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Vicky
Mein Sitznachbar Florian ist echt witzig. Ich würde ihn gerne unsympathisch finden, schließlich ist er mein Konkurrent und könnte mir den Job wegschnappen. Aber ich bin auch seine Konkurrentin, und so machen wir das Beste aus dem zweiten Tag der Fortbildung und albern uns flüsternd wie die Teenager in langweiligen Mathestunden durch den Vormittag. Immerhin kann ich mich heute besser entspannen als gestern, wo meine Gedanken ständig zu Luis wanderten. Ich weiß ihn bei Simon in guten Händen, obwohl ich ihn immer noch nicht richtig einschätzen kann. Ist er wirklich so nett, wie er tut – oder ist das nur die super funktionierende Masche eines Alleinerziehenden? Manche Typen leihen sich ja sogar Hunde im Tierheim aus, um damit im Stadtpark bei einsamen Hundehalterinnen Eindruck zu schinden und sie dann aufzureißen. Vielleicht benutzt Simon den Perfekter-Papi-Trick. Zuzutrauen wäre es ihm.
Florian und ich sitzen in der hintersten von fünf Reihen, sodass der österreichische Referent, der vorn am Flipchart steht, unsere Kritzeleien nicht sehen kann. Wir sind beim wahnsinnig interessanten Thema »Innovative Marketingstrategien im Sanitärgewerbe« angelangt. Florian zeichnet gerade eine Hand, die in eine Toilette greift, als ich mich vor Lachen nicht mehr halten kann und lospruste:
»Bei uns greifen Sie nicht ins Klo!«
Kommt es mir nur so vor, oder war es eben noch lauter im Seminarraum? Jetzt jedenfalls sind alle Geräusche verstummt und sämtliche Augenpaare auf mich gerichtet. Ich spüre, wie mir die Schamesröte ins Gesicht kriecht, und verkneife mir den Zusatz »Scheiße« wohl besser.
»Das ist meine Schuld«, sagt Florian, »ich habe Frau Mahler abgelenkt. Entschuldigen Sie.«
»Nein, nein«, erklärt der Seminarleiter und fängt plötzlich an zu strahlen, »das ist eine ganz hervorragende Idee! Wie war noch gleich Ihr Name?«
»Äh, meiner?«
Das ist mein Ende, mein Chef bringt mich um.
»Ja, wie heißen Sie bitte?«
»Victoria Mahler. Hören Sie, es tut mir sehr leid, ich wollte Ihren interessanten Vortrag nicht stören.«
»Schmarrn, liebe Frau Mahler, endlich wagt jemand einen mutigen Vorschlag und setzt auf Provokation statt auf altbewährten Einheitsbrei. Bei uns greifen Sie nicht ins Klo! Das ist toll! Bravo, ich bin wirklich begeistert – bitte melden Sie sich später bei mir, damit wir einen Entwurf gestalten können. Das geht dann gleich so an einige Kunden raus; ich wette, dass es mehrere Interessenten geben wird. Und für Sie soll es nicht von Nachteil sein.«
Mist, jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen Florian gegenüber; immerhin ist es sein Klo. Aber er ist ein echter Kumpel und malt einen Smiley mit Sprechblase auf den Zettel: »Was für eine beschissene Idee!« Ich knuffe ihm einmal in die Seite und lächle ihn dankbar an.
Der Tag kann kaum noch besser werden, denn mein beruflicher Aufstieg wird immer wahrscheinlicher. Als es um die Frage geht, mit welchem Büromaterial man Tischler glücklich machen könnte, muss ich nur an Luis’ Spielzeughandwerkskoffer denken und habe die Lösung: Ein Anspitzer in Form einer Bohrmaschine, das wär’s. Mein Chef, die Leute vom Aufsichtsrat und der Seminarleiter sehen richtig beeindruckt aus, und ich fühle mich wie ein Star. Ich habe einen Lauf!
Wenn ich so was doch auch von meinen Erfolgen bei Männern behaupten könnte. Bei denen greife ich allerdings wirklich nur ins Klo. Ich habe keine Lust mehr, ständig wieder enttäuscht zu werden. Seit ich hinter Thomas’ unzählige Weibergeschichten gekommen bin, könnte ich sowieso keinem mehr vertrauen. Es kann schon sein, dass es tatsächlich Typen gibt, die nicht so drauf sind wie mein Ex, aber woran sollte ich die erkennen? Es steht ihnen schließlich nicht auf der Stirn geschrieben.
Ich verstehe die Männer einfach nicht. Was wollen die eigentlich? Zuerst fahren sie darauf ab, wenn eine Frau ihrem äußeren Beuteschema entspricht: gute Figur, sexy Ausstrahlung und selbstbewusstes Verhalten. Stimmen dann auch noch die hausfraulichen Qualitäten, halten sie einen für die perfekte Partnerin. Hure und Heilige in Personalunion – das ist der Traum aller Männer. Wehe, eine Frau funktioniert in einer der beiden Rollen mal nicht so gut: Dann ist es mit der Bewunderung schnell vorbei.
Darum falle ich auch nicht auf Simons Trick rein. Wie der mich wegen eines Kuchens angehimmelt hat, war schon fast rührend. Bekommt der sonst nichts zu essen? Hat seine Mami ihm nie etwas gebacken? Nein, nein, ich fand es zwar sehr nett mit ihm, und bestimmt ist er ein besserer Vater als Thomas, trotzdem bin ich nicht so blöd, mich mit ein paar Bauchpinseleien geistig umnebeln zu lassen.
»Wir sehen uns nach der Mittagspause«, sage ich zu Florian und den anderen, um mich wieder in mein Büro zu verkrümeln. Ich muss in Ruhe telefonieren und jemanden auftreiben, der sich morgen zwischen dreizehn und siebzehn Uhr um die Kinder kümmern kann. Vielleicht wird es eine Stunde weniger sein, aber für diese Zeitspanne brauchen Simon und ich unbedingt jemanden, der in meiner Wohnung für Luis und Tilda da ist.
Simon wird noch das Mittagessen machen und die beiden anschließend zu mir bringen. Ich habe ihm einen Schlüssel gegeben, was sich komisch anfühlte. Neulich haben wir uns noch gehasst, und jetzt sind wir … Ja, was sind wir überhaupt? Freunde wohl kaum. Nachbarn, natürlich, wir sind Nachbarn, die sich in einer Notsituation gegenseitig helfen; nicht mehr und nicht weniger. Wie ich es drehe und wende, mir fällt doch immer nur eine einzige Person ein, die am Mittwoch Zeit haben könnte: meine Cousine Pamela. Sie ist fünfundzwanzig und arbeitet am Empfang einer großen Hausarztpraxis, nur zwei Straßen von mir entfernt. Ich weiß, dass sie mittwochs um Punkt dreizehn Uhr den Griffel fallen lässt und Feierabend macht. Das würde perfekt passen, und außerdem kennt Luis sie. Pamela ist nicht gerade die Traumbesetzung einer Babysitterin, aber immerhin besser als keine. Ich versuche, nicht daran zu denken, wie sie auf meiner eigenen Hochzeit mit meinem Bräutigam geflirtet hat und ihn an der Sektbar fast klargemacht hätte, wenn mein Vater nicht eingeschritten wäre. Auch schiebe ich den Gedanken an ihre kurvenreiche Figur beiseite. Es kann mir völlig egal sein, ob Simon sie bei der Wohnungs- und Kinderübergabe heiß findet oder nicht. Jeder Kerl findet Pamela heiß – na und? Stört mich nicht. Ich möchte lediglich, dass sie die Kinder hütet. Außerdem habe ich etwas gut bei ihr, denn ich habe ihr mindestens schon zehnmal mein Auto geliehen, das sie bis auf den letzten Tropfen Sprit benutzt und natürlich nicht wieder aufgetankt hat.
Ich atme tief durch, bevor ich ihre Handynummer wähle.
»Halloho?«, flötet sie, als habe sie meine Nummer nicht erkannt. Sie kann wohl nicht anders. Pamela ist ein einziger Dauerflirt.
»Hi! Du, ich habe ein Attentat auf dich vor. Hast du zufällig morgen direkt nach Feierabend für ein paar Stunden Zeit, um auf Luis aufzupassen?«
Immer erst mal klein anfangen, lautet meine Strategie. Pamela zögert. Das ist ein gutes Zeichen. Sie denkt also über eine Ausrede nach, hat aber grundsätzlich nichts anderes vor. Ihre Friseur- und Kosmetiktermine kann sie nämlich aus dem Stegreif aufsagen, und die Dates mit verheirateten Sugardaddys finden nicht am Nachmittag statt. Es sei denn, es handelt sich um Ärzte.
»Was ist?«, hake ich nach. »Kannst du oder kannst du nicht? Ich habe wirklich ein Problem und wäre dir sehr dankbar, wenn du das machen könntest.«
»Doch, doch, das bekomme ich schon hin. Es ist nur so, dass ich auf einen wichtigen Anruf warte, aber dir zuliebe verzichte ich dann zur Not eben auf eine einmalige Chance.«
Natürlich, Pamela. Bestimmt erwartest du den Anruf einer internationalen Modelagentur, die dich aus deinem tristen Arzthelferinnendasein befreit und direkt in die Modemetropolen der Welt hinauskatapultiert.
Die mit ihren ominösen Andeutungen! Einmal hat sie mir erzählt, sie hätte sich nach einer rauschenden Disconacht aus Versehen mit einem Adeligen verlobt, den sie aber gar nicht geliebt hätte. Nicht dass er die bürgerliche Blondine loswerden wollte – nein, vielmehr hätte sie nicht gewagt, ihm die Wahrheit schonend beizubringen. Das alles war erstunken und erlogen. Pamela hat es schon als kleines Mädchen mit der Wahrheit nicht so genau genommen und ist damit trotzdem immer irgendwie durchgekommen. Notfalls ließ sie ein paar Tränen aus ihren hellblauen Augen kullern, und jeder schmolz dahin.
Eigentlich ist sie dennoch ganz okay. Vielleicht will ich es auch nur glauben, weil sie meine Cousine ist. Die mir jetzt gefälligst helfen soll, sonst bekommt sie mein Auto nie wieder!
»Du könntest deinem Anrufer doch einfach deine Handynummer mitteilen«, schlage ich vor und bemühe mich um eine neutrale Tonlage. Schließlich muss ich ihr noch beibringen, dass es sich um zwei zu betreuende Kinder handelt.
»Tja«, macht sie und lacht bitter auf, »wenn das so einfach wäre, Vicky, wenn das so einfach wäre. Gut, ich kriege das schon hin. Was muss ich tun?«
»Also, der Kindergarten hat geschlossen, darum habe ich überhaupt das Betreuungsproblem. Bis kurz nach eins kümmert sich ein Nachbar um Luis, aber dann muss der selbst zu einem geschäftlichen Termin. Ich komme frühestens um vier aus dem Büro raus. Das bedeutet, du müsstest um dreizehn Uhr direkt zu mir düsen und die Kinder in Empfang nehmen. Mein Nachbar bringt sie dir. Äh, ich hatte da eine Kleinigkeit vergessen …«
Ja, ich kann auch doof tun. In mir steckt mehr Pamela, als ich bisher ahnte.
»Die Kinder?«, hakt mein Cousinchen sofort nach und betont dabei die letzten beiden Buchstaben, als handle es sich um Aussätzige.
»Genau, es sind nämlich zwei. Luis natürlich und seine Kindergartenfreundin Tilda. Sie ist im gleichen Alter und total lieb. Die merkst du quasi gar nicht. Das ist die Tochter meines Nachbarn – deswegen nimmt er Luis ja überhaupt. Es ist kaum zu glauben, aber es gibt tatsächlich hilfsbereite Männer. Jedenfalls spielen Luis und Tilda richtig schön miteinander. Eigentlich kann man froh sein, wenn man nicht nur ein Kind an der Backe hat«, sage ich und schicke einen Lacher hinterher.
»Hat dein ominöser Nachbar keine Frau für sein Kind? Irgendwo ist doch der Haken.«
»Dass ein Mann keine Frau hat, ist für dich ein Haken?«, rutscht es mir raus.
»Was soll das denn jetzt heißen? Ich mache hier die Supernanny, und du unterstellst mir, dass ich auf irgendwelche Papis in Spießerhäusern stehe?«
Na warte, Pamela, das bekommst du zurück, und zwar doppelt und dreifach. Allerdings erst nachdem du auf die Kinder aufgepasst hast.
»Ach, nun sei nicht so, war bloß Spaß. Der ist eben auch nur ein Mann – kennste einen, kennste alle, wissen wir doch. Er ist ganz okay, ich weiß allerdings noch nicht viel von ihm. Das ist jetzt eine reine Zweckgemeinschaft, weil wir beide das Problem haben, unsere Kinder nicht in die Kita bringen zu können. Ab Donnerstag wird es einfacher. Ich muss lediglich den Mittwoch abdecken. Also … Darf ich mit deiner festen Zusage rechnen? Bitte, bitte!«
»Ich hoffe, ich denk dran. Dann mache ich das.«
»Äh, sorry, du musst dran denken. Vergessen geht nicht, verstehst du? Simon kann schlecht zwei Fünfjährige allein lassen. Bitte schreib es dir halt auf. Oder stell dir einen Weckruf im Handy ein.«
»Ja, ja, bleib locker, Vicky, ich krieg das hin. Ich weiß zwar nicht, warum ich immer wieder so gutmütig bin, aber ich kann einfach nicht Nein sagen.«
Ja, nee, is’ klar. Ich schlucke meine patzige Antwort runter und wünsche mir zum ersten Mal im Leben, dass Luis morgen so richtig schön Blödsinn macht, um Pamela den allerletzten Nerv zu rauben.
»Danke, das ist wirklich lieb von dir. Dann bis morgen. Ach ja, mein Nachbar heißt übrigens Simon Deerberg und wohnt im Stockwerk unter mir. Falls er noch nicht oben sein sollte, wenn du kommst.«
»Den bekomme ich schon hoch.«
Puh, das war zwar keine erholsame Mittagspause, aber immerhin habe ich jetzt ein Problem weniger. Simon wird sich bestimmt ebenfalls darüber freuen, dass Tilda und Luis nun für den Mittwoch versorgt sind. Ich habe noch fünf Minuten Zeit, um ein paar Kekse zu vertilgen und meine Hand durchs Zimmerbrunnenwasser gleiten zu lassen.
Simon … Hm. Irgendetwas an ihm gefällt mir ehrlich gesagt. Ich bin schließlich auch nur ein Mensch und habe meine Bedürfnisse. Schön wäre es allerdings, wenn ich diese gewissen Bedürfnisse nicht automatisch mit Verliebtheit koppeln würde. Eigentlich wäre ich schrecklich gerne mal einfach auf einen Typen scharf, ohne mir vorzustellen, wie es sich mit ihm kuschelnd auf dem Sofa anfühlt und ob man sich mit ihm in der Öffentlichkeit blicken lassen kann. Aber nein, ich muss mir ja sofort das ganz große Programm ausmalen: Liebesschlösser an Brücken, Verlobungsringe und ein gemeinsames Kind.
Vielleicht probiere ich zur Abwechslung was Neues: Flirten ohne den Hintergedanken an eine feste Beziehung. Dass Simon ein guter Vater ist, muss schließlich nichts heißen. Vermutlich ist er wie die meisten seiner Artgenossen beziehungsunfähig. Aber möglicherweise ist er ein Ass im Bett. Kann ja sein.