KAPITEL 13

Santiago erschauderte, als die Macht des Werwolfkönigs sich explosionsartig entfaltete. Dieser räudige Straßenköter war nicht sonderlich erfreut, dass es einer Gruppe von Verrätern gelungen war, ohne sein Wissen durch seinen Weinkeller zu spazieren.

Dios.

Er hatte zwar gewusst, dass Salvatore im wahrsten Sinne des Wortes der Rudelführer war, aber bis zu diesem Augenblick war ihm die Bedeutung dessen nicht bewusst gewesen.

Diese Erkenntnis war alles andere als angenehm.

Santiago, der kaum bemerkte, dass er sich bewegte, stellte sich zwischen den Werwolf und Nefri. Als sei die so ungemein mächtige Vampirin auf seinen Schutz angewiesen.

Und weshalb zum Teufel beschützte er sie überhaupt?

Diese Ungereimtheit verbannte er allerdings schnell wieder aus seinen Gedanken, als der Werwolf seinem übergroßen Wachtposten mit einer Geste bedeutete vorzutreten.

»Fess, befrage die Wachen«, befahl er. »Ich will wissen, ob irgendjemand im Laufe der vergangenen beiden Wochen irgendetwas Außergewöhnliches bemerkt hat. Ganz gleichgültig, wie bedeutungslos es zu der betreffenden Zeit auch gewirkt haben mag.«

Die Wolfstöle fiel auf die Knie und presste den kahlen Kopf auf den Boden.

»Ja, Mylord.«

»Und bring sie alle hierher.« Der Rassewolf setzte eine finstere Miene auf. »Es ist möglich, dass irgendjemand einen der Gerüche erkennt.«

»Augenblicklich.«

Die Wolfstöle rappelte sich trotz ihres massigen Körpers ungewöhnlich schnell auf und eilte auf die Treppe zu, die in die Villa hinaufführte, welche über ihnen lag.

»Apportiert er auch auf Befehl?«, spottete Santiago.

Glühende goldene Augen richteten sich auf ihn. »Nein, aber er tötet ungebetene Eindringlinge, wenn ich pfeife. Möchtet Ihr, dass ich es Euch demonstriere?«

Das war nicht notwendig.

Er war sich absolut sicher, dass die Wolfstöle auf Befehl tötete.

Allerdings war er nicht sonderlich besorgt.

»Er ist herzlich eingeladen, einen Versuch zu wagen«, entgegnete er mit einem Achselzucken.

Mit jenem kleinen Laut der Ungeduld, den alle Frauen ausstießen, wenn die Männer sich amüsierten, schritt Nefri an ihm vorbei auf Salvatore zu, um das Wort direkt an ihn zu richten.

»Existiert außer diesem Eingang irgendein Weg in diesen Raum hinein oder aus ihm hinaus?«

»Nein.« Salvatore hob die Hand, als beide ihn argwöhnisch anblickten. »Ich schwöre es.«

Santiago war nicht vollkommen überzeugt, doch er wandte seine Aufmerksamkeit der schönen Vampirin zu, die damit beschäftigt war, den Keller von einem Ende zum anderen mit ihren Schritten zu durchmessen. Ihre Bewegungen waren so graziös wie die eines ätherischen Wassergeistes.

»Was tut Ihr da?«, verlangte er schließlich zu wissen.

»Ich kann den Weg der Prophetin und ihres Werwolfes spüren«, erklärte sie. Sie deutete mit der Hand auf den versteckten Eingang, durch den Salvatore und seine Schläger den Raum betreten hatten. »Sie gelangten durch die Tunnel in den Keller. Doch ich kann nicht erkennen, woher die Angreifer kamen.«

»Sie können wohl kaum aus dem Nichts aufgetaucht sein«, bemerkte Santiago.

Salvatore schnaubte. »Ihr habt das allerdings sehr wohl vermocht.«

Als Santiago daran dachte, dass es Nefri in der Tat gelungen war, sie aus heiterem Himmel in diesem Keller auftauchen zu lassen, packte er die Vampirin am Arm und zog sie zur Mitte des Weinkellers.

Er war nicht so dumm anzunehmen, dass er mit ihr eine Privatunterhaltung führen konnte, wenn ein Rassewolf nur wenige Schritte von ihnen entfernt stand, doch er wollte klarstellen, dass es sich hierbei um eine Vampirangelegenheit handelte und Ansichten der Lassie-Fraktion nicht erwünscht waren.

»Nefri?«, drängte er, als sie nur gedankenverloren dastand.

»Hmmm?«

Er spannte den Kiefer an. »Der geheimnisvolle Vampir besitzt ganz eindeutig seltene Fähigkeiten.«

Sie zuckte nur mit den Schultern. »Ich kenne keinen Vampir, der imstande ist, seinen Geruch so gründlich zu überdecken.«

»Und was hat es mit einem Vampir auf sich, der imstande ist, in diesem Keller aufzutauchen, ohne eine Spur zu hinterlassen?«

Es war eigentlich überflüssig, ihr zu erklären, dass Wolfstölen und Hexen nicht in der Lage waren, ohne Vorwarnung an irgendeinem Ort aufzutauchen. Oder dass der einzige Vampir, der imstande war, den Keller zu betreten, über Fähigkeiten verfügen musste, wie sie sie selbst besaß.

Ihr blasses, apartes Gesicht verwandelte sich in eine glatte, undurchdringliche Maske.

»Das ist eine Möglichkeit, die ich untersuchen muss.«

»Untersuchen?« Santiago umfasste ihren Arm fester, da er mit einem Mal spürte, dass ihm die Richtung, die dieses Gespräch nahm, nicht gefallen würde. »Wo untersuchen?«

Die dunklen, unergründlichen Augen verrieten nichts.

»Ich muss meinen Ältestenrat aufsuchen.«

Ja, er hatte recht gehabt.

Es gefiel ihm wirklich nicht. Tatsächlich ärgerte ihn allein der Gedanke daran, dass diese Frau an einen Ort verschwinden könnte, wohin er ihr nicht folgen konnte.

»Ihr kehrt hinter den Schleier zurück?«, bellte er.

»Vorerst.«

»Glaubt Ihr, dass der Vampir ein Mitglied Eures Clans war?«

Ihre schlanken Finger griffen nach dem Medaillon um ihren Hals. Die völlige Ruhe, die sie immer noch ausstrahlte, verstärkte seine Verärgerung nur noch.

»Das ist eine von zahlreichen Möglichkeiten.«

»Ich dachte, Euer kostbares Volk habe sich über die Schwächen von uns reinen Wilden hinausentwickelt?«

Ein gedämpftes Räuspern war zu vernehmen, dann trat Salvatore neben Nefri.

»Diese Angelegenheit fängt an, sich wie eine Sache für zwei anzufühlen, und ich habe wichtigere Dinge zu erledigen«, meinte er.

Santiago ließ den Werwolf nur zu gerne seine Verärgerung spüren. Schließlich gab es so manches, was in Angriff genommen werden musste.

»Welche wichtigeren Dinge?«, erkundigte er sich argwöhnisch.

Die erstickende Macht des Königs breitete sich rasch im Raum aus. »Nicht, dass ich Euch Rechenschaft schuldig wäre, Blutsauger, aber ich habe die Absicht, meine schwangere Gefährtin an einen sichereren Ort zu bringen.«

Santiago zog eine Grimasse. Wie groß sein Vergnügen daran, den Werwolf zu verspotten, auch sein mochte – er war ebenso wie sein Anasso den kostbaren Babys treu ergeben, die Harley erwartete.

Und zwar nicht nur, weil sie die Schwester seiner Königin war, sondern auch deshalb, weil Kinder für alle Dämonen ein rares und wertvolles Geschenk darstellten, ganz besonders jedoch für die Rassewölfe.

»Sie ist bei Styx und Darcy stets willkommen«, bot er an. »Es gibt nur wenige Orte, die noch sicherer sind.«

Salvatore nickte. »Es besteht kein Zweifel daran, wohin sie gebracht werden will. Ich zöge es ja vor, sie zu meinem Versteck in Italien zurückzubringen, doch Harley hat ihren eigenen Kopf.«

Santiago warf einen verstohlenen Blick auf die schweigende Vampirin, die neben ihm stand. »Früher einmal wussten die Frauen noch, wohin sie gehörten.«

Salvatore brach in schneidendes Gelächter aus. »Ja, und früher einmal fielen Weihnachten und Ostern auf einen Tag«, spottete er, indem er ebenfalls einen Blick auf Nefri warf. »Wenn ich meine Gefährtin untergebracht habe, will ich Antworten hören. Verstanden?«

Sie neigte zustimmend den Kopf, obgleich Santiago den Verdacht hegte, dass sie den Werwolf mit erschreckender Leichtigkeit in winzige Stücke hätte reißen können.

Nachdem er seinen Willen kundgetan hatte, schickte sich Salvatore an, der Wolfstöle die Treppe hinauf zu folgen. Oben angekommen verschloss er die Türe und versperrte sie mit einem deutlich hörbaren Klicken.

»Arroganter Hund«, knurrte Santiago.

»Ich glaube, da gibt es ein Sprichwort über einen Esel, der einen anderen Langohr schimpft«, erwiderte Nefri ruhig und löste sich mit einer entschlossenen Bewegung aus seinem Griff.

Sie schickte sich an, ohne ihn zu verschwinden.

Das war inakzeptabel.

Aber weshalb?

Santiago missfiel die leise Stimme, die ihm zuflüsterte, dass er seinen Gründen eigentlich nicht allzu genau nachgehen wollte. Er wollte sich einreden, dass er sie nur deshalb nicht gehen lassen wollte, weil er grundsätzlich Personen, die aus dieser Welt verschwanden, misstraute.

Was, wenn sich der Vampir, der verantwortlich dafür war, dass Kassandra gefangen genommen worden war, hinter dem Schleier verbarg? Dann würden sie ihn niemals finden. Und sie konnten wohl kaum darauf vertrauen, dass diese Frau ihn verriet.

Jedermann wusste, dass die Unsterblichen eine geschlossene Gemeinschaft waren, deren Mitglieder sich gegenseitig mit fanatischer Hingabe beschützten.

Ja.

Nur ein Dummkopf würde es ihr gestatten zu verschwinden.

»Ich bin kein Hund, und wir haben unsere Unterhaltung noch nicht beendet«, sagte er warnend und unterdrückte den Drang, nach ihr zu greifen und sie in seine Arme zu ziehen.

»Mir war nicht bewusst, dass wir eine Unterhaltung führten«, konterte sie, wobei in ihrer gedämpften Stimme ein tadelnder Unterton zu vernehmen war. »Ich erinnere mich daran, dass Ihr Eurer Verachtung gegenüber jenen von uns Ausdruck verliehet, welche die Entscheidung trafen, diese Welt zu verlassen, und ich ignorierte Euch. Eine Unterhaltung hingegen ist ein Austausch von Ideen und Informationen zwischen Individuen, die sich gegenseitig respektieren.«

Santiago runzelte die Stirn. Niemand hatte es seit seiner Zeit als Findling gewagt, ihn zu belehren.

»Ihr könnt nicht einfach verschwinden.«

»Tatsächlich kann ich das durchaus.«

»Wir müssen Styx mitteilen, was wir herausgefunden haben«, brachte er rasch eine passende Ausrede vor. »Er muss gewarnt werden, dass es zumindest einen Vampir gibt, der zu einem Verräter geworden ist.«

»Das könnt Ihr auch ohne meine Anwesenheit tun.«

»Er wird Fragen an Euch haben.«

Ihre Brauen hoben sich angesichts seiner Beharrlichkeit. »Ich habe nicht mehr Antworten als Ihr zu bieten. Wenn ich neue Informationen erhalte, werde ich Mitteilung machen.«

»Nein.«

Sie blickte ihn irritiert an. »Wie bitte?«

Santiago zuckte die Achseln. »Mein König erteilte mir den Befehl, Kassandra zu finden, und im Augenblick seid Ihr meine größte Hoffnung. Ich werde ihn nicht enttäuschen.«

Sie stutzte und blickte ihn dann prüfend an. »So viel bedeutet er Euch?«

Das war tatsächlich der Fall.

Nachdem Santiago von seinem Erschaffer verlassen worden war, war er von Vampiren versklavt worden, die mächtiger waren als er selbst. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er wahrhaft geglaubt hatte, seine persönliche Hölle zu erleben. Dann hatte Styx ihn gefunden und ihn zu einem von Vipers Wachtposten ausgebildet.

Das hatte alles verändert.

Urplötzlich war er nicht länger Freiwild für Sex, Sport oder irgendeinen anderen brutalen Genuss gewesen, mit dem sich sein jeweils neuester Herr die Zeit vertrieb. Er wurde mit einer Achtung behandelt, die ihn in einen würdigen Krieger verwandelt hatte, der niemals wieder einer anderen Person auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert wäre.

Nie würde Santiago das vergessen.

Niemals.

»Es ist die Loyalität, die mir so viel bedeutet«, erwiderte er, nicht gewillt, das Gefühl tiefer Verbundenheit mit seinem Anasso zu verraten. Ihm gefiel sein Ruf als gefühlloser Bastard. Er hatte Jahre gebraucht, um sich diesen zu erwerben. »Ich bin nicht nur dann loyal, wenn es mir zweckmäßig erscheint.«

»Sehr nobel.« In Nefris dunkle Augen trat ein wissender Schimmer, als sehe sie tiefer, als er sie blicken lassen wollte. »Ich bewundere Eure Hingabe, doch ich muss zu den Mitgliedern meiner Gemeinschaft zurückkehren und mich vergewissern, dass wir nicht verraten wurden.«

»Dann werde ich mit Euch kommen.«

Sie betrachtete ihn verblüfft.

»Hinter den Schleier?«

Seine Entschlossenheit verließ ihn für einen kurzen Moment.

Von allen Spelunken dieser Welt muss sie ausgerechnet in meine kommen …

Dann ließ er den Blick über ihr blasses, unglaublich hinreißendes Gesicht schweifen und straffte die Schultern.

Sobald sie von hier verschwunden war, gab es keine Möglichkeit mehr, sie aufzuspüren.

»Ihr könnt mich mitnehmen, nicht wahr?«

Die dunklen Augen verengten sich und ließen unverhohlenen Argwohn erkennen. »Das könnte ich tun.«

Er setzte ein gezwungenes Lächeln auf. »Dann lasst es uns tun.«

»Aus welchem Grunde sollte ich das tun?«

Er zuckte mit den Schultern. »Aus welchem Grunde solltet Ihr es nicht tun?«

»Ihr habt Euch keinerlei Mühe gegeben, Eure Verachtung gegenüber meinem Volk zu verhehlen.« Ihre Stimme klang eisig. »Ich werde es Euch nicht gestatten, seinen Frieden zu stören.«

»Obgleich ich ein Barbar bin, habe ich ein paar Manieren gelernt.«

»Tatsächlich?« Sie blickte ihn überrascht und mit deutlichem Unglauben an. »Erstaunlich.«

»Möchtet Ihr, dass ich mit meinem Blut das Versprechen unterzeichne, mich zu benehmen?«

Sie wandte den Blick nicht von ihm ab, sah ihn lange forschend an, als sei er ein ungewöhnliches Untersuchungsexemplar, das sie vielleicht für weitere Untersuchungen behalten wollte, vielleicht aber auch nicht.

Dann erschien allmählich ein Lächeln auf ihren Lippen.

»Das wird tatsächlich nicht notwendig sein.«

Santiago fühlte, wie sich seine Instinkte regten. Unter diesem wunderschönen Lächeln lauerte etwas anderes.

Etwas Gefährliches.

»Nicht?«

»Nein.« Das Lächeln wurde breiter. »Ich bin absolut in der Lage, dafür zu sorgen, dass Ihr Euch benehmt.«

»Seid Ihr Euch sicher …«

Seine Worte erstarben ihm auf den Lippen, als sie ihn am Arm packte, während sie gleichzeitig das Medaillon drückte. Dieses Mal jedoch war es nicht so, dass sich die Welt einfach auflöste, wobei er den unheimlichen Eindruck hatte, dass sie einfach zerfloss.

Stattdessen hatte er das Gefühl, grob durch einen Vorhang aus Blitzen gezerrt zu werden.

Verdammt.

Finsternis umgab sie, Elektrizität tanzte über seine Haut, und seine Haare flatterten, obgleich sich kein Lüftchen regte. Er schloss den Mund, um einen Schrei zu ersticken, und seine einzige Realität bestand in dem Gefühl von Nefris schlanken Fingern, die noch immer seinen Arm umfasst hielten.

In was für eine Sache war er da wieder hineingeraten?

Tearloch wusste, dass er eigentlich schlafen sollte.

Im Augenblick brachten seine loyalen Stammesangehörigen ihre Aufgabe zu Ende, den Schutt zu beseitigen, der den Altar blockierte. Diesen benötigten sie, um ihre Zeremonie zu vollenden. Und der Zauberer hielt weiterhin seinen Schutzzauber aufrecht, der die Höhlen umgab.

Die Gelegenheit, seinem erschöpften Körper Erholung zu bieten, wäre ideal gewesen.

Stattdessen stand er auf einer höher gelegenen Ebene der Höhle und blickte mit verzweifelter Sehnsucht auf die überwucherten Wiesen und den von Sternen übersäten Himmel, dessen Anblick er auf der anderen Seite der Öffnung erhaschen konnte.

Die Finsternis rief nach ihm, und er verspürte das Bedürfnis, frei umherzulaufen, wie es seinem Volk eigentlich bestimmt war …

In diesem Spinnennetz aus kahlen, unnatürlich glatten Gängen eingeschlossen zu sein fühlte sich an, wie lebendig begraben zu sein.

Die Luft regte sich leicht, als Rafael die große Höhle betrat. Tearloch machte sich nicht die Mühe, einen Blick in seine Richtung zu werfen. Dieser lästige Geist war ohne Zweifel da, um Tearloch daran zu erinnern, dass er sich nicht erkühnen durfte, sich außerhalb der Reichweite seiner verdammten Zauber zu wagen.

Bezeichnenderweise ignorierte Rafael Tearlochs offensichtlichen Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden.

Der Zauberer vergaß immer häufiger, dass er der Sklave von Tearlochs Willen war.

»Meister«, murmelte der Geist.

»Was willst du?«

»Ich glaube, da gibt es etwas, das Ihr sehen solltet.«

Tearloch richtete widerstrebend seinen Blick auf das hagere Gesicht, das in den Schatten schwebte, und ein hässlicher Schauder lief ihm über den Rücken.

»Noch mehr Überraschungen?«

»Bitte, würdet Ihr mit mir kommen?«

Ihm lagen bereits ablehnende Worte auf der Zunge.

Er war müde, und sein Kopf schmerzte.

War ihm nicht mal eine einzige ruhige Stunde vergönnt, ohne eine Lösung für irgendeine neue Katastrophe finden zu müssen?

Da er aber wusste, dass Rafael sonst weiter hinter ihm schweben würde wie ein finsterer Unheilsgeist, seufzte er resigniert.

Wer hätte gedacht, dass es dermaßen lästig sein würde, Anführer zu sein?

Ariyal ließ es immer so einfach erscheinen.

Nun ja, vielleicht nicht einfach, dachte er, als er sich verschwommen an die endlosen Stunden der Misshandlung durch Morgana le Fay erinnerte.

Er hatte sich allerdings niemals beschwert.

»Na schön.« Er wandte sich um, um in die tief liegenden Augen Rafaels zu blicken, in denen ein blutrotes Feuer flackerte. »Was gibt es?«

Der Geist bedeutete ihm, ihm durch die dunklen Gänge zu folgen, zurück zu der Höhle, in der sie sich zuvor unterhalten hatten.

Sobald sie dort angekommen waren, durchquerte der Zauberer den Raum und begab sich direkt zu der flachen Wasserpfütze auf dem Boden. Mit einer knochigen Hand deutete er auf die Bilder auf der Wasseroberfläche.

»Seht.«

Tearloch war bereits auf den Anblick des Sylvermyst gefasst, der in etwas stand, das wie die Mitte eines Scheunenhofes aussah.

»Ariyal.« Ein Gefühl der Reue durchzuckte sein Herz, doch dann verhärtete er es gegen den Anblick seines Bruders. »Ich wusste bereits, dass er sich in der Nähe aufhält.«

»Aber er ist nicht allein.«

Rafael machte eine Handbewegung. Das Bild zeigte nun zusätzlich eine wunderschöne Frau mit rabenschwarzem Haar, die durch eine von Menschen geschaffene Küche schritt. Ihre Finger streichelten den Kolben der Schrotflinte, die in einem Halfter an ihrer Hüfte steckte.

»Die Vampirin«, flüsterte Tearloch.

»Seine Geliebte. Wirklich bedauerlich«, flüsterte der Geist sanft, und seine Worte tropften ihm von den Lippen wie Gift. »Ganz eindeutig hat sie seinen Verstand getrübt. Sie planen herzukommen und das Kind zu töten.«

Tearloch runzelte die Stirn. Der treulose Zauberer war nicht würdig, Ariyals Namen auszusprechen.

»Welche Rolle spielt das denn überhaupt? Du sagtest, deine Kräfte würden verhindern, dass wir verfolgt werden.«

Rafael schnitt eine Grimasse. »Seine Fähigkeit, dich wahrzunehmen, ist größer, als ich vermutet hatte. Er hätte niemals in der Lage sein dürfen, uns von London hierher zu folgen.«

»Ich warnte dich vor seiner Macht.«

Der Geist zuckte die Achseln. »Er kann Euren genauen Aufenthaltsort nicht gekannt haben, sonst hätte er bereits angegriffen.«

»Weshalb belästigst du mich dann?«

»Seht her.«

Rafael winkte erneut mit der Hand, und die Szene veränderte sich. Nun war der Friedhof über ihnen zu sehen. Nach ein paar Sekunden konnte Tearloch den nebelhaften Schatten erkennen, der auf den Eingang der Höhlen zuschwebte.

»Ein Geist«, sagte er überrascht und erstarrte.

Es war keine voll entwickelte Geistererscheinung. Lediglich ein Gespenst, das leicht zu beschwören und leicht wieder fortzuschicken war. Das bedeutete, dass der Geist eher zu dem Zweck beschworen worden war, dass er der betreffenden Person Informationen verschaffen sollte, als dass er eine bestimmte Aufgabe ausführen sollte. Gespenster waren nicht imstande, eine massive Gestalt anzunehmen.

»Ist das eines von Euren Gespenstern?«, murmelte Rafael.

»Nein.«

»Könnt Ihr uns von ihm befreien?«

»Ja, aber sobald ich das tue, wird Ariyal wissen, dass ich hier bin.« Tearloch drückte eine Hand gegen seinen schmerzenden Kopf. »Verdammt. Wir müssen gehen.«

»Wartet.« Etwas in der Stimme des Zauberers dämpfte plötzlich Tearlochs panischen Drang zu fliehen. »Nicht so hastig. Ich glaube, wir können dies zu unserem Vorteil nutzen.«

»Und wie?«

»Das Gespenst nähert sich uns eindeutig als Spion.«

»Ich bin nicht dumm«, fuhr Tearloch ihn an. »Ich weiß, weshalb Ariyal das Gespenst beschworen hat.«

Rafael presste seine Hände auf den Anhänger um seinen Hals, und ein schwaches Grinsen legte sich auf seine dünnen Lippen.

»Weshalb gestatten wir ihm dann nicht, das zu sehen, von dem wir wollen, dass er es sieht?«

»Und was wäre das?«

»Das Baby.«

»Das ist dein Plan?« Tearlochs schallendes Gelächter hallte von der polierten Höhlenwand wider. »Den mächtigsten aller Sylvermyst und eine Vampirin direkt zu dem Kind zu führen, das zu verbergen wir alles riskiert haben?«

Rafael lächelte erwartungsvoll. Ein wahrhaft schauerlicher Anblick.

Götter. Die Grinsekatze aus der Hölle.

»Das Kind wird nur der Köder sein.«

»Köder? Wofür?«

»Um die beiden in einen ganz besonderen Teil der Höhlen zu führen, der eigens für meine Feinde erschaffen wurde«, erklärte der Zauberer.

Tearloch verschluckte einen resignierten Seufzer. Natürlich gab es Höhlen, die ersonnen worden waren, um die Feinde des Zauberers gefangen zu halten und zweifelsohne auch zu foltern. Er vermutete, dass Rafael zu seinen Lebzeiten sogar ein noch paranoiderer, rücksichtsloserer, brutalerer Bastard war als jetzt, da er tot war.

»Eine Falle?«, fragte er.

»Genau das.«

Tearloch zögerte. Die Vorstellung, Ariyal vorsätzlich in Rafaels Falle zu locken, stieß ihn ab.

Das widersprach allem, woran er glaubte.

Doch welche Wahl hatte er schon?

Ariyal hatte den richtigen Weg während ihrer Zeit in Avalon aus den Augen verloren. Nun war es Tearlochs heilige Pflicht, den Sylvermyst wieder zu ihrem früheren Ruhm zu verhelfen.

Das bedeutete aber noch lange nicht, dass es einfach wäre und ihm gefallen würde. »Sieh zu, dass dein Plan aufgeht, Zauberer«, sagte er warnend. »Sonst fahren wir nämlich beide zur Hölle.«