Letzter Tag
14. Februar
Das Erste, was Bettina Gerk sah, als sie an diesem Morgen den Besprechungsraum betrat, war die verstümmelte Leiche ihrer Kollegin.
Aufgrund der starken Schneefälle war der Bus nicht pünktlich gekommen, weshalb sich Tina, wie Frau Gerk von Kollegen und Freunden genannt wurde, um gut zwanzig Minuten verspätet hatte. Sie war so sehr in Eile, dass sie vor dem imposanten, spiegelglasverkleideten Gebäude des Softwareentwicklers ICS beinahe ausgerutscht wäre. Leise fluchte sie in sich hinein und wünschte das verdammte Tiefdruckgebiet zum Teufel, welches ihr aller Voraussicht nach den Missmut ihres Chefs einbringen würde. Erst vor zwei Tagen hatte ein Sturmtief die kleine Stadt in Atem gehalten, hatte Bäume entwurzelt und Dächer abgedeckt, was der Heckscheibe ihres Wagens zum Verhängnis geworden war. Und nun dieses Schneechaos. Ausgerechnet heute war eine wichtige Besprechung anberaumt worden, bei der sie als Sekretärin der Geschäftsleitung anwesend sein musste. »Verdammter Mist«, murmelte sie, als sie feststellte, dass der Saum ihrer Anzughose voller Schneematsch war. Heute war einfach nicht ihr Tag.
Sie wollte gerade die Drehtür passieren, als sie im Augenwinkel den Hausmeister wahrnahm, der damit beschäftigt war, auf den vom Schnee befreiten Stufen Salz zu streuen. Er trug eine dunkle Wollmütze mit den Initialen der Firma.
»Guten Morgen, Frau Gerk«, rief er ihr zu. »Schöne Bescherung, dieses Wetter, was?«
»Ja, ja«, winkte sie hektisch ab, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. »Sind die anderen schon da?«
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, ich war die ganze Zeit hinten mit Schneeräumen beschäftigt. Aber ich nehme es mal an.«
Danke, Kai, dachte sie abschätzig. Du warst wie immer eine große Hilfe. Kein Wunder, dass dieser einfältige Kerl hier nur Hausmeister war. »Tut mir leid«, sagte sie, als sie an ihm vorbeieilte, »ich bin spät dran.«
Der Mann machte noch Anstalten, ihr etwas hinterherzurufen, besann sich dann aber eines Besseren und wandte sich wieder den Eingangsstufen zu.
Bettina Gerk betrat das Gebäude und wunderte sich beiläufig über das Fehlen von Sabine, die normalerweise am Empfang saß. Sie eilte weiter zu den Aufgängen. Auch dort begegnete ihr niemand. Selbst am Kaffeeautomaten, vor dem sich um diese Tageszeit schon mal kleinere Schlangen bildeten, herrschte gähnende Leere. Zunächst hegte sie die Hoffnung, nicht die Einzige zu sein, die sich wegen des Wetters verspätet hatte. Dagegen sprach allerdings der wie üblich überfüllte Parkplatz vor dem Gebäude. Sie ging daher davon aus, dass die Besprechung bereits begonnen hatte und sie wieder einmal zu spät kam. Und das, wo sie bei den meisten Kollegen ohnehin nicht als besonders zuverlässig galt.
Bereits ein paarmal hatte sie mit dem Gedanken gespielt, sich nach einer anderen Stelle umzusehen. Zwar war ICS hoch angesehen in der Branche, doch war die Konkurrenz in den letzten Jahren stetig größer geworden. Dadurch wuchs der Druck auf die Angestellten, was unzählige Überstunden zur Folge hatte und schlecht für das Betriebsklima war. Dass sie heute wieder zu spät kam, würde ein willkommener Anlass sein, sie endgültig auf die Abschussliste zu setzen.
Sie eilte weiter den mit dunklen Marmorplatten ausgelegten Gang entlang, vorbei an geschlossenen Bürotüren, bis sie das Vorzimmer erreichte. Hastig warf sie ihren Mantel über den Stuhl und stellte ihre Handtasche auf dem dunklen Schreibtisch ab, der vor dem Büro ihres Chefs stand. Matthias Hartwick, Geschäftsleitung prangte es in hellen, serifenlosen Buchstaben von dem Schild an der halb offenen Tür. Sie klopfte an und lugte in das geräumige Büro. Es war niemand zu sehen. Nur der dunkle Wollmantel ihres Chefs hing über der Lehne des Besucherstuhls. Anscheinend ging es ihm wieder besser, nachdem er zwei Wochen lang nicht zur Arbeit erschienen war. Eine Grippe, wie er ihr am Telefon mitgeteilt hatte. Wenn es nach Bettina Gerk gegangen wäre, hätte dieser Zustand ruhig noch einige Tage anhalten können. Sie hatte die despotischen Launen ihres Chefs, die er in letzter Zeit immer öfter an den Tag legte, ziemlich satt.
Sie schloss die Tür, ging zurück zu ihrem Schreibtisch und schaltete den Monitor an. Während der Computer hochfuhr, setzte sie Kaffee auf und richtete einen Teller mit Gebäck an. Anschließend füllte sie den Kaffee in zwei Warmhaltekannen, stellte alles auf ein Tablett, klemmte sich eine Mappe mit den Unterlagen für die Besprechung unter den Arm und ging ungelenken Schrittes zum Konferenzraum. Solche Besprechungen konnten durchaus den ganzen Vormittag andauern, und sie fragte sich, ob sie noch mehr Kaffee hätte aufsetzen sollen. Doch angesichts ihrer Verspätung hielt sie dieses Versäumnis für verzeihlich. Vor der Tür zum Konferenzraum blieb sie stehen und lauschte. Merkwürdigerweise war es vollkommen still. Keine Stimmen, die wild durcheinanderredeten, keine endlosen Monologe, nichts drang an ihr Ohr. Vermutlich brüteten die da drinnen gerade über einem Bilanzbericht oder dergleichen, von dem zumindest ihre männlichen Kollegen ihre Augen nur abwenden würden, um ihr in den Ausschnitt zu starren, während sie das Tablett abstellte.
Sie atmete tief durch, um nicht zu gehetzt zu wirken, und klopfte kurz an, bevor sie die Tür öffnete.
Als Erstes fiel ihr der verbrannte Geruch auf, der schwer in der Luft hing. Als hätte jemand Silvesterböller in dem Raum gezündet. Dann bemerkte sie das Blut an den Wänden. Die Muskeln ihrer Arme erschlafften, und ein hohles Scheppern erklang, als die Warmhaltekannen auf dem Boden aufschlugen. Das Tablett und der Teller mit dem Gebäck fielen zusammen mit den Unterlagen neben den blutüberströmten Körper zu ihren Füßen. Schlagartig wurde ihr klar, weshalb der Empfang in der Halle nicht besetzt gewesen war.
Bettina Gerk hielt ihre Hände fest vor den Mund gepresst, um den Aufschrei zu ersticken, der ihrer Kehle entfahren wollte, und starrte wie paralysiert auf die Leiche, über die sie beinahe gestolpert wäre. Dass es sich um ihre Kollegin Sabine Henning handelte, erkannte sie lediglich an den brünetten Haaren und der weinroten Bluse, die Sabine öfter trug. Und an dem blauen Saphirring an der linken Hand, den sie von ihrem Freund zu ihrem ersten Jahrestag bekommen hatte. Von dem hübschen Gesicht hingegen war nicht viel übrig geblieben. Da war nur noch ein blutiger Stumpf, der aus ihrem Hals ragte, eine breiige Masse aus Fleisch und Knochen.
Bettina Gerk schrie. Und ihr Schreien schien nicht enden zu wollen, als ihr Blick durch den Raum glitt. Mindestens zehn weitere Körper lagen leblos über den Boden verteilt. Die in der Nähe der Tür wiesen tellergroße Wunden am Rücken auf. Programmierer und Layouter, aber auch Leute aus der Buchhaltung und dem Vertrieb. Bettina erkannte Klaus Hartmann unter den Opfern, einen der Programmdesigner, der schlaff auf einem der Stühle an dem großen Konferenztisch saß. Sein Gesicht war in dem Moment, als seine Brust explodiert war, in einem Ausdruck ewigen Entsetzens erstarrt. Überall war Blut. Es sickerte großflächig in den grauen Teppichboden, während die Wände mit fleischigen Fetzen und Blutspritzern übersät waren.
Und dann sah sie ihn. Wie ein bedrohlicher Schatten erhob sich am oberen Ende des Tisches vor der breiten Fensterfront die Gestalt ihres Chefs. Doch er war nicht mehr der Mann, der diese Firma in den vergangenen Jahren mit eiserner Hand nach oben gebracht hatte. Er hatte auch keine Ähnlichkeit mehr mit jenem Mann, der Maßanzüge trug und peinlich genau auf sein Äußeres bedacht war. Dieses Wesen, das dort stand, starrte sie mit wutverzerrter Fratze an. Ihr Schrei verstummte, als sie in Matthias Hartwicks verwirrt dreinblickende Augen sah, die Mühe hatten, sich auf einen bestimmten Punkt zu fixieren. Sie sah seine Haare, die fettig glänzten und ihm wirr in die Stirn hingen. Sie sah das nervöse Zucken an Hals und Wangen, als habe er sein Gesicht nicht mehr unter Kontrolle. Und dann sah sie den finsteren Schatten, der sich um seine Augen legte, als er sie abschätzig musterte wie ein lästiges Insekt.
»Du bist spät dran, Miststück«, flüsterte er grinsend. Dann hob er in einer schnellen Bewegung seine Arme.
In diesem Moment wurde Bettina Gerk bewusst, dass sie sich den ganzen Morgen über nur abgehetzt hatte, um zu ihrer eigenen Hinrichtung zu erscheinen. Das Letzte, was sie in ihrem Leben sah, war der Lauf einer Schrotflinte, der auf ihren Kopf gerichtet war.
Das Donnern des Schusses hinterließ eine intensive Stille in seinen Ohren. Er spürte den Rückstoß noch immer in seinen Armen, als er die Waffe senkte. Zufrieden sah er, wie der sterbende Körper seiner Sekretärin zu den anderen auf den Boden fiel. Er lachte laut auf und vollführte eine Art Freudentanz, wie ein Kind, das eine Schneeballschlacht gewonnen hat.
Zufrieden betrachtete er die Leichen am Boden, die einmal seine Angestellten gewesen waren. Menschen, denen er vertraut hatte. Er atmete tief durch und sog den metallischen Geruch des Blutes ein. Es war der Gestank des Verrates.
Das habt ihr nun davon, ihr elenden Ratten, dachte er. Sie hatten es nicht anders verdient, hatten sich gegen ihn verschworen, um ihn fertigzumachen. Und sie hatten es fast geschafft. Doch nun hatte er es ihnen heimgezahlt. Tiefe Ruhe breitete sich in ihm aus, ein Gefühl vollkommenen Friedens. Dennoch drang ein letzter rationaler Gedanke in seinen von Hass durchtränkten Verstand und streute Zweifel.
Konnte das wirklich sein? Hatten all diese Menschen tatsächlich einen solch perfiden Plan ausgeheckt und ihn damit bis zum Äußersten getrieben?
Nein, das war zu einfach. Es musste noch jemand dahinterstecken. Jemand mit Einfluss. Jemand, der ihn so sehr hasste, dass er bereit gewesen war, alles in Bewegung zu setzen, um ihn zu vernichten. Aber wer konnte das sein? Wen oder was hatte er übersehen?
Erneut ließ er seinen Blick über die Leichen schweifen, über entstellte und im Tod erstarrte Gesichter, die ihm über die Jahre hinweg so vertraut geworden waren. Menschen, die er beim Vornamen angesprochen, die er für kompetent und zuverlässig gehalten hatte. Er spürte, wie seine Beine zu zittern begannen.
»Was habe ich nur getan?«, fragte er in den Raum hinein, der nach Tod und Wahnsinn roch. Erschöpft ließ er sich am oberen Ende des Tisches auf seinen Stuhl sinken. Keine drei Wochen waren vergangen, seit er zuletzt hier gesessen hatte. Er, der erfolgreiche Geschäftsmann, der Familienvater, der es zu Wohlstand und Ansehen gebracht hatte. Ein Unternehmer mit Zukunft. Das alles war verloren. Unwiederbringlich. Zerstört von Missgunst und Neid. Vernichtet durch eine dunkle Macht, die plötzlich und unvorbereitet über ihn hereingebrochen war und nur Verwüstung in seinem Verstand hinterlassen hatte. Er schluchzte. Von draußen vernahm er das entfernte Heulen von Sirenen. Als sie näher kamen, hatte er eine letzte Entscheidung gefällt.
Noch während er sich ein weiteres Mal fragte, wie es so weit hatte kommen können, richtete er sich auf, führte den Lauf der Schrotflinte an den Mund und vervollständigte das blutige Gemälde an der Wand hinter sich.