuhr ich ihn an. „Da läuft irgendetwas, also bitte hilf mir, wenn du etwas damit zu tun hast …“

„Wie denn, Carrie?“ Cyrus hörte sich müde an. Er klang einfach so, wie ein menschliches Wesen klingt. Ein Vampir kennt diese Müdigkeit gar nicht, diese körperliche Müdigkeit … eine Menge absterbender Körperzellen und zugleich das Unvermögen, sich nur noch eine Sekunde länger Quatsch von jemandem anhören zu können. „Wie sollte ich, gefangen in diesem kranken sterblichen Körper, mit etwas zu tun haben können, das mein Vater plant? Glaubst du etwa, dass ich meine Zeit mit Vampiren verbracht habe? Nur eine Sekunde? Kennst du menschliche Wesen, die ihre Freizeit mit Vampiren verbringen?“

„Dahlia“, antwortete ich. „Ihr habt euch gesehen.“

„Ja, sie hat mich nicht in Ruhe gelassen“, stimmte er mir zu.

„Wenn sie dir diese Wohnung beschafft hat, musst du vor Kurzem mit ihr gesprochen haben.“ Ich wartete einen Augenblick, da ich mir nicht sicher war, ob ich mit dieser Frage zu weit gegangen war. Aber dann entschied ich, dass es mir gleichgültig war, und setzte nach: „Du versuchst doch nicht, wieder ein Vampir zu werden, oder?“

Es war so lange still in der Leitung, dass ich mich wieder fragte, ob er noch dran war. Als er mir antwortete, war seine Stimme belegt. „Glaubst du wirklich, dass ich wieder einer von euch werden wollte? Nach allem, was ihr … passiert ist?“

Es tat weh, dass er mir gegenüber ihren Namen nicht erwähnen wollte, als sei ich es nicht wert, ihn zu hören. Oder als hätte ich Schuld daran, dass sie von Vampiren getötet worden war, nur weil ich selbst einer war.

Natürlich konnte ich ihn verstehen. Als sein Vater ihn von den Toten hatte auferstehen lassen, war Cyrus wieder zu einem menschlichen Wesen geworden. Mouse war gemeinsam mit ihm gefangen gehalten worden, und zwischen ihnen hatte sich eine sehr besondere Art von Liebe entwickelt, wie es manchmal bei Entführungen und in Ausnahmesituationen der Fall ist.

Und dann hatte ich die Situation vollkommen falsch eingeschätzt und Cyrus entführt – er war der einzige Schutz für Mouse gewesen – und sie damit den Fangs, einer wilden Horde Vampire, ausgesetzt, die sie grausam töteten. Es verging kein Tag, an dem ich nicht von ihrem malträtierten Körper träumte, wie sie in ihrem Bett lag, wo wir sie tatsächlich später gefunden hatten. Es verging kein Tag, an dem ich nicht aufwachte und mir vor Schuldgefühlen schlecht war, weil ich nicht auf Cyrus gehört hatte und ihn stattdessen mit Chloroform betäubt hatte. Ich hätte sie retten können.

Aber auf der anderen Seite hätte jeder, der länger als fünf Minuten mit Cyrus in einem Zimmer gewesen war, zu Chloroform gegriffen.

„Es tut mir leid“, sagte ich leise, ohne dabei an Nathan zu denken. „Aber es tut mir nicht leid, dass ich dich nach deinem Vater gefragt habe.“

„Natürlich nicht.“ Cyrus schnaubte verächtlich. „Du bist ja nie für etwas verantwortlich, was mich betrifft.“

„Cyrus“, setzte ich an, während Nathan auf mich zukam, als könne er mich so am Telefon verteidigen.

Ich wehrte ab, als ich Cyrus’ wütende Stimme am anderen Ende der Leitung hörte, die mich unterbrach. „Ich muss jetzt aufhören. Meine Lebenszeit ist begrenzt, und sie verrinnt, und ich möchte sie nicht damit verbringen, mit dir am Telefon zu streiten.“

„Gut, dann beende das Gespräch“, gab ich kühl zurück. „Aber sag mir erst, was du über den Souleater weißt.“

„Ich weiß nichts über ihn!“, fuhr mich Cyrus an. Es gab wieder eine Pause, und ich konnte fast hören, wie er wütend die Hände in die Höhe hob. „Dahlia kommt hin und wieder vorbei, um mir Lebensmittel oder Geld zu bringen. Das nächste Mal, wenn ich sie sehe, finde ich etwas über ihn heraus und melde mich dann bei dir.“

„Das wäre nett von dir, danke.“ Aber eigentlich wollte ich sagen: „Es tut mir leid, dass ich dich verletzt habe. Du musst nicht darauf warten, dass du Dahlia triffst, um mich anzurufen. Ich will auch so mit dir telefonieren.

Aber Nathan, der gute alte misstrauische Nathan stand so dicht hinter mir, dass ich seinen Atem an meinem Nacken spüren konnte.

Als Cyrus mich fragte: „Sonst noch etwas?“, antwortete ich also stattdessen: „Nein, auf Wiederhören, Cyrus.“

„Das ging doch prima.“ Nathan hätte sich ironisch angehört, hätte er nicht so leise und sanft gesprochen. „Geht es dir gut?“

Ich drehte mich um und lehnte mein Gesicht an seine Brust. Seine kräftigen Brustmuskeln dämmten meine Antwort: „Nein.“

Sanft legte er seine Hand auf meinen Kopf. „Na, so schlimm kann es doch gar nicht gewesen sein.“

„Cyrus hat mich ein Monster genannt.“ Ich sah ihn an und zuckte mit den Schultern. „Es ist verrückt, aber es trifft mich.“

Nathan trat einen Schritt zurück und drehte sich von mir fort, dennoch konnte ich sehen, wie er versuchte, sein Gesicht nicht zu verziehen. „Und, kannst du es ihm verdenken?“

„Wie bitte?“ Automatisch stemmte ich meine Hände in die Hüften wie das Klischee einer Frau, die wütend ist. Ich zwang mich, meine Arme wieder hängen zu lassen.

„Er ist jetzt ein menschliches Wesen, und wahrscheinlich wirken wir ziemlich einschüchternd auf ihn.“ Ruhig ging er zum Sofa zurück und nahm das Buch wieder zur Hand, nur schien er es nun wesentlich interessanter zu finden als zuvor, während er meinem Telefonat gelauscht hatte.

„Entschuldigung! Schließlich hat er mir das Herz herausgerissen, nicht umgekehrt!“ Geflissentlich erwähnte ich nicht, dass ich ihn später auf eine andere Weise umgebracht hatte. Nathans Einstellung, dass Cyrus irgendwie recht damit hatte, uns in einen Topf mit den anderen Vampiren, die seine Freundin getötet hatten, zu werfen, ging mir auf die Nerven und verletzte mich.

„Vielleicht ist es okay für dich, dich selbst als Monster zu bezeichnen, für mich ist es das nicht!“

Nathan sah auf, in seinem Gesicht war seine Besorgnis deutlich zu lesen. „Ich wusste ja nicht, dass es dir so viel ausmacht!“

„Tut es aber.“ Ich schüttelte den Kopf. „Das alles macht mir etwas aus. Sehr viel sogar.“

Wieder trat er neben mich, dieses Mal allerdings etwas vorsichtiger. „Lass’ ihn nicht so nah an dich heran. Du nimmst zu wichtig, was er von dir hält.“

„Ich weiß.“ Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Augen. „Und ich weiß auch, dass du dir darüber Gedanken machst. Ich meine, wegen der Dinge, die passiert sind.“

„Was meinst du damit?“ Oh je, er wusste anscheinend wirklich nicht, worüber ich sprach.

„Als ich wegging und Cyrus getroffen habe.“ Ich sah weg, denn ich konnte nicht ansehen, wie verletzt Nathan jetzt wirkte. „Ich würde es dir nicht übel nehmen, wenn du denkst, ich würde so etwas noch einmal tun.“

Jetzt sah er noch düsterer drein. Offensichtlich war er nun auch noch darüber entsetzt, dass ich dachte, er würde denken, dass ich noch ein zweites Mal fähig wäre, ihn zu hintergehen. „Sag mir nicht, dass ich dir nicht vertrauen soll, Carrie. Du bist zu ihm gegangen, weil du mir das Leben retten wolltest. Ich zweifle nicht daran, solltest du noch einmal in eine solche Situation geraten, dass du es wieder tun würdest. Das ist einer der Gründe, warum ich …“

Mein Herz schlug schneller, und ich fühlte mich wie ein kleines Hündchen, das am Tisch um Leckereien bettelt. Nathan sah es mir wohl an, jedenfalls räusperte er sich und sah fort.

„Also, dass ich dir auf alle Fälle vertraue.“ Er drehte sich um und ging zur Tür. „Ich hole mir Blut. Möchtest du auch etwas?“

Etwas zu fröhlich tätschelte ich meinen Bauch und bemühte mich, möglichst heiter zu klingen: „Nein, danke, ich habe schon zu viel gegessen.“

„Okay“, antwortete er in einem Ton, der deutlich zeigte, dass er mein kleines optimistisches Theater durchschaut hatte. Die Tür fiel hinter Nathan ins Schloss, und ich ließ mich auf das Bett sinken.

Es ging mir nicht darum, dass ich mir wünschte, er würde glauben, ich würde jeden Augenblick zu Cyrus zurückkehren. Ich wollte, dass Nathan mir vertraute. Aber auf der anderen Seite wollte ich ihn vor mir beschützen. Er hing noch dem Glauben nach, dass ich allein aus dem Grund zu Cyrus gegangen war, weil sein Leben in Gefahr war. Aber in Wirklichkeit wäre ich so oder so zu Cyrus zurückgekehrt.

Aber mittlerweile war Cyrus ein menschliches Wesen geworden. Es gab nichts, was noch daran erinnerte, dass er einmal ein Ungetüm gewesen war. Damals hatte ich vor ihm zwar Angst gehabt, aber ich hatte mich schrecklich in seine wenigen menschlichen Züge verliebt, die hin und wieder unter der Oberfläche hervorblitzten. Da er jetzt ganz und gar menschlich war, traute ich mir selbst nicht mehr über den Weg. Und ganz sicher wollte ich nicht, dass Nathan mir in dieser Hinsicht vertraute.

„Warum willst du mitkommen?“, fragte Bella.

Max knirschte mit den Zähnen. Erst wollte ihn Nathan daran hindern, gen Westen zu fahren, und jetzt Bella. „Weil du nicht auf dich selbst aufpassen kannst.“

„Ich habe dieselbe Vampirjäger-Ausbildung absolviert wie du“, stellte sie fest.

„Legst du es darauf an, mich wütend zu machen?“ Er stopfte ein T-Shirt in seine Reisetasche und drehte sich wieder zu seiner Kommode um. So konnte er den Blick von Bella abwenden, die es sich auf seinem Bett bequem gemacht hatte. „Wenn das Orakel wieder Besitz von dir ergreift, glaubst du etwa, du kannst alleine mit ihm fertig werden?“

Max erschrak, als er ihre warme Hand auf seiner Schulter spürte, da er sie nicht vom Bett aufstehen gehört hatte. „Hör auf, dich um etwas zu sorgen, das du weder einschätzen noch ändern kannst.“

Eigentlich wollte er sich nicht an ihre Berührung gewöhnen, aber das kranke, bedürftige Kind, das er in sich spürte, brachte ihn dazu, seine Hand auf ihre legen.

„Du versuchst wirklich, es darauf anzulegen, dass ich dir nichts abschlagen kann, nicht wahr?“

Sanft drehte sie ihn um, damit er sie ansah. Anstatt zu antworten, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen leichten Kuss auf den Mundwinkel.

„Lass das.“ Er nahm ihre Hände und schob sie beiseite.

Mit ihrem geübten verführerischen Lächeln strahlte sie ihn an. „Ich dachte, du kannst mir nichts abschlagen?“

„In diesem Fall kann ich es.“ Max schluckte, seine Kehle war plötzlich trocken geworden, dann drehte er sich wieder um. „Ich kann Nein sagen, wenn es für mich das Beste ist.“

Bella machte ein paar Schritte, und er spürte, dass eine räumliche Nähe zwischen ihnen entstand. Er konnte es kaum ertragen. Dann hörte er, wie sie sich wieder auf sein Bett fallen ließ und seufzte.

„Also, du willst mit mir nach Boston fahren und deine eigene Sicherheit aufs Spiel setzen, aber ich darf dich nicht anfassen?“

„Es hat nichts mit dir zu tun. Ich kann bloß nicht zwischen meinen Gefühlen und meinem Schwanz unterscheiden, was dich betrifft.“ Er duckte sich, um dem Kissen auszuweichen, mit dem sie nach ihm geworfen hatte.

„Sei nicht so ruppig!“ Obwohl sie wütend sein wollte, konnte Bella ihr Lachen nicht verbergen, aber als es verebbte, entstand eine peinliche Stille. „Liebst du mich?“

Max zog ein paar Hemden aus einer Schublade und nahm eine Jeans, um sie in die Tasche zu legen, die auf dem Bett stand. Er konnte sie nicht ansehen und wartete so lange wie möglich, bevor er antwortete. „Ich weiß es nicht. Vielleicht?“

„Ich habe dir gesagt, dass du mich liebst.“ Hörte er da selbstgerechte Zufriedenheit in ihrer Stimme?“

„Ich sagte vielleicht.“ Er hörte sich ein wenig ungehaltener an, als er wollte, und es half, die Mauer ein wenig höher zu ziehen, die er zwischen ihnen errichtet hatte. Und die in der Zwischenzeit ein wenig porös geworden war. „Also, was meinst du?“

„Wir werden deinen Wagen nehmen müssen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Darüber hinaus habe ich keinen Plan.“

Max zog den Reißverschluss seiner Tasche mit Gewalt zu. „Lass uns in Marcus’ Bibliothek gehen und im Internet nachsehen. Wir müssen uns eine Karte ausdrucken und möglichst bald losfahren.“

„Nur nachts.“ Sie hob die Hände, nachdem sie seinen zornigen Blick gesehen hatte. „Ich habe keinen Führerschein. Leute wie ich … können nicht fahren.“

Nein, ihr steckt nur den Kopf aus dem Beifahrerfenster und lasst eure lange Zunge im Wind wehen. Max war stolz, diesen Hundewitz nur gedacht, aber nicht ausgesprochen zu haben, und verschränkte die Arme über der Brust. „Gut. Wir müssen tagsüber irgendwo einen Unterschlupf finden.“ Max betrachtete die Zigarrenkiste auf seinem Nachtschrank. Darin befanden sich ungefähr zweitausend Dollar in bar. Das würde ausreichen, um etwas zu essen zu kaufen und jemanden zu bestechen, damit Max an frisches Blut kam, sollten die Vorräte unterwegs zur Neige gehen. Und ein Hotelzimmer würden sie davon bezahlen können. „Hast du schon gepackt?“

„Ich reise mit leichtem Gepäck.“ Bella machte ein sonderbares Gesicht, es drückte eine Mischung aus Trauer und Wut aus. Doch mit einem Lachen schüttelte sie die dunklen Gedanken ab. „Ich habe ja auch kaum etwas.“

Seltsamerweise verspürte er den Wunsch, sie zu fragen, woran das lag. Warum sie nicht einen Schrank voller Kleider und Make-up hatte, um ein ganzes Bordell damit zu versorgen – nicht, dass sie Make-up brauchte –, aber er sprach es nicht aus. Sie hatte ihm deutlich gemacht, dass sie zwei verschiedene Individuen waren und dass es auch für immer so bleiben würde. Diese Art Distanz war keine gute Basis, um persönliche Informationen auszutauschen.

Nicht, dass Max daran interessiert war, tiefgehende Gespräche über emotionale Zustände und den ganzen Kram zu führen, aber trotzdem. Sie hatten eine Aufgabe zu erledigen, und es wäre wesentlich einfacher, wenn sie beide vergessen würden, was für schmutzige Dinge sie miteinander getrieben hatten.

Ungefragt sah er vor seinem inneren Auge ihr Gesicht, verschwitzt und lustvoll verzerrt. Fast konnte er das Salz auf ihrer Haut schmecken, spüren, wie sich ihre Hüften von unten gegen seine pressten …

„Ich würde gern nach Sonnenuntergang losfahren. Aber vorher müssen wir noch mit Nathan und Carrie reden“, platzte er heraus, um die Vision aus seinem Kopf zu verscheuchen. Das Letzte, was er in diesem Moment brauchte, waren plötzliche und eindringliche Halluzinationen von sexueller Aktivität.

„Ja, ich bin gespannt, wie es Cyrus ergangen ist, seitdem ich ihn das letzte Mal gesehen habe.“ Bella sagte das so, als sei Cyrus ein alter Freund, der kürzlich in eine andere Stadt gezogen sei, und nicht eine seelenlose Killermaschine.

Max hatte zuvor wirklich noch nie das Gefühl gehabt, dass ihm gleich die Augen aus dem Kopf fallen würden, aber jetzt war es so weit. Er hoffte, dieses Gefühl nie wieder haben zu müssen. „Warum interessiert dich das?“

Bella runzelte die Stirn, als sei er derjenige, der seltsam und irrational war. „Weil ich an ihn gedacht und mir um ihn Sorgen gemacht habe. Ist das so schlimm?“

„Ja, ist es“, explodierte Max. „Er ist ein Mörder!“

„Er war ein Mörder“, korrigierte sie ihn, während sie die Augen verdrehte. „Du hörst dich schon an wie Nathan.“

Zornig sah Max zu ihr hinüber. „Unter normalen Umständen würdest du für diese Bemerkung eingeschläfert und ausgestopft. Aber glücklicherweise …“

„Schlägst du keine Frauen?“, beendete sie den Satz.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, was ich eigentlich sagen wollte, war: ‚Glücklicherweise gebe ich Nathan dieses Mal recht.‘ Vergleiche mich noch einmal mit Nathan, dann haue ich dir eine runter.“

„Du bist viel zu streng mit ihm.“ Sie öffnete den Reißverschluss der Reisetasche und holte zwei T-Shirts heraus. „Außerdem stehen die dir überhaupt nicht.“

„Stimmt nicht.“ Er stopfte die Shirts zurück in die Tasche. „Und Nathan ist zu streng mit sich. Ich liebe diesen Typen – also nicht schwul oder so –, aber ich mag nicht mit ansehen, wie er sich mit seinen Schuldgefühlen selber quält. Ich meine, du hast dieses Ritual bei ihm durchgeführt. Er ist darüber hinweggekommen, dass er für den Tod seiner Frau die Verantwortung trägt. Aber was ist geblieben?“

Bella brach in helles Lachen aus, das ihre Ungläubigkeit demonstrierte. „Nathan ist kein Stück über den Tod seiner Frau hinweg. Er akzeptiert, dass sie ihm vergeben hat, und er erlaubt ihrem Geist, in Frieden zu ruhen, aber er hält sich immer noch dafür verantwortlich. Und ihr Tod ist nicht das Einzige, das er mit sich herumschleppt.“

„Ja, ich weiß, jeder trägt seine emotionalen Narben mit sich herum“, gab Max kurz zurück. „Danke, du Briefkastentante.“

Bella reagierte nicht auf seine Spitzen. „Das stimmt. Jeder hat seine Narben, aber es geht darum, wie wir mit ihnen umgehen. Nathan hat sich viel mit sich selbst auseinandergesetzt, es war schwer für ihn, und nun machst du dich über ihn lustig?“

Da er nicht wusste, was er antworten sollte, sah Max ihr stumm nach, während sie zur Tür ging. Bella hielt inne, eine Hand am Türrahmen, und drehte sich ein Stückchen, aber nicht ganz, zu ihm um. „Mach dich nicht über ihn lustig, weil er etwas erreicht hat, was du nicht geschafft hast.“

Bevor er sich eine passende intelligente Antwort überlegen konnte, hatte sie das Zimmer verlassen.