Dritter Tag

24. Februar

Nach einer unruhigen Nacht, in der Dirk sich mit dem Gedanken geplagt hatte, wer einen solchen Groll gegen ihn hegen könnte, waren er und Anke gegen acht Uhr aufgestanden. Wie gerädert und mit dunklen Ringen unter den Augen saßen sie am Frühstückstisch. Während Dirk über seiner Sonntagszeitung brütete, auf deren Inhalt er sich nur schwerlich konzentrieren konnte, stocherte Anke lustlos in ihrem Rührei herum. Schließlich schob sie den Teller von sich, stand auf und rief Kerstin an. Sichtlich erleichtert nahm sie zur Kenntnis, dass Kevin zwar unausgeschlafen, aber wohlauf sei. Unter einem Vorwand kündigte sie an, dass sie Kevin früher als geplant abholen würde, und beendete das Gespräch. Anschließend begann sie damit, den Tisch abzudecken, um ihrer inneren Unruhe entgegenzuwirken, die sie seit dem gestrigen Abend befallen hatte.

Dirk sah von seiner Zeitung auf, als er die Anspannung auf Ankes Gesicht bemerkte. »Findest du nicht, du übertreibst ein bisschen?«

»Mir wäre einfach wohler, wenn er zu Hause ist.« Ihre Hand zitterte leicht, als sie seinen Teller anhob.

Dirk nickte und legte die Zeitung beiseite. Anschließend stand er auf und half seiner Frau, das Geschirr in die Küche zu tragen.

Nachdem Anke das Haus verlassen hatte, begab Dirk sich in sein Arbeitszimmer. Der Gedanke an diesen Schatten, an diese Gestalt, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgte, ließ ihn selbst hier nicht los. Nervös sah er aus dem Fenster und betrachtete die weitläufigen Wiesen und Felder, die sich hinter seinem Haus unter einer dichten Schneedecke erstreckten. In jeder Mulde, hinter jedem Baum meinte er ein mögliches Versteck zu erkennen. Und er glaubte, diese Bedrohung förmlich zu spüren, dieses drückende Gefühl, das er einfach nicht mehr loswurde.

Das ist genau das, was dieser Irre erreichen will, dachte er. Er will, dass du Angst hast, will dich in die Enge treiben. Du darfst jetzt nicht in Panik geraten, sonst spielst du ihm in die Karten. Lass nicht zu, dass dieser Kerl Einfluss auf dein Leben hat.

Doch insgeheim wusste er, dass dies längst geschehen war. Jetzt galt es, den Schaden zu begrenzen. Er hatte nur keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Er wusste ja nicht einmal, mit wem er es zu tun hatte. Aber allem Anschein nach schreckte der Unbekannte vor Gewalt nicht zurück, was ihn umso unberechenbarer machte. Und umso gefährlicher.

Dirk fuhr den Computer hoch und loggte sich bei Netfriends ein. Er wollte sich ablenken, mit jemandem virtuell in Verbindung treten. Obwohl er normalerweise nicht der kontaktfreudigste Typ war, erhoffte er sich auf diese Weise ein wenig Zerstreuung. Immerhin bewahrte er sich über diesen Weg eine gewisse Distanz. Aber ebendiese Distanz war es, die ihn nun verharren ließ, während er die Porträts seiner Kontakte betrachtete. An wen sollte er sich wenden? Mit keinem seiner Netzbekanntschaften hatte er in letzter Zeit engeren Kontakt gehalten. Hier ging es allenfalls um den Austausch von Banalitäten. Darum, auf sich aufmerksam zu machen, aus sicherer Distanz, um nicht zu viel von sich preiszugeben. Man teilte Belanglosigkeiten mit, alle redeten gleichzeitig, und niemand hörte zu.

Während Dirk auf die 258 Kontakte seines Profils starrte, bei denen es sich größtenteils um Geschäftskunden und Mitarbeiter der Bank handelte, allenfalls flüchtige Bekannte, fühlte er sich plötzlich einsam. Er hatte alles, nur keine wirklichen Freunde.

Wünsch dir was, schoss es ihm durch den Kopf.

Aber Freunde konnte man nicht einfach herbeizaubern. Man musste sie sich verdienen, und was das anging, war sein Engagement in den letzten Jahren eher bescheiden gewesen. Augenblicklich überfiel ihn eine gewaltige Leere.

Willkommen in der modernen Welt der Kommunikation, dachte er sarkastisch. Nur Gesichter auf einem Bildschirm.

Plötzlich öffnete sich ein längliches Fenster auf dem Monitor. Zu seiner Überraschung stellte Dirk fest, dass er – zum ersten Mal überhaupt während seiner Online-Existenz – eine Chat-Anfrage erhalten hatte. Üblicherweise kommunizierte er nur über sein Postfach mit den Leuten.

Neugierig betrachtete er das Bild, das auf der linken oberen Seite des Fensters angezeigt wurde. Es zeigte das füllige Gesicht eines schmallippig lächelnden Mannes mit gepflegtem, an den Schläfen bereits leicht ergrautem Haar. Es sah aus wie ein typisches Bewerbungsfoto. Der Name des Mannes war Peter Brunner, und er war Mitglied ihres Stammtischs, der jeden Freitagabend stattfand, dem Dirk aber in den letzten Wochen ferngeblieben war. In der oberen Zeile des Textfensters stand in blauer Schrift eine simple Grußformel:

>Hallo, Dirk!

Im ersten Moment war Dirk etwas irritiert. Er kannte Peter Brunner als einen geselligen Menschen, der gerne mal einen über den Durst trank, und er mochte ihn im Grunde. Doch außerhalb des Stammtischs hatten sie einander nie viel zu sagen gehabt. Dirks Finger glitten über die Buchstaben der Tastatur.

>>Hallo, Peter! Was verschafft mir die Ehre?

Seine Antwort folgte prompt:

>Langeweile!

Dirk musste grinsen.

>>Bist Du zu Hause?

>Ja, hab mir ’ne Grippe eingefangen. Sauwetter! Lass mich diese Woche krankschreiben.

Brunner, der als äußerst pflichtbewusst galt, war Generalagent einer großen deutschen Versicherung in Koblenz, so viel wusste Dirk. Es musste ihn also ziemlich erwischt haben, wenn er daheim im Bett blieb.

>>Hühnerbrühe soll bekanntlich helfen.

Allmählich begann Dirk Gefallen an dieser harmlosen Art der Konversation zu finden.

>Da trink ich doch lieber ein warmes Bier.

Noch bevor Dirk sich schmunzelnd eine Antwort überlegen konnte, erschien eine weitere Zeile:

>Und wie geht’s Dir so? Warst lange nicht mehr in unserer Runde.

Dirk überlegte einen Moment. Wie ging es ihm? Beschissen wäre noch geprahlt. Dennoch beschloss er, dies vorerst nicht zu erwähnen.

>>Hatte keine Zeit. Der Job, Du kennst das ja.

>Ja, aber gerade nach einer harten Woche freue ich mich auf unseren gemeinsamen Freitagabend. Also erzähl schon: Was ist los? Ärger daheim?

Verwundert starrte Dirk auf die letzte Zeile. Es war eigentlich nicht Peter Brunners Art, ihm derart direkte Fragen zu stellen. Dennoch juckte es ihm umgehend in den Fingern, darauf zu antworten und sich seinen Frust von der Seele zu reden.

>>Nein. Habe Ärger mit irgendeinem Typen. Hat mein Auto demoliert und es mit Säure übergossen.

Gespannt wartete Dirk auf die Reaktion.

>Heiliger Strohsack!

Das klang schon eher nach Brunner, fand er.

>Hast Du einen Verdacht, wer dahintersteckt?

Dirk, der langsam Vertrauen fasste, dachte kurz nach.

>>Nicht konkret. Aber es gibt da einen Typ in der Bank, mit dem ich in letzter Zeit öfter aneinandergeraten bin. Ich traue ihm zwar nicht zu, so weit zu gehen, aber völlig ausschließen kann ich es nicht.

>Stell ihn zur Rede und schau, wie er reagiert.

>>Das habe ich vor. Das muss allerdings diskret vonstattengehen, es handelt sich immerhin um unseren Anlageberater.

>Na und? Du bist doch der Leiter der Filiale!

>>Stellvertretender Leiter, korrigierte Dirk.

>Haarspalterei!

>>Wie auch immer. Aber lass uns lieber das Thema wechseln.

>Klar. Reden wir über Frauen.

Innerhalb der nächsten Viertelstunde erfuhr Dirk, dass Brunners Frau vor vier Wochen die Scheidung eingereicht hatte und zu ihrer Mutter gezogen war. Seitdem lebte er mehr oder weniger im Kriegszustand, schrieb er, worauf Dirk ihm scherzhafterweise die Frage stellte, ob er nicht zufällig einen schwarzen Audi TT fuhr und es vielleicht nur zu einer Verwechslung gekommen sei. Darauf erwiderte Brunner, dass die Kampfmittel seiner Frau von etwas subtilerer Art wären, da ihre Armee hauptsächlich aus Anwälten bestünde, was die Angelegenheit seiner Ansicht nach jedoch nicht weniger »ätzend« mache, wie er sich ausdrückte.

Als Dirk kurze Zeit später hörte, wie sich die Haustür öffnete und Kevins Stimme durch den Flur zu ihm nach oben drang, bedauerte er es ein wenig, die virtuelle Unterhaltung mit Brunner nun beenden zu müssen.

>>Muss jetzt Schluss machen. Hat mich sehr gefreut. Und ob Du’s glaubst oder nicht: Das war heute mein erster Chat!

>Hast Dich wacker geschlagen! Wiederholung?

Dirk überlegte keine Sekunde.

>>Gerne. Bin allerdings die Woche über nur abends zu erreichen. Wie sieht’s bei Dir aus?

>Bin quasi ans Bett gefesselt. Melde Dich einfach.

Dirk verabschiedete sich und loggte sich aus. Er fühlte sich besser. Seine Sorgen waren für kurze Zeit in den Hintergrund getreten. Und den nächsten Stammtisch würde er mit Sicherheit nicht verpassen.

Kevin war alles andere als froh darüber, dass sein Ausflug von daheim so abrupt abgebrochen worden war. Er hatte sich wortlos in sein Zimmer verkrochen.

»Ich kann ihn verstehen«, sagte Dirk. »Immerhin hatten wir ihm ein Wochenende mit seinem Freund versprochen. Und jetzt sitzt er hier rum und darf mit seinen Eltern Trübsal blasen.«

»Das ist mir immer noch lieber, als wenn ihm etwas zustößt«, sagte Anke.

»Schon gut«, meinte Dirk und setzte sich neben sie auf die Couch. »Du hast ja recht.« Er nahm sie in den Arm, und sie schmiegte sich dankend an ihn. »Ich meine ja nur«, fügte er hinzu, »vielleicht hat der Typ ja jetzt, was er wollte, und lässt uns in Ruhe.«

»Denkst du das wirklich?«, fragte sie, ohne ihn anzusehen.

»Immerhin hat er mir einen Denkzettel verpasst. Vielleicht hat sich die Sache ja damit erledigt.«

Anke löste sich leicht aus seiner Umarmung und sah zu ihm auf. »Und wenn nicht? Was, wenn das jetzt ständig so weitergeht?«

Dirk hatte alle Mühe, Ankes Blick standzuhalten. Insgeheim teilte er ihre Zweifel. Zumal ihm das Motiv des Täters, der ihm offenbar eine Lektion erteilen wollte, vollkommen schleierhaft war. Aber die Gründe dafür waren ihm allmählich egal. Er wollte nur noch, dass es aufhörte.

Dirk sah seiner Frau in die Augen und erkannte die Verletzbarkeit darin, die ihre gewohnte Fröhlichkeit überschattete. Schon allein dafür hätte er diesen Mistkerl, der sie in Angst und Schrecken versetzte, am liebsten umgebracht. Materielle Dinge ließen sich ersetzen. Eine tiefsitzende Angst war ungleich schwerer zu heilen.

Das Läuten des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken.

»Ich geh schon«, sagte er und küsste sie sanft auf die Stirn, bevor er sich zu der kleinen Kommode neben dem Durchgang zur Küche begab, auf der das Telefon stand.

»Bukowski«, nahm er den Anruf ein wenig zu schroff entgegen.

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.

»Hallo? Wer ist denn da?«

Nur leises, gedämpftes Atmen war zu hören.

»Hören Sie«, sagte Dirk, »wenn Sie sich verwählt haben, dann sagen Sie das doch einfach!« Aufgebracht knallte er das schnurlose Telefon zurück auf die Station. Doch kaum war er zu Anke auf die Couch zurückgekehrt, klingelte es erneut.

Wütend sprang er auf und griff energisch nach dem Hörer, dessen Display keine Nummer anzeigte. »Ja?«

Wieder keine Antwort.

Der Zorn ergriff so hastig Besitz von ihm, dass er ein heißes Kribbeln in seinen Wangen verspürte. »Jetzt will ich Ihnen mal was sagen, Sie verdammter …«

»Ich beobachte dich«, unterbrach ihn ein eisiges Flüstern.

Wie versteinert stand Dirk da. Seine Finger umklammerten krampfartig den Hörer, bis sie ebenso blutleer waren wie sein bleiches Gesicht.

»Wer spricht da?«, fragte er zögerlich.

»Dein schlimmster Alptraum«, zischte die Stimme.

Dirks Puls raste, und es wurde ihm eng um die Brust. »Kuhn, sind Sie das?« Seine Handflächen schwitzten, obwohl sie eiskalt waren. Durch den Hörer drang nichts als eine unheimliche Stille an sein Ohr. Dann klickte es in der Leitung, und die Verbindung war unterbrochen.

»Wer war das?« Ankes Frage klang wie ein banges Flehen.

Dirk rührte sich nicht. In den Ohren hörte er sein eigenes Blut rauschen.

»Das war er, nicht wahr?« Ihre Stimme klang panisch.

Dirk nickte, während er wie in Zeitlupe den Hörer sinken ließ.

»Was hat er gesagt?«

»Dass er mich beobachtet.«

Anke schlug die Hände vors Gesicht. »Gott, was sollen wir nur tun?«

Langsam löste sich Dirk aus seiner Lähmung. Er sah auf seine Armbanduhr, suchte in der Schublade der Kommode nach Zettel und Stift und begann damit, sich Notizen zu machen.

»Was tust du da?«, fragte Anke und wischte sich die Tränen von den Wangen.

»Ich notiere mir Datum und Uhrzeit des Anrufs«, erwiderte Dirk, nun wieder gefasster. »Gleich morgen früh werde ich diesen Antrag stellen, von dem Friedrich gesprochen hat, und zwar für alle Anschlüsse. Dann werden wir hoffentlich bald wissen, wer dieses Schwein ist.«

»Willst du Friedrich nicht direkt informieren?«

Dirk gab ein abfälliges Zischen von sich. »Du hast doch gehört, was er gesagt hat. Die können nichts tun, solange sie keinen konkreten Verdacht haben. Was hätte das also für einen Sinn?«

»Vielleicht den, dass ich mich dadurch besser fühlen würde?«

Er ging zu ihr und setzte sich neben sie. »Ich kümmere mich darum, okay?«

»Das wird ihn nicht davon abhalten, weiter hier anzurufen.«

»Doch«, sagte Dirk. »Und wenn wir eine Geheimnummer beantragen müssen, aber es wird aufhören, das verspreche ich dir.« Er küsste sie erneut auf die Stirn. »Mach dir keine Sorgen. Ich finde das Schwein.«

Und er wusste auch schon, wo er gleich morgen früh nach ihm Ausschau halten würde.