35
Vicky
Dieser Mann macht mich fertig. Er hält mich an den Hüften fest und schiebt mich rückwärts Richtung Teeküche, während er mich küsst. Die Augen abwechselnd geschlossen und wieder geöffnet, drängt er mich fast ein bisschen grob in den Raum. Ich bin total verrückt nach ihm und schiebe die Bedenken, erwischt zu werden, beiseite. Simon drückt mit dem Fuß die Tür zu und dreht mich schwungvoll einmal herum, sodass ich mit dem Rücken zur Tür stehe. Ohgottohgott, ich befürchte, dass ich komme, bevor er überhaupt angefangen hat. Keine Ahnung, was ich alles von mir gebe, aber es ist garantiert nicht jugendfrei und schon gar nicht das passende Vokabular für Büroräume. Egal. Endlich bekomme ich den Bürosex, den ich immer wollte – und dann auch noch von dem Mann, den ich liebe. Besser geht’s nicht.
Inzwischen bin ich fast nackt und schicke einen kurzen Dank in Richtung Himmel. Danke, dass ich heute früh zu den halterlosen Strümpfen gegriffen habe, obwohl sie weder bequem noch praktisch sind. Wobei … Als praktisch erweisen sie sich jetzt durchaus. Ich reiße Simon das Hemd auf, was ich ebenfalls seit jeher mal tun wollte. So richtig mit Schmackes und animalisch. Leider bleiben alle Knöpfe dran. Den Rest seiner Entkleidung übernimmt er selbst in einem Tempo, dass ich nur staunen kann.
»Baby, ich glaub, wir machen jetzt das Licht aus und den Kopierer an, was meinst du?«, raunt er mir ins Ohr, und seine Hände sind wirklich überall.
Ich kann nicht mehr sprechen, nur noch stöhnen und fühlen. Gucken kann ich auch nicht mehr, weil die Lampe in diesem winzigen fensterlosen Raum jetzt wirklich aus ist. Simon macht all die Dinge mit mir, von denen ich seit Jahren nur träumen konnte. Ich will mehr von ihm, immer mehr, und lasse mich fallen, bis ich nicht mehr weiß, wo oben und unten ist.
»Simon«, flüstere ich nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich jegliches Zeitgefühl verloren habe, »ich glaub, wir müssen hier verschwinden.«
»Warum flüsterst du denn?«, antwortet er. Trotz der Finsternis sehe ich sein breites Grinsen förmlich vor mir. »Dafür ist es jetzt eh zu spät, weil wir eben ganz schön Krach gemacht haben.«
»Au weia. Wie peinlich.«
Wie soll ich gleich bloß meinen Kollegen unter die Augen treten? An meinen alten Chef darf ich erst gar nicht denken. An den neuen ebenfalls nicht. Na ja, nicht zu ändern, ich hab mich halt sehr gefreut über Simons öffentliche Liebeserklärung; da sind wohl ein paar Endorphine mit mir durchgegangen. Dafür war es die vermutlich beste Nummer, die diese unaufgeräumte Teeküche je gesehen hat. Ich rapple mich auf und suche nach dem Lichtschalter, doch bevor ich mein Ziel erreicht habe, zieht mich Simon zu sich herunter, und ich lande irgendwo zwischen Mülleimer und Leergut auf seinem Schoß.
»Was ich schon seit einer Woche sagen wollte, meine Kleine«, murmelt er zwischen erneuten Küssen, die so verführerisch sind, dass ich die Sache mit dem Lichtschalter gleich wieder vergessen möchte, »auf gute Nachbarschaft!«
»Auf gute Nachbarschaft«, kichere ich. Eine kleine Kaffeepause ist bestimmt noch drin.
»Du bist der netteste Hund der Welt«, flüstert Tilda ehrfürchtig und drückt den kleinen Jack-Russell-Terrier vorsichtig an ihre Brust.
Die Kinder sitzen mit ihren beiden Hunden auf den grauen Steinen vorm Tierheim. Luis hat es irgendwie hinbekommen, Jimbo nach zehn Minuten hysterischer Wiedersehensfreude Platz machen zu lassen. Tilda wird wohl noch viele Wochen benötigen, um die hibbelige Amy zu zähmen. Aber das bekommen wir hin. Ich bin froh, dass wir zu unserem Rüden nun eine Hündin bekommen haben – das sorgt für weniger Konfliktpotenzial.
»Amy ist fast so schön wie Jimbo«, sagt Luis, dessen Blick vergleichend zwischen den Hunden hin- und herwandert. Tilda ist viel zu sehr mit Streicheln beschäftigt, um Luis zu widersprechen.
»Danke, Vicky«, sagt sie und schaut zu mir hoch. Ich bin gerührt. Dieses kleine Mädchen hat sich schon tief in mein Herz geschlichen.
»Gerne, meine Maus«, antworte ich. »Hätte dein Papa nicht zugestimmt, wäre es nicht so schnell gegangen, einen Hund für dich zu bekommen, mit dem wir auch Agility machen können.«
Simon, der seinen Arm um mich gelegt hat, drückt noch etwas fester zu. Dieser Moment wird sich uns allen ins Gedächtnis einbrennen, da bin ich mir sicher. Die Kinder strahlen mit der Sonne um die Wette und können ihr Glück kaum fassen. Endlich hat jeder von ihnen einen Hund für sich, wenn auch nur für einen begrenzten Zeitraum.
»Lasst uns spazieren gehen«, schlage ich vor. »Tilda, ich weiß nicht, ob Amy vernünftig an der Leine läuft. Vermutlich wird das nicht gleich klappen, und wir müssen es ihr beibringen. Geht ihr zuerst einfach vor, ich sehe es ja. Sonst muss ich übernehmen – das liegt in dem Fall nicht an dir, sondern daran, dass es Amy niemand gezeigt hat, okay?«
»Okay.«
»Jimbo konnte es schon, aber manchmal zieht er immer noch voll. Dann muss man Fuß sagen«, erklärt mein Sohn.
»Ich weiß, ich bin ja nicht doof, du Ballaballakopf.«
Die beiden kichern und marschieren mit ihren Hunden los. Amy geht doch besser an der Leine, als ich dachte. Gemütlich schlendern Simon und ich Arm in Arm hinterher. Manchmal muss man gar nichts sagen. Dann ist die Stille inniger als jedes Gespräch. Wir gehen einfach Schritt für Schritt, Berührung für Berührung, Herz an Herz; wenn es nach mir ginge, würden wir stundenlang hinter unseren Kindern herlaufen.
Ich bin völlig in Gedanken versunken, als Luis und Tilda auf einmal kehrtmachen und mit den Hunden auf uns zugestürmt kommen. Etwas vom Rennen aus der Puste geraten, bleiben sie vor uns stehen und drucksen albern herum. Sie wollen offenbar nicht mit der Sprache rausrücken.
Tilda stupst Luis in die Seite »Sag du, es war deine Idee.«
»Gar nicht wahr, du wolltest das auch wissen.«
»Aber du zuerst.«
»Los, lasst es einfach raus«, fordert Simon die beiden auf. »Superschlimm wird es wohl nicht sein, oder?«
»Geht so«, meint Luis und hält sich die Hand vor den Mund, weil er gackert wie ein verrückter Teenager. Wir lachen mit.
»Was ist so witzig?«, frage ich. »Tilda, los, verrat uns, worüber ihr lacht.«
»Na ja, ähm. Knutscht ihr eigentlich auch?«, presst die Kleine mühsam die Worte hervor.
Großes Gelächter bei den Kindern. Ihre Gesichter werden rot, und sie kriegen sich kaum ein, so lustig finden sie die Vorstellung, dass ihre Eltern solche Dinge tun.
»Natürlich küssen wir uns«, sagt Simon und kneift mir heimlich kurz in den Hintern. »Habt ihr noch nie jemanden knutschen sehen?«
»Igitt«, sagt mein Sohn und schüttelt angewidert den Kopf.
»Ich will es sehen. Du doch auch, Luis! Papi und Vicky sollen sich küssen. Aber nicht ekelig.«
»Natürlich nicht ekelig«, verspricht Simon. »Wir küssen uns zärtlich, wie es Liebespaare nun mal tun.«
Er legt seine Hand an meine Wange, und ein wohliger Schauer läuft mir am Körper entlang. Obwohl die Kinder uns beobachten, als würden sie sich einen spannenden Kinofilm angucken, vergesse ich alles um mich herum und gebe mich Simons Kuss hin. Wie aus weiter Ferne höre ich das begeisterte Johlen der beiden, aber wir knutschen einfach weiter. Das würde ein perfektes Hochzeitskussfoto geben.