KAPITEL 4

Ariyal glaubte nicht an den Weihnachtsmann.

Wenn sich ein dicker Mann in einem roten Kostüm in sein Versteck schliche, würde er diesem Mistkerl den Kopf abschlagen.

Aber er musste annehmen, dass wohl irgendeine Art von Magie im Spiel war, wenn schöne Vampirinnen aus dem Nichts auftauchten.

Insbesondere, wenn es sich dabei um dieses bestimmte Exemplar handelte.

Das war wahrhaft ein Geschenk, das ein Mann zu schätzen wusste.

Einen irrsinnigen Moment lang genoss er einfach das Gefühl ihres schlanken Körpers, der gegen den seinen gepresst war. Gott, es war so lange her, seit er echtes Verlangen gespürt hatte.

Das war nicht mehr vorgekommen, seit Morgana, das Miststück, ihn in ihren Harem aufgenommen hatte.

Jetzt schien sein Körper entschlossen, die verlorene Zeit nachzuholen.

Doch trotz der wilden Begierde war ihm sein Verstand nicht so sehr abhandengekommen, dass er sich nicht daran erinnert hätte, welch extrem große Gefahr diese Frau für ihn darstellte.

»Wie zum Teufel bist du hierhergekommen?«, knurrte er und hielt ihr das Messer an die Kehle, wohlweislich darauf bedacht, dass es auch nicht im Geringsten ihre perfekte, alabasterweiße Haut ritzte.

Sie stemmte die Hände gegen seinen Brustkorb, unternahm aber keinen Versuch, ihn zu töten.

Wenn das kein echter Fortschritt war.

»Geh von mir runter, du Idiot!«, fauchte sie.

»Erst wenn ich mir ganz sicher bin, dass du nicht beabsichtigst, ganz London auf unsere Anwesenheit aufmerksam zu machen.«

Etwas wie Verlegenheit über ihren alles andere als würdevollen Auftritt spielte über Jaelyns schönes Gesicht, doch dann funkelte sie ihn ärgerlich an.

»Gib nicht mir die Schuld. Es war dein kleiner Geist, der mich hier abgeladen hat.«

»Geist?«

»Yannah.«

Ariyal sah sie irritiert an. Er hatte schon gelegentlich einen Geist mit dem Namen Yannah beschworen, aber dieser war wohl nicht dazu imstande, Avalon zu betreten. Und ganz sicher konnte Yannah Jaelyn nicht nach London gebracht haben.

»Geister sind nicht in der Lage, Portale zu erschaffen.«

»Gespenster sind deine Spezialität, nicht meine«, murmelte Jaelyn mit plötzlich verschlossener Miene. »Alles, was ich weiß, ist, dass sie unerwartet in Avalon aufgetaucht ist und mich durch ein Portal gestoßen hat. Und ehe ich mich’s versah, landete ich mit dem Gesicht voran in London.«

Sie log.

Da war er sich sicher.

Die Frage war, ob überhaupt irgendetwas von dem, was sie von sich gegeben hatte, der Wahrheit entsprach.

»Ich habe gespürt, dass irgendetwas an Yannah anders war, als ich sie aus der Unterwelt herbeirief«, gestand er schließlich.

»Offensichtlich solltest du vorsichtiger sein, wenn du Wesen aus der Hölle hereinbittest«, meinte Jaelyn spöttisch.

Ja, da würde er ihrer Logik nicht widersprechen.

»Damals war ich abgelenkt, wenn du dich erinnerst. Und du warst es, die sie entkommen ließ, bevor ich sie ordentlich verbannen konnte.«

»Wie auch immer.« Sie wich seinem Blick aus. »Gehst du jetzt von mir runter?«

Verdammt. Was zum Teufel verbarg sie vor ihm?

»Geist oder nicht – warum sollte Yannah uns nach Avalon folgen und sich dann praktischerweise in der Nähe aufhalten, um dir bei der Flucht zu helfen?«

Es folgte eine kaum wahrnehmbare Pause. »Sie schuldete mir etwas, weil ich sie aus ihrer Gefangenschaft bei dir befreit habe. Ich habe meine Schuld eingefordert.«

»Ich glaube dir nicht.«

Sie wehrte sich gegen ihn, und das Gefühl ihrer harten Muskeln, die sich unter ihm wanden, ließ ihn beinahe in Flammen aufgehen. Verdammt. Wenn er all diese aufgestaute Aggression in Leidenschaft verwandeln könnte, wäre sie jetzt nackt und ritte ihn wie ein bockendes Wildpferd.

Diese Vorstellung brannte sich in sein Gehirn ein und machte ihn so hart und bereit, dass er fürchtete zu explodieren.

»Dann hast du eben Pech gehabt«, knurrte sie.

Er knirschte mit den Zähnen. Verdammt, er würde sich nicht ablenken lassen.

Zumindest nicht ohne Aussicht auf Befriedigung.

»Warum bist du mir hierher gefolgt?«

»Du weißt, warum.«

Er lächelte humorlos und presste seinen schmerzhaft erregten Penis gegen ihre Hüfte.

»Verlockend, doch ich fürchte, du wirst warten müssen, bis du mich deinem bösen Willen unterwerfen kannst«, spottete er. »Zumindest, bis ich die Katastrophe aufgehalten habe.«

In ihren Augen flammte ein indigofarbenes Feuer auf, und sie legte jetzt alle Kraft hinein, sich von ihm zu befreien.

»Mein einziges Interesse an deinem Körper besteht darin, ihn vor die Kommission zu schleifen.«

Er drückte ihr das Messer gegen den Hals und weigerte sich, Reue darüber zu empfinden, dass ihr Fleisch begann, verbrannt zu riechen.

Wenn sie versuchte, ihn vor die Kommission zu schleppen, würde er ihr sehr viel Schlimmeres antun müssen, als ihr ein wenig Haut zu versengen.

»Falsche Antwort.«

»Verdammt, das brennt!«

»Halt still, dann wirst du auch nicht verletzt«, teilte er ihr mit und hob seine freie Hand, um ein Portal zu erzeugen.

Augenblicklich bildete sich der vertraute Schimmer neben ihm. Kein anderes Mitglied des Feenvolkes konnte es mit seiner Schnelligkeit aufnehmen, wenn es darum ging, ein Portal zu erzeugen.

Oder mit seiner Widerstandsfähigkeit gegen Eisen.

Das waren nur zwei von vielen Gründen, warum er ausgewählt worden war, um sein Volk anzuführen.

Jaelyn erstarrte und heftete ihren Blick auf die magische Öffnung, die sich neben ihrem Kopf gebildet hatte.

»Was machst du da?«

»Ich bringe dich zurück nach Avalon.« Er kniff die Augen zusammen. »Und dieses Mal werde ich dafür sorgen, dass niemand zu deiner Rettung geeilt kommt.«

Sie fluchte und wandte widerstrebend den Kopf, um seinem erbarmungslosen Blick zu begegnen.

»Warte.«

»Warum sollte ich?«

»Wir …« Sie sah aus, als habe sie eine Zitrone verschluckt. »… könnten vielleicht verhandeln.«

Instinktiv nahm er den Dolch von ihrem Hals und beobachtete geistesabwesend, wie die kleine Wunde auf ihrer Haut verheilte.

Er sollte sie nach Avalon zurückbringen. Ohne Wenn und Aber. Es war sehr wahrscheinlich, dass sie entweder da war, um ihn vor die Kommission zu schleifen – oder um ihn zu töten.

Keine dieser Möglichkeiten war sonderlich angenehm.

Dennoch zögerte er.

Gab es da nicht ein Sprichwort bei den Menschen, das hieß, man solle seinen Freunden nahe sein, seinen Feinden aber noch näher?

Es war sicherlich klüger, Jaelyn im Auge zu behalten, bis er herausgefunden hatte, wie sie wirklich aus Avalon entkommen war.

Das war zwar eine zweifelhafte Logik, aber er würde sich an sie halten.

»Noch ein Angebot, Schätzchen?«

»Etwas in dieser Art.«

Er senkte den Blick zu ihren kleinen Brüsten, die sich unter dem schwarzen Lycra perfekt abzeichneten.

»Was willst du mir anbieten?«

Sie knurrte, aber erstaunlicherweise machte sie keinerlei Anstalten, die perlweißen Zähne in seinen Arm zu graben. Tatsächlich verzog sich ihr Mund zu etwas, von dem Ariyal annahm, dass es ein Lächeln sein sollte, auch wenn es viel eher einer beginnenden Leichenstarre ähnelte.

»Ich gebe dir freiwillig ein paar Tage Zeit, um Tearloch zu finden«, stieß sie hervor. »Wenn du schwörst, dass du das Kind nur holst und nicht opferst.«

Diese Sache wurde immer merkwürdiger.

»Warum?«

»Ich werde dir nicht dabei helfen, eine Unschuldige zu töten.«

Er drückte ihr erneut das Messer an den Hals. »Spiel nicht die Dumme.«

Sie schnappte mit ihren Fangzähnen nach ihm und verfehlte dabei knapp seine Finger. »Pass bloß auf, Feelein.«

»Anfangs hast du dich geweigert, auch nur über mein Bedürfnis zu sprechen, Tearloch und Sergei aufzuhalten«, rief er ihr ins Gedächtnis. »Was hat sich seitdem geändert?«

Sie veränderte ihre Position, bis die Klinge ihr nicht länger die Haut verbrannte. Ihr rabenschwarzes Haar ergoss sich über den feuchten Asphalt.

»Ich bin nicht erpichter als du auf das Ende der Welt. Insbesondere, wenn das bedeutet, von den Lakaien der Hölle versklavt zu werden.«

Ariyal schüttelte den Kopf. »Du bist wirklich eine furchtbare Lügnerin, Schätzchen.«

Sie schnaubte ungeduldig. »Hör mal, ich habe dir genug Zeit eingeräumt, deinen Stammesangehörigen zu finden. Welche Rolle spielt es, warum ich das getan habe?«

»Ich traue dir nicht.«

Sie funkelte ihn ebenso wild an wie er sie. »Glaub mir, dieses Gefühl beruht ganz und gar auf Gegenseitigkeit.«

»Ich sollte dich nach Avalon zurückbringen.«

Etwas, das vielleicht Panik war, flackerte in Jaelyns Augen auf, bevor sie es unter einer Eisschicht versteckte.

»Dann fliehe ich eben wieder«, warnte sie ihn mit eiskalter Stimme. »Und beim nächsten Mal werde ich nicht zögern, dich vor die Kommission zu schleifen.«

Ariyal fluchte insgeheim.

Er war ein Idiot.

Sein Stamm hatte unermessliche Qualen und Demütigungen erleiden müssen, um sich von der Verbindung zum Fürsten der Finsternis zu befreien. Er konnte es sich nicht leisten, sich jetzt ablenken zu lassen, nun, da die Möglichkeit bestand, dass der brutale Mistkerl in diese Welt zurückkehrte.

Es wäre die vernünftigste Lösung, die so gefährlich verführerische Vampirin zu töten. Oder sie wenigstens nach Avalon zurückzubringen und sie in den unteren Haremsräumen einzusperren, aus denen nichts und niemand entkommen konnte.

Stattdessen aber würde er sie bei sich behalten.

Er hatte keine andere Wahl. Es existierte kein Ort, an dem er sie unterbringen konnte, wo sie nicht in seinen Gedanken herumspuken würde – nicht einmal ihr Grab wäre die Lösung.

»Schwörst du, dich nicht einzumischen?«, fragte er krächzend.

»Nur, wenn du nicht versuchst, das Kind zu töten.«

»Zum Teufel, ich weiß, dass ich das bedauern werde«, murmelte er und erhob sich, allerdings nicht ohne den Dolch griffbereit zu haben.

Jaelyn war im Nu auf den Beinen und warf ärgerlich ihren langen Zopf nach hinten.

»Du und ich – wir beide.«

Ariyal, der durch das Gefühl ihres Körpers unter dem seinen noch immer aufs Äußerste erregt war und darüber hinaus wütend über seinen sonderbaren Drang, sie in seiner Nähe haben zu wollen, packte sie am Arm und zerrte sie über die Straße.

»Lass uns gehen.«

»Gehen?« Sie runzelte die Stirn, ließ sich aber von ihm zur Rückseite der über ihnen aufragenden Reihenhäuser führen. »Wohin?«

»Wenn du darauf bestehst, dich in der Nähe aufzuhalten, dann kannst du dich zumindest nützlich machen.«

Sie öffnete den Mund, um ihm eine bissige Bemerkung an den Kopf zu werfen, schloss ihn aber wieder, als sie an einem Dienstboteneingang stehen blieben.

»Der Magier«, sagte sie, und ihre Hand griff instinktiv nach der Schrotflinte, die sie normalerweise über die Schulter geschnallt trug. Sie funkelte Ariyal wütend an, als sie ins Leere griff. »Und er braut irgendetwas.«

Ariyal nickte. Auch er nahm den süßen Duft wahr, der in der Luft lag.

»Ja.«

»Es riecht …«, sie blinzelte überrascht, »… gut.«

»Feenvolk.«

»Wie bitte?«

Ariyal atmete tief ein. »Die Pflanzen, die er verwendet, werden nur vom Feenvolk gezüchtet.«

Jaelyns Überraschung verwandelte sich in Misstrauen. »Weißt du, was er da zusammenbraut?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich könnte mir vorstellen, dass es ein Trank ist, der ihm zu ewiger Jugend verhelfen soll. Magier sind Menschen und müssen magische Kräuter verwenden, um nicht zu altern und um unsterblich zu werden.«

Jaelyns Misstrauen hielt weiter an.

Das war nicht weiter überraschend.

»Bist du dir sicher, dass er keinen Zauber wirken will?«

»Er ist ein Magier, der schwarze Magie praktiziert.«

»Ja, das habe ich verstanden«, fuhr sie ihn ungeduldig an. »Darum ist es doch umso wahrscheinlicher, dass er dabei ist, irgendeinen scheußlichen Zaubertrank zu brauen, richtig?«

Ariyal forschte in ihrem blassen, perfekten Gesicht. Es war unmöglich, das Alter eines Vampirs zu bestimmen. Jaelyn konnte einige Jahrzehnte oder mehrere Jahrtausende alt sein. Aber er vermutete, dass sie gerade erst ihre Findlingsjahre hinter sich gebracht hatte, trotz ihrer Fähigkeiten als Jägerin. Sie hatte zu viele Wissenslücken, um zu den uralten Vampiren zu gehören.

»Seine Macht stammt aus dem Blut.« Ariyal rümpfte vor Abscheu die Nase. Blutmagie war eine pervertierte Form der wahren Magie. »Entweder aus seinem eigenen oder aus dem eines Opfers.«

Jaelyn erkannte seinen ehrlichen Ekel vor Sergei. »Und deine Macht?«, wollte sie wissen.

»Sie ist ein Geschenk der Natur.«

Das war die Wahrheit, und dennoch kniff Jaelyn misstrauisch die Augen zusammen, denn sie spürte, dass er irgendetwas vor ihr verheimlichte.

»Da gibt es noch mehr.«

Ariyal zögerte. Er zog es vor, wenn ein paar seiner weniger bekannten Fähigkeiten … weniger bekannt blieben. Schließlich war es seine geheime Widerstandsfähigkeit gegen Eisen, die ihn erst vor einigen Tagen vor Jaelyn hatte fliehen lassen.

Wer zum Teufel wusste, wann er wieder mit einer Überraschung aufwarten musste? Oder auch mit zweien …

Aber Jaelyns Miene verriet ihm, dass sie nicht aufhören würde, ihm zuzusetzen, bis sie mit seiner Antwort zufrieden war.

Verdammt.

»Falls nötig, kann ich die Kräfte anderer in Anspruch nehmen«, gestand er schließlich widerwillig.

Sie versteifte sich. »Wie genau funktioniert das?«

»Entspann dich, Schätzchen«, sagte er trocken. »Der Tag, an dem ich die Macht eines Blutsaugers brauche, wird der Tag sein, an dem die Hölle einfriert.«

Sie forschte in seinem Gesicht und war nicht so ganz überzeugt. »Hmmm.«

Er stieß einen Laut der Ungeduld aus und deutete auf das Stadthaus, neben dem sie standen.

»Kannst du das Kind wahrnehmen?«

Sie kniff die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, als würde es sie ärgern, dass sie daran erinnert wurde, warum sie sich hier draußen in der nebligen Nacht aufhielten.

»Nein«, murmelte sie, »aber ich glaube, dass der Zauber, der das Baby schützt, mich davon abhält, es wahrzunehmen.« Sie legte den Kopf in den Nacken und nahm mit ihren scharfen Sinnen ihre Umgebung in sich auf. Dann drehte sie sich abrupt um und blickte Ariyal mit einem Anflug von Erstaunen an. »Der Sylvermyst ist verschwunden.«

Er nickte. »Tearloch hat das Haus direkt vor deinem dramatischen Auftritt verlassen.«

»Er hat das Haus verlassen? Weißt du, wohin er gegangen ist?«

Er kräuselte die Lippen zu einem Lächeln. »Nach Süden.«

Ihre Verärgerung nahm zu. »Du weißt, was ich meine. Ich kann es kaum glauben, dass er den Säugling freiwillig zurückgelassen haben soll, nachdem er wie ein Wahnsinniger nach ihm gesucht hat.«

Ariyal war nicht weniger verblüfft gewesen, als er gesehen hatte, wie Tearlochs schlanke Gestalt sich eilig vom Stadthaus entfernte. Er hatte sich sogar angeschickt, ihm zu folgen, als er plötzlich bemerkt hatte, dass der Sylvermyst allein war.

Daraufhin war er wieder mit den Schatten verschmolzen und hatte sich darauf konzentriert, daran zu denken, dass er hier war, um den Säugling zu holen, und nicht, um seinem Stammesangehörigen gegenüberzutreten.

»Wenn ich er wäre, würde ich mir Verbündete suchen«, teilte er Jaelyn seine Vermutung mit. »Tearloch ist verrückt, aber nicht dumm, und er muss wissen, dass wir ihm folgen werden. Und sobald herauskommt, dass er sich mit dem Kind in London aufhält …«

Jaelyn schauderte. »Ja, jeder abscheuliche, größenwahnsinnige Dämon wird versuchen, das Kind in seine Finger zu bekommen.«

»Und darum werden wir die Ersten sein.«

»Wir?«

Er begegnete ihrem spöttischen Blick, indem er eine Augenbraue hob. »Du bist diejenige, die mir gefolgt ist – erinnerst du dich?«

»Leider.«

Er ließ seinen Blick über ihren schlanken Körper gleiten. »Dann stecken wir gemeinsam in dieser Sache.«

»Na schön.« Sie schnippte mit ihren Fingern vor seinem Gesicht herum, bis er seine Aufmerksamkeit wieder auf ihre aufgebracht funkelnden Augen richtete. »Wie sieht dein Plan aus?«

Plan?

Zum Teufel, er hatte keinen Plan mehr gehabt, seit er seinem früheren Anführer in die Nebel Avalons gefolgt war.

Und wenn man bedachte, welche Entwicklung diese Sache genommen hatte …

Er zog es nun vor, von einer Katastrophe in die nächste zu stolpern. »Ist der Magier allein?«

Erneut durchsuchte Jaelyn mithilfe ihrer Kräfte die Dunkelheit. »Ich spüre sonst niemanden mehr.«

»Dann lass es uns tun.« Er trat direkt vor die Tür, streckte aber abwehrend eine Hand aus, als Jaelyn sich gerade neben ihn stellen wollte. »Warte.«

»Ein Zauber?«

»Ja.«

Die klirrende Kälte ihrer Enttäuschung lag schneidend in der Luft. »Ich hasse Magier.«

Ariyal ließ seine Hand über die Tür gleiten und untersuchte die Magie, die dafür sorgte, dass sie für sie verschlossen blieb.

»Es ist ein Schutzzauber, kein Angriffszauber.«

»Bist du dir sicher?«

»Es ist entweder eine Alarmanlage oder ein Fluch. Schwer zu sagen.« Er machte einen Schritt nach hinten und warf seiner Begleiterin ein spöttisches Lächeln zu. »Ladys first.«

»Das ist nicht witzig.«

Er zog Jaelyn von der Tür weg und schritt wieder voran, auf den Garten zu.

»Vertrau mir, Schätzchen, es ist nicht meine Absicht, dass dir etwas zustößt«, sagte er mit gedämpfter Stimme und ließ ein schalkhaftes Grinsen aufblitzen. »Zumindest nicht, bis ich von dir habe, was ich will.«

Sie fletschte ihre Fangzähne. »Versuchst du mich etwa mit Absicht dazu zu bringen, dich zu töten?«

Heiße, heftige Begierde ließ seinen Penis hart werden. Verdammt, was stimmte nicht mit ihm?

Nach allem, was er wusste, wartete Jaelyn nur auf eine Gelegenheit, ihn mit Gewalt vor die Kommission zu zerren.

Oder ihm die Kehle herauszureißen.

Aber unter ihrer Aggression konnte er den süßen Duft ihrer Erregung wahrnehmen, und das Bedürfnis, sie gegen die nassen Backsteine zu pressen und tief in ihren Körper einzudringen, bis sie beide vor Befriedigung aufschrien, wurde allmählich zu einem überwältigenden Verlangen.

»Ich kann offenbar nicht widerstehen«, gestand er mit einer ungeheuren Aufrichtigkeit, die ihn selbst zu Tode erschreckte.

Caines Privatversteck außerhalb von Chicago

Santiago stand mit grimmiger Miene vor dem Backsteinbauernhaus.

Er bot einen beeindruckenden Anblick mit seiner schwarzen Jeans, die sich an einen festen Hintern und lange, muskulöse Beine schmiegte, und seinem schwarzen T-Shirt, das über seiner breiten Brust spannte. Sein Gesicht war schmal und verfügte über die hohen Wangenknochen sowie die dunkelbraunen Augen seiner spanischen Vorfahren. Mit dem langen, rabenschwarzen Haar, das ihm offen wie ein seidiger Vorhang über den Rücken fiel, wirkte er außerordentlich anziehend.

Aber es war dennoch nur ein einziger Blick erforderlich, um zu erkennen, was er war.

Ein ausgebildeter Vampirkrieger, der gnadenlos tötete.

Das war möglicherweise die Erklärung dafür, dass der Hexenzirkel, der die letzten beiden Nächte geschäftig um das Versteck der Wolfstöle herumgewuselt war, zwischen sexueller Faszination und furchtbarer Angst hin und her gerissen war, wann immer er vorbeiging.

Das und das riesige Schwert, das er sich auf den Rücken geschnallt hatte.

Santiago nahm die Frauen kaum wahr, die sangen, Zaubertränke brauten und ihre Kerzen anzündeten.

Wie alle Vampire verabscheute er Magie.

Unglücklicherweise hatte Styx Santiago befohlen, die verschollene Schwester seiner Gefährtin zu finden.

Und wenn der Anasso etwas befahl, gehorchte ein kluger Vampir.

Selbst wenn das bedeutete, den örtlichen Hexenzirkel zu bitten, die diversen Schichten aus Zaubersprüchen, Flüchen und anderen abscheulichen magischen Fallen zu überwinden, mit denen das Farmhaus belegt worden war.

Allerdings hatte er nicht erwartet, dass die Hexen so lange brauchen würden, um die Schutzschichten um das Haus zu brechen. Ungeduld flackerte in ihm auf.

Man hatte ihm erzählt, dass die Wolfstöle paranoid sei. Das war nicht weiter überraschend, wenn man bedachte, dass dieser Kerl einen Handel mit einem Zombiewerwolf abgeschlossen hatte, der in Verbindung mit einem Dämonenlord stand. Und nun musste er Kassandra beschützen.

Eine wahre Prophetin.

Das seltenste Wesen, das auf Erden wandelte.

Diese Aufgabe wünschte er nicht einmal seinem ärgsten Feind.

Dennoch ermüdete es Santiago ungemein, darauf zu warten, dass die Hexen ihren Hokuspokus erledigten, sodass er endlich das Haus betreten konnte.

Wie aufs Stichwort näherte sich ihm vorsichtig eine große, silberhaarige Frau, die mit einem braven schwarzen Rock und einem weißen Hemd bekleidet war. Sie wirkte, als müsse sie eigentlich Kredite in einer Bank vergeben und nicht Zaubertränke brauen. Mit ihrer schmuckbeladenen Hand deutete sie auf das Haus.

»Wir haben Euch einen Durchgang zur Tür gebahnt.«

Santiago studierte die Kerzen, die in zwei Reihen von den Hecken zur Vordertür führten. Trotz der Spätsommerbrise, die die Nachtluft bewegte, blieben die Flammen vollkommen unbewegt, sie flackerten nicht einmal.

Er verzog das Gesicht.

Madre de Dios. Er hasste Magie.

»Seid Ihr sicher, dass es ungefährlich ist?«

»Es sollte ungefährlich sein, solange Ihr zwischen den Kerzen bleibt.«

»Und was ist mit dem Haus?«

Sie glättete ihr ordentlich frisiertes Haar. »Wir können im Inneren nichts entdecken, aber ich kann für nichts garantieren.«

Santiago zog das Schwert aus der Lederscheide. »Einfach fantastisch.«

Die Frau erbleichte und wich hastig einen Schritt zurück. Als sei das glänzende Schwert gefährlicher als Santiagos riesige Fangzähne oder seine Klauen, die Stahl durchdringen konnten.

»Ihr solltet auch wissen, dass die Barriere, die wir errichtet haben, nur so lange hält, bis die Kerzen heruntergebrannt sind«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ihr werdet nicht mehr als eine Stunde Zeit haben.«

»Magie«, murmelte er.

Santiago ignorierte die Frauen, die eilig vor ihm zurückwichen, und zwang seine widerwilligen Füße, ihn an der Hecke vorbei auf den schmalen Pfad zu tragen. Er weigerte sich zu zögern, als er auf das Haus zuging, die Stufen zu der umlaufenden Veranda erklomm und die schwere Eichentür öffnete.

Wenn er von irgendeinem abscheulichen Zauber aufgespießt werden sollte, half es auch nicht, auf Zehenspitzen zu laufen.

Allerdings vermochte er erst, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte und in dem großen Wohnzimmer mit den weiß getünchten Wänden und der offenen Balkendecke stand, seinen eisernen Griff um das Schwert zu lockern.

Den Tod im Kampf fürchtete er nicht. Doch der Gedanke, von irgendeiner unnatürlichen Macht dahingerafft zu werden, reichte aus, um jedem Vampir Albträume zu bescheren.

Mit einem angewiderten Kopfschütteln wandte Santiago die Aufmerksamkeit seiner Umgebung zu.

Er hatte kein Interesse an den Bauernmöbeln mit ihrem blau-weiß karierten Leinenbezug oder dem handgeschnitzten Geländer der Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte. Stattdessen begab er sich sofort zu dem schweren Sekretär, um die diversen Schubladen zu durchsuchen.

Die meisten Schriftstücke bestanden aus unverständlichem Gekritzel, was Santiago daran erinnerte, dass Caine vor seiner Verwandlung ein bedeutender Chemiker gewesen war. Diese Tatsache wurde von den in Leder gebundenen Büchern untermauert, die die hoch aufragenden Bücherregale säumten. Nur ein Naturwissenschaftler wusste Bücher mit Titeln wie Einführung in die Quantenmechanik zu schätzen.

Als Santiago nichts fand, was ihm einen Hinweis auf den Aufenthaltsort der vermissten Werwölfe gegeben hätte, und, noch wichtiger, keinen Hinweis auf etwaige Eindringlinge entdecken konnte, durchquerte er die makellose Küche und stieg die Treppe hinauf. Obgleich der Geruch des Paares überall im Haus wahrzunehmen war, waren seine Sinne so fein, dass er imstande war, ihre letzte Spur auszumachen.

Vorsichtig ging er durch den Flur bis zu einem großen Schlafzimmer mit einem schweren Bett aus Walnussholz, das von Baumgeistern geschnitzt worden war, und Wänden, die in einem zarten Elfenbeinton gestrichen waren. Mitten auf dem Hartholzboden blieb er stehen.

Hier.

Genau an dieser Stelle waren die beiden verschwunden.

Santiago ging in die Hocke, um den Fußboden in Augenschein zu nehmen, und suchte nach irgendwelchen Indizien, die auf einen Kampf hinwiesen. Seine Finger hatten kaum das Holz berührt, als er auch schon eine Explosion eiskalter Macht spürte. Er schnellte wieder hoch.

Eine Vampirin.

Ganz in seiner Nähe.

Mit einem leisen Knurren wirbelte er herum, das Schwert gezückt, bereit zum Todesstoß. Doch dann zögerte er, als er die Frau erblickte, die im Türrahmen stand.

Dios.

Sie war … wunderschön.

Obgleich er in einem Vampirclub arbeitete, der berühmt dafür war, dass er die schönsten Dämonen der Welt zur Unterhaltung zu bieten hatte, verschlug es ihm die Sprache.

Die Frau war groß und geschmeidig, ihr dunkles Haar reichte bis zu ihrer Hüfte. Ihr Gesicht war ein perfektes blasses Oval, mit Augen, die so schwarz waren wie Ebenholz, und fein geschnittenen Zügen. Ihre vollen Lippen besaßen die Farbe von Kirschen, und ein einziger Blick auf sie ließ Santiago so hart wie Granit werden.

Sein verwirrter Blick glitt weiter nach unten und nahm die dunklen Gewänder in Augenschein, die ihre vollen Brüste bedeckten, und das uralte Goldmedaillon, das ihren Hals schmückte. Noch weiter unten ließen die Falten in der Seide lange Beine erahnen und boten einen flüchtigen Blick auf ihre zarten Füße, die von Seidenpantoffeln umschlossen wurden.

Eigentlich hätte sie in dieser Aufmachung matronenhaft aussehen müssen, wie eine spießige alte Dozentin.

Aber sie wirkte – heiß wie die Hölle.

Leider war es sehr gut möglich, dass er sie töten musste. Verdammt schade.

Die Frau, die anscheinend nicht bemerkte, welche Gefahr in der Luft lag, trat auf Santiago zu und musterte ihn mit einer undurchdringlichen Miene.

»Sie sind nicht hier.«

Ihre Stimme war leise und kehlig und umströmte Santiago mit überraschender Macht.

»Verdammt«, keuchte er, und ein kühler Schauder lief ihm über den Rücken. »Wer seid Ihr, und wie zum Teufel seid Ihr hereingekommen?«

Sie legte den Kopf auf die Seite. »Ich vermute, Ihr seid hier, um die Seherin zu finden?«

»Ich habe Euch eine Frage gestellt«, bellte er.

Sie erstarrte, und Santiago unterdrückte einen Fluch, als mit einem Mal ein vernichtender Druck auf ihm lastete und ihn darauf hinwies, dass er allen Grund dazu hatte, wegen ihrer Anwesenheit nervös zu sein.

Sie verfügte über genügend Macht, um es mit Styx aufzunehmen.

Erst vor wenigen Sekunden hätte er es für unmöglich gehalten, dass es überhaupt irgendeinen Vampir gab, der dies vermochte.

»Gebt acht, Santiago«, schnurrte sie.

Klugerweise wich er zurück und senkte das Schwert, das gegen eine Vampirin mit ihrer Stärke beinahe nutzlos war.

»Woher kennt Ihr meinen Namen?«, erkundigte er sich.

Es folgte eine kurze Pause, als überlege sie, ob sie seine Frage beantworten solle oder nicht. Dann zuckte sie leicht mit der Schulter.

»Ich bin sehr gut bekannt mit Eurem Vater.«

Santiago fauchte. Niemand wusste von seinem Vater. Er weigerte sich, mit irgendjemandem darüber zu sprechen.

Einschließlich Viper, der sein Clanchef und engster Freund war.

»Unmöglich.« Er starrte die Vampirin voll wildem Argwohn an. »Gaius hat den Schleier bereits vor Jahrhunderten durchquert.«

Sie nickte langsam. »Er ist ein äußerst gern gesehenes Mitglied unseres kleinen Clans. Tatsächlich gehört er sogar dem Großen Rat an.«

Santiago wich einen weiteren Schritt zurück, als ihn die Erkenntnis mit schmerzhafter Macht traf.

»Ihr seid eine Unsterbliche«, krächzte er.

»Ja.«

Er senkte den Blick zu dem Medaillon, das um ihren Hals hing.

»Nefri.«

»Ja.«

Nun, jetzt ergab alles einen furchtbaren Sinn.

Die Fähigkeit der Frau, so plötzlich aufzutauchen. Ihre außergewöhnliche Macht. Ihr Wissen um seinen Vater. Unsterbliche waren Vampire, die die Welt vor Jahrhunderten verlassen hatten, um in einer anderen Dimension einen Clan zu gründen, wo sie ohne die primitiven Leidenschaften existieren konnten, die diese Welt plagten.

Dort gab es keinen Hunger, keinen Durst, keine Begierde.

Nur endlose Tage in langweiligem Frieden, die sie damit verbrachten, in ihren riesigen Bibliotheken zu studieren und in den scheinbar endlosen Gärten zu meditieren.

Die meisten dieser Bastarde unterlagen dem Irrglauben, ihren »barbarischeren« Brüdern auf irgendeine Weise überlegen zu sein.

Und diese Frau war eine von ihnen.

Nein, nicht irgendeine.

Die eine.

Die große Anführerin. Die Chefin und die Frau der ersten Stunde.

Es war Nefris Medaillon, das es ihr gestattete, durch den Schleier zu reisen. Und es waren ihre Kräfte, die ihr Volk vor den Dämonen schützte, welche die neblige Barriere zu durchbrechen versuchten, die ihre Welt umgab.

Ironischerweise wären die meisten Vampire fasziniert davon, eine der Unsterblichen kennenzulernen.

Sie waren eine Quelle der Mythen und Mysterien, und nur einige wenige Vampire konnten behaupten, je auf eine oder einen Unsterblichen getroffen zu sein. Es ist wie bei den verdammten Heinzelmännchen, dachte Santiago mit einem sarkastischen Lächeln.

Er für seinen Teil hatte gerade erst seine Findlingsjahre hinter sich gebracht, als sein Vater ihm grimmig mitgeteilt hatte, dass er diese Welt nach dem Verlust seiner Gefährtin nicht mehr ertragen könne und abreisen würde, um sich zu jenen hinter dem Schleier zu gesellen.

Die Erinnerung an seine Zurückweisung fühlte sich für Santiago wie eine offene Wunde an, die niemals vollständig verheilt war.

»Ich dachte, Euer … Clan habe der Welt der Sterblichen den Rücken zugewandt«, warf er der Frau mit zusammengebissenen Zähnen vor. »Was tut Ihr dann hier?«

»Die Risse, die die Barriere zwischen den Dimensionen dünner macht, betreffen uns ebenfalls.«

»Aha.« Santiago warf ihr einen zornigen Blick zu, obgleich sein Körper weiterhin so reagierte, als habe er noch nie zuvor eine Frau gesehen. Madre de Dios. Wenn er seine Instinkte nicht im Zaum behielt, würde er sie noch auf das Bett in ihrer Nähe werfen und ihr zeigen, was sie in all diesen langen, einsamen Jahren versäumt hatte. Vielleicht würde sie sogar eine neue Wertschätzung für einen läppischen Barbaren entdecken. Oder vielleicht würde sie ihm auch das Herz herausreißen und es den Wölfen zum Fraß vorwerfen, wisperte eine Stimme in seinem Hinterkopf. Aus irgendeinem Grund ließ dieser Gedanke seinen glühenden Zorn nur noch stärker werden. »Also bliebt Ihr bereitwillig in Eurem kleinen Stück Himmel, während der Rest von uns zur Hölle zu fahren drohte, aber nun, da Ihr ebenfalls bedroht seid, seid Ihr bereit, Notiz von der Gefahr zu nehmen?«

Der Blick ihrer dunklen Augen verriet eine scharfe Intelligenz, die darauf hinwies, dass die Frau weitaus tiefer blicken konnte, als er bereit war, ihr anzuvertrauen.

»Ihr klingt so verbittert«, sagte sie leise. »Gaius bedeutete Euch sehr viel.«

Santiago straffte die Schultern und weigerte sich, die Erinnerung an seinen Vater in sein Bewusstsein dringen zu lassen.

»Mir bedeutet die Familie viel, die mich nicht im Stich gelassen hat«, knurrte er, »und aus diesem Grund täte ich alles, um sie zu beschützen.«

»Ich bin hier, um Hilfe anzubieten, nicht, um Schaden anzurichten.«

»Das lässt sich leicht behaupten.«

»Wohl wahr«, stimmte sie ihm bereitwillig zu. »Was ist notwendig, um Euch zu überzeugen?«

Oh, da konnte er sich verschiedene Möglichkeiten vorstellen.

Erotische Bilder zuckten durch seinen Kopf. Die meisten davon konzentrierten sich darauf, wie sie diese kirschroten Lippen um einen bestimmten Körperteil legte.

Mit einem Knurren unterdrückte er die gefährlichen Gedanken. Wie oft hatte er selbst bereits seine eigene mächtige sexuelle Anziehungskraft eingesetzt, um seine Feinde zu besiegen?

Er würde sich nicht von seiner Libido beherrschen lassen.

»Es ist kein Zufall, dass Ihr Euch genau in diesem Augenblick genau an diesem Ort aufhaltet«, warf er ihr vor.

Mit einer eleganten Bewegung ging Nefri auf das Fenster mit Blick auf den Garten zu. Ihr Haar wogte im Mondlicht wie flüssiges Ebenholz.

»Nein, es ist kein Zufall«, gab sie zu. »Wie Ihr suche ich nach der Prophetin.«

Santiago ballte die Hände zu Fäusten und ignorierte den Wunsch, sie durch diese seidigen Haarsträhnen gleiten zu lassen.

»Weshalb?«

Sie wandte sich wieder um, um ihm in das misstrauische Gesicht zu blicken. »Wir hofften, sie vor dem Fürsten der Finsternis beschützen zu können, indem wir sie hinter den Schleier holen.« Sie deutete mit der Hand auf den leeren Raum. »Ich fürchte, wir kamen zu spät.«

Ja. Er kannte dieses Gefühl.

»Woher wusstet Ihr überhaupt von Kassandra?«

Ein Mona-Lisa-Lächeln legte sich auf ihre Lippen. »Wir sind nicht vollkommen isoliert.«

»Also habt Ihr uns ausspioniert?«

»Einige reisen zwischen den Welten hin und her«, antwortete sie, ohne sich zu rechtfertigen. »Und als bekannt wurde, dass es Gerüchte über eine Seherin gibt, begann ich nachzuforschen. Sie ist …«

Er runzelte die Stirn, als sie zögerte. »Was denn?«

Nefri griff in die Tasche ihrer Gewänder, um ein dünnes Buch herauszuziehen, das nicht größer als ihr Handteller war.

»Sie ist von entscheidender Bedeutung für die Zukunft all unserer Welten.«

Santiago betrachtete das Buch prüfend. Es war offensichtlich schon sehr alt. »Was ist das?«

Nefri strich liebevoll mit den Fingern über den lädierten roten Buchdeckel. »Ein Prophezeiungsbuch, das ich hinter den Schleier mitnahm, als der Fürst der Finsternis sie zu vernichten begann.«

Santiago hob die Brauen. Prophezeiungsbücher waren so selten wie tatsächliche Prophetinnen und Propheten.

»Und?«

»Ich fürchte, die meisten davon enthalten nur Unsinn.«

Santiago schnaubte. »Typisch.«

»Doch es gibt eines, das die Geburt von Alpha und Omega erwähnt.«

Alpha und Omega …

Santiago spannte sich an. Das waren genau dieselben Worte, die der Sylvermyst gesprochen hatte, als er davor gewarnt hatte, dass das Kind, welches so lange von Laylah beschützt worden war, dazu bestimmt sei, den Fürsten der Finsternis in diese Welt zurückzuholen.

Das konnte kein Zufall sein.

»Was besagt der Text?«, fragte er mit krächzender Stimme.

»Er weist darauf hin, dass der ›Bote der Wahrheit‹ nicht zum Schweigen gebracht werden darf«, antwortete sie, ohne zu zögern.

»Das ist alles?«

»Ja.«

Er biss die Zähne zusammen. Weshalb konnten Prophetinnen und Propheten die Zukunft nicht einfach in Worten ausdrücken, die man auch verstehen konnte?

»Diese Worte sind dennoch reines Geschwafel.«

»Nein.« Nefri schüttelte den Kopf. »Es ist eine Warnung, die zu beherzigen ich die Absicht habe.«

Sie hob die Hand, um das Medaillon an ihrem Hals zu ergreifen. Das goldene Metall, in das uralte Hieroglyphen eingraviert waren, begann zu glühen und erfüllte den Raum mit einer eigenartigen Hitze.

Santiago hob instinktiv sein Schwert. »Was zum Teufel tut Ihr da?«

»Ich werde nach der Frau suchen.«

Trotz seines Hasses auf die Unsterblichen und trotz der sehr realen Möglichkeit, dass sie versuchen würde, ihn zu braten, sollte er ihre dramatische Abreise stören, trat Santiago auf Nefri zu und packte sie am Arm.

»Nicht ohne mich.«

Sie erstarrte unter dem festen Griff seiner Hand, und der Blick aus ihren dunklen Augen forschte in seiner wilden Miene.

»Das hatte ich vergessen«, flüsterte sie.

Seine Fangzähne begannen zu pulsieren, als er den exotischen Duft von Jasmin und reiner Weiblichkeit wahrnahm.

»Was vergessen?«

»Wie aggressiv die Männer in dieser Welt zu sein pflegen.«

Er beugte sich vor und streifte mit seinen Lippen über die ihren, während er eine leise Warnung aussprach.

»Querida, du weißt überhaupt nicht, was Aggressivität bedeutet.«