8. KAPITEL

Schlechte Nerven

Max konnte sich viele schreckliche Dinge vorstellen, die auf ihrer Reise hätten geschehen können, aber dass Bella sich alle hundert Kilometer übergeben musste, übertraf all seine Vorstellungen.

„Weißt du, wir könnten schon viel weiter sein, wenn ich nicht vier- oder fünfmal in der Nacht anhalten müsste, damit du kotzen kannst“, murmelte er und wischte sich die Hände an den rauen Papierhandtüchern der Tankstelle ab.

Bella hob ihren Kopf aus der Toilette – was ein Beweis dafür war, wie tapfer oder dumm sie war, diesem verdammten Ding so nahe zu kommen – und versuchte, Max zu antworten. Alles, was herauskam, war ein spektakulärer Strahl Erbrochenes.

„Du bekommst keine Sandwiches mehr aus dem Kühlregal.“ Ungeduldig zerknüllte er das Papiertuch und warf es in den überquellenden Mülleimer in der Ecke. „Kannst du dich vielleicht für einige Minuten zusammenreißen, damit ich uns ein Hotel besorgen kann?“

Bellas Antwort war das Echo ihres Stöhnens in der Schüssel.

Max lehnte sich gegen die Wand, überlegte es sich dann aber schnell anders. „Hier stinkt es.“

„Es tut mir leid, dass ich nicht warten konnte, bis wir im Ritz-Carlton sind“, brachte sie hervor und spuckte ins Becken, bevor sie sich den Mund mit dem Handrücken abwischte.

Max zupfte eine Handvoll Papiertücher aus dem Spender an der Wand und reichte sie ihr. „Lass dich nicht unterkriegen. Wisch dir das Gesicht ab, dann fahren wir weiter.“ Sie schnappte sich die Tücher und zischte: „Toll, wie du mit einem kranken Menschen umgehst!“

„Reisekrankheit ist keine Krankheit. Es nervt, aber es ist keine Krankheit.“

Er starrte ihr geradewegs in die Augen. Sie schienen glanzlos, und sie hatte dunkle Ringe. „Oh Scheiße.“

„Was?“ Sie wurde noch bleicher und sah sich in der Toilette um, als suche sie einen Fluchtweg.

„Du hast doch hoffentlich keine komische Hundekrankheit, oder?“ Er ging einen Schritt zurück.

Ihre Panik wich Wut. „Ich habe keine Hundekrankheit. Mir geht es einfach gerade nicht so gut. Wahrscheinlich liegt es daran, dass mich jemand wie du, ein Vampir, schlecht behandelt.“

Max konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. „Also, sprichst du jetzt vom Orakel oder …“

„Fahr zur Hölle!“ Sie drehte sich wieder über das Toilettenbecken und hustete trocken.

Nachdem er ein Papiertuch befeuchtet hatte, kniete er sich neben sie und tupfte ihr damit die Stirn. „Ganz sachte. Wenn du auf mich wütend bist, wird es nur noch schlimmer.“

„Vielleicht sollte ich nicht mit dir weiterfahren“, flüsterte sie. „Ich kann dir nichts nützen, wenn ich mich die ganze Zeit übergebe und krank bin. So wie ich mich fühle, kann ich auf keinen Fall kämpfen.“

„Wer hat davon gesprochen, dass du kämpfen musst?“ Daran hatte er überhaupt noch nicht gedacht. Sicher, er wusste, dass sich Bella sehr gut selbst verteidigen konnte. Schon häufig hatte er gesehen, wie sie sich schlug, und häufig genug hatte er etwas von ihrer Wut abbekommen. Aber in letzter Zeit wirkte sie sehr zerbrechlich, weitaus zu menschlich für seinen Geschmack. Früher hätte es ihm nichts ausgemacht, wenn sie verletzt oder getötet worden wäre. In der Tat, als sie ihn im Schlafzimmer von Nathan überwältigt und er unter ihr auf dem Boden gelegen hatte, war er so weit gewesen, ihr einen Pflock durchs Herz zu jagen. Damals hätte er sich über ihren Abgang totgelacht.

Sex, auch wenn er bedeutungslos war, hatte diese Sache geändert. Wem wollte er etwas vormachen? Wenn sie sich auch nur einen Zeh auf dieser Fahrt verstauchen würde, würde er sofort nach Hause fahren. Orakel hin oder her.

„Ich bin eine von der Bewegung ausgebildete Vampirjägerin. In einer physischen Auseinandersetzung werde ich also meinen Teil dazu beitragen.“ Allerdings klang sie bei diesen Worten nicht sehr zuversichtlich. Vielleicht lag es an der ganzen Kotzerei.

„Komm schon. Wir suchen uns ein Motel 6 oder so und gehen ins Bett.“

Max legte ihr einen Arm um die Schultern und brachte sie zum Auto. Dafür, dass sie gerade auf dem Boden der Toilette einer Tankstelle gekniet hatte, roch sie gut.

„Sag mal, hast du da drinnen Flieder und Veilchen gekotzt?“, witzelte er, aber ihr Sinn für Humor, wenn sie überhaupt einen hatte, war mit ihrer Magenkrankheit verschwunden.

„Mir ist nicht nach Reden zumute“, gab sie zurück, während Max für sie die Beifahrertür öffnete.

Er schlug die Tür hinter ihr zu, wartete auf eine Reaktion, ging um den Wagen herum und setzte sich ans Steuer. „Kann ich verstehen. Du musst dich ja auch ständig übergeben.“

Max fuhr ein wenig zügiger vom Parkplatz, als er es normalerweise getan hätte. Nicht, weil er befürchtete, dass sie sich über das ganze Armaturenbrett erbrach, sondern, weil es nicht schaden würde, sie ein wenig einzuschüchtern.

Als sie ein Stück weiter an einer Autobahnraststätte in ein Motel ein check ten, war Bella schon wie der blass und schwitz te.

Sie drängte sich an ihm vorbei durch die Tür, durchquerte das Hotelzimmer und verschwand im Badezimmer.

Im Licht der Flurbeleuchtung betrachtete Max die beiden Betten, nahm die rauen braunen Flanellbettdecken, die mit sehr verdächtigen Flecken übersät waren, und deckte damit die Fenster ab. Hoffentlich würden die Decken ihn vor dem Sonnenlicht schützen, wenn es Tag wurde.

Für den Fall, dass sie nicht ausreichen sollten, legte er die Matratzen und Bettdecken auf den Boden, wo sie am weitesten vom Fenster entfernt waren. So wären sie zwar zwischen der Wand und dem Lattenrost den ganzen Tag eingequetscht, aber das war immer noch besser, als sich in eine menschliche Fackel zu verwandeln.

Aus dem Badezimmer drangen weiterhin ekelerregende Würgegeräusche. Max wunderte sich, dass Bella immer noch etwas im Körper hatte, das sie ausspeien konnte, da sie viel weniger gegessen hatte, als sie erbrach. „Ich gehe und hole unsere Sachen aus dem Auto. Kann ich dich eine Sekunde alleine lassen?“

Schweres Atmen, dann ein leises: „Mir geht es gut.“

„Ja. Okay.“

Die Luft draußen schien kühler und frischer. Vielleicht lag es daran, dass Max den staubigen Gestank des Motels noch in der Nase hatte, aber draußen roch es schon nach Morgen. Den exakten Moment, in dem die Nacht in den Tag überging, hatte er drinnen verpasst.

Es tat ihm leid, er hätte ihn gerne draußen miterlebt.

Max zog seine Reisetasche und den Lederkoffer, der Bellas Sachen enthielt, aus dem Kofferraum. Instinktiv suchte er den Parkplatz ängstlich nach Lieferwagen, Kombis und Leichenwagen ab, in denen sich Vampire befinden konnten. Er zweifelte nicht daran, dass das Orakel wusste, dass sie auf dem Weg zu ihm waren.

Außerdem betrachtete er die Markisen über den Türen des Büros und der Motelzimmer. Er berechnete grob die Größe der Schatten, die sie werfen würden, für den Fall, dass er und Bella tagsüber verschwinden mussten. Aber die Tageszeit und der Abstand zwischen ihnen waren unsichere Variablen.

Er hoffte einfach nur, dass sie nicht um die Mittagszeit untertauchen mussten. Wenn das der Fall sein sollte, musste Bella ihren „Auftrag“ alleine zu Ende führen.

Natürlich gab es auch die geringe Chance, dass ihr Erscheinen überhaupt nicht bemerkt würde. Vielleicht schafften sie es, das Orakel einzuholen und sie mit ihren unglaublichen Waffen zu stellen und so einfach einen großartigen Erfolg zu erzielen. Max war sicher, dass das wahrscheinlicher war, als eines Tages mit Bella in ein Häuschen am Stadtrand zu ziehen, mit ihr pelzige Kinder zu haben und an einem schönen Julitag den Rasen zu mähen.

Das Gefühl, seiner Sache nicht sicher zu sein, mochte er nicht, ebenso wenig, wie nicht zu wissen, was er wie tun sollte und wie die ganze Sache enden würde. Nie hätte er gedacht, dass er die Treffen mit der Bewegung so sehr vermissen würde.

Fluchend griff er nach seinem Mobiltelefon. Carrie und Nathan waren wahrscheinlich gerade damit beschäftigt, die Sprungfedern ihrer Betten auszuprobieren, aber darauf wollte Max keine Rücksicht nehmen und wählte Nathans Nummer.

„Hallo?“ Nathan war sofort am Apparat, er klang müde, aber er war wach.

„Harrison hier. Seid ihr noch wach?“ Max sah auf seine Uhr.

„Es ist erst Mitternacht.“ Nathan schwieg. „Wo bist du?“ „Wir sind kurz hinter Indiana in Ohio. Ich dachte, ihr würdet sofort ins Bett gehen, sobald ihr zu Hause seid.“ Max hielt sich bewusst zurück, um nicht klar zu sagen, was er eigentlich gedacht hatte. Seitdem er und Carrie auf dem Fußboden in der Eingangshalle gelandet waren, war alles zwischen ihnen ein wenig komisch gewesen. Und jetzt wusste Nathan auch noch davon.

„Und ich dachte, ihr beide würdet so lange fahren, bis die Sonne wieder aufgeht. Warum seid ihr in Ohio?“

„Ach weißt du, ich mag Ohio so sehr, und da dachte ich, es wäre schade, wenn wir nicht inmitten der Hölle des Mittleren Westens einen Stopp einlegen würden.“ Max hustete, um den Kloß in seinem Hals loszuwerden. „Wir mussten anhalten. Bella ist krank.“

„Krank? Ist es etwas Ernstes?“ Max hörte ein schabendes Geräusch, daher wusste er, das Nathan die Hand über die Sprechmuschel hielt. Aber dennoch konnte Max hören, wie Nathan die Nachricht an Carrie weitergab: „Max sagt, dass Bella krank sei.“

„Nein, es ist nichts Ernstes.“ Max hob die Stimme, um Nathans Aufmerksamkeit zurückzuerlangen. „Ihr ist einfach vom Fahren schlecht geworden. Ich dachte, es wäre besser, aus dem Wagen herauszukommen und dann morgen die Strecke wieder aufzuholen.“

Im Hintergrund wurde gedämpft gesprochen, bis Nathan wieder am Hörer war. „Carrie sagt, ihr sollt es mit Ginger Ale versuchen, das beruhigt den Magen.“

„Sie ist Ärztin, und das ist alles, was ihr dazu einfällt?“ Max dachte daran, dass er außerdem die Spuren von Bellas Kotzerei im Wagen beseitigen musste. „Ich hoffe, sie hat nicht zu viel Geld für die Uni ausgegeben.“

„Na, komm schon, es ist nur ein Rat.“ Nathans Stimme wurde leiser, dann wieder lauter. „Gibt es sonst noch etwas?“

„Nein. Ich wollte nur wissen, ob ihr etwas von der Bewegung gehört habt. Ob ihr ein Okay oder sonst irgendetwas erhalten habt.“ Was für eine blöde Ausrede. Es war erst vier Stunden her, dass sie sich getrennt hatten. Woher sollten sie jetzt schon etwas von der Bewegung gehört haben? Nathan würde ihn sofort durchschauen.

Nathan gab ein unbestimmtes Geräusch von sich. „Wir sind noch nicht so lange hier. Carrie wird Cyrus morgen treffen, und ich hoffe, dass wir dann mehr wissen.“

Max pfiff durch die Zähne. „Sie trifft Cyrus? Und, wie findest du das?“

„Ich muss einfach damit umgehen.“ Was Nathan damit meinte, blieb Max schleierhaft, aber er ging davon aus, dass Carrie noch mit Nathan im Zimmer war und er daher nicht offen reden konnte.

„Sag ihr, dass sie zu einer bestimmten Zeit zu Hause sein soll.“ Es war nicht so, dass Max Carrie nicht traute, aber sie hatte ein großes Problem, sich von ihrem Schöpfer abzugrenzen. „Ich melde mich später noch mal bei dir.“

„Ja, mach’s gut, Max.“

Im Motel befand sich Bella immer noch im Badezimmer.

Max ging zur Tür und klopfte leise. „Geht es dir da drinnen gut?“

Zwar war ihre Stimme durch die Tür nur schwer zu verstehen, aber er hörte, dass sie weinte. „Ich muss alleine sein.“

Klar musste sie das. „Carrie hat gesagt, dass vielleicht ein bisschen Ginger Ale helfen würde. Soll ich losgehen und dir eine Flasche besorgen? Ich meine, ich muss noch etwas Zeit totschlagen. Es wird erst in sechs Stunden hell.“

„Nein. Es geht schon. Ich muss einfach … muss mich wieder unter Kontrolle bekommen.“ Sie schniefte leise.

Max lehnte mit der Stirn gegen das Türblatt. Auf der einen Seite wollte er ihr sagen, sie solle sich nicht so anstellen wie ein Baby, auf der anderen Seite wollte er sie trösten. Sie war keine zarte Blume. Sie war Bella, die Eisprinzessin, die eiskalte Vampirjägerin, die heißeste und böseste Frau mit dem größten Sex-Appeal, die er jemals hatte ficken dürfen. Sie hatte keine Träne vergossen, als er ihr Bein in Nathans Wohnzimmer ohne örtliche Betäubung zusammengenäht hatte. Sie musste sich wirklich um etwas sorgen, dass sie so reagierte. Und Max hatte das Gefühl, dass er genau wusste, was das war.

Bella hasste es, hilflos zu sein. Um genauer zu sein, sie hasste es, wenn sie die Hilfe anderer benötigte.

Max kannte dieses Gefühl sehr gut aus eigener Erfahrung. Leute, die ihr Leben, oder vielmehr ihr Leben nach dem Tode, wie in seinem Fall, allein lebten, wollten gern von sich glauben, sie seien einsame Inseln im Meer. Wenn sie jemals die Hilfe einer Person in Anspruch nahmen, würde es vielleicht noch einmal gut gehen. Aber vielleicht war dieselbe Person beim zweiten Mal nicht mehr da. Max kannte diesen Schmerz. Und so, wie sich Bella benahm, konnte er davon ausgehen, dass auch sie dieses Gefühl kennengelernt hatte.

Dennoch konnte er nicht zulassen, dass sie allein im Badezimmer weinte. „Brauchst du etwas aus deiner Tasche? Schlafanzug oder so?“

Blöde Frage. Sie rief heftige Erinnerungen hervor, die sich bei Max in Erregung äußerten. Bella brauchte keinen Schlafanzug. Sie schlief nackt. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt Unterwäsche trug.

„Ich habe keinen Schlafanzug.“ Von der anderen Seite der Tür hörte er ein Schniefen. „Darf ich mir ein Hemd von dir ausleihen?“

Max warf einen Blick auf seine Reisetasche auf dem Bett. „Ja, ich hole dir eins.“

„Nein, kann ich nicht das haben, was du gerade anhast?“, bat sie schüchtern, wenn sie zu etwas wie Schüchternheit überhaupt in der Lage war.

Max zupfte mit Zeigefinger und Daumen an seinem Shirt herum und runzelte die Stirn. Sie ist krank, ermahnte er sich selbst, und das war jetzt nicht der Moment, ihren skurrilen Wunsch zu hinterfragen. „Ja, klar.“

Als er sich das Hemd über den Kopf zog, öffnete sich die Tür einen Spalt. Bellas nackter Arm erschien, griff sich das Kleidungsstück und schloss dann wieder die Tür.

Kopfschüttelnd wandte sich Max seinem improvisierten Bett neben der Wand zu. Er zog sich seine Jeans aus und legte sich hin. Von der langen Fahrt war er verspannt, und hier auf dem harten Boden zu liegen, sorgte nicht dafür, dass sich sein Körper besser anfühlte. Er zog die Decke bis zur Taille – nicht dass Bella dachte, er würde sie nach ihrem Kotz-Konzert angraben wollen. Max redete sich ein, es sei eine gute Idee, heute früh schlafen zu gehen. Wenn sie das Orakel wirklich aufspürten, wäre es sicherlich gut, ausgeruht zu sein.

Als er ein Klicken hörte, wurde ihm bewusst, dass Bella aus dem Badezimmer herausgekommen sein musste. Ihr Haar, das normalerweise streng zurückgekämmt und zu einem langen Zopf geflochten war, hing ihr ins Gesicht. Max stellte fest, dass er sie noch nie mit offenen Haaren gesehen hatte, auch nicht, als sie miteinander im Bett gewesen waren. Sie schob sich einige dunkle Strähnen hinters Ohr und verschränkte die Arme über der Brust. Sein Hemd trug sie wie eine Rüstung und hielt es fest wie eine Kuscheldecke.

„Es riecht nach dir“, sagte sie leise. „Ich habe deinen Geruch vermisst.“

„Das ist …“ Er schloss die Augen. Wenn er sie nicht ansähe, wenn er nicht sah, wie verletzlich sie war, dann könnte er weiterhin auf sie wütend sein, weil sie ihn verlassen hatte. „… unheimlich.“

Nein, sie hatte ihn nicht verlassen. Das war nicht der Grund für seinen Zorn. Es war die Tatsache, wie leicht es ihr gefallen war, sich von ihm zu trennen. Aber allmählich verflog sein Zorn, da er nun wusste, dass das nicht stimmte. Und das war gefährlich.

Seltsamerweise klang ihre Stimme schwach. „Immer machst du Witze.“

Max spürte einen Kloß im Hals. Wie konnte es sein, dass sie nur ein paar Worte sagte, und schon fühlte er sich schlecht? Übte sie das heimlich? „Meine Witze haben dir sonst nie etwas ausgemacht.“

Er spürte ihre Wärme, als sie sich neben ihm hinkniete. Sein Bein zuckte, als sie ihm die Hand aufs Knie legte.

Als er die Augen öffnete und sie ansah, setzte er sich sofort auf. Sie war blass, noch blasser, als ein Mensch aussehen durfte, auch wenn er krank war. Ängstlich sah sie ihn aus großen Augen an.

„Himmel, Bella, was ist los?“ Er legte seine Hand auf ihren Arm, und sie griff danach, indem sie ihre Finger mit seinen verschränkte.

„Versprich mir …“, begann sie mit zitternder Stimme und drückte seine Hand, „Versprich mir, dass egal wie viel Zeit uns noch zusammen bleibt, dass wenn ich fort bin, du, egal was passiert, das tust, was in meiner Erinnerung als richtig erscheint.“

Als hätte ihn die Hand des Todes persönlich berührt, fühlte Max, wie es ihm kalt den Rücken hinunterlief. „Worüber redest du?“

„Du weißt doch, dass ich durch die Augen des Orakels gesehen habe.“ Sie neigte den Kopf, und eine Träne rann ihre Nase hinab.

„Wir wissen doch noch gar nichts.“ Er nahm ihre beiden Hände und legte sie in ihren Schoß. „Einige von den Dingen, die du gesehen hast, sind vielleicht gar nicht wahr.“

„Ich weiß, dass sie wahr sind.“ Bella sah auf, ihre Augen schimmerten wütend, als habe sie Fieber. Das war ein gutes Zeichen. Sie schien wieder so zu sein, wie sie vorher gewesen war. „Und ich sehe furchtbare Dinge. Wenn ich nicht mehr lebe, dann muss noch vieles getan werden. Versprich mir, dass du das tun wirst, was nötig ist.“

„Gut. Wenn du möchtest, dass ich deine Verwandten benachrichtige, das mache ich.“ Er versuchte, darüber zu lachen. „Aber ich sage dir, mir wird es nichts ausmachen.“ Fast biss er sich auf die Zunge, um nicht zu ergänzen: „Denn ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht.“

Sie entgegnete nichts, aber er spürte, dass sie ihm dringend sagen wollte, dass er falsch lag.

Er wollte es nicht hören. „Du bist müde. Du hast dich den ganzen Abend übergeben. Wahrscheinlich fehlt dir Flüssigkeit. Ich hol dir ein bisschen Wasser, und dann leg dich schlafen.“

„Ich will kein Wasser.“ Sie hob eine seiner Hände an ihre Lippen. „Schläfst du mit mir?“

„Nimm’s bitte nicht persönlich, aber ich habe dir gerade dabei zugesehen, wie du das Essen von zwei Tagen herausgekotzt hast, und das macht mich nicht gerade an, verstehst du?“ Er zog seine Hand zurück. „Vielleicht ein anderes Mal.“

Bella lächelte. „Nein, ich meinte, ob du mit mir zusammen in meinem Bett schläfst. Halt mich fest.“

„Du weißt doch, ich kann dir nichts abschlagen.“ Er deutete auf das Fenster und die behelfsmäßige Abdeckung durch die Wolldecken. „Aber wenn das nicht hält, dann werde ich vielleicht in wenigen Stunden gegrillt.“

„Dann steh doch einfach in einigen Stunden auf und leg dich dann auf den Boden.“ Sie nahm seine Hand in ihre, während sie aufstand und versuchte, ihn mit aller Kraft auf das Bett zu ziehen, bis sie beide lachend auf der Matratze zusammenbrachen. Dieser unbeschwerte Moment war Max viel zu kurz.

Später, als er glaubte, sie schliefe, nahm er eine Strähne ihres Haars in die Hand und wickelte sie sich um den Finger, während er sie flüstern hörte: „Ich habe Angst zu sterben.“

Er hatte das Gefühl, sein Herz krampfe sich zusammen. Nie im Leben würde er zulassen, dass Bella stürbe, doch eine Stimme sagte ihm, dass er aufhören müsse, den Abstand zwischen ihnen überwinden zu wollen – für alle Fälle.

Aber er war es leid, immer nur in der Defensive zu sein. Er wollte so nicht länger sein, nicht, wenn es um Bella ging. Er zog sie dichter an sich heran und hoffte, so die Zeit zu nutzen, die ihnen noch bleiben sollte.

Ich wollte es Nathan nicht spüren lassen, aber ich wäre am liebsten die Wände hochgegangen, während der Zeitpunkt immer näher rückte, an dem ich Cyrus treffen sollte. Was sollte ich ihm sagen? Was würde er mir sagen? Würden wir uns streiten? Würde ich ihn bedauern? Würde ich etwas Dummes tun, so wie beim letzten Mal, als wir uns gesehen hatten?

Würde ich überhaupt seine neue Adresse finden?

Bis dahin war mir noch nicht aufgefallen, dass ich ja gar nicht wusste, wo Cyrus jetzt lebte.

Sobald wir aufgestanden waren, hatte sich Nathan gleich wieder an die Bücher gesetzt. Höflich wies ich ihn darauf hin, dass es nett wäre, wenn er sich etwas überzöge. Er war so konzentriert bei der Arbeit, dass er nackt auf dem Sofa im Wohnzimmer saß. Nachdem er mich daraufhin ungnädig angegrummelt hatte, wollte ich ihn nicht weiter stören.

Aber es ging hier um ein wichtiges Detail. „Als du mit Cyrus telefoniert hast, hat er dir zufällig gesagt, wie man zu ihm kommt?“

„Hmm?“ Nathan sah von dem großen Handbuch in seinem Schoß auf. „Wohin?“

„Den Weg zu seiner Wohnung.“ Ich verdrehte die Augen. „Wie soll ich da hinkommen, wenn ich nicht weiß, wo er wohnt?“

„Du könntest ihn zum Beispiel anrufen. Ich bin sicher, dass er wach ist.“ Nathan wandte sich mit einem abschätzigen Schnaufen wieder seiner Lektüre zu. „Schließlich ist er ja jetzt menschlich. Vermutlich isst er gerade zu Abend.“

Ich sah zur Uhr. Es war neun Uhr abends. Dahlia war jetzt wahrscheinlich schon weg, also wählte ich Cyrus’ Telefonnummer.

Als er abnahm, klang er ein wenig abgelenkt und kurzatmig. Ich wollte mich nicht weiter damit beschäftigen, woran das wohl gelegen haben konnte. „Wie komme ich zu dir?“

„Du meinst, wie du herkommst?“ Er hielt inne.

Ich brummte zustimmend.

Seufzend antwortete er: „Ich habe gehofft, es würde nie so weit kommen, aber es ist so: Ich wohne ganz in der Nähe von euch. Warum treffen wir uns nicht an der Ecke vor Brandywine?“

Ich runzelte die Stirn. Am Fenster klopften riesige Regentropfen, und kurz zuvor hatte ich ein Donnergrollen gehört. Warum stellte er sich so an? „Warum sagst du mir nicht einfach, wo du wohnst?“

„Also gut.“ Er seufzte noch einmal schwer. „Ich wohne, und das wird dich sicherlich freuen, die Straße runter in dem großen grauen Haus, an dem die amerikanische Flagge mit den Regenbogenfarben weht.“

Um unserer Freundschaft willen – wie seltsam und unverständlich sie auch immer sein mochte – verkniff ich mir ein Lachen und schnaufte einfach nur.

„Ja, das ist tatsächlich irre komisch. Noch mehr wird dich freuen, zu hören, dass ich im Erdgeschoss wohne. Du musst ums Haus herum- und dann die Treppe hinuntergehen.“ Die Bitterkeit in seiner Stimme löste nun doch bei mir ein wenig Mitleid aus. „Ich nehme an, es war früher der Dienstboteneingang, bevor das Haus in einzelne Wohnungen aufgeteilt wurde.“

„So schlimm kann es doch nicht sein“, fing ich an, aber er schnitt mir das Wort ab.

„Ich muss jetzt los. Bis später.“ Ohne sich zu verabschieden, legte er auf.

Um neun Uhr dreißig küsste ich Nathan auf die Wange, um ihn von seinem Buch abzulenken.

„Gehst du jetzt schon?“ Zärtlich nahm er meine Hand und drückte sie. Obwohl er sich bemühte, die Blutsbande auszuschalten, spürte ich seine Verzweiflung.

Mach dir keine Sorgen. Ich komme doch nachher zu dir zurück.

Er lächelte mich an. „Das weiß ich doch, meine Süße.“ „Dann lass mich jetzt los, und mach dir keine Sorgen um mich.“ Ich glaubte nicht, dass er meiner Aufforderung folgen würde, aber es war den Versuch wert.

Bis ich die Wohnung verließ, tat er wenigstens so, als sei nichts. Das war für ihn ein riesiger Schritt, und ich war stolz auf ihn, dass er es geschafft hatte. Außerdem konnte ich mir jetzt kein schlechtes Gewissen erlauben. Wir waren schließlich wegen Cyrus zurückgekehrt.

Das Haus, das mir Cyrus beschrieben hatte, war nicht weit weg. Obwohl es regnete, ging ich zu Fuß. Es machte mir nichts aus, nass zu werden. Wenigstens nicht seit dem Medizinstudium, in dem ich lernte, dass es ein Virus war, der eine gewöhnliche Erkältung auslöste, und nicht nasse Haare. Ganz im Gegenteil, manchmal mochte ich den Regen.

Wie mir Cyrus gesagt hatte, ging ich zur Hintertür, die zu ebener Erde auf einen Flur führte. Ich musste mich entscheiden, eine Treppe hoch oder eine hinunter in den Keller zu gehen. Beide Wege waren von nackten Glühbirnen erleuchtet, die an Kabeln hingen.

„Schick“, murmelte ich ein wenig erheitert. Es stimmte, wer hoch hinaus will, fällt tief.

Am Ende der Treppe gab es eine Waschküche ohne Tür und einen einzigen Wohnungseingang mit dem Buchstaben B daran. Ich wollte gerade klopfen, als die Tür aufging.

Es dauerte eine seltsam lange Sekunde, bis ich begriff, dass es nicht Cyrus war, der mir öffnete. Mein erster Gedanke war: Es ist die falsche Tür. Und dann. Oh, Scheiße.

Dahlia schien Ähnliches zu denken. Aber sie erholte sich ein wenig eher als ich. Sie hatte die besseren Reflexe. Ihre Hände schnellten vor, legten sich um meinen Hals, und dann schob sie mich gegen die Wand.