Achter Tag

1. März

Sven Becker und Klaus König saßen an diesem Freitagmorgen in ihrem Büro im Koblenzer Präsidium. Mit bleichen Gesichtern und mit Augen, die nur von wenig Schlaf zeugten, betrachteten sie das Video, das die Computerforensiker auf Bukowskis Rechner sichergestellt hatten. Vier Minuten und achtunddreißig Sekunden des blanken Grauens.

Als es endlich vorbei war, atmeten beide erleichtert aus.

»Allmächtiger«, sagte König. »Er hat das Ganze also auch noch für die Nachwelt festgehalten. Immerhin erleichtert uns das die Arbeit.«

»Tut es das?«, fragte Becker. Er hatte sich von seinem Stuhl erhoben und war zu der großen Magnettafel gegangen, an der alle relevanten Fakten zu dem Fall angebracht waren. »Mal abgesehen davon, dass man auf diesem Video den Täter nicht erkennt, frage ich mich, wieso wir weder am Tatort noch in Bukowskis Haus eine entsprechende Kamera gefunden haben.«

»Vielleicht hat er es mit seinem Handy aufgenommen.«

Becker schüttelte den Kopf. »Die Kollegen von der IT meinten, es wäre mit einer hochauflösenden Videokamera gemacht worden. Außerdem deuten Position und Kamerawinkel darauf hin, dass der Täter ein Stativ benutzt hat. Aber auch hier Fehlanzeige. Bei der Fotoausrüstung, die wir in Bukowskis Haus sichergestellt haben, war dergleichen nicht zu finden. Es scheint, als wäre er mehr auf Bilder fixiert.«

»Ja«, sagte König, der neben ihn getreten war und auf zwei Ausdrucke an der Wand deutete, die zwei Minderjährige bei sexuellen Handlungen zeigten. »Was die Fotos auf Bukowskis Festplatte eindeutig beweisen.«

»Sieht ganz danach aus«, erwiderte Becker. »Allerdings frage ich mich, wie das Video auf seinen Rechner gekommen ist.«

»Die Kamera hat einige Blutspritzer abbekommen. Das ist im Video klar zu sehen«, sagte König. »Möglicherweise hat er sie mitsamt dem Speicherchip entsorgt, um ganz sicherzugehen.«

»Du meinst also, er beseitigt die Kamera, speichert aber das Video auf seinem Rechner ab? Und hinterlässt uns dann noch sämtliche Beweise direkt am Tatort? Das passt einfach nicht zusammen.«

König zuckte mit den Schultern. »Manche Mörder brauchen eben eine Art Andenken an ihre Taten.«

»Mag sein, aber ich denke, das dürfte auf unseren Mann wohl kaum zutreffen. Überhaupt passt Bukowskis Profil in keines der üblichen Muster. Er hat keinerlei Vorstrafen und ist sozial gefestigt. Was sollte ihn plötzlich dazu bewegen, zu einem pädophilen und sadistischen Killer zu werden?«

»Vielleicht hat er seine pädophilen Neigungen jahrelang geheim gehalten«, sagte König. »Bis eines der beiden Opfer ihm auf die Schliche gekommen ist.« Er deutete auf zwei weitere Aufnahmen, die sie in Bukowskis Arbeitszimmer gefunden hatten und die ihn in Großaufnahme zeigten, wie er ein unbekanntes Kind ansprach. »Es ist zwar noch nicht offiziell bestätigt, aber es deutet doch einiges darauf hin, dass es sich bei dem Vermerk auf der Rückseite der Fotos um Brunners Handschrift handelt. Unter Umständen steckte er da auch mit drin, und es ging um Erpressung. Das würde zumindest die Drohungen gegen Bukowski erklären.«

Becker seufzte. »Brunner war sehr engagiert, was den Schutz von Kindern angeht. Er war Mitglied im hiesigen Kinderschutzbund und war dort ehrenamtlich tätig.«

»Das muss nichts heißen«, sagte König. »Pädophile suchen die Nähe zu Kindern.«

»Der Staatsanwalt ist in diesem Fall anderer Meinung.«

»Der Staatsanwalt?«

Becker nickte. »Er rief mich heute Morgen an und erkundigte sich nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen.«

Noch immer ruhte Königs Blick fragend auf seinem Kollegen. »Könntest du mich bitte mal aufklären?«, sagte er. »Zunächst erteilt man uns in Rekordzeit einen Durchsuchungsbefehl für Bukowskis Haus. Spurensicherung und Rechtsmedizin schieben seitdem Sonderschichten. Selbst die Jungs aus der Computerabteilung scheinen sich plötzlich mit nichts anderem mehr zu befassen. Und nun ruft dich auch noch einen Tag später der Staatsanwalt an. Was ist hier los?«

»Der Fall hat oberste Priorität«, sagte Becker. »Einer der obersten Richter am Landesgericht in Koblenz kannte Brunner seit Jahren persönlich. Sie spielten im selben Tennisverein.«

»Na großartig«, entfuhr es König.

»Ja. Die Präsidiumsleitung steht deswegen mächtig unter Druck. Die wollen schnellstmöglich Ergebnisse haben. Seit zwei Stunden besteht ein Haftbefehl für Bukowski. Die Fahndung läuft bereits.«

»Du scheinst darüber nicht allzu glücklich zu sein«, bemerkte König.

»Nur weil einige Leute aus persönlichen Gründen einen Schuldigen fordern, bin ich noch lange nicht bereit, ihnen gleich den Erstbesten auszuliefern.«

»Demnach hast du also Zweifel, was Bukowski betrifft. Die Indizien sprechen allerdings eine deutliche Sprache.«

»Ich weiß auch nicht. Das Ganze wirkt auf mich irgendwie inszeniert.«

»Na schön. Dann lass uns noch mal alle Fakten durchgehen. Mal sehen, ob ich dich noch umstimmen kann.«

»Du glaubst also, dass Christian Kuhn herausgefunden hat, dass sein Vorgesetzter Bukowski eine Vorliebe für kleine Kinder hat«, fasste Becker zusammen, nachdem er sich die Ausführungen seines Kollegen angehört hatte. »Und dass er ihn damit unter Druck gesetzt hat.«

König nickte. »Wie uns Bukowskis Chef mitgeteilt hat, war es kein Geheimnis, dass die beiden sich nicht mochten. Es dürfte für Kuhn nicht allzu schwierig gewesen sein, sich Einsicht in Bukowskis Kontoaktivitäten zu verschaffen. Vielleicht sind ihm so schon früher dubiose Einzahlungen oder Abbuchungen bezüglich solcher Bilder aufgefallen. Und dann hat er angefangen, Bukowski zu drohen.«

»Bis die Sache eskaliert ist, meinst du.«

König nickte. »Ein zerstörtes Auto, Drohanrufe, anonyme Kurzmitteilungen … Da ist Bukowski irgendwann die Sicherung durchgebrannt, wofür ja auch die Aufzeichnung spricht, die wir auf Kuhns Handy gefunden haben. Er droht Kuhn doch wortwörtlich damit, ihn in seine Einzelteile zu zerlegen. Eindeutiger geht es ja gar nicht.«

»Ich habe Leuten auch schon damit gedroht, sie in der Luft zu zerreißen. Das heißt nicht, dass ich es auch tue.«

»Wie auch immer, Bukowski war jedenfalls zum Handeln gezwungen. Sein Ansehen stand ebenso auf dem Spiel wie sein Job. Denn wie die vorläufige Auswertung von Brunners Computer ergeben hat, fand mehrfacher E-Mail-Kontakt zwischen ihm und Kuhn statt.« König deutete auf drei Ausdrucke auf der rechten Seite der Magnetwand. »Außerdem wissen wir aufgrund der Anrufdaten ihrer Handys, dass sie mindestens zweimal miteinander telefoniert haben.«

»Du denkst also, die beiden haben sich zusammengetan und Bukowski beobachtet.«

»Bukowski und Brunner kannten sich von gelegentlichen Kneipenbesuchen, wie wir von seiner Frau wissen. Es dürfte ihm daher nicht schwergefallen sein, ihm ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Was eine der E-Mails beweist, die wir auf Bukowskis Rechner gefunden haben und in der Brunner ihn auf einen Onlinebericht über den Anschlag auf seinen Wagen am vergangenen Samstagabend aufmerksam macht. Wie uns die Forensiker bereits vorab bestätigt haben, war diese Verlinkung mit einem Programm auf Brunners Rechner verknüpft, mit dem er sich vermutlich Zugang zu Bukowskis Computer verschafft hat. Auf diesem Weg ist er auf die Pornobilder aufmerksam geworden und hat Bukowskis Frau damit konfrontiert.«

»Und warum hat er das dann nicht gleich der Polizei gemeldet?«

König zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, die beiden kannten sich. Vielleicht wollte er das Ganze diskret regeln, und Bukowski ist ihm auf die Schliche gekommen. Aber ich denke mal, dass uns der endgültige Bericht der Computerabteilung mehr Aufschluss geben wird. Beide gehörten demselben sozialen Netzwerk an. Die Anträge auf Einsicht beim Betreiber sind bereits gestellt. Die Auswertungen dürften aber noch zwei bis drei Tage in Anspruch nehmen.«

Beckers Blick haftete noch immer auf der Magnetwand. Das alles klang halbwegs plausibel. Und dennoch …

»Wie ist dann die Sache mit seiner Frau und seinem Kind zu erklären?«, fragte er. »Glaubst du wirklich, er wollte seine eigene Familie aus dem Weg räumen, weil sie von seinen Neigungen wusste?«

»Entweder das, oder es war tatsächlich nur ein Unfall. Vielleicht wollte seine Frau ihn verlassen, nachdem sie die Beweise gesehen hatte. Das würde auch seinen gesteigerten Hass auf Brunner und Kuhn, diese unglaubliche Brutalität, erklären. Jedenfalls kam er mir bei unserem Besuch nicht unbedingt wie ein Trauernder vor. Und dann diese hirnrissige Geschichte mit dem Obdachlosen. Wenn du mich fragst, versucht der nur seinen Arsch aus dem Dreck zu ziehen. Sonst wäre er jetzt wohl kaum untergetaucht.«

Becker trat an die Tafel und ging auf die Fotos der beiden Opfer zu. »Gehen wir also mal davon aus, dass es sich tatsächlich so abgespielt hat. Die Tatzeit liegt zwischen fünf Uhr morgens und zwei Uhr mittags desselben Tages. Bukowski war nachweislich die ganze Nacht im Krankenhaus; erst nach elf Uhr vormittags hat er es verlassen. Zu Hause haben wir ihn gegen vierzehn Uhr dreißig angetroffen. Dazwischen liegen also etwas mehr als drei Stunden. Ein ziemlich enger Zeitplan, um einen Mann zu Tode zu foltern und einen anderen in Stücke zu zerlegen, findest du nicht?«

»Eng ja, aber nicht unmöglich«, entgegnete König. »Er hätte bereits im Krankenhaus ein Treffen mit den beiden vereinbaren können. So brauchte er nur noch sein Werkzeug zu holen und zur Schlachtbank zu fahren. Danach ist er zu seinem Haus zurückgekehrt und hat sich umgezogen.«

»Und lässt die Tatwaffe und seine gesamte Ausrüstung am Tatort zurück?«

»Möglicherweise wollte er damit warten, bis es dunkel ist. Immerhin ist er nach unserem Besuch noch einmal dorthin zurückgekehrt. Vielleicht hat er Panik bekommen und ist durchgedreht. Nach den Morden muss er ziemlich durcheinander gewesen sein.«

»Aber den Kopf der Leiche hat er mitgenommen? Wozu? Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Und es widerspricht jeglichem Mordmotiv aus Hass, das ich kenne. Wenn er die beiden einfach erschlagen oder erstochen hätte, okay. Aber das hier sieht mir nicht nach einer Tat im Affekt aus.«

»Am Motiv gibt es jedenfalls keine Zweifel.«

»Dann erklär mir bitte mal Folgendes«, setzte Becker an. »Warum macht sich jemand die Mühe, eine Leiche zu zerteilen, und nimmt dann nur den Kopf mit? Und jetzt komm mir bloß nicht wieder mit diesem Trophäenquatsch!«

König zuckte die Achseln. »Offensichtlich haben wir ihn gestört. Möglicherweise wollte er den Rest auch noch entsorgen.«

»Und richtet uns dann die andere Leiche auf dem Präsentierteller an? Du musst zugeben, das ist nicht sehr plausibel. Für mich hat es eher den Anschein, als hätte hier jemand einen sadistischen Spaß am Morden gehabt. Dabei ging es meiner Meinung nach eindeutig um Macht. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass der Täter seine Macht länger als drei Stunden ausgekostet hat.« Er tippte mit den Fingern auf eine Großaufnahme von Brunners Kopf. Darauf war eine etwa fünf Zentimeter lange verkrustete Narbe zu erkennen. »Das kam vorhin per Mail aus der Gerichtsmedizin«, sagte Becker, »und die haben mir bestätigt, dass diese Platzwunde an Brunners Kopf bereits mehrere Tage alt sein muss. Unter der gelben Sprühfarbe an den Haaren war sie zunächst niemandem aufgefallen. Die Farbe sollte die Wunde wahrscheinlich überdecken.«

König trat an die Wand und betrachtete den Ausdruck genauer. »Diese Wunde hätte er sich bei sonst was zuziehen können. Sie muss nicht mit seiner Ermordung in Zusammenhang stehen.«

»Sicher. Aber diese Verletzung passt zu den anderen, die man an seinem Körper gefunden hat. Sie stammen alle von einem runden, stumpfen Gegenstand – einem Rohr oder Stemmeisen. Außerdem hat Cerwinski mir vor einer halben Stunde gesteckt, dass Brunner sich am Montagmorgen bei seiner Generalagentur krankgemeldet und sämtliche Termine für diese Woche abgesagt hat.«

»Vermutlich, weil er sich am Wochenende verletzt hatte«, beharrte König.

»Oder weil er von jemandem aufgesucht und überwältigt worden ist«, sagte Becker. »Der Gerichtsmediziner meinte, dass die Wucht eines solchen Schlags durchaus ausgereicht hätte, Brunner eine Zeitlang außer Gefecht zu setzen.«

König dachte einen Moment über diese Möglichkeit nach. »Aber wenn das stimmt, würde das bedeuten, dass der Täter Brunner einige Tage lang in seiner Gewalt hatte. Dafür müsste es doch noch mehr Anhaltspunkte geben: Verwahrlosung, Bartwuchs und so weiter.«

»Am Kinn des Opfers befand sich eine frische Schnittwunde. Außerdem haben wir im Badezimmer einen Eimer und feuchte Waschlappen gefunden. Das legt die Vermutung nahe, dass der Täter das Opfer gewaschen und rasiert hat. Anscheinend wollte er den Umstand einer tagelangen Gefangenschaft verschleiern und so eine spontane Tat vortäuschen.«

König verzog nachdenklich die Augenbrauen. »Aber wozu? Ich meine, warum sollte er sich solch eine Mühe machen? Dadurch geht er ein ziemliches Risiko ein.«

»Darüber bin ich mir auch noch nicht ganz im Klaren«, räumte Becker ein. »Möglicherweise brauchte er Brunner noch, um gewisse Informationen aus ihm herauszubekommen oder um Kuhn in die Falle zu locken.«

»Und wann bitte soll Bukowski das alles getan haben?«, fragte König. »Bis vor zwei Tagen war er noch bis abends in der Bank beschäftigt und ist anschließend sofort nach Hause gefahren.«

»Wie ich sehe, kannst du mir folgen.«

König betrachtete ihn skeptisch. »Du meinst also, es gab noch einen zweiten Täter?«

»Entweder das, oder hier versucht uns jemand fürchterlich zu verarschen.«

Als Dirk erwachte, befand er sich in einem kleinen Raum im oberen Stockwerk des Hauses. Durch das Fenster vor seinem Bett sah er die verschneite Krone des Obstbaumes in Niklas’ Garten. Vage konnte er sich daran erinnern, wie ihm plötzlich schwindelig geworden war. Von der Zeit danach waren nur ein paar neblige Schnappschüsse in sein Bewusstsein gelangt. Er sah sich auf einer Couch liegen, während Rosi sich über ihn beugte und ihm zu trinken gab. Er sah seinen Arm, der um Niklas’ Schulter geschlungen war, um ihn zu stützen. Er sah, wie sie beide in dieser Haltung die Treppe hochstiegen. Und dann war er in diesem Zimmer erwacht.

Schlaftrunken schlug er die Bettdecke beiseite und richtete sich mühsam auf. Er war nur mit Unterhose und Socken bekleidet, was ihn jedoch nicht weiter störte, da es angenehm warm in dem Zimmer war. Wie er feststellen konnte, war die Wunde an seinem Bein großflächig mit Jod und einem Verband versorgt worden. Sie pochte noch immer, doch die Schmerzen im Rest seines Körpers ließen diese Verletzung geradezu wie eine Lappalie erscheinen. Dirk hatte das Gefühl, als wäre jeder Muskel in seinem Leib gerissen. Selbst die geringste Bewegung bereitete ihm Schmerzen. Sein Mund war ausgetrocknet, und er fühlte sich noch immer schwach. Dennoch gelang es ihm aufzustehen. Zunächst schwankte er leicht, doch nachdem sich sein Kreislauf stabilisiert hatte, fanden auch seine Beine zu ihrer gewohnten Standfestigkeit zurück. Gegenüber vom Bett entdeckte Dirk einen Schreibtisch und einen Computer. Über dem Bürostuhl hingen sein Mantel und seine restliche Kleidung. Auf der Sitzfläche befanden sich ordentlich zusammengelegt eine hellblaue Jeanshose und ein cremefarbener Pullover. Zweifelsohne gehörte die Kleidung Niklas. Dirk zog sie an, auch wenn ihm die Hose ein wenig zu weit war. Doch war er dankbar für die Geste. Sie vermittelte ihm zum ersten Mal seit Tagen wieder das Gefühl von Wärme und Fürsorge. Um nichts in der Welt wäre er noch einmal in seine alten Sachen gestiegen. Es war, als hätte er mit ihnen auch das Böse abgelegt, dem er am vorigen Tag begegnet war. Lediglich seine Geldbörse und seinen Schlüsselbund entnahm er der Tasche seines Mantels.

Humpelnd stieg er die Treppe hinab, deren Stufen unter jedem seiner Schritte knarrten. Im unteren Flur hörte er Geräusche aus der Küche, wo er seine Nachbarn vorfand. Sie waren eifrig mit Kochen beschäftigt. Rosi lächelte ihn an, und auch Niklas sah freudestrahlend von seinem Schneidebrett auf, als er Dirk in der Tür erblickte.

»Na sieh mal einer an, wer wieder unter den Lebenden ist«, sagte er und wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab. »Wir dachten schon, du würdest gar nicht mehr aufwachen.«

Cookie sprang von seiner Decke im Wohnzimmer auf und rannte japsend auf sein Herrchen zu.

Obwohl es ihm Schmerzen bereitete, beugte sich Dirk zu dem Hund hinab und streichelte ihn. »Hey, alter Junge, ich bin verdammt froh, dass es dir gut geht.«

»Er hat sich hier prima eingelebt«, versicherte Niklas. »Rosi hat ihm gleich heute Morgen einen Fressnapf und Futter besorgt.«

Dirk sah zu seinem Nachbarn auf. »Danke, dass ihr euch um ihn kümmert.«

Niklas machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. »Ist doch selbstverständlich.« Dann sah er prüfend an Dirk herab. »Wie ich sehe, passen dir meine Sachen. Zumindest an den meisten Stellen.«

»Ja, auch dafür vielen Dank. Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte Dirk mit belegter Stimme.

Niklas sah auf die Uhr. »Na ja, nachdem wir dich verarztet und ins Bett geschleppt haben, würde ich sagen, fast dreizehn Stunden. Wie fühlst du dich?«

»Als wäre eine Herde Rinder über mich hergetrampelt«, sagte Dirk. Der verlockende Duft des Essens verursachte in seinem Magen ein hohles Geräusch, das selbst das Köcheln und Brutzeln in den Töpfen und Pfannen übertönte.

»Na, dann setz dich lieber schon mal an den Tisch. Das Essen ist in zehn Minuten fertig. Und wie ich höre, hast du eine Menge Appetit mitgebracht.«

Staunend beobachteten Rosi und Niklas, wie Dirk das Essen gierig in sich hineinschlang. Er schien völlig ausgehungert zu sein. Dirk selbst schien die beiden kaum wahrzunehmen. Er konnte sich nicht daran erinnern, in seinem Leben schon einmal solchen Hunger gehabt zu haben. Als er endlich satt war, lehnte er sich erschöpft in seinem Stuhl zurück. Erst jetzt bemerkte er die Blicke seiner Nachbarn.

»Bitte entschuldigt meine Manieren«, sagte er, »aber ich hatte seit zwei Tagen nichts mehr gegessen.«

»Ich bitte dich«, sagte Rosi und brachte ein zaghaftes Lächeln zustande. »Ich freue mich immer, wenn es meinen Gästen schmeckt.«

»Es war mehr als köstlich, glaub mir.«

Niklas griff in die Tasche seiner Strickjacke und förderte einen gläsernen Flachmann zutage. »Das entspannt den Magen«, sagte er und stellte die Flasche auf den Tisch.

Dirk winkte dankend ab. »Heute nicht, Niklas. Ich brauche einen klaren Kopf.«

»Nimm dir ein Beispiel an ihm«, sagte Rosi zu ihrem Mann. »Er weiß, was gut für ihn ist.«

»Das ist ja mal wieder typisch«, sagte Niklas mürrisch. »Ich will nur freundlich sein, und du fängst gleich wieder an zu nörgeln.«

»Ich will nur verhindern, dass du dich mit diesem Zeug umbringst.«

»Ein Schnaps nach dem Essen hat noch niemandem geschadet«, sagte Niklas.

»Nur dass du es nicht bei einem belassen kannst und hinterher auch noch diese stinkenden Dinger qualmst«, hielt seine Frau ihm vor. »Vielleicht solltest du endlich mal einsehen, dass du keine zwanzig mehr bist.«

»Sei froh, dass ich es nicht mehr bin, sonst würde ich mir gut überlegen, ob ich dich noch mal heiraten soll.«

»Pah«, entfuhr es Rosi. »Wer sollte dich alten Griesgram denn sonst haben wollen?«

»Ich hatte durchaus Chancen«, meinte Niklas pikiert.

Lächelnd wandte sich Rosi an Dirk, der diesen Schlagabtausch der beiden amüsiert verfolgte. »Jetzt tut er wieder so, als wären ihm damals alle Röcke hinterhergelaufen. Dabei hat er mir wochenlang den Hof gemacht und sogar unter meinem Fenster gekauert, um zu sehen, ob ich mich mit anderen treffe.«

Niklas räusperte sich beschämt. »Ich denke, dass wir Dirk nicht länger mit unseren alten Geschichten langweilen sollten«, sagte er und versuchte, seine Verlegenheit zu überspielen. »Wir sollten ihm lieber helfen, wieder auf die Beine zu kommen, meinst du nicht?«

Dirk beugte sich zu ihnen nach vorn. »Ihr habt mir schon mehr geholfen, als ich erwarten kann.«

»Rede keinen Unsinn«, sagte Niklas. »Das war doch selbstverständlich.«

»Und eigentlich«, schaltete sich Rosi dazwischen, »haben wir nicht mehr getan, als dich ein wenig zu verarzten. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir dich sofort in ein Krankenhaus gebracht, aber Niklas hat es mir auf seine sture Art ausgeredet.«

»Ich bin froh, dass er es getan hat«, erwiderte Dirk und seufzte. »Sonst wäre ich vermutlich längst im Gefängnis.«

Die beiden sahen auf ihre Teller und schwiegen.

»Ihr habt mich nicht einmal gefragt, was eigentlich passiert ist.«

»Du wirst es uns schon sagen, wenn du meinst, dass es an der Zeit dafür ist«, sagte Niklas.

Dirk betrachtete seinen Nachbarn, dessen haarloser Kopf noch immer ungewohnt auf ihn wirkte. Zwar hatte er ihn schon öfter ohne seine Franzosenmütze gesehen, dennoch war es erstaunlich, wie sehr solch ein Kleidungsstück mit dem Erscheinungsbild eines Menschen verschmelzen konnte und wie sehr es ihn veränderte, wenn er es ablegte.

»Ich weiß euer Vertrauen wirklich zu schätzen«, sagte Dirk, »aber vielleicht bin ich nicht der Mensch, für den ihr mich haltet.«

Niklas beugte sich zu ihm auf den Tisch. »Ich kenne dich nun schon seit vielen Jahren als meinen Nachbarn und Freund. Und ich denke, was immer man dir vorwirft, du wirst deine Gründe dafür gehabt haben. Ganz zu schweigen von dem, was deiner Familie zugestoßen ist. Was wäre ich für ein Freund, wenn ich dir jetzt nicht helfen würde? Also fühl dich hier ganz wie zu Hause.«

Dirk betrachtete die beiden lange. Vor ihm saßen vermutlich zwei der selbstlosesten Menschen, die er kannte. Schlagartig spürte er, wie die Bestie in ihm an Macht verlor. All die dunklen Gedanken, die ihn in den letzten Tagen heimgesucht hatten, schienen sich durch die Verbundenheit mit diesen beiden Menschen zu erhellen. Sie gaben ihm plötzlich das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, und dadurch auch gleichzeitig Hoffnung. Aus diesem Grund hatten sie es verdient zu erfahren, was geschehen war und in welche Schwierigkeiten sie ihre Hilfe bringen konnte.

Es dauerte fast zwanzig Minuten, bis er ihnen alles erzählt hatte. Angefangen bei dem Werbebanner im Internet und dem Besuch des Obdachlosen, bis zu dem Punkt, an dem er den Kopf seines Kollegen im Wald verbrannt hatte. Rosi und Niklas saßen stillschweigend da und hörten fassungslos zu.

»Dann habe ich es gerade noch bis zu euch geschafft«, schloss Dirk seinen Bericht ab.

Einen Augenblick lang herrschte bestürztes Schweigen. Niklas schluckte, doch seine Kehle war so ausgetrocknet, dass es ihm schwerfiel. »Hol mich der Teufel«, entfuhr es ihm heiser. »Ich habe Peter Brunner noch vor einer Woche an unserem Stammtisch getroffen. Wir haben geredet und gelacht. Er war wie immer. Und nun das! Was ist bloß aus der Welt geworden?« Er wollte nach dem Flachmann auf dem Tisch greifen, als er erstaunt feststellte, dass seine Frau bereits daraus trank.

»Sieh mich nicht so an«, keuchte sie. »Den hab ich jetzt gebraucht. All die toten Menschen. Und deine arme Frau im Krankenhaus. Warum tut jemand so was?«

Dirk seufzte. »Keine Ahnung. Es gibt wohl keinen rationalen Grund dafür. Ich weiß nur, dass ich irgendwie an alldem schuld bin. Und jetzt habe ich euch auch noch mit da reingezogen.«

»Nun hör aber auf«, sagte Niklas. »Wo hättest du denn sonst hingehen sollen?«

»Ich hätte von Anfang an zur Polizei gehen sollen. Vielleicht wären Kevin und die anderen dann noch am Leben.«

Niklas sah ihm streng in die Augen. »Konntest du damit rechnen, dass es so kommen würde?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Dann hast du dir auch nichts vorzuwerfen. So einfach ist das! Und nun hör auf zu jammern und sag mir lieber, wie du diesen Bastard an den Eiern kriegen willst.«

Im ersten Moment war Dirk sprachlos. Zwar kannte er Niklas als einen Mann, der kein Blatt vor den Mund nahm und streng nach seiner Überzeugung handelte, dennoch traf ihn seine Offenheit wie ein Stromschlag.

Unsicher erwiderte Dirk seinen entschlossenen Blick. »Wie meinst du das?«

Niklas wandte sich seiner Frau zu. »Schatz, ich denke, es wäre jetzt an der Zeit für eine starke Tasse Kaffee.«

Rosi sah ihn unvermittelt an. »Verstehe«, zischte sie. »Die Herren wollen unter sich sein. Na, meinetwegen.« Sie stand auf und sammelte die leeren Teller ein. »Ich für meinen Teil habe eh genug gehört. Ich will gar nicht wissen, was ihr beide ausheckt.« Sie sah besorgt auf Dirk herab. »Aber lass dir von diesem Macho-Fossil hier bloß keinen Blödsinn einreden, hörst du?«

Niklas seufzte. »Kannst du nicht ein Mal tun, worum ich dich bitte, ohne einen Kommentar abzugeben?«

»Schon gut, ich gehe ja, alter Griesgram«, warf sie noch hinterher und verschwand mit den Tellern in der Küche.

Niklas schüttelte den Kopf. »Wie halte ich das nur jeden Tag aus?«

»Weil du sie liebst«, erwiderte Dirk.

»Ja, zur Hölle, das tue ich. Auch wenn wir auf dich wahrscheinlich wie ein altes, zeterndes Ehepaar wirken müssen, das nicht mehr viel gemeinsam hat. Aber lass dich davon nicht täuschen«, meinte er und strich sich über den fast kahlen Kopf. »Ich weiß nicht, was ich täte, wenn sie plötzlich nicht mehr da wäre.« Er stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch ab und beugte sich zu Dirk vor. »Und genau aus diesem Grund würde ich jedem, der ihr etwas antun will, die Hölle heißmachen. Und jetzt erzähl mir nicht, dass es bei dir und deiner Familie nicht dasselbe ist, denn du hast das gestern sicher nicht alles auf dich genommen, weil du keine andere Wahl hattest. Du wolltest diesen Kerl fertigmachen.«

Dirk wich seinem Blick aus und starrte vor sich auf die Tischplatte. Schließlich nickte er zustimmend.

Niklas atmete einmal tief ein und sah Dirk in die Augen. »Jeder andere hätte in deiner Situation genauso gehandelt.«

»Mag sein«, stimmte Dirk ihm zu. »Dennoch macht mir das alles ziemliche Angst. All diese dunklen Gedanken. Herrgott, ich habe den Kopf eines Menschen in einem Waldstück verbrannt. Eines Menschen, den ich auch noch gekannt habe. Und ich habe noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Was passiert nur mit mir, Niklas?«

»Du hast nur aus reinem Selbstschutz gehandelt«, meinte Niklas. »Ich bin kein Seelenklempner, aber selbst ein friedliebender Hund wehrt sich irgendwann, wenn er in die Enge getrieben wird.«

»Ja, nur werden in unserer Gesellschaft solche Hunde hinterher eingeschläfert.«

»Ich gebe zu, der Vergleich hinkt etwas, aber entscheidend ist letztendlich nur eins: Was willst du jetzt tun?«

»Ich weiß es nicht.«

»Falsche Antwort.«

Dirk sah hilflos zu ihm auf. »Was erwartest du denn von mir?«

»Dass du mir aufrichtig sagst, wie weit du in dieser Sache bereit bist zu gehen, damit ich eine Entscheidung darüber treffen kann, ob ich dir dabei helfen werde.«

Dirk schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich nicht von dir verlangen.«

»Du bist hierhergekommen, weil du unsere Hilfe brauchtest. Und ich werde dir gerne zur Seite stehen, so gut ich kann.«

Dirk verfiel einige Sekunden lang in Schweigen. Dann lehnte er sich vor. »Also gut, was genau schlägst du vor?«

Niklas nahm einen ausgiebigen Schluck aus dem Flachmann und räusperte sich. »So, wie ich das sehe, schlägt man seinen Gegner am besten mit seinen eigenen Mitteln. Setz ihn unter Druck, attackiere ihn, lock ihn aus seiner Reserve.«

»Dazu müsste ich erst einmal wissen, wer der Kerl ist und wo er sich aufhält.«

»Und du hast keinerlei Verdacht?«

»Nein«, seufzte Dirk. »Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ihn irgendwoher kenne.«

»Wie kommst du darauf?«

»Jedes Mal, wenn er mich angerufen hat, hat er seine Stimme verfremdet. So etwas tut man in der Regel nur, wenn man befürchten muss, erkannt zu werden.«

»Oder wenn man einfach nur ein übervorsichtiger Spinner ist.«

»Ja, mag sein«, sagte Dirk. »Aber irgendetwas sagt mir, dass ich dem Kerl schon mal begegnet bin.«

»Ein unzufriedener Kunde aus der Bank?«

»Kann ich mir nicht vorstellen. Er meinte, er habe mich auserwählt, um mir zu zeigen, dass ich nicht besser bin als er, und dass er an mir ein Exempel statuieren will. Es erscheint mir fast so, als ob er aus mir eine Kopie von sich selbst machen will.«

»Was weißt du sonst noch über ihn, außer dass er vor nichts zurückschreckt?«

»Ich glaube, er tut das nicht zum ersten Mal.«

»Du meinst, er hat vor dir auch schon andere bedroht?«

»Zumindest schließe ich das aus dem, was er mir auf Brunners Computer geschrieben hat, als die Polizei bereits vor der Tür stand. Er schwafelte was von einem Spiel, das dieses Mal nach seinen Regeln ende. Er scheint es demnach schon öfter gespielt zu haben.«

»Sonst noch was?«

»Ach ja«, fiel Dirk nach kurzem Grübeln ein. »Ich habe mit meinem Handy ein Foto von seinem Auto gemacht.«

»Lass mal sehen.«

»Das Handy ist oben in meiner Manteltasche. Ich hatte es ausgeschaltet, weil die Dinger über GPS ziemlich genau zu orten sind. Du besitzt nicht zufällig ein neueres Modell mit Speicherkarte?«

»Nein, tut mir leid«, sagte Niklas. »Aber ich habe oben einen Computer stehen, wenn dir das was hilft.«

»Wenn du einen Adapterstick für eine microSDHC-Chipkarte hast.«

»Eine was?«, fragte Niklas.

»Schon gut. Ich glaube nicht, dass dieser Verrückte mich orten kann, wenn ich das Handy nur im Offline-Modus benutze.«

Niklas seufzte. »Es wäre wirklich hilfreich, wenn du in einer Sprache mit mir reden würdest, die ich verstehe.«

»Mein Gott, Niklas«, sagte Dirk. »Wo hast du in den letzten Jahren gelebt?«

»In der Realität!«

»Hast du wenigstens einen Internetanschluss?«

»Ich glaube, zumindest damit kann ich dienen.«

»Dann komm einfach mit nach oben«, sagte Dirk. »Ich denke, dein Computer kann uns trotzdem nützlich sein.«

Niklas betrachtete enttäuscht das Foto auf Dirks Handy. »Man kann nicht gerade viel erkennen.«

Dirk saß auf dem Stuhl neben ihm und wartete geduldig, bis der Rechner hochgefahren war. »Na ja, die Lichtverhältnisse waren nicht gerade ideal.«

»Wie bekomme ich es größer angezeigt?«

»Du musst es einfach mit den Fingern aufziehen.« Dirk machte eine entsprechende Bewegung mit Daumen und Zeigefinger.

Niklas tat es ihm nach, und der Bildausschnitt vergrößerte sich auf dem Display. »Meine Güte«, stieß er hervor, während er hektisch versuchte, das Bild neu zu justieren. »Dieser neumodische Kram ist nichts für meine alten Handwerkerhände.« Schließlich gelang es ihm, den gewünschten Bildausschnitt zu finden. »Siehst du das?«, fragte er und deutete auf den Arm des Fahrers, der aus dem geöffneten Seitenfenster ragte. »Auf der Jacke, oben an der Schulter. Da ist so was wie eine Aufschrift.«

Dirk betrachtete angestrengt die Vergrößerung. Doch er konnte nur einige weiße Punkte auf dem blauen Ärmel ausmachen. »Ja, kann sein«, sagte er. »Aber es ist unmöglich, das zu entziffern. Dafür stand ich zu weit von ihm entfernt.«

»Aber immerhin kann man das Nummernschild erkennen.«

»Ja, aber das wird uns nicht weiterbringen. Nur die entsprechenden Behörden dürfen den Halter eines Fahrzeugs ermitteln. Das fällt unter Datenschutz.« Er betonte das Wort abfällig.

»Dann sende das Bild doch an die Polizei, mit einem entsprechenden Hinweis. Sollen die das machen, das ist doch schließlich deren Job.«

»Sicher«, stimmte Dirk ihm zu. »Nur beweist dieses Foto rein gar nichts. Und ohne einen konkreten Verdacht darf selbst die Polizei nicht ermitteln. Außerdem würde ich mich damit selbst ans Messer liefern, weil sie den Absender zurückverfolgen und meinen Standort ermitteln könnten, und dann wären wir beide im Arsch.«

»Mann«, sagte Niklas und rieb sich die Glatze. »Da kann man ja glatt Paranoia kriegen. Früher war so was einfacher, als man Briefe noch mit der Post verschickt hat.«

»Ja«, stimmte Dirk ihm zu. »Man konnte sogar Werbebotschaften getrost in den Müll werfen, ohne sich dabei den Zorn eines kaltblütigen Psychopathen zuzuziehen.«

Niklas legte seine Hand auf Dirks Schulter und ließ sie dort eine Zeitlang verweilen. »Es ist nicht deine Schuld, dass dieser ganze Mist passiert ist.«

Dirk seufzte. »Wenn ich es mir lange genug einrede, glaube ich das irgendwann sogar.«

Auf dem Bildschirm öffnete sich ein Fenster, und Dirk zuckte unwillkürlich zusammen. Doch es war lediglich das Virenprogramm, das ihm mitteilte, dass das letzte Update bereits fünf Monate zurücklag. »Du benutzt das Ding nicht gerade oft, was?«, sagte er und entspannte sich wieder.

Niklas sah auf den Monitor hinab. »Den Computer? Nein. Rosi hat ihn mir letzten Sommer zum Geburtstag geschenkt. Na ja, eigentlich war es mehr unser Sohn Sascha, der kennt sich mit so was wesentlich besser aus. Er meinte, ich könne damit frühere Schulkameraden aufstöbern. Vermutlich waren die beiden der Ansicht, ich bräuchte ein wenig Beschäftigung, damit ich Rosi nicht ständig auf die Nerven gehe.« Er lächelte hintersinnig. »Hat nicht funktioniert.«

»Du hättest mich jederzeit fragen können, wenn du damit nicht klarkommst.«

»Das ist es weniger«, erwiderte Niklas. »Weißt du, ich mag vielleicht ein ziemlich einfach gestrickter Mensch sein, das heißt aber nicht, dass ich mich dem Fortschritt verweigere. Es waren mehr die Inhalte, die mir den Umgang mit diesem Ding vermiest haben. Selbst für jemanden wie mich war das meiste, was die Leute im Internet von sich gegeben haben, nur belangloser Mist. Ich glaube, ich habe mit meinem Apotheker schon geistreichere Gespräche geführt als mit diesem leblosen Kasten. Ein Gesprächspartner aus Fleisch und Blut ist mir allemal lieber. Da weiß ich wenigstens, woran ich bin.«

Dem hatte Dirk nichts entgegenzusetzen.

»Sascha konnte das gar nicht verstehen«, fuhr Niklas fort. »Er meinte, ich könne doch auf diesem Wege alte Freundschaften wieder aufleben lassen. Nur, was nutzt mir das, wenn die meisten von denen mittlerweile Hunderte Kilometer weit weg wohnen und für mich nur auf einem Bildschirm existieren? Unter einem Freund stelle ich mir jedenfalls was anderes vor. Aber die Jugend von heute sieht das vermutlich aus einer anderen Perspektive.«

»Was macht Sascha eigentlich so?«, fragte Dirk. »Ich habe ihn lange nicht mehr bei euch gesehen.«

»Er studiert seit einiger Zeit Betriebswirtschaft an der Uni in Hamburg. Hatte ja schon immer ein Händchen für Zahlen, der Junge. Weiß der Teufel, woher. Von mir kann er das jedenfalls nicht haben.« Ein stilles Lächeln legte sich auf seine Lippen. »Wir sind sehr stolz auf ihn.«

»Ja«, sagte Dirk, und in seinen Blick schlich sich eine Schwermut, wie sie nur ein Mensch empfinden kann, der einen unwiederbringlichen Verlust erlitten hat. »Das kann ich gut verstehen.«

Niklas’ Lächeln gefror auf der Stelle. »Gott, was bin ich doch für ein unsensibles altes Arschloch«, rügte er sich selbst. »Da rede ich die ganze Zeit über meinen Jungen … Tut mir leid, Dirk, ich wollte dich nicht …«

»Schon gut«, fiel er ihm ins Wort. »Du kannst ja nichts dafür, dass mein Sohn tot ist.«

Niklas atmete schwer aus. »Was hast du denn mit dem Computer vor?«, fragte er, um schnell das Thema zu wechseln.

»Das, was man am besten damit machen kann«, gab Dirk zurück, nachdem er sich wieder gefangen hatte. »Recherchieren.«

Erstaunt betrachtete Dirk die Ergebnisliste auf dem Bildschirm. Die Begriffe Selbstmord und Deutschland hatten fast zwei Millionen Einträge in dem Suchdienst hervorgebracht. In den meisten Fällen handelte es sich um allgemeine statistische Berichte, denen zufolge jedes Jahr allein in Deutschland etwa elftausend Menschen Suizid begingen. Darunter befanden sich auch immer mehr Jugendliche. Ein weiteres Indiz dafür, dass die Menschen sich in einer zweidimensionalen Welt zunehmend einsam und verzweifelt fühlten.

»Sieh nur«, meinte Niklas konsterniert und deutete auf zwei der Einträge. »Es gibt sogar Seiten über die populärsten Selbstmordmethoden.«

»Ja«, erwiderte Dirk, »im Netz findest du alles. Von simplen Testberichten über zweifelhafte Lebenshilfetipps bis hin zur Bauanleitung für Bomben. Du musst nur wissen, wo du danach suchen musst. Schöne, moderne Welt.«

Niklas schüttelte den Kopf. »Kein Wunder, dass alle durchdrehen«, sagte er. »Irgendwann können die Leute nicht einmal mehr die einfachsten Entscheidungen treffen, ohne sich vorher im Internet informiert zu haben.«

»Nur bringt uns das alles hier nicht weiter.« Dirk ersetzte das Wort Deutschland durch Koblenz, was erheblich weniger Ergebnisse hervorbrachte. Auch hier waren die ersten Einträge statistische Erhebungen und Artikel zum Thema Sterbehilfe. Weiter hinten bezogen sich einige Verlinkungen jedoch auch auf konkrete Fälle. Eine junge Frau, die sich in einen Steinbruch gestürzt hatte. Ein Fall von Selbstverbrennung, der aber politische Motive voranstellte. Ein Familienvater, der sich vor einen Zug geworfen hatte, weil seine Exfrau ihm den Besuch bei seiner Tochter verweigerte.

»Es ist schwer nachzuvollziehen, aus welchen Motiven heraus manch einer sein Leben wegwirft«, sagte Dirk. »Und anderen, die leben wollen, wird es ohne ersichtlichen Grund einfach genommen.«

»Vielleicht solltest du eine Pause machen«, meinte Niklas, der den hilflosen Zorn in Dirks Stimme heraushörte.

»Später vielleicht«, entgegnete Dirk knapp und klickte einen weiteren Eintrag an.

»Findest du nicht, du gehst ein wenig zu verbissen an die Sache heran?«

»Nicht verbissener als das Schwein, das meinen Sohn auf dem Gewissen hat!«, fauchte Dirk zurück und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Und auch nicht verbissener als die Kerle, die mein Haus durchwühlt haben!« Kaum hatte ihn die Welle der Wut erfasst, war sie auch schon wieder verebbt. Erschrocken über sich selbst, sah er Niklas an, der neben ihm erstarrt war.

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Rosi trug den versprochenen Kaffee herein. »Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte sie und stellte das Tablett neben Dirk auf dem Tisch ab. Sie deutete auf einen Teller mit Gebäck. »Damit du wieder zu Kräften kommst«, sagte sie und strahlte ihn an.

Dirk dankte es ihr mit einem gestellten Lächeln. »Das … das wäre doch nicht nötig gewesen«, stammelte er und gab sich alle Mühe, seinen Zorn zu überspielen.

Rosi griff seinen Arm und drückte ihn sanft. »Nach allem, was du durchgemacht hast, wird es dir guttun, dass sich mal wieder jemand um dich kümmert«, meinte sie mit einem Gesichtsausdruck, der zu sagen schien, dass sie genau die Richtige dafür war. Anschließend warf sie ihrem Mann einen mürrischen Blick zu und machte sich wieder auf den Weg nach unten.

»Ich sage es ja nur ungern«, brummte Niklas, nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, »aber in diesem Fall muss ich ihr recht geben.«

»Bitte entschuldige meinen Ausbruch gerade«, sagte Dirk kleinlaut. »Aber ich … weißt du, es ist nur …« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich sehe ständig Kevins Gesicht vor mir«, setzte er neu an. »Und dann wird mir klar, dass ich ihn nie aufwachsen sehen werde. Verstehst du? Ich werde nie sehen, was aus ihm geworden wäre. Und so wie die Dinge jetzt stehen, kann ich mich nicht einmal um seine Beerdigung kümmern, geschweige denn ihr beiwohnen. Ich kann noch nicht einmal um meinen eigenen Sohn trauern, weil vermutlich bereits der halbe Polizeiapparat hinter mir her ist und mich womöglich sogar verdächtigt, ihn selbst auf dem Gewissen zu haben. Das macht mich rasend vor Wut, denn das ist einfach nicht gerecht.«

»Nein«, stimmte Niklas ihm nach einigen Sekunden des Schweigens zu. »Das ist es ganz und gar nicht.« Geräuschvoll stellte er seine Tasse auf dem Tisch ab. »Und deswegen sollten wir schleunigst zusehen, denjenigen zu finden, der wirklich dafür verantwortlich ist, und ihm verdammt noch mal den Arsch bis zur Kinnlade aufreißen!«

Es verging eine weitere halbe Stunde, in der sie sich akribisch durch die Suchliste klickten. Darunter waren Polizeiberichte von ungelösten Mordfällen und Vermisstenmeldungen aus der Region. Doch nichts davon schien in das Muster der jüngsten Vorfälle zu passen.

Erschöpft rieb sich Dirk die Augen. »Langsam glaube ich nicht mehr, dass uns das hier weiterbringt.«

»Vielleicht musst du die Suche nur weiter eingrenzen«, drängte ihn Niklas.

Dirk atmete durch und dachte einen Moment lang nach. Schließlich fügte er die Begriffe Internet und Computer der Suchanfrage hinzu. Erneut reduzierte sich die Trefferliste. Bereits auf der ersten Seite fiel Dirk ein Eintrag über den Selbstmord eines Schulleiters ins Auge, der einige seiner Schülerinnen über das Internet sexuell belästigt hatte. Aufmerksam studierte er den Bericht, demzufolge das gesamte soziale Umfeld des Mannes aufgrund der Anschuldigungen zusammengebrochen war, obwohl der Schulleiter immer wieder seine Unschuld beteuert und von einer Verleumdungskampagne gegen ihn gesprochen hatte. Als Dirk am Ende des Textes angelangt war, lehnte er sich nachdenklich in seinen Stuhl zurück.

»Klingt nach einem Treffer.«

»Sieh dir das Datum an.« Niklas deutete auf die linke obere Ecke des Bildschirms. »Das liegt fast fünf Jahre zurück.«

»Na ja, wer weiß, wie lange der Kerl sein Spiel schon treibt? Die Details decken sich jedenfalls erschreckend genau mit meinem Fall.«

»Ist vielleicht nur ein Zufall.«

Erneut richtete Dirk seinen Blick auf den Text. »Gehen wir trotz der angeblichen Beweise, die auf seinem Computer gefunden worden sind, mal davon aus, dass dieser Mann wirklich unschuldig gewesen ist. Dann hätte es nur jemand mit weitreichenden informatischen Kenntnissen so aussehen lassen können, als wäre er schuldig. Sind wir uns da einig?«

»Ich denke schon«, entgegnete Niklas unsicher. »Hab nicht viel Ahnung von so was.«

»Aber der Begriff Hacker sagt dir doch was.«

»Sicher. Man hört ja ständig in den Nachrichten von solchen Leuten.«

»Und genau mit so jemandem haben wir es hier zu tun. Nur dass dieser Kerl seine Fähigkeiten nicht dazu benutzt, Daten zu stehlen oder Computersysteme zu schädigen. Er manipuliert Menschen und zerstört dadurch ihr Leben. Er ist sozusagen der Kapitalverbrecher unter den Computerkriminellen.« Dirk deutete auf die Anzeige des Monitors. »Und da drin befinden sich für ihn Millionen potenzielle Opfer.«

Verstört betrachtete Niklas den Bildschirm: »Allmählich wird mir dieses Ding richtig unheimlich.«

»Da bist du nicht der Einzige«, sagte Dirk.

»Mal angenommen es stimmt, was du sagst, wie bringt uns das dann weiter? Ich meine, wie kommen wir an den Kerl ran?«

Dirk seufzte. »Darüber bin ich mir auch noch nicht im Klaren. Wir sollten erst einmal weitersuchen und alle potenziellen Fälle zusammentragen. Vielleicht bringt uns das auf seine Spur.«

Minutiös durchsuchte Dirk die weiteren Einträge in der Trefferliste. Er stieß auf drei weitere Fälle, die ein ähnliches Muster aufwiesen und sich im Zeitraum der letzten vier Jahre ereignet hatten. Und bis auf einen hatten alle Beschuldigten Suizid begangen, nachdem belastende Dokumente auf ihrem Computer gefunden worden waren.

Der dritte Artikel handelte von einem 42-jährigen Arzt, der seine Frau im Affekt erschlagen hatte, nachdem er dahintergekommen war, dass sie sich über das Internet mit anderen Männern verabredete. Wie die Polizei später ermittelte, war der Mann in seinem Umfeld bekannt für seine rasende Eifersucht. Auch hatte es schon öfter Streit und Handgreiflichkeiten aus diesem Grund gegeben. Nach der Tat hatte der Arzt sein Haus mitsamt der Leiche niedergebrannt und sich anschließend der Polizei gestellt. Das Ganze lag nun dreieinhalb Jahre zurück.

Dirk druckte alle Artikel aus und legte sie vor sich auf den Tisch.

»Denkst du wirklich, dass diese Vorfälle alle zusammenhängen?«, fragte Niklas.

»Wenn ja, dann werden die Intervalle, in denen sich dieser Geisteskranke seine Opfer sucht, immer kürzer«, erwiderte Dirk. »Und das sind nur die Fälle, von denen wir wissen. Es muss doch etwas geben, was diesen Kerl mit seinen Opfern verbindet. Ich glaube nicht, dass er sie wahllos aussucht. Er braucht ein Motiv. Aber ich bin mir ja in meinem eigenen Fall noch nicht einmal im Klaren darüber.«

»Ich bin zwar kein Experte«, sagte Niklas, »aber ich denke, Hass ist in solchen Fällen ein ziemlich verbreitetes Motiv.«

»Ja, aber Hass worauf?« Noch einmal beugte Dirk sich über die Ausdrucke. »Ein Schulleiter, ein Arzt, ein Personalchef, ein Mitarbeiter des medizinischen Dienstes und mit mir nun noch ein stellvertretender Filialleiter. Was haben all diese Menschen gemeinsam?«

Niklas sah sich die Bilder der Männer auf den Ausdrucken an. Sie alle hatten markante Gesichter, die eine gewisse Dominanz ausstrahlten, was sie auf den ersten Blick energisch, aber nicht unbedingt sympathisch erscheinen ließ. »Nimm mir den Ausdruck bitte nicht übel, aber wir haben solche Typen früher Obermacker genannt.«

Dirk starrte ihn ratlos an.

»Na, Obermacker, verstehst du?«, bemühte Niklas sich um eine Erklärung. »Ich meine, so was wie Machos, Chefs, wie sagt man …?«

»Autoritäten?«

»Ja, so was in der Art. Leute, die eine gewisse …« Sein Blick war nach oben gerichtet, während er verzweifelt nach dem richtigen Wort suchte.

»… die eine gewisse Macht über andere haben, meinst du.«

»Genau!«

»Mensch, Niklas«, entfuhr es Dirk, dessen aufkeimende Euphorie sich in einem breiten Grinsen äußerte. »Du bist genial, weißt du das?«

»Sag das mal meiner Frau.«

Dirk griff zur Tastatur und fügte der Suchleiste zwei weitere Begriffe hinzu: Führung und Leiter. Wenig später erschien die neue Ergebnisliste. Einige der oberen Einträge blieben gleich und behandelten die Fälle, die sie bereits kannten. Doch es dauerte nicht lange, bis sie erneut fündig wurden.

»Sieh mal da.« Niklas deutete auf den vorletzten Eintrag der Seite. »Ist das nicht diese Geschichte, die seit über zwei Wochen ständig in den Medien auftaucht?«

Gebannt betrachtete Dirk den Text der Verlinkung. »Großer Gott, ja«, hauchte er atemlos, während er den Mauszeiger darauf zubewegte. Ein Zeitungsartikel tat sich vor ihnen auf. Geschäftsführer läuft Amok, lautete die Überschrift.

Es schien ein ganz normaler Arbeitstag zu sein, als der Gründer und Geschäftsführer der Softwarefirma ICS seine führenden Mitarbeiter an diesem Donnerstag, dem 14. Februar, zu einer Besprechung lud. Dass es ihre letzte sein würde, damit hatte wohl niemand gerechnet.

Es war gegen 08:30 Uhr, als Matthias H. eine Waffe zog und gezielt seine Mitarbeiter niederstreckte. 13 Menschen kamen dabei ums Leben. Das Motiv dieser Schreckenstat ist nach wie vor unklar. Fest steht, dass Firmengelder veruntreut wurden, deren Spur sich in dubiosen ausländischen Konten verliert. Auch gab es in letzter Zeit einige schwerwiegende Fehler in der industriellen Steuerungssoftware, die die renommierte Firma, neben anderen Dienstleistungen, mit großem Erfolg produzierte und vertrieb. Fehler, die sich niemand erklären konnte und die am tadellosen Ruf der Firma kratzten. Des Weiteren schienen Matthias H. private Probleme zu quälen, wie ein Bekannter aus seinem Umfeld bestätigte. Genauere Angaben dazu wollte die Polizei jedoch nicht machen. Fest steht nur, dass Matthias H. zwei Wochen lang vor der Tat nicht zur Arbeit erschienen ist. In dieser Zeit habe er sich merkwürdig verhalten, sei nicht mehr er selbst gewesen, gab der Bekannte zu Protokoll. »Wir gehen davon aus, dass es die Summe dieser Belastungen war, die diese Verzweiflungstat ausgelöst hat«, teilte der zuständige Polizeisprecher mit. »Vermutlich hat er die Schuld für diese Probleme bei seinen Mitarbeitern gesucht.« Woher die Waffe stammt, ist noch nicht geklärt. Eine Genehmigung dafür lag nicht vor. Da Matthias H. aber über umfangreiche Beziehungen ins Ausland verfügte, geht die Polizei davon aus, dass die Waffe über einen dieser Kanäle nach Deutschland gelangt ist. »Er schien sich von irgendetwas bedroht zu fühlen«, hieß es weiter aus seinem Umfeld. Den Grund dafür dürfte Matthias H. mit ins Grab nehmen. Nachdem ein Serviceangestellter die Schüsse gehört hatte, verständigte er sofort die Polizei. Als diese vor Ort eintraf, richtete der Amokläufer die Waffe schließlich gegen sich selbst.

»Bingo.« Dirks Stimmbänder fühlten sich an, als hätte sie jemand auf Eis gelegt.

»In der Tat«, stimmte Niklas ihm zu.

Dirk räusperte sich. »Also gut«, meinte er, nachdem er seine Gedanken neu sortiert hatte. »Wenn wir von dem ausgehen, was wir vermuten, dann muss unser Mann in all diesen Fällen in irgendeiner Beziehung zu seinen Opfern gestanden haben.«

»Du meinst, sie haben ihn wütend gemacht?«

»Ja. Wahrscheinlich haben sie ihn gekränkt, ihm zu verstehen gegeben, dass sie sich für etwas Besseres halten. Oder sie haben ihm zumindest wie ich diesen Eindruck vermittelt.«

»Und du bist sicher, dieser Grund reicht aus, um Menschen in den Tod zu treiben?«, bekundete Niklas seine Zweifel. »Ich meine, wenn es danach geht, müssten sich die Leichen in meinem Keller bereits stapeln.«

»Wir dürfen in dem Fall nicht von einer normalen Psyche ausgehen. Dieser Kerl scheint ein krankhaftes Bedürfnis zu haben, Leute bestrafen zu wollen, die sich über ihn stellen, um ihnen auf diese Weise zu zeigen, dass sie nicht besser sind als er.«

»Du meinst also, dieser Spinner ist als Kind ein paarmal verkloppt worden, und nun meint er, sich an allen dafür rächen zu müssen?«

»Na ja, so ungefähr jedenfalls. Ich persönlich denke allerdings nicht, dass es immer so einfach ist, denn sonst müsste ein Großteil der Bevölkerung zu Massenmördern herangewachsen sein. Mag sein, dass Faktoren wie das persönliche Umfeld und die Erziehung dabei auch eine Rolle spielen. Aber meiner Meinung nach ist die Anlage zu solchen Gewalttaten angeboren. Sie wartet nur auf einen Auslöser.« Unweigerlich musste Dirk an seine eigene Kindheit zurückdenken, an Frank Albrecht und seine Clique, die ihn ständig gehänselt und mit ihren Rotzkugeln erniedrigt hatte. Dann erinnerte er sich an das gestrige Ereignis im Wald und an die dunklen Gedanken, die es hervorgebracht hatte. War dieser Psychopath, der ihn bedrohte, am Ende gar der Auslöser für seine eigenen Gewaltfantasien? Er verdrängte diesen Gedanken sofort.

»Woher weißt du nur all so ein Zeug?«, fragte Niklas kopfschüttelnd.

Dirk lächelte gequält. »Ich bin abends nach der Arbeit sehr oft im Internet unterwegs. Ist so eine Art Entspannung für mich. Dabei kann ich prima abschalten. Das dachte ich zumindest.«

Niklas’ Stirn legte sich in Falten. »Du machst dir in deiner Freizeit über so was Gedanken und kannst dabei auch noch entspannen?« Er schnalzte mit der Zunge. »Da gehe ich doch lieber auf ein Bier in die Kneipe, wenn du mich fragst.«

»Glaub mir, wenn ich das alles heil überstehen sollte, dann werde ich mich dir gerne anschließen. Anscheinend habe ich auf Dauer verlernt, was es heißt, mit wirklichen Freunden zusammen zu sein.« Er warf Niklas einen verlegenen Blick zu, dann konzentrierte er sich wieder auf die Ausdrucke.

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Niklas.

»Keine Ahnung. Ich denke, wir müssen diese Fälle genauer analysieren, sie nach Hinweisen durchforsten, so eine Art Profil erstellen. Vielleicht hilft uns das weiter.«

»Ein Profil?«

»Ja«, erwiderte Dirk und deutete auf den ersten Ausdruck. »Der Schulleiter zum Beispiel. Wenn wir mit unserer Vermutung richtigliegen, dann wäre es durchaus möglich, dass unser Mann dort zur Schule gegangen ist. Das wiederum lässt darauf schließen, dass er noch ziemlich jung sein dürfte, vielleicht Anfang bis Mitte zwanzig. Das würde auch seine Fähigkeiten am Computer erklären, die meist bei jüngeren Leuten deutlich ausgeprägter sind. Demnach besitzt er die Fähigkeit, logisch zu denken, und findet sich gut in mathematischen Systemen zurecht. Man kann also davon ausgehen, dass er auch beruflich in dieser Richtung tätig ist.« Er nahm den Ausdruck zu seiner Rechten in die Hand. »Nehmen wir diesen Arzt«, fuhr er fort. »Dem Artikel zufolge ist er Orthopäde. Möglicherweise hat unser Mann eine Krankheit oder ein Gebrechen. Ärzte sind nicht gerade bekannt für ihr Einfühlungsvermögen. Sie wirken oft arrogant, manchmal sogar herablassend gegenüber ihren Patienten. Vielleicht war das für unseren Mann Anstoß genug, ihm eine Lektion zu erteilen.«

»Fassen wir also zusammen: Wir suchen einen jungen Mann von Anfang bis Mitte zwanzig, der in der Computerbranche arbeitet und in orthopädischer Behandlung ist. Läuten da bei dir die Glocken?«, fragte Niklas.

Abermals sah Dirk ihn fragend an.

»Na ja, ich meine, kennst du jemanden, auf den das zutrifft?«

Dirk dachte einen Moment lang angestrengt nach. Dann schüttelte er den Kopf.

»Bei euch in der Bank vielleicht?«

»Unser Computersystem wird von der Zentrale in Frankfurt aus gewartet. Um lokale Angelegenheiten und Projekte kümmern sich freie Mitarbeiter, die uns zum Teil über Fremdfirmen zur Verfügung …« Dirk stockte, als ihm plötzlich die Luft wegblieb. Natürlich, dachte er aufgeregt. Wieso bin ich nicht schon früher daraufgekommen?

Er öffnete ein neues Browserfenster und gab in die Suchmaske die Buchstaben ICS ein. Die unmittelbar darauf erscheinende Ergebnisliste enthielt neben weiteren Artikeln über den Amoklauf auch einen Link zur Website des Unternehmens. Als Dirk darauf klickte, erschien zunächst eine umfangreiche Trauerbekundung, in der den Angehörigen der Opfer tiefes Beileid ausgesprochen wurde. Weiter wurde verkündet, dass die eilends neu eingesetzte Geschäftsleitung einen Hilfsfonds für die Hinterbliebenen eingerichtet hatte.

Dirk übersprang den Text und durchsuchte das Menü der Seite. In der Rubrik Unternehmen wurde er schließlich fündig. Unter der ausführlichen Darstellung der Firmenphilosophie, die von den Gründungsjahren bis zu den ausländischen Standorten in England und Amerika reichte, stieß er auf ein Foto, das die gesamte Belegschaft vor dem Hintergrund des palastartigen Firmengebäudes zeigte. Das Bild stammte vom November des vergangenen Jahres. Anscheinend hatte es die neue Geschäftsleitung bisher versäumt, die Aufnahme aus dem Netz zu nehmen, denn sie zeigte auch die Opfer des Amoklaufs. Im Vordergrund stand das Management, drei Männer in dunklen Anzügen und Krawatten, alle im mittleren Alter, darunter auch Matthias Hartwick. Rechts und links davon formierten sich etwa dreißig Mitarbeiter in Doppelreihen. Unter dem Bild waren ihre Namen und ihre jeweilige Position vermerkt. Selbst der Firmentechniker und mehrere freie Programmierer waren dabei. Sie alle trugen dunkle Jeans, blaue Jacken und blaue Kappen, die in weißer Schrift mit den Firmeninitialen versehen waren: ICS.

ICU. Dirks Puls beschleunigte sich. Er rief sich seine bizarre Begegnung mit diesem Schriftzug auf dem Münzplatz ins Gedächtnis. Selbst auf die Entfernung war ihm die seltsam modifizierte Form des U auf der Kappe aufgefallen.

Er hat aus dem S ein U gemacht, schwirrte es Dirk beim Anblick der blauen Kappen durch den Kopf. Diese Arbeit musste ihn Stunden gekostet haben. Und all der Aufwand nur, um Angst zu verbreiten.

Dirk betätigte mehrmals eine Tastenkombination, um den Bildausschnitt zu vergrößern. Er beugte sich nach vorn und studierte die Gesichter auf dem Foto. Schließlich blieb sein Blick auf einer Person links am Bildrand hängen. Er erkannte sie auf Anhieb. Der Mann war schmächtig und stand gut eine Körperbreite entfernt von den anderen, so als wäre er am liebsten aus dem Bild getreten. Seine Haare lagen größtenteils unter der Kappe verborgen, dennoch konnte Dirk einen dunklen Ansatz über den Ohren erkennen. Das Gesicht des Mannes war schmal, und im Gegensatz zu den anderen rang er sich kein Lächeln ab.

»Das ist er«, entfuhr es Dirk. »Das ist der verdammte Schweinehund«, wiederholte er mit Nachdruck, während er auf den Mann auf dem Foto deutete. »Ich bin mir ganz sicher.«

»Was denn, diese halbe Portion?«, stieß Niklas hervor. »Der Typ sieht aus wie ein Bettnässer. Bist du dir da ganz sicher?«

Dirk nickte und sah die Begegnung mit diesem Mann deutlich vor seinem geistigen Auge. Er erinnerte sich daran, wie er ihm in seinem Büro in der Bank gegenübergesessen und ihn mit seinen beinahe kindlich wirkenden Augen betrachtet hatte, als wolle er ihn analysieren. Und er konnte sich auch an den Ausdruck in diesen Augen erinnern, als er dem Mann unmissverständlich seinen Standpunkt erläutert hatte. Dieses kurze Aufblitzen von Trotz, von unbeugsamem Widerstand.

»Seit etwa zwei Jahren führt unsere Bank regelmäßig Zufriedenheitsumfragen bei den Kunden durch«, begann Dirk mit seiner Erläuterung. »Dadurch wollen wir den Service verbessern und das Vertrauen unserer Kunden stärken. Zu diesem Zweck haben wir uns ein eigens dafür entwickeltes Umfragetool für unsere Internetseite programmieren lassen, das die Daten, die dort eingehen, gleichzeitig auch auswertet.«

Niklas bekundete sein Verständnis mit einem Nicken und bat Dirk fortzufahren.

»Ich hatte im Vorfeld gute Erfahrungen mit der Firma ICS gemacht und war dort auch ein paarmal vor Ort gewesen, um mit dem Chefprogrammierer zu verhandeln. Daher wandte ich mich für die Umsetzung auch dieses Mal an sie. Allerdings teilte man mir dort mit, dass man im Moment sehr ausgelastet sei und die zeitlichen Vorgaben nicht einhalten könne. Man verwies mich aber an einen ihrer freien Mitarbeiter, mit denen man in solchen Fällen oft zusammenarbeite. Ich ließ mir also die Telefonnummer des Mannes geben und vereinbarte mit ihm einen Termin in der Bank.«

»Und dabei handelte es sich um diesen Kerl?«, fragte Niklas noch einmal zur Bestätigung.

»Er kam mir von Anfang an komisch vor«, sagte Dirk. »Zunächst wirkte er zurückhaltend, beinahe schüchtern auf mich. Doch als es um das Programm ging und ich ihm erklärte, was genau wir haben wollen, war er plötzlich wie ausgewechselt. Er war ganz in seinem Element. Nur dass er mir ein wenig zu strebsam war. Ich erklärte ihm mehr als einmal, dass es uns nur um eine einfache Umfrage ging, aber er wollte daraus eine komplette Marketinganalyse machen: Browserdaten, Surfverhalten, installierte Software … Ich war regelrecht erstaunt, was man alles über den Besucher einer Website erfahren kann, ohne dass derjenige etwas davon mitbekommt. Allerdings hätte das nicht unserem Vorhaben entsprochen, denn wir hätten wohl kaum das Vertrauen unserer Kunden gestärkt, wenn wir sie ausspioniert hätten. Das entspricht nicht gerade der Philosophie unserer Bank, zumal wir mit den meisten dieser Daten ohnehin nichts hätten anfangen können. Nachdem ich ihm das mit aller Deutlichkeit klargemacht hatte, wurde er ziemlich verschlossen. Er hat mich die ganze Zeit nur so seltsam angesehen. Ich weiß auch nicht … Der Kerl war mir richtig unheimlich. Schließlich habe ich ihm gesagt, ich würde mich gegebenenfalls noch einmal bei ihm melden, was ich natürlich nicht getan habe. Stattdessen habe ich ICS angerufen.«

»Und hast dich bei denen über den Typ beschwert«, mutmaßte Niklas.

»Nicht direkt beschwert, aber ich habe denen gesagt, dass ich von einer Zusammenarbeit mit diesem Mann lieber absehen würde. Nachdem ich ihnen zeitlich etwas entgegengekommen bin, haben sie die Sache letztendlich doch selbst übernommen.«

»Und du denkst tatsächlich, diese Nichtigkeit hat diesem Mann ausgereicht, um dir so etwas anzutun?«

»Es muss einfach so sein«, sagte Dirk, während er noch immer das Foto des Mannes betrachtete. »Die blaue Jacke, die Kappe, seine Computerkenntnisse … Es passt alles zusammen.«

»Und weißt du auch noch den Namen dieses Bettnässers?«

»Ja«, erwiderte Dirk und öffnete bereits ein neues Browserfenster. »Der Kerl heißt Ralf Radny.«

Es dauerte keine fünf Minuten, bis Dirk über die Online-Ausgabe des örtlichen Telefonbuchs die Adresse und die Mobilfunknummer von Radny ausfindig gemacht hatte. Dort war er in einer Nachbargemeinde als freier Programmierer eingetragen. Dirk notierte sich die Daten und fuhr den Rechner herunter.

»Ich gehe nicht davon aus, dass du die Polizei informieren willst«, sagte Niklas.

»Was sollte das bringen? Bis jetzt habe ich nur Vermutungen. Was ich brauche, sind Beweise.«

»Und die glaubst du, dort zu finden?«

»Wir werden sehen.«

»Na schön«, meinte Niklas. »Dann komme ich mit.«

»Das kann ich nicht verantworten.«

»Ebenso wenig, wie ich es verantworten kann, dass du vor diesem Kerl wieder einen Ausraster kriegst und für zwanzig Jahre in den Knast wanderst. Denk an deine Frau. Sie braucht dich jetzt!«

»Ja«, gab Dirk schließlich kleinlaut nach. »Vermutlich hast du recht.«

»Wir werden mein Auto brauchen«, sagte Niklas und ging zum Fenster. »Allerdings steht es vorne an der Straße. Denkst du wirklich, die beobachten dein Haus?«

»Schon möglich. Zumindest werden sie verstärkt eine Streife hierherschicken. Aber da wäre immer noch die Möglichkeit, dass unser Freund da draußen irgendwo herumlungert.«

»Dann sollten wir dafür sorgen, dass dich niemand erkennt.«

Dirk folgte Niklas ins Schlafzimmer. Er öffnete seine Seite des Kleiderschranks und stöberte eine Zeitlang darin herum, bis er schließlich einen olivgrünen Parka und eine gleichfarbige Fellmütze mit Ohrenklappen in der Hand hielt.

»Ist nicht dein Ernst«, sagte Dirk, als Niklas ihm die Sachen entgegenhielt. »Damit sehe ich aus wie ein russischer Schwarzmarkthändler.«

»Hauptsache, du siehst nicht mehr aus wie Dirk Bukowski«, entgegnete Niklas. »Was für eine Schuhgröße hast du?«

Kurz darauf standen die beiden unten im Flur, und Dirk stieg in ein Paar alte Arbeitsstiefel seines Nachbarn.

»Und?«, fragte Niklas.

»Drückt ein bisschen, aber es wird schon gehen.« Kritisch beäugte er sich im Spiegel. Jetzt bin ich also auch noch optisch zu einem Obdachlosen geworden, schlich sich ein sarkastischer Gedanke durch seinen Kopf. Dennoch musste er Niklas recht geben, er war kaum wiederzuerkennen. Der Zweck heiligte in dem Fall die Mittel.

»Was habt ihr beide denn vor?«, fragte Rosi, als sie aus der Küche kam. Ihr Blick wechselte von Dirk zu ihrem Mann, der mittlerweile wieder seine Mütze trug. »Wollt ihr auf die Jagd gehen?«

»So was Ähnliches«, erwiderte Dirk. »Wir haben rausgefunden, wer der Kerl ist, der mir das alles angetan hat.«

»In den zwei Stunden, in denen ihr da oben gesessen habt?«, fragte sie. »Na, dann kann er ja nicht allzu schlau sein.« Sie sah vorwurfsvoll zu ihrem Mann.

»Niklas war mir dabei eine große Hilfe«, sagte Dirk.

»Ich wäre genial, hat er gesagt.«

»Ach ja?« Rosis Augen verengten sich zu Schlitzen. »Dann sollte er dich mal beim Kartoffelschälen erleben.«

Niklas stöhnte genervt auf.

»Wie spät ist es jetzt?«, fragte Dirk.

Rosi warf einen Blick auf die Uhr in der Küche. »Kurz nach vier.«

»Gut«, meinte Dirk, »es wird gleich dunkel. Ich werde vorsichtshalber hintenraus über die Felder zur Hauptstraße gehen. Da kannst du mich dann ja aufgabeln.«

»Mach ich«, sagte Niklas.

»Hey, ihr beiden!«

Sie hielten auf der Stelle inne und sahen Rosi verwundert an.

»Ich will gar nicht wissen, was ihr beiden Starrköpfe vorhabt und wo genau ihr hinwollt«, sagte sie mit strengem Ton. »Aber bitte versprecht mir eins: Macht keine Dummheiten und kommt heil wieder zurück.«

»Versprochen«, erwiderte Dirk.

»Und pass mir gut auf diesen alten Dickschädel auf, hörst du?« Sie deutete auf Niklas.

»Das mach ich.« Dirk lächelte ihr aufmunternd zu. Dann ging er ins Wohnzimmer und verschwand durch die Terrassentür.