KAPITEL 11
Ariyal wich angewidert zurück, als die Zombies um ihn herum buchstäblich wie die Fliegen umzufallen begannen.
Nicht, dass er etwas dagegen einzuwenden hatte, dass sie alle stehen blieben und wieder tot umfielen.
Ein Haufen verfaulender Leichname war bedeutend besser als eine tobende Horde verfaulender Leichname. Und noch wichtiger: Ihr Anblick überzeugte ihn davon, dass es Jaelyn gelungen war, die Person zu überwältigen, die dafür verantwortlich war, dass diese Monstrositäten aus ihrem Grab auferstanden waren.
Erleichterung überkam ihn, gleichzeitig verspürte er einen Anflug von trockenem Humor.
Er wusste nicht, warum er sich Sorgen gemacht hatte.
Jaelyn war eine Frau, die auf sich selbst aufpassen konnte. Zum Teufel, er wäre jede Wette eingegangen, dass die mächtige Jägerin in besserer Verfassung war als er selbst.
Ariyal lehnte sich gegen einen Baum und warf einen Blick auf seine zahllosen Wunden, aus denen nach wie vor Blut sickerte. Die Zombies waren wirklich bemüht gewesen, ihn in Fetzen zu reißen, und er hatte seine gesamten Fähigkeiten einsetzen müssen, um den Schaden so gering wie möglich zu halten.
Glücklicherweise war keine der Verletzungen lebensbedrohlich, dennoch minderten sie seine Energie. Und, was weitaus schlimmer war, sie schmerzten ungemein.
Zombies, Hexen und alle anderen Lakaien des Fürsten der Finsternis verfluchend, der wahrscheinlich im Dunkel lauerte, hob Ariyal den Kopf, als mit einem Mal das kühle Tosen von Jaelyns Macht in der Luft lag. Sie glitt auf ihn zu, eine schlanke, verführerische Frau, die ebenso wundervoll gefährlich wie schön war.
Sein ganzer Körper spannte sich an. Aber was war es, was er da empfand?
Begierde? Verlangen?
Schicksalhaftigkeit?
Er kam nicht dazu, diese Frage zu klären, da Jaelyn vor ihm stehen blieb. Sie streckte die Hand aus, um seine nackte Brust zu berühren, zuckte aber zurück, als habe sie Angst davor, sich bei ihm anzustecken.
»Wie schwer bist du verletzt?«, fragte sie mit kalter Stimme.
Er verzog die Lippen. Niemand konnte behaupten, diese Frau sei ihren Emotionen ausgeliefert. Aber andererseits – was hatte er denn erwartet?
Entsetzen und Bestürzung darüber, dass er verletzt worden war? Das zärtliche Bedürfnis, ihn zu hegen und zu pflegen, bis er wieder genas?
Da war es wahrscheinlicher, dass sie sich Flügel wachsen ließ und davonflog.
»Nichts, was nicht heilen würde.«
»Wie lange?«
Er runzelte die Stirn, da er spürte, dass in ihrer Frage mehr lag als reine Ungeduld.
»Zwei, vielleicht auch drei Stunden.«
Sie warf einen Blick über die Schulter. »So viel Zeit werden wir nicht haben.«
»Hast du es eilig, irgendwohin zu kommen?«
»Hier draußen sind wir zu ungeschützt.«
Es war eindeutig mehr als Ungeduld. Ariyal unterdrückte ein schmerzerfülltes Stöhnen, stieß sich von dem Baum ab und suchte mit dem Blick die scheinbar leere Wiese ab.
»Wovor ungeschützt?«
»Der Magier ist geflohen.«
»Derjenige, der die Zombies kontrolliert hat?« Ariyal griff nach unten, um das Schwert aufzuheben, das er zu seinen Füßen hatte fallen lassen.
»Ja.« Sie schnitt eine Grimasse. »Und es gibt noch schlimmere Neuigkeiten.«
Es gab noch etwas Schlimmeres als die Zombies?
Einfach fantastisch.
»Der Magienutzer war eine Wolfstöle.«
Ariyal erinnerte sich unvermittelt an den Wolfstölengeruch, den er zuvor wahrgenommen hatte. Er hätte ihm wohl doch mehr Aufmerksamkeit schenken sollen.
Aber andererseits – wer hatte je von einem Wolfstölenmagier gehört?
Oder war es eine Magierwolfstöle?
»Ich wusste nicht, dass das möglich ist«, entgegnete er.
»Es ist nicht nur möglich, sondern auch verdammt lästig.«
Er verkniff sich ein Lächeln über ihren verärgerten Tonfall. Jaelyn war es gewohnt, stets die Siegerin zu sein. Gleichgültig, wer oder was ihr Gegner auch sein mochte.
Nun war sie eindeutig ärgerlich darüber, dass die Wolfstöle entkommen war, obwohl das Blut an ihrer Hand bewies, dass sie diesem Hund zumindest ernsthafte Verletzungen zugefügt hatte.
»Gibt es noch mehr davon?«, fragte er weiter.
»Er ist nicht allein.«
Ariyal schnaubte. Diese Angelegenheit wurde einfach immer besser.
»Tearloch?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, mindestens noch eine zweite Wolfstöle und eine menschliche Hexe.« Geistesabwesend streichelte sie den Griff ihrer Schrotflinte. Ariyal vermutete, dass es sich um eine unbewusste Geste handelte, die ihr Trost spendete. Er unterdrückte ein Stöhnen, da er sich nur zu leicht vorstellen konnte, wie diese schlanken Finger etwas weitaus Interessanteres streichelten. »Da gibt es noch ein Wesen, das imstande ist, seinen Geruch zu überdecken«, räumte sie ein, sich seiner erotischen Fantasien nicht bewusst.
Grimmig zwang er sich, seine Gedanken auf etwas anderes zu richten als auf den Drang, sie gegen den Baum zu drücken und das Verlangen zu stillen, das ständig unter der Oberfläche pulsierte, wenn sie sich in seiner Nähe aufhielt. Sein Leben war ohnehin schon gefährdet genug, auch ohne dass Sex mit einer wilden Vampirin hinzukam.
Auch wenn er eigentlich …
Er fauchte frustriert und schob diesen Gedanken schnell beiseite, ehe er konkretere Formen annehmen konnte.
»Noch ein weiterer Magienutzer?«, fragte er mit heiserer Stimme.
Jaelyn zuckte mit den Schultern. »Ich vermute, dass es sich um einen Dämon handelt, vielleicht sogar um einen Vampir.«
»Möglicherweise ein Jäger oder eine Jägerin?«
»Ich weiß es nicht.« Besorgnis flackerte in den indigoblauen Augen auf. »Und das beunruhigt mich.«
Ariyal legte den Kopf in den Nacken, um intensiv zu wittern und die diversen Gerüche einzuordnen, von denen die Wiese erfüllt war.
Eine Naturgeisterfamilie, die, offenbar in Panik, aus einer Höhle in der Nähe huschte und durch die Maisfelder hastete. Ein Rudel Höllenhunde bei der Jagd auf einen Hirsch.
Und weiter entfernt der Gestank von Wolfstölen, zusammen mit dem seltsam gedämpften Geruch, der Jaelyn beunruhigte.
Sie alle eilten davon, um sie einsam und allein auf der Wiese zurückzulassen.
Allein?
Seine Augen weiteten sich überrascht.
»Wo ist der Gargyle?«
Jaelyn sah sich mit gerunzelter Stirn nach der Baumgrenze um.
»Er bestand darauf, der Fährte der Wolfstöle zu folgen, während ich hierher zurückgekehrt bin.«
Ariyal schnaubte. Er teilte ihr Bedauern über Levets Abwesenheit nicht.
»Es ist auch höchste Zeit, dass er sich nützlich macht.«
»Unterschätze ihn nicht. Er hat …« Sie hielt inne und dachte über ihre Worte nach. Mit einem schwachen Lächeln drehte sie sich wieder zu ihm um. »Unerwartete Talente.«
»Sein Talent besteht darin, einen vernünftigen Mann in den Wahnsinn zu treiben.«
»Zweifellos liegt das an all dem Testosteron.« Ihr Lächeln wurde breiter, und sie schlang ihm einen Arm um die Taille und legte sich seinen freien Arm um die Schultern. »Das lässt das Gehirn verrotten.«
Ariyal erstarrte, als sein Körper mit vorhersehbarer Begierde auf ihre Berührung reagierte, obwohl sein Stolz bei ihrer Imitation einer vampirischen Krücke heftig rebellierte.
Es war eine Sache, wenn er ihre Anteilnahme wegen seiner Verletzungen genoss, aber eine ganze andere, wenn sie ihn behandelte, als sei er ein verdammter Invalide.
Nicht, nachdem Morgana le Fay so ein grauenhaftes Vergnügen daran gefunden hatte, ihn zu quälen, als er verwundet und äußerst verletzlich gewesen war.
»Sosehr ich auch von deinen Armen umschlungen werden möchte, Schätzchen – ich denke nicht, dass es die richtige Zeit oder der richtige Ort dafür ist«, sagte er gedehnt.
Sie schnaubte ungeduldig. »Wir müssen Schutz finden, bis dein Körper geheilt ist.«
Er entzog sich ihrem Griff und ignorierte die wachsende Schwäche, die seine immer noch blutenden Wunden verursachten.
»Nein.«
»Nein?«
»Ich lasse es nicht zu, dass du mich herumträgst, als sei ich eine schwache Tauelfe.«
Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Weil ich eine Frau bin und du ein großer, starker, harter Mann?«
»Weil ich mich niemals der Gnade einer anderen Person ausliefern werde. Nie wieder.«
Seine nüchternen Worte hallten über die Wiese, und einen winzigen Augenblick lang wurde Jaelyns Miene weich. Sie verstand ihn. Diese Frau wusste ganz genau, wie es sich anfühlte, hilflos zu sein und missbraucht zu werden.
»Na schön.« Sie gab nach, ohne zu diskutieren. Ein seltenes und wundervolles Ereignis. »Wie also sieht dein Plan aus?«
Plan? Er bemühte sich, ein Lachen zu unterdrücken. Es war reichlich spät für einen Plan.
Was sie brauchten, war ein Mittel, mit dem er seine Kampfkraft wiedererlangte.
»Ich brauche dein Blut«, gestand er unverblümt.
Sie machte abrupt einen Satz nach hinten, das Gesicht starr vor Schock. »Wofür?«
Er zog eine Braue hoch. Ihre Empörung wirkte etwas heuchlerisch, wenn man bedachte, dass sie eine verdammte Blautsaugerin war.
»Es soll mir beim Heilungsprozess helfen.«
»Soll das ein Scherz sein?«
»Nein.« Er hob sein Schwert, und der Mondschein tanzte über das silberne Metall. »Ich kann Kraft aus meiner Klinge schöpfen.«
»Und wie?«
»Unser Volk verfügt über viele Waffen, aber unsere wahren Sylvermystklingen wurden vor der Verbannung des Fürsten der Finsternis geschmiedet«, gestand er langsam.
Ihre Augen verengten sich argwöhnisch. »Und das bedeutet?«
»Das Metall wurde in den Tiefen der Hölle eingeschmolzen, zusammen mit Silber und dem Herzen eines Lamsung-Dämons.«
Ihr Blick glitt zu dem Schwert. »Seelendiebe«, murmelte sie.
Er nickte. Lamsungs waren seltene Dämonen, die überlebten, indem sie ihren Feinden das Leben aussaugten.
»Die Klinge absorbiert die Macht meiner Feinde.«
Jaelyn drehte sich um und blickte Ariyal in die Augen. Ihr Gesichtsausdruck war reserviert. »Und verleiht dir Kraft.«
»Genau.«
Einen Augenblick lang senkte sich ein seltsames, angespanntes Schweigen zwischen ihnen herab, bevor Jaelyn einen weiteren Schritt zurückwich.
»Bleib hier.«
Er streckte die Hand aus, um sie am Arm zu packen. »Wohin gehst du?«
»Ich besorge dir Blut.« Sie deutete mit dem Kinn auf den Wald. »Ein Rudel Höllenhunde hält sich in weniger als einem Kilometer Entfernung von hier auf.«
Er blickte sie verwirrt an. »Ich kann auch dein Blut benutzen. Ich benötige nicht viel.«
Sie zuckte zurück und leckte sich über die Lippen. Fast so, als sei sie nervös.
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich …« Sie leckte sich erneut über die Lippen. »Ich kann nicht.«
Nein, es war wohl nicht so, als ob sie nicht gekonnt hätte.
Gewollt traf es vermutlich eher.
Die Vampirin hatte bereits deutlich gemacht, dass sie sich nicht dazu herablassen würde, sich von einem abscheulichen Sylvermyst zu ernähren. Jetzt machte sie genauso deutlich, dass sie sich ebenso wenig dazu herablassen würde, ihm ihr kostbares Blut anzubieten, um ihm seine Kräfte zurückzugeben.
Er straffte die Schultern und verbarg seinen angeschlagenen Stolz hinter einem spöttischen Lächeln, während er an ihrer starren Gestalt vorbeirauschte.
»In Ordnung. Bis bald, Schätzchen.«
»Ariyal, was machst du?«
»Ich gehe selbst auf die Jagd, vielen Dank auch.«
Jaelyn verfluchte ihre Dummheit, als sie Ariyal davonmarschieren sah. Sein Rücken war starr, und seine Schritte waren nicht annähernd so gleichmäßig, wie er es sich zweifellos wünschte. Sein Stolz war verletzt.
Sie hatte es vermasselt.
Und zwar komplett.
Sie schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Um Gottes willen, alles, was sie tun musste, war, den Sylvermyst im Auge zu behalten.
Diese Aufgabe hätte sie eigentlich im Schlaf bewältigen können müssen.
Aber sie schaffte es doch immer wieder, ihren Auftrag zu vermasseln.
Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als zu beobachten, wie er wegging. Sie war wütend auf ihre eigene Schwäche, aber klug genug, um zu wissen, dass sie im Moment keine andere Wahl hatte.
Sie konnte ihm einfach nicht erlauben, ihr Blut zu trinken.
Nicht, wenn sie die Auswirkungen nicht vollkommen abschätzen konnte.
Ja, es war mehr als wahrscheinlich, dass die Klinge ihr Blut absorbieren würde und dass Ariyal dadurch lediglich die Stärke erhielt, die er benötigte, damit sein Körper heilte.
Aber andererseits …
Sie erzitterte und wandte sich um, um über die still daliegenden Maisfelder zu blicken.
Was war, wenn das Blut so reagierte, als habe er es direkt aus ihrer Ader getrunken?
Die Konsequenzen wären geradezu verheerend.
»Er flüchtet, verstehst du?«
Die geisterhafte Stimme durchdrang die Stille, nur einen winzigen Augenblick bevor plötzlich ein Hauch von Schwefel in der Luft lag, und mit einem Mal tauchte Yannah direkt vor Jaelyn auf.
Jaelyn schrie auf, packte ihre Schrotflinte und richtete sie auf den Eindringling. Ihr Finger war schon bereit abzudrücken, aber dann erkannte sie verspätet das herzförmige Gesicht und die schwarzen Augen, die wie Ebenholzsplitter im Mondlicht schimmerten.
»Verdammt.« Jaelyn schob die Waffe zurück in ihr Halfter und funkelte wütend das Wesen an, das ruhig seine weiße Seidenrobe glatt strich. »Du hast mich zu Tode erschreckt!«
»Ja, wirklich?« Yannah blinzelte und tat übertrieben unschuldig. »Ich dachte, Jägerinnen und Jäger würden darin ausgebildet, sich niemals überraschen zu lassen?«
»Ich hätte mich nicht überraschen lassen, wenn du herumlaufen würdest wie eine normale Dämonin«, protestierte Jaelyn mit kalter Stimme. Sie versteckte ihre Verlegenheit hinter einer Eisschicht. Es war nicht ihre Schuld, dass sie sich so bedenklich hatte ablenken lassen, oder? Wenn Ariyal aufhören würde, eine solche Nervensäge zu sein, könnte sie sich auf die wichtigen Dinge konzentrieren. Und er war nicht der einzige Schuldige. Yannah und ihre Mutter Siljar trugen sicherlich eine Mitschuld. »Du solltest ein Glöckchen um den Hals tragen oder so etwas. Es ist nicht gerade sehr höflich, plötzlich aus dem Nichts aufzutauchen.«
Yannah wölbte die Augenbrauen. »Nun, ist diese Aufregung nicht etwas unnötig?«
»Du wärst auch aufgeregt, wenn du gezwungen wärst, das Kindermädchen für diesen …« Jaelyn klappte den Mund zu, da ihr die Worte fehlten.
»Für diesen hinreißenden, attraktiven, absolut leckeren …«
Mit einem Mal fand Jaelyn die Worte wieder. »Launenhaften, halsstarrigen, egoistischen Sylvermyst zu spielen.«
»Er ist ein Mann.« Yannah zuckte die Achseln. »Alle Männer sind Nervensägen.«
Na, da hatte sie ja einmal ein wahres Wort gelassen ausgesprochen.
»Einige mehr als andere«, murmelte Jaelyn.
»Wahrscheinlich.« Yannah schien über die verschiedenen Schwächen des männlichen Geschlechtes nachzudenken, bevor sie tief aufseufzte. »Dennoch ist es bedauerlich.«
»Was ist bedauerlich?«
»Du kostest mich eintausend Barren Latinum.«
Jaelyn runzelte die Stirn. War die Dämonin nur aufgetaucht, um sich über sie lustig zu machen?
»Das ergäbe vielleicht einen Sinn, wenn dies hier Star Trek wäre und wir beide Ferengi.«
»Ich habe mit meinem Nachbarn gewettet, aber Mutter wollte mir nicht erlauben, um echtes Geld zu wetten.« Sie kräuselte ihre winzige Nase. »Außerdem sind Dschinnen empfindlich, was ihre Schätze betrifft.«
Dschinnen? Zum Teufel, in was für einem Viertel lebte diese Frau?
Jaelyn schlug sich diesen albernen Gedanken aus dem Kopf und konzentrierte sich stattdessen auf den Verdacht, dass sie hier in eine Falle gelockt wurde.
»Wie lautete die Wette im Einzelnen?«
»Ich sagte, du würdest bis zum Ende der Woche dafür sorgen, dass der Sylvermyst an die Leine gelegt werden würde und dass er stubenrein und manierlich sein würde. Maric sagte, du würdest ihn töten, bevor du überhaupt den Säugling erreichst.« Sie zeigte mit dem Finger auf Jaelyn. »Wir hätten beide nicht gedacht, dass eine mächtige Jägerin einfach das Handtuch wirft. Es ist eine schwere Enttäuschung, das muss ich schon sagen.«
Jaelyns Augen verengten sich. Ja. Das war definitiv eine Falle.
»Gibt es einen bestimmten Grund für deinen Besuch?«, wollte sie wissen. Sie weigerte sich, den Köder zu schlucken.
»Hast du vergessen, dass du mir eigentlich Bericht erstatten solltest?«
»Nein, ich habe es nicht vergessen, aber vorerst gibt es nichts zu berichten.«
»Nichts?« Es folgte eine kurze Kunstpause. Dann lächelte Yannah so genüsslich wie schalkhaft. »Überhaupt nichts?«
Zum ersten Mal seit Jahrzehnten war Jaelyn erleichtert, dass sie nicht imstande war zu erröten. Wusste die Frau, dass sie die schlimmste Sünde begangen und Sex mit ihrem Zielobjekt gehabt hatte?
»Ariyal sucht noch immer nach dem Kind«, erklärte sie knapp. »Wir wurden von Zombies angegriffen. Tearloch hat einen verrückten Zauberer aus den Tiefen der Unterwelt beschworen, und Sergei ist vielleicht bei ihnen, vielleicht aber auch nicht.« Geistesabwesend streichelte sie über den hölzernen Kolben ihrer Flinte. Dann fuhr sie fort, allerdings erst, nachdem sie ihrerseits der Wirkung ihrer dramatischen Ausführung nachgespürt hatte. »Oh, und ein Gargyle namens Levet ist mir wie ein Welpe, der sich verirrt hat, gefolgt, weil er nach dir sucht.«
Das Lächeln des Wesens wurde breiter, wodurch die scharfen, spitzen Zähne hervorgehoben wurden.
»Der Süße.«
Jaelyn zeigte in die Ferne. »Er ist in diese Richtung unterwegs, wenn du ihn aus seinem Elend erlösen willst.«
»Nein.« Yannah schnalzte mit der Zunge. »Noch nicht.«
»Na schön.« Jaelyn trat mit wachsender Ungeduld von einem Fuß auf den anderen. »Jetzt bist du auf dem neuesten Stand. Brauchst du sonst noch irgendetwas?«
Yannah näherte sich ihr, und ihre Macht war deutlich zu spüren. »Ich habe noch eine Frage.«
Jaelyn erzitterte. »Was für eine Frage?«
Die schwarzen Augen betrachteten Jaelyn mit unerschütterlicher Neugierde. »Soll ich Mutter erzählen, dass du dich entschlossen hast, deinen Vertrag zu brechen?«
Jaelyn zuckte bei der gefährlichen Andeutung zusammen. Jägerinnen und Jäger, die ihre Aufgaben nicht erfüllten, erhielten keine zweite Chance.
Und wer wusste schon, was mit einer Person geschah, die dumm genug war, einen Vertrag nicht zu erfüllen, der von den Orakeln in Auftrag gegeben worden war?
»Natürlich nicht.«
»Dann hast du die Absicht, den Sylvermyst zu verfolgen?«
Als ob sie eine andere Wahl hätte …
»Irgendwann«, versprach sie Yannah widerstrebend.
»Das ist mir zu ungenau.«
Jaelyn, der die Warnung in der gedämpften Stimme nicht entging, hob die Hände, um sich geschlagen zu geben.
»Ich gehe ja schon«, knurrte sie und machte einen Bogen um die winzige Dämonin, um über die Wiese zu stapfen.
Sie ignorierte das Gefühl, dass Yannah sie bei ihrem steifen Rückzug beobachtete, und konzentrierte sich stattdessen auf den Mann, der sich schnell zum Fluch für ihre Existenz entwickelte.
Nicht, dass sie ihre beträchtlichen Jägerinnenfähigkeiten einsetzen musste, um Ariyals Fährte zu folgen.
Sie hätte ihre Sinne vollständig ausschalten können und wäre trotzdem imstande gewesen, ihn zu finden.
Und genau das jagte ihr natürlich Todesangst ein.
»Herrgott, warum erschießt mich nicht einfach jemand?«, murmelte sie und beschleunigte ihr Tempo, während sie um die Bäume herumlief und das Flüsschen überquerte. Plötzlich stieg ihr der Geruch eines verwundeten Höllenhundes in die Nase.
Offenbar war es Ariyal gelungen, das Blut zu finden, das er benötigte, um seine Kraft zurückzugewinnen. Aber statt zu ihr zurückzukehren, lief er noch weiter weg.
Und dies noch dazu in einem Tempo, das ihr bewies, dass es nicht lediglich Schmollen war.
Nein, er versuchte tatsächlich, sie abzuhängen.
Dieses nervende Feelein.
Als sie über einen Zaun sprang, der den Rand einer Kuhweide markierte, entdeckte sie ihn beim Durchqueren des überwucherten Gartens eines Bauernhauses.
Sie stutzte kurz und betrachtete das zweistöckige weiße Haus mit den schwarzen Fensterläden und der abblätternden Farbe. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Hühnerstall in der Nähe, der sich gefährlich zur Seite neigte, sowie auf die weiter entfernten Schuppen und die Scheune mit dem Blechdach, in der es noch immer nach Heu roch.
Weit und breit waren keine Menschen zu sehen, auch wenn der schale Biergestank darauf hinwies, dass irgendwelche Leute das abseits gelegene Grundstück gelegentlich nutzten, um private Feiern zu veranstalten. Und sie konnte auch keine Dämonen in der Nähe wahrnehmen.
Dieser Ort schien ebenso gut wie jeder andere geeignet zu sein, um dort dem zornigen Sylvermyst entgegenzutreten.
Mit einer anmutigen Bewegung sprang Jaelyn auf das Dach der verglasten Veranda des Hauses und mit einem Satz direkt vor Ariyal hinunter.
Der Sylvermyst blieb widerwillig stehen, und sein anbetungswürdig schönes Gesicht ließ seine unterdrückte Wut erkennen.
Wie unterschied er sich doch von den männlichen Vampiren, die danach gestrebt hatten, ihre Liebhaber zu werden, dachte sie.
Da gab es keine kalte Berechnung. Keine distanzierten Fähigkeiten im Bett, die einen unpersönlichen Genuss gewährten, ohne dass chaotische Gefühle daran beteiligt waren.
Nein.
Ariyal war wild, launenhaft und so leidenschaftlich, dass er mit der Macht seiner Emotionen beinahe die Luft in Brand setzte.
Er war dominant, aber kein Rüpel.
Und obwohl er über mehr als genug männliche Arroganz verfügte, besaß er auch eine innere Verletzlichkeit, die sie an Stellen berührte, von denen Jaelyn nicht gewusst hatte, dass sie dort überhaupt berührt werden konnte.
Er war genau das, was sie nicht brauchte, und noch dazu genau zur falschen Zeit.
Die Bronzeaugen glühten vor atemberaubender Macht. »Geh mir aus dem Weg, Vampirin.«
Jaelyn achtete nicht auf die Hitze, die unvermittelt durch die Luft wirbelte. Sie war relativ sicher vor ihm. Zumindest bis er seinen Holzbogen und seine Pfeile herbeirief, die er aus dem Nichts hervorzaubern konnte.
Dann könnte die Situation allerdings prekär werden.
»Wohin zum Teufel gehst du?«
»Ich diskutiere meine Pläne nicht mit meinen Feinden.«
»Schmollst du, weil ich dir mein Blut nicht gebe?«
»Du bist doch diejenige, die darauf besteht, mich wie einen Feind zu behandeln«, fauchte er. »Also tu entweder, wozu du hergeschickt wurdest, oder geh mir aus dem Weg.«
Feind?
Ah, wenn das doch nur stimmte …
Diese unangenehme, konfuse Verwirrung, die sie quälte …
»Du brauchst mich«, sagte sie abrupt.
Er schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust – der Inbegriff eines höchst störrischen Mannes.
»Und du nennst mich eingebildet?«
Sie schob das Kinn vor. »Weißt du, wo sich der Säugling befindet?«
»Ich werde es herausfinden.«
»Und kannst du wirklich ohne mich gegen deine Stammesangehörigen sowie den Geist mit den Superkräften kämpfen?«
Die Muskeln in Ariyals Kiefer spannten sich an, und sein Stolz geriet erneut ins Wanken.
»Ja.«
»Und was ist mit Sergei?«
Er zuckte die Schultern. »Was soll mit ihm sein?«
»Das reicht«, fauchte sie aufgebracht. »Ich werde dich nicht in eine Falle spazieren lassen, nur weil du wütend auf mich bist.«
Er wölbte spöttisch eine Braue. »Und wie genau beabsichtigst du mich aufzuhalten, Jägerin?«
Später würde Jaelyn sich fragen, ob sie übermäßig gestresst gewesen war – schließlich hatte sie einige verrückte Tage hinter sich, die jede Vampirin zwangsläufig an den Rand der Nervenkraft gebracht hätten – oder ob vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit der Grund gewesen war.
In diesem Moment jedoch gab es keine bewussten Gedanken.
Nur noch primitiven Instinkt.
Sie umfasste sein Gesicht mit den Händen und beugte sich vor, um ihn mit all dem rohen Hunger zu küssen, der sie auf Schritt und Tritt verfolgte.
»So.«