KAPITEL 20
Tearloch beugte sich über die Wasserlache, in der Rafael das Bild von einem halben Dutzend Vampiren hervorgezaubert hatte, die sich im Augenblick in der Nähe des Höhleneinganges herumdrückten.
Nein, es waren nicht einfach nur Vampire, korrigierte er sich stumm, und ein Gefühl der Übelkeit stieg in ihm auf. Man musste kein Genie sein, um den hoch aufragenden Azteken und die tödlichen Raubtiere zu erkennen, die neben ihm standen.
Der Anasso und seine Raben.
»Gottverdammt«, flüsterte er. »Ich sagte doch, dass wir zu viel Zeit vergeuden.«
Der Zauberer ignorierte Tearlochs Klagen und schwenkte seine Hand über dem Wasser, um das Bild eines Vampirs mit dunklem Haar und silbernen Augen heranzuholen, der wie ein Pirat übelster Gesinnung wirkte.
»Dante, wie außerordentlich passend«, murmelte Rafael, und ein unangenehmes Lächeln bildete sich auf seinen Lippen.
»Du kennst den Vampir?«
»Er trägt die Schuld an meinem Tode.« Ein unheimliches Kichern hallte durch die Höhle. »Nun habe ich vor, mich zu revanchieren.«
Tearloch ballte die Hände zu Fäusten. Die heftige Angst, die in ihm aufwallte, drang bis in seinen verwirrten Verstand.
»Bist du wahnsinnig?«, fragte er. »Wir müssen von hier verschwinden, bevor wir in der Falle sitzen.«
Rafael schnalzte enttäuscht mit der Zunge. »Ihr habt es stets so eilig davonzulaufen, Tearloch.«
»Dass ich intelligent genug bin, um zu bemerken, wann die Gegenseite mir überlegen ist, hat mir das Leben gerettet«, hob Tearloch hervor. Er ballte erneut die Hände zu Fäusten, als er das spöttische Lächeln erblickte, das die Lippen des Zauberers kräuselte. »Offenbar ist das eine Lektion, die zu lernen du versäumt hast.«
In den Augen des Geistes flackerten rote Flammen auf, und der Gestank des Grabes erfüllte die Höhle.
»Unser Herr und Meister duldet keine Feiglinge an seiner Seite.«
Tearloch deutete auf die Bilder, die im Wasser widergespiegelt wurden. »Denkst du tatsächlich, du könntest ein halbes Dutzend Vampire besiegen?«
»Wir werden unbesiegbar sein, sobald wir den Fürsten der Finsternis haben auferstehen lassen.«
Dieses Versprechen spukte bereits in Tearlochs Kopf herum, seit er Avalon verlassen hatte. Nun jedoch hatte diese verführerische Aussicht mehr als nur ein wenig von ihrem Glanz verloren.
»Weshalb führtest du die Zeremonie dann nicht durch, als du die Möglichkeit dazu hattest?«, warf er dem nichtswürdigen Zauberer vor. »Nun ist es zu spät.«
»Es ist niemals zu spät.«
»Nein? Dein kostbarer Altar ist dank Ariyal tiefer als je zuvor begraben.«
Rafaels hageres Gesicht spannte sich vor Zorn an. »Ja, dafür wird er bezahlen, doch vorerst werden wir einen neuen Altar erschaffen müssen.«
Tearloch runzelte die Stirn über die so leichthin ausgesprochenen Worte. Einen neuen Altar? Nachdem sie Tage mit dem Versuch verschwendet hatten, die zerstörten Tunnel freizulegen?
»Weshalb zum Teufel hast du unsere Zeit mit dem Versuch vergeudet, den alten auszugraben, wenn diese Lösung ebenfalls in Betracht kam?«
»Weil ich annahm, Ihr würdet meine Methoden missbilligen.«
»Weshalb sollte ich sie missbilligen?«
Rafael vollführte eine Geste mit seiner knochigen Hand. »Ihr scheint Euren Stammesangehörigen recht zugetan zu sein.«
Sollte das ein Scherz sein?
»Was haben meine Stammesangehörigen mit deinem Altar zu tun?«
»Ihr seid nicht dumm, Tearloch.« Ohne Vorwarnung bewegte sich der Geist auf das Kind zu, das auf einen flachen Felsen mitten in der Höhle gebettet war. Die dunklen Gewänder umwallten seine knochendürre Gestalt, als er sich vorbeugte, um den Säugling prüfend anzublicken, der nach wie vor in einem tiefen Schlaf lag. »Der Fürst der Finsternis fordert ein Opfer. Blut muss über den Altar fließen.«
Ein heftiger Schock durchzuckte Tearloch bei der emotionslosen Ankündigung, dass er zusehen müsse, wenn seine Brüder wie hilflose Lämmer abgeschlachtet wurden.
Aber weshalb?
Seit jenem Augenblick, als er Rafael beschworen hatte, hatte er gewusst, dass es sich bei diesem um einen unmoralischen Bastard handelte, der bereitwillig die Welt zerstören würde, um seine Machtgier zu befriedigen.
Was bedeutete ihm schon eine Kleinigkeit wie die Ermordung eines ganzen Stammes?
Tearlochs verkrampfte Kiefermuskeln machten ihm das Sprechen beinahe unmöglich.
»Nein.«
»Doch.« Rafael durchbohrte ihn mit einem erbarmungslosen Blick. »Es gibt kein anderes Mittel.«
»Du treulose Schlange!« Instinktiv wich Tearloch zurück. Er erinnerte sich verschwommen an Ariyals Warnungen. Weshalb nur hatte er nicht auf seinen Prinzen gehört, statt sich von den Stimmen beeinflussen zu lassen, die seinen Verstand verwirrten? »Das war von Anfang an dein Plan, nicht wahr?«
Der Zauberer richtete sich auf, und seine Hand spielte mit dem Anhänger an seiner Halskette.
»Plan?«
Tearloch prallte gegen die Wand am anderen Ende des Raumes, und sein Magen krampfte sich vor Entsetzen zusammen.
»Götter, ich war so blind! Du hast meine Brüder und mich absichtlich in diese Höhlen gelockt!«
»Seid kein Dummkopf«, fuhr ihn Rafael an.
»Ihr habt recht, wenn Ihr den Zauberer fürchtet«, versicherte ihm eine Stimme, und Tearloch drehte sich um und sah, wie Sergei die Höhle betrat. Er wirkte eindeutig mitgenommen: Sein silbernes Haar war verfilzt und sein einst so erlesener Anzug zerrissen und verdreckt. Aber sein schmales Gesicht drückte arrogantes Selbstbewusstsein aus. Sergei trat neben Tearloch. »Wie Ihr Euch erinnern werdet, hatte ich Euch gewarnt.«
»Magier.« Rafael gelang es, das Wort wie einen Fluch klingen zu lassen. »Ich hätte wissen sollen, dass du auftauchen würdest.«
Sergei wandte seine Aufmerksamkeit nicht von Tearloch ab. Seine hellen Augen funkelten hektisch.
»Hört mich an, Sylvermyst. Man kann dem Geist nicht trauen.«
»Und ich vermute, du bist bereit zu schwören, dass deine eigenen Motive ganz und gar ehrenhaft sind?«, spottete Rafael.
Der Magier zuckte die Achseln und schenkte Tearloch nach wie vor seine ganze Aufmerksamkeit.
»Ich habe meine Absichten niemals verheimlicht, doch meine Pläne, den Meister auferstehen zu lassen, beinhalteten zu keiner Zeit, meine Verbündeten niederzumetzeln.«
Der Zauberer gab ein leises Fauchen von sich, und seine Kräfte wirbelten durch die Luft und drangen in Tearlochs Verstand ein, in dem Versuch, ihn mit dem Nebel zu verwirren.
»Das liegt daran, dass du weder über die Fertigkeiten noch über die Macht verfügst, die für die Zeremonie vonnöten sind«, sagte Rafael in dem leisen, eintönigen Tonfall, mit dem er seinen Zuhörer zu betören versuchte. »Du magst zwar imstande sein, die Leichtgläubigen zu täuschen, doch ich lasse mich nicht so einfach zum Narren halten. Und Tearloch ebenso wenig.«
Sergei griff nach Tearlochs Arm und ließ auf dessen Haut ein magisches Kribbeln entstehen, zweifellos ein Versuch, Rafaels Zauber abzuwehren.
»Du weißt überhaupt nichts, Zauberer.« Sergeis Finger gruben sich in Tearlochs Arm. »Meine Kräfte sind stärker, als du es dir je vorstellen könntest.«
Rafaels hämisches Gelächter wurde von den glatten Wänden zurückgeworfen. »Nein, du bist derjenige, der sie sich vorstellen muss, denn sie existieren lediglich in deiner Vorstellung.«
Der Magier wandte sich blitzschnell zu dem spottenden Zauberer um, das Gesicht vor Zorn gerötet.
»Soll ich dir beweisen, wie unrecht du hast?«
Tearloch schüttelte den Kopf und fragte sich, ob tatsächlich er hier der Wahnsinnige war.
»Wir stehen kurz davor, von Vampiren massakriert zu werden, und ihr beide wollt kostbare Zeit damit vergeuden, einen magischen Schwanzlängenvergleich auszutragen?«, brachte er krächzend hervor.
Rafael winkte mit seiner knochigen Hand, und ein Hauch von Frustration brannte in seinen erbarmungslosen Augen.
»Ich will Euch nur zu der Einsicht bringen, dass der Magier nicht in der Lage ist, die Versprechen, die er Euch gab, zu halten.«
Tearloch schnaubte. »Im Augenblick mache ich mir einzig und allein Sorgen darum, wie ich so schnell wie möglich von hier verschwinden kann.«
»Eine kluge Entscheidung«, murmelte Sergei.
Es wäre eine kluge Entscheidung gewesen, Ariyal die Treue zu halten, wozu alle seine Instinkte ihn gedrängt hatten, sagte sich Tearloch insgeheim. Es war eine verdammte Schande, dass er die Wahrheit erst erkannte, als es bereits zu spät war.
»Hole das Kind«, befahl er dem Magier.
»Natürlich.«
Sergei bewegte sich vorsichtig auf den Säugling zu, den Blick auf den Zauberer gerichtet, der Tearloch stirnrunzelnd ungläubig anstarrte. Er konnte es absolut nicht fassen, dass sein Einfluss auf Tearloch nicht so groß war, wie er gedacht hatte.
»Nicht so hastig, mein Freund.«
»Hastig?« Tearlochs Lachen ließ einen hysterischen Unterton erkennen. »Wie ein Idiot ließ ich es zu, dass ihr beide mich manipuliert und benutzt habt, um den größten Vorteil für euren eigenen Ruhm daraus zu ziehen. Aber das hat nun ein Ende. Ich spiele dieses Spiel nicht mehr mit.«
»Ich habe Euch versprochen, die Zeremonie durchzuführen«, rief ihm der Zauberer mit der gleichen betörenden Stimme wie zuvor ins Gedächtnis.
Tearloch presste seine Hände gegen die Wand, die sich hinter ihm befand, und konzentrierte sich auf den glatten Stein unter seiner Handfläche, in dem Versuch, die Stimme des Zauberers zu verdrängen.
»Und doch gibt es stets neue Gründe, sie wieder zu verschieben.«
Rafael warf einen Seitenblick auf Sergei, der seine vorsichtige Annäherung an den Säugling fortsetzte. Dann lächelte er bösartig. Die Vorfreude war ihm anzusehen.
»Nun gut.«
Rafael hob mit einer dramatischen Geste die Hände, schlug die Ärmel seiner Robe zurück und begann seine Finger in einem komplizierten Zickzackmuster zu bewegen. Es war wie in einem schlechten Film. Der unheimlich aussehende Zauberer in seinen Satingewändern. Eine dunkle, gespenstische Höhle. Eine Horde von Vampiren, die kurz davor war anzugreifen.
Tearloch hätte gelacht, wenn es nicht so schmerzhaft traurig gewesen wäre.
Und dann begannen diese gestikulierenden Finger zu leuchten. Es war ein unheimliches Licht, das sich ausbreitete und wie ein Portal schimmerte.
»Was tust du da?«
»Ich sorge dafür, dass der Schleier zwischen unserer Welt und dem Fürsten der Finsternis dünner wird.«
Vielleicht hätte Tearloch angenommen, dass es sich dabei lediglich um einen weiteren Trick handelte. Jedoch veränderte der Luftdruck sich deutlich, während der Schimmer sich ausbreitete, bis er die Größe eines typischen Durchganges besaß.
»Daraus besteht die Zeremonie?«, fragte er, während eine seltsame Furcht in seiner Magengrube zu flattern begann. »In einem Wackeln deiner Finger?«
»Dies ist erst der Beginn.« Rafael bewegte sich in einem verblüffenden Tempo. Mit einem Mal stand er neben dem flachen Felsen und versperrte Sergei den Weg zu dem Kind. »Wir werden dies als provisorischen Altar verwenden. Natürlich muss er geweiht werden.«
Tearloch trat auf ihn zu und griff über seine Schulter, um sein Schwert aus der Lederscheide zu ziehen.
»Ich sagte doch bereits, dass ich meine Brüder nicht opfern werde.«
Rafael lächelte nur und bewegte die Hände auf den Magier zu. »Dann ist es ein glücklicher Zufall, dass wir über Sergeis Blut als Opfergabe verfügen.«
»Nein.« Sergei versuchte zurückzuweichen, nur um zu entdecken, dass er im Bann des Zauberers gefangen war.
Rafael kicherte und vollführte eine schnelle Handbewegung. »Komme zu mir, Magier.«
Der Magier gab ein ersticktes Stöhnen von sich und griff sich mit den Händen an die Kehle, als werde er von einer unsichtbaren Kraft erstickt.
»Tearloch, helft mir!«, flehte er.
Rafael trat direkt vor den Magier. »Weigerst du dich, unserem geliebten Meister zu Diensten zu sein, Sergei?«
Tearloch leckte sich über die Lippen, während er die beiden Magienutzer mit zunehmender Reue anblickte.
Dies war das, was er sich so verzweifelt gewünscht hatte, und nun, da der Augenblick gekommen war, hätte er am liebsten alles in seiner Macht Stehende getan, um die Zeit zurückzudrehen.
»Das ist alles, was man benötigt, um den Fürsten der Finsternis auferstehen zu lassen?«
»Natürlich nicht.« Sergei gelang es auszuspucken. Er fiel auf die Knie, und sein Gesicht nahm einen eigentümlichen braunroten Farbton an. »Er benötigt mein Blut nur, um den Schleier zwischen den Welten so weit zu öffnen, dass der Fürst der Finsternis Euch und Eure Brüder niedermetzeln kann. Erst dann wird der Meister seinen Geist an das auserwählte Kind weitergeben.«
»Halte den Mund!«, knurrte Rafael und warf den Magier zu Boden, bevor er sich erneut Tearloch zuwandte. »Er versucht Euch zu hintergehen, Meister.«
»Nein.« Tearloch schüttelte den Kopf. Zum ersten Mal seit Wochen war er in der Lage, klar zu denken. Er richtete das Schwert auf die Kreatur, die er, dumm wie er war, aus dem Grab herbeigerufen hatte. »Du bist derjenige, der mich verraten hat. Nun werde ich dich in die Hölle zurückschicken, aus der du gekrochen kamst.«
»Du lässt mir keine andere Wahl, Sylvermyst«, knurrte der Zauberer und entließ Sergei aus seiner magischen Kontrolle, um die Hand auf Tearloch zu richten.
Da er gerade damit beschäftigt war, seine Verbindung zu dem Geist zu durchtrennen, die Rafael in dieser Welt verankerte, bemerkte Tearloch nicht, wie gefährlich ungeschützt er war.
Nicht, bevor ein blendendes Licht seinen Verstand erfüllte, jeden Gedanken auslöschte und auf grausame Weise die kurze Kostprobe seiner Unabhängigkeit beendete.
Tearloch war verloren.
Vernichtet von dem Willen des Zauberers.
Ariyal spürte, dass seine Stammesangehörigen sie genau im Auge behielten, als sie die unteren Tunnel betraten.
Die Ungeduld zerrte an ihm, während er weiterlief.
Verdammt. Die Zeit verging viel zu schnell. Er musste seine Brüder davon überzeugen, dass es besser war zu verschwinden, bevor die Vampire angriffen.
Das gestaltete sich jedoch schwierig, da sie deutlich machten, dass er einen unwillkommenen Eindringling darstellte.
Aber er beging nicht den Fehler, den Vorgesetzten herauszukehren.
Ihnen zu befehlen, anzuhalten und ihm Rede und Antwort zu stehen, brächte ihm wahrscheinlich einen Pfeil in den Rücken ein.
Oder Schlimmeres.
Er war sich Jaelyns kaum gezügelter Frustration sehr bewusst, während sie ihm folgte. Absichtlich bog er in eine der größeren Höhlen ab. Nun hieß es jetzt oder nie.
Glücklicherweise ließen sich die Sylvermyst endlich ködern. Sie traten aus den Schatten und umringten ihn und Jaelyn, wobei sie einen engen Kreis um die beiden bildeten.
»Das ist weit genug.«
Ariyal blieb regungslos stehen, als der große, schlanke Sylvermyst mit den zinnfarbenen Augen und dem langen, bernsteinfarbenen Haar, das im Nacken zu einem Zopf geflochten war, ihm gegenübertrat.
»Elwin.«
»Mischt sich der mächtige Prinz nur zeitweilig unter das gemeine Volk, oder hat er sich entschieden, dem Gesindel beizutreten?«, spottete der ältere Sylvermyst.
»Ich trete keinen Verrätern bei.«
Elwin kniff die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, eindeutig verärgert über die schroffe Zurückweisung. Aber Ariyal entging nicht, dass der Mann weder seinen Bogen herbeirief noch sein Schwert aus dem Halfter zog, das um seine schmale Taille geschnallt war.
»Weshalb zum Teufel seid Ihr dann hier?«
Mit einem leisen Fauchen trat Toras zu Elwin. Seine blassgoldenen Augen harmonierten perfekt mit seinem Haar, das bis auf die Schulter reichte.
»Könnt ihr euch das nicht vorstellen?«, knurrte Ariyal.
Elwin stutzte und kniff die Augen zusammen, als sein Blick von Ariyal zu der schweigenden Jaelyn glitt.
»Verbunden«, stieß er verächtlich hervor. »Mit einer Blutsaugerin?«
Toras zeigte missbilligend mit dem Finger auf Ariyal. »Er ist hier, um uns an die Blutsauger auszuliefern.«
»Und Ihr nennt uns Verräter?«, höhnte Elwin.
Ariyal hielt seinen Wutausbruch zurück. Er würde seine Brüder später dafür büßen lassen, dass sie seiner Gefährtin nicht den geringsten Respekt entgegengebracht hatten.
Vorerst jedoch war nur eines wichtig: sie alle wohlbehalten aus den Höhlen zu befreien.
»Ich bin als euer Prinz hier, um euch freies Geleit aus diesen Höhlen zu gewähren.«
»Damit wir direkt in die Arme der Vampire laufen?« Elwin ballte die Hände zu Fäusten, und Misstrauen glühte in seinen ermatteten Augen. Und wer hätte es ihm auch verübeln können? Zuerst war er dazu verleitet worden, Morgana zu vertrauen, und nun war er in den Höhlen gefangen, mit einem Anführer, der am Rande des Wahnsinns stand. Wie hätte er denn nicht annehmen sollen, dass Ariyal beabsichtigte, ihn zu verraten? »Ihr könnt uns nicht anlügen – wir wissen, dass sie dort oben sind.«
»Ja.« Es hatte keinen Sinn, auch nur zu versuchen, die Unwahrheit zu sagen. Die Vampire hatten nichts getan, um ihre Anwesenheit zu verheimlichen. »Sie bereiten sich darauf vor, das Kind zu retten und den Zauberer in die Hölle zurückzuschicken. Ich habe sie gebeten, mit ihrem Angriff zu warten, bis ich mit euch gesprochen habe.«
Toras schnaubte. »Also habt Ihr Euch nun mit den Blutsaugern verbündet?«
Ariyal zuckte mit den Schultern. »Für die Zeit, die vonnöten ist, um die Rückkehr des Fürsten der Finsternis zu verhindern.«
»Habt Ihr vergessen, dass er unser Herr und Meister ist?«, wollte Elwin wissen.
Ariyal war der Unterton in der Stimme seines Bruders nicht entgangen. Elwin mochte vielleicht die richtigen Worte verwenden, aber er schien nicht mehr ganz überzeugt von ihnen zu sein.
»Ich habe nichts vergessen, und aus diesem Grund beabsichtige ich auch alles zu tun, was nötig ist, um ihn von dieser Welt fernzuhalten.« Er hielt inne und drehte sich langsam im Kreis, um jedem seiner Brüder in die Augen zu blicken, bis er wieder bei Elwin angelangt war. »Ich habe nicht die Absicht, mich je wieder einem anderen Herrn zu unterwerfen.«
Ein angespanntes Schweigen breitete sich in der Höhle aus. Die Zukunft stand auf Messers Schneide.
Ariyal wagte kaum Luft zu holen, während er das Durcheinander von Gefühlen in sich aufnahm, das auf ihn einströmte. Die Vorsicht, die Angst und die unsichere Hoffnung, die so leicht zerstört werden konnte. Und vor allem den verlässlichen Trost durch Jaelyns Anwesenheit. Ohne ein einziges Wort auszusprechen, vermittelte sie ihm, dass sie ihm den Rücken stärkte.
Jederzeit.
Endlich räusperte sich Elwin. »Angenommen, wir wären dumm genug, Euch zu vertrauen – was geschieht dann mit uns?«
Ariyal machte eine Bewegung mit der Hand. »Ihr seid frei.«
»Frei?« Die Zinnaugen verengten sich. »Wir können einfach gehen?«
»Ja.«
»Und was ist mit unserer Verpflichtung Euch gegenüber?«, erkundigte sich Toras.
Ariyal wölbte eine Augenbraue, vom Scheitel bis zur Sohle ganz der Prinz, zu dem er gezwungenermaßen erkoren worden war.
»Ihr habt euch meines Vertrauens als unwürdig erwiesen.« Seine Stimme enthielt magische Nadelstiche, die seine Brüder an seine Macht erinnerten. Er war schließlich nicht wegen seiner einnehmenden Persönlichkeit zum Anführer seines Stammes geworden. »Wenn ihr in meinen Stamm zurückkehren wollt, dann müsst ihr euch eure Stellung verdienen.«
Die Sylvermyst hinter ihm stiegen von einem Fuß auf den anderen. Sie waren klug genug, um zu wissen, dass Ariyals Rede kaum darauf abzielte, sie in einem falschen Gefühl der Sicherheit zu wiegen.
Nicht, dass sie bereit gewesen wären, sich ihm anzuschließen.
»Das ist ein Trick«, murmelte Toras, womit er bewies, dass Ariyal mit seiner Vermutung recht gehabt hatte.
Ariyal trat einen Schritt auf den goldhaarigen Sylvermyst zu. »Habe ich euch jemals angelogen?«
»Nein, aber – verdammt!«
Urplötzlich explodierte Magie in der Luft und ließ die Sylvermyst vor Schmerz aufkeuchen. Jaelyn runzelte verwirrt die Stirn.
»Ariyal«, fragte sie mit rauer Stimme, »was geht hier vor?«
Es gab nur eine Erklärung dafür.
»Sie haben den Magier gefunden«, murmelte er und begriff, dass ihre Zeit abgelaufen war. Das Ganze würde sehr bald hässlich ausarten. Alles, was er tun konnte, war, zu retten, was er konnte. »Elwin.«
Der Sylvermyst nahm angesichts von Ariyals Befehlston instinktiv Haltung an.
»Ja, Sire?«
»Nimm die Männer, und macht, dass ihr von hier verschwindet.«
Elwin schien unschlüssig zu sein, Besorgnis zeichnete sich auf seinem schmalen Gesicht ab. »Und was ist mit den Vampiren?«
Ariyal packte seinen Bruder am Arm und sah ihn fest an. »Du hast mein Wort, dass sie dir keinen Schaden zufügen werden, solange du nichts unternimmst, um sie zu provozieren. Vertraust du mir?«
Elwin schwieg einen Augenblick lang und nickte dann langsam zustimmend. »Ja.«
»Gut.«
Eine kollektive Woge der Erleichterung ging von den versammelten Sylvermyst aus, ebenso wie die kaum gezügelte Sehnsucht, aus den dunklen Höhlen zu eilen, um frische Luft zu atmen. Aber Elwin verließ die Höhle nicht sofort. Stattdessen blickte er Ariyal stirnrunzelnd an.
»Was ist mit Euch?«
»Ich muss Tearloch und das Kind holen.«
Elwin schüttelte den Kopf. »Er wird nicht auf Euch hören, denn er steht unter dem Bann des Zauberers.«
Ariyal zuckte die Achseln. »Niemand wird zurückgelassen.«
Etwas schimmerte in den Zinnaugen, und dann sank Elwin abrupt auf die Knie und beugte reumütig den Kopf. Im Handumdrehen kniete auch der Rest des Stammes vor Ariyal. Die Männer hatten in einer Geste der Kapitulation ihre Schwerter gezogen und sie auf den Steinboden geworfen.
»Sire«, flüsterte Toras, »vergebt uns.«
»Wir alle haben Fehler gemacht«, versicherte Ariyal ihnen. »Nun bleibt uns zu hoffen, dass wir aus ihnen lernen können.«
Elwin hob den Kopf. »Ich verspreche, dass ich, falls wir diese Sache überleben, alles tun werde, worum auch immer Ihr mich bittet, um in unseren Stamm zurückkehren zu dürfen.«
Ariyal streckte die Hand aus und zog den Sylvermyst mit ernster Miene auf die Beine.
»Alles, worum ich dich bitte, ist, dass du dich um unsere Brüder kümmerst.«
»Ihr habt mein Wort.«
In einem stummen Versprechen legte Elwin seinem Bruder die Hand auf die Schulter. Dann stieß er einen schrillen Pfiff aus, woraufhin der Rest des Stammes aufsprang und schweigend aus der Höhle eilte.
Ariyal schickte ein stummes Stoßgebet zum Himmel, dass die Männer sicher aus der Höhle hinausgelangten. Dann wandte er sich seiner Gefährtin zu. Er hütete sich, auch nur vorzuschlagen, dass sie sich seinen Stammesangehörigen auf ihrer Flucht aus der Dunkelheit anschloss.
So dumm war er nicht.
»Bist du bereit?«
Sie hielt ihr Schwert in der Hand und bleckte ihre voll ausgefahrenen Fangzähne. »Lass es uns hinter uns bringen.«