56

Sechshundert Minuten bis zum Abflug.

Er ließ den Wagen am Anfang der Kennington Road stehen und kaufte in einem Blumenladen beim Imperial War Museum einen Strauß Blumen. Er ging zum St. Thomas’ Hospital. Sie waren mit den letzten Aufräumarbeiten des Wochenendes beschäftigt, mit den letzten vom Schlachtfeld angelieferten Verletzten. Er schlängelte sich an blutenden Paaren und Unfallopfern, an Zugedröhnten und Besoffenen vorbei. Reaktionsschnell wich er zwei Reportern aus, die auf die neuesten Nachrichten aus der Notaufnahme warteten.

Vor der Station, auf der Charlotte lag, saß ein Polizist in Uniform. Er begutachtete Belsey routiniert und eindringlich: Gesicht, Hände, Taille, ein besorgter Blick auf den Blumenstrauß. Belsey kannte ihn nicht.

»Tut mir leid, Kumpel.« Der Beamte hob eine seiner großen Hände.

»Ich bin ein Freund.«

»Vorerst keine Besuche. Sie schläft sowieso.«

»Geht’s ihr gut?«

»Ich darf Ihnen nichts sagen.«

»Können Sie ihr den hier geben?« Belsey hielt ihm den Strauß hin.

»Nein.«

Belsey schaute durch ein kleines Lamellenfenster in der Tür ins Krankenzimmer. Er sah Bettwäsche, sonst nichts. Er spürte, wie wieder die Wut in ihm aufstieg. Er ging nach unten, gab den Blumenstrauß einer alten Frau mit Schläuchen am Hals und rief die Leitstelle der Metropolitan Police an.

»Detective Constable Nick Belsey vom Hampstead CID. Ich war bei der Schießerei am Cavendish Square dabei, ich habe Informationen über einen Verdächtigen.«

»Okay.«

»Welches Revier kümmert sich um den Fall?«

»West End Central. Können Sie da vorbeischauen?«

»Ja, kein Problem.«

»So schnell wie möglich.«

Er brauchte keine Viertelstunde bis zum Revier West End Central. Ein Constable nahm ihn in Empfang und brachte ihn zu einem Verhörraum, in dem drei Männer saßen, die anscheinend schon auf ihn gewartet hatten. Der Raum war schlecht beleuchtet: Eine der Neonröhren an der Decke war kaputt, das meiste Licht kam von der Schreibtischlampe. An einem Tisch saßen ein glatzköpfiger Beamter mit Stiernacken und Spitzbart, dessen dreckiges Hemd sich über seinen Bierbauch spannte, ein grobschlächtiger Constable mit rötlichen Haaren und ein Mann, der einen karamellfarbenen Anzug trug. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Belsey Letzteren als Nigel Herring, Northwoods Handlanger, erkannte.

Jetzt schaute er sich alle Gesichter genauer an. Den Constable kannte er nicht. Der Spitzbart war der Mann, den er mit der Plastiktüte voller Papierschnitzel aus Chris Starrs Büro hatte kommen sehen. Heute sah er auch nicht freundlicher aus. Über seiner Stuhllehne hing eine Uniformjacke mit den Streifen eines Sergeants.

Belsey machte sich auf eine Runde gefasst, die ihm nicht unbedingt wohlgesinnt war. Er roch ihren Schweiß, sie saßen schon länger zusammen. Aber es handelte sich bei dem Trio nicht um ein Ermittlungsteam. Auf dem Tisch – zwischen verschmierten Papptellern, Tetrapacks mit Saft und Zigarettenschachteln – lag unübersehbar und unheilvoll eine Ausgabe der Mail on Sunday, die eine Geschichte gebracht hatte, in der eine Verbindung zwischen PS Security und Chief Superintendent Northwood hergestellt wurde.

»Was soll das hier?«, fragte Belsey.

»Setzen Sie sich.«

»Ich habe einen Namen«, sagte er. »Die Schießerei am Cavendish Square.«

»Einen Namen.«

Sie schauten ihn ausdruckslos an. Dann fing der Sergeant an zu lachen. Der rothaarige Constable schloss die Tür.

»Sie haben also einen Namen«, brummte er.

»Warum machen wir es uns nicht einfach, Nick?«, sagte der Sergeant und schaute ihn verschlagen an. Belsey musterte das Durcheinander auf dem Tisch, die Zeitung, die grinsenden Gesichter. Dann musterte er Herring.

»Setzen Sie sich«, sagte Herring.

Der junge Constable legte Belsey eine Hand auf die Schulter und drückte ihn auf einen Plastikstuhl. Dann klopfte er auf die Zeitung.

»Und, was ist das?«, fragte Belsey.

»Wie sieht’s denn aus?«

»Wie ein Haufen Scheiße.«

»Dann werden Sie denen einen zornigen Leserbrief schreiben müssen.«

Der Sergeant beugte sich vor. »Sie sind nicht in der Position, hier den Whistleblower zu spielen, Nick.«

»Hört sich an, als hätten Sie ein schlechtes Gewissen.«

»Wie steht’s mit Ihrem Gewissen?«

»Ich kann damit leben.«

Herring warf ein Foto von Jessica Holden auf den Tisch.

»Kennen Sie die?«

»Das Gesicht kommt mir bekannt vor.«

»Gibt’s irgendwas, was Sie uns über ihren Tod erzählen können?«

»Dass die Ermittlungen ein totales Debakel sind.«

Die drei Männer schauten sich an.

»Möglich«, sagte Herring. »Wann waren Sie zuletzt in der Bishops Avenue?«

»Herrgott noch mal«, sagte Belsey. Langsam begann er das unheilvolle Szenario zu durchschauen. »Steht ihr etwa alle auf der Gehaltsliste von PS Security? Geht’s darum? Hab ich euch die Bonuszahlungen vermasselt?« Er fragte sich, wohin das führen würde. Er ging jetzt seine Möglichkeiten durch und schaute sich den Raum genauer an: den Grundriss, die drei Männer, den Tisch.

»Beantworten Sie meine Frage.«

»Kein Kommentar.«

»Haben Sie jemals mit dem Mädchen gesprochen, bevor sie gestorben ist?«

»Kein Kommentar.«

»Was ist mit Charlotte Kelson?«, fragte Herring.

»Hör den Namen zum ersten Mal.«

»Sie hat Nachforschungen über Sie angestellt, Nick.«

»So kann man es auch nennen«, sagte der Constable. Alle lachten.

»Und jetzt liegt die arme Frau im Krankenhaus«, sagte Herring. »Sie hat Nachforschungen über Sie angestellt und versucht herauszufinden, wie Sie in die ganze Geschichte verwickelt sind. Ich kann mir vorstellen, warum Sie so schüchtern sind.«

»Sie treffen eine junge Lady und verschweigen ihr Ihren Namen«, spöttelte der Constable. »Ganz schön frech.«

»Sie versuchen eine junge Reporterin auszuquetschen, und dann legen Sie sie auch noch rein«, sagte Herring.

»Sie beschaffen sich ihre Nummer, rufen bei ihrem Sender an, lügen dem Burschen am Telefon ins Gesicht und ergaunern sich so vertrauliche Daten«, sagte der Sergeant. »Das ist wahre Liebe, Nick.«

Belsey seufzte.

»Tja, aber in den Zeitungen heute Morgen bin nicht ich das Thema, oder?«, sagte er.

»Nick, Nick. Warum machen Sie sich Feinde? Das kann sehr unangenehm werden.«

Als Belsey den Blick hob, sah er gerade noch die Faust. Sie gehörte dem rothaarigen Constable und traf ihn mitten ins Gesicht. Für einen Augenblick wurde ihm schwarz vor Augen. Alle lachten ausgelassen.

»Ein Geschenk von Freunden.« Der Rothaarige schlug ihm wieder ins Gesicht. Belsey umklammerte die Armlehnen. Er durfte sich auf keinen Fall dazu verleiten lassen, zurückzuschlagen. Darauf hatten sie es abgesehen. Dann würden sie sich zu dritt auf ihn stürzen, dann gab es kein Halten mehr. Und hinterher würden sie die Handschellen zücken.

»Fickt euch ins Knie«, sagte Belsey.

»Na, na, Nick. Warum rufst du nicht bei der Dienstaufsicht an?«

Das Gelächter wurde lauter. Belsey versuchte nachzudenken. Das würde noch eine Zeit lang so weitergehen, und sie würden sicher nicht charmanter werden.

»Sie hat gegen Sie ausgesagt«, sagte Herring.

»Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, hat sie nicht viel gesagt«, sagte Belsey. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schmeckte Blut.

»Überall, wo Sie auftauchen, sterben Leute«, sagte der Sergeant. »Komischer Zufall.«

»Wollen Sie mir deshalb eine Klage anhängen?«, fragte Belsey.

»Ich kann Ihnen sagen, was wir Ihnen anhängen werden«, sagte Herring.

»Na los, beeindrucken Sie mich.«

»Verschwörung zum Raub, Verschwörung zum Betrug, Behinderung der Justiz und versuchter Mord.«

»Versuchter Mord? An wem?«

»Charlotte Kelson.«

»Herrgott.«

»Möchten Sie einen Anwalt?«, fragte der Sergeant.

»Oder wollen Sie einfach versuchen, uns die ganze Geschichte zu erklären?« Herring schaute ihn an.

»Ich habe keine Erklärung abzugeben«, sagte Belsey.

»Und darüber?«

Herring schob ihm die Zeitung mit Charlottes kritischem Artikel über den Chief Superintendent Northwood hin. Belsey tat so, als studierte er den Artikel, schaute sich aber in Wahrheit den Tisch genauer an: Styroporschachteln, kein Besteck. Die einzig massiven Gegenstände auf dem Tisch waren das Tonbandgerät und die Schreibtischlampe.

Der Constable betrachtete bewundernd Charlotte Kelsons Foto unter dem Artikel.

»Schnuckelig. Gab’s zur Belohnung eine kleine Nummer?«

»Wichser.«

Der Rothaarige schlug ihm aufs Ohr. Sie blieben also bei der harten Gangart. West End Central in Aktion. Belsey schaute wieder zu der Schreibtischlampe. Das gleiche Fabrikat wie im Revier Hampstead. Mit einer Stabbirne.

»Ich hab Sie was gefragt«, sagte der Constable.

»Wie war noch mal die Frage?«, sagte Belsey. »Ob ich mit Ihnen vögeln würde?«

»Sie sind eine Schande für die Polizei.«

»Und Sie eine Zierde«, sagte Belsey. Er hörte das Klimpern von Schlüsseln. Wer von ihnen hatte Schlüssel? Der rothaarige Constable hatte eine Kette zwischen Hosentasche und Gürtel. Belsey betastete sein ramponiertes Gesicht und fragte: »Darf ich mir mal in die Tasche fassen? Ich brauche ein Taschentuch.« Sie brummten. Belsey zog einen Klumpen Papiertaschentücher heraus und betupfte seine Lippen.

»Sie haben was vergessen«, sagte er.

»Und das wäre?«

»Sie haben mir meine Rechte nicht vorgelesen.« Sie grinsten. Belsey hörte auf zu tupfen, legte die Hände in den Schoß und wickelte sich die blutigen Papiertaschentücher um eine Hand. Der Sergeant leierte gelangweilt seinen Spruch herunter.

»Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Haben Sie das verstanden?« Er hob die Augenbrauen.

»Legen Sie mir keine Handschellen an?«

»Was soll das, Nick?«, sagte Herring.

»Na los, legen Sie mir Handschellen an.«

Der Constable beugte sich vor. Belsey riss die Birne aus der Lampe und zerschlug sie auf dem Tisch, sprang auf und rammte dem Constable den Ellbogen ins Gesicht. Dann packte er ihn an den Haaren, riss den Kopf zurück und drückte ihm den gezackten Sockel der Birne ins weiche Fleisch unter dem Kinn.

Herring und der Sergeant saßen wie erstarrt da. Belsey zog den Kopf noch etwas weiter zurück, damit sie die Glaszacken gut sehen konnten. Der Constable röchelte. Belsey drückte ihm den Sockel etwas tiefer ins Fleisch, und der Constable hörte auf, sich zu winden. Es roch nach verbrannter Haut.

»Keine Bewegung, oder ich schlitze ihm die Kehle auf«, sagte Belsey.

»Machen Sie keine Dummheiten«, sagte Herring.

Belsey bewegte sich rückwärts auf die Tür zu. Dann drehte er sich kurz zur Seite, trat mit der Fußspitze auf den Türgriff und schleifte seine Geisel hinaus in den Gang.

»Los, die Hintertür auf«, rief er dem Beamten am Empfang zu. Blut tropfte von seinem Ellbogen, als er den Constable nach draußen auf den Parkplatz zerrte.

Er ließ den Constable fallen und trat ihm in die Seite, sodass diesem kurz die Luft wegblieb und Belsey den Clip an der Kette öffnen und die Schlüssel abmachen konnte. Am Autoschlüssel hing ein Toyota-Anhänger. Auf dem Parkplatz stand ein schwarzer Mazda MX-5. Belsey stieg ein, ließ den Motor an und fuhr auf die Straße.

Als er auf dem Chandos Way in den Rückspiegel schaute, liefen Herring und der Sergeant gerade auf die Straße. Die Hand auf dem Lenkrad starrte vor Blut.

Noch vierhundertfünfzig Minuten.

London Killing - Harris, O: London Killing - Belsey Bottoms Out
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