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Vicky

»Sorry, wir waren auf der Kartbahn und haben die Zeit total vergessen«, sagt Thomas, als er kurz nach sieben mit Luis aufkreuzt.

Ich schlucke böse Kommentare hinunter. Luis muss dringend ins Bett, damit er morgen früh fit für den Wochenstart ist. Es ist jedes Mal schwierig, ihn von einem ereignisreichen Wochenende mit seinem Papa auf ein normales Level runterzuholen – allerdings wäre ich vermutlich auch nicht früher mit ihm reingekommen oder hätte ihn noch mit Tilda spielen lassen. Also will ich nicht zickig sein und zeige mich stattdessen versöhnlich. Ich will mich nicht streiten, dafür bin ich viel zu glücklich.

»Schon gut. War’s denn schön, mein Schatz?«, wende ich mich an unseren Sohn. Denn das ist er: unser Sohn, egal, was für ein mieser Ehemann Thomas war. Thomas scheint ebenfalls auf Kuschelkurs zu sein. Irgendwie habe ich in den vergangenen Monaten völlig aus den Augen verloren, dass er auch seine angenehmen Seiten hat. Na ja, zumindest einige.

»Es war supergeil«, antwortet Luis. Wie war das noch gleich mit den angenehmen Seiten? Ich werfe Thomas einen mahnenden Blick zu. Er zuckt entschuldigend mit den Schultern.

»Ich arbeite daran«, sagt er leise. Immerhin hat er meinen Blick korrekt interpretiert.

»Ich durfte drei Runden mit Papa im Kart fahren, das macht ganz viel Spaß, Mama. Papa, fahren wir nächstes Mal wieder Kart. Bitte!«

»Wir gucken mal, okay? Das ist ziemlich teuer, hab ich dir doch schon erklärt. Geh bitte Zähne putzen … Ich muss eben mit Mama sprechen.«

Nanu? Was ist denn mit dem passiert? Unter leisem Protest verschwindet Luis im Bad; mein Ex und ich gehen in die Küche und bleiben dort mitten im Raum stehen. Eigentlich habe ich keine Lust, ihm einen Kaffee anzubieten. Zumal er ja eh lieber ein Bier hätte.

»Ist irgendwas vorgefallen?«, frage ich ihn. Wenn der jetzt mit Unterhaltskürzungen ankommt, drehe ich ihm auf der Stelle den Hals um, zerstückle ihn und friere ihn ein. Ich muss sowieso meine neueste Errungenschaft – ein hochmodernes Folienschweißgerät zum Vakuumieren und Verschweißen – endlich einweihen.

»Nö, was sollte denn vorgefallen sein? Du musst dich mal entspannen, Vicky. Ich wollte vorschlagen, dass wir wieder etwas netter zueinander sind.«

Oh-oh. Baggert der mich jetzt an oder was? Viel zu spät, Thomas, viel, viel zu spät. Selbst die Jahre des sexuellen Notstandes sind vorbei, denn ich bin in den vergangenen Tagen so richtig herrlich … Ähm, ja.

»Definiere netter«, sage ich.

»Damit meine ich, dass wir diese unnötigen Zickereien lassen sollten. Mich stresst das. Und für den Lütten ist es ebenfalls nicht gut; irgendwann kriegt der das bestimmt mit und ist dann traurig.«

»Thomas, ehrlich, ich freue mich total, dass du das so siehst, weil es natürlich stimmt. Du hast recht. Ab sofort herrscht Waffenstillstand, ja? Es ist bestimmt viel angenehmer, wenn wir uns nicht ständig zoffen, allein Luis zuliebe. Ich habe keinen Bock mehr auf diese ständige miese Stimmung zwischen uns. Vorschlag: Du sagst mir, sofern dich etwas stört, und ich flippe nicht gleich aus. Und ich kann dir auch ein paar Dinge sagen, über die du zumindest ein bisschen nachdenkst. Okay?«

Ich gebe mir Mühe und lächle meinen Exmann an. Immerhin habe ich ihn mal geliebt, und immerhin weiß ich, auf welche Art Lächeln er steht.

»Okay. Übrigens siehst du echt hübsch aus. Bist du etwa verknallt?«

Hm. Geht ihn das was an? Ja, natürlich geht ihn das was an, denn ich bin jetzt mit Simon zusammen, was kein Geheimnis ist. Ich muss zugeben, dass mich die offensichtliche Eifersucht seiner Ex zwar einerseits geärgert hat, aber andererseits ein bisschen anstachelt. Simon gehört jetzt auch ein bisschen mir, jawohl.

»Da wir jetzt ja Freunde sind, kann ich es dir wohl sagen«, bekenne ich mit einem Augenzwinkern. Ich ignoriere großzügig, dass er Kaugummipapier aus seiner Hosentasche fischt und auf meinem Küchentisch entsorgt. Manche Dinge ändern sich wohl nie. »Ja, ich bin verknallt. Ich habe jemanden kennengelernt, mit dem es wohl was Ernsthaftes werden könnte. Ist noch frisch, aber … doch, ja, ich mag ihn sehr. Er wohnt hier im Haus, ein Stockwerk tiefer. Seine Tochter ist Luis’ Freundin Tilda; er hat bestimmt schon von ihr erzählt.«

Thomas schaut kurz nach unten. Waren das zu viele Informationen? Als er wieder hochschaut, ist sein Gesicht ganz weich. Das ist sein wahres Ich – leider kommt es nur selten zum Vorschein, und leider konnte ich es nicht für mich konservieren. Es ist vorbei, dennoch werde ich plötzlich sentimental und könnte losheulen.

»Ich freu mich für dich, Vicky. Ich weiß, ich hab’s vermasselt. Und ich weiß selbst, was ich für ein scheiß Ehemann war und vermutlich zukünftig wieder sein würde. Hoffentlich hast du dieses Mal mehr Glück mit deiner Wahl. Wie heißt er denn? Nur für den Fall, dass ich ihm eines Tages auf die Fresse hauen muss, haha.«

»Simon«, sage ich und lache mit.

Eine Woche noch, dann sitze ich bereits oben in meinem neuen Büro. Ich habe es gerade von meinem Noch-Chef erfahren und kann gar nicht glauben, wie schnell es  tatsächlich gehen soll.

»Frau Mahler, Sie wissen ja, dass ich kein Freund großer Worte bin, aber Sie haben einen guten Job gemacht. Sehen Sie mal zu, dass es hier Freitag einen kleinen Ausstand gibt, sonst muss ich mir das Gemosere Ihrer Kollegen wieder tagelang anhören. Und fahren Sie zu diesem Zahnarzt und drehen ihm ein paar Artikel an. Zwei Abschlüsse erwarte ich mindestens in Ihrer letzten Woche. Ach ja, und dann können Sie das Sommerangebot an diese verrückte Yogalehrerin fertig machen«, orderte Herr Stürzenberg per internem Telefongespräch.

»Geht in Ordnung, Herr Stürzenberg«, sagte ich. Zwei Abschlüsse krieg ich hin. Ich will ein einwandfreies Zeugnis von dem ollen Miesepeter, dessen Kauzigkeit mir vielleicht doch ein klitzekleines bisschen fehlen wird. Dafür habe ich bald Herrn Wieter zum Chef. Hoffentlich bleibt er so nett, wie es bis jetzt aussieht. Man weiß es nie. Manchmal entpuppen sich die Nettesten als die Schrecklichsten.

Ich stelle gerade ein Angebot für den Zahnarzttermin zusammen, als es an meine Bürotür klopft. Noch bevor ich »Herein« rufe, stapft Rebecca Maier, »mit a-i«, in ihren klobigen Boots herein.

»Hi, ich muss mit dir reden«, sagt sie ohne den Anflug eines Lächelns im Gesicht. Was allerdings kein Wunder ist, denn Rebecca lächelt selten bis nie. Darum hat man sie auch nach einigen Monaten Betriebszugehörigkeit aus dem Außendienst abgezogen und ans Telefon versetzt, wo sie nun Kaltakquise machen muss.

»Ja, mach bitte schnell«, antworte ich, »ich hab gleich einen Termin und muss dafür bestimmt eine Stunde Fahrtzeit einplanen.«

»Tja, da wirst du dir wohl ein bisschen Zeit nehmen müssen«, giftet Rebecca. Huch. Was ist denn mit der schon wieder los? Ich weiß, dass sie bis heute eifersüchtig auf mich ist, weil ich ihren Job bekommen habe – aber was kann ich dafür? Ich wurde eingestellt, als sie rauskomplimentiert wurde. Ich habe ihr nichts weggenommen, sondern es war eine Entscheidung der Geschäftsleitung.

»Rebecca, bitte, können wir das nicht endlich lassen?«, frage ich. »Und wenn es wegen des Jobs hier ist … Ich bin doch bald weg. Glaub mir, Außendienst ist auch scheiße. Ich weiß, Kaltakquise erst recht. Mann, Rebecca, es tut mir echt leid, wie das damals gelaufen ist.«

»Pfft«, macht sie verächtlich. »Nimm dich bloß nicht so wichtig, darum geht es überhaupt nicht. Ich will deinen Scheißjob nicht haben. Was fällt dir eigentlich ein, solch einen Mist im Radio zu erzählen von wegen Man muss sich etwas anders organisieren! Helft einander, und wechselt euch bei der Kinderbetreuung ab!«, äfft sie mich nach. »Ich glaub, ich spinne, Victoria! Auf welch hohem Ross sitzt du eigentlich? Ist dir überhaupt klar, dass nicht jeder so ein tolles Umfeld hat wie du? Dein Interview ist ein Schlag ins Gesicht für alle Alleinerziehenden!«

Ach du Schande. Oh Mann, das kann ich jetzt richtig gut gebrauchen.

»Ich bin selbst alleinerziehend, falls du es vergessen haben solltest, Rebecca. Das ist doch jetzt völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Die Radioleute kamen mit ihrem Mikro aus heiterem Himmel auf mich zu. Sag du mal in einer vergleichbaren Situation spontan was Tolles und Sendereifes«, entgegne ich.

»Schön für dich. Ich habe keinen gefunden, der mir eine Woche lang meine Kinder abgenommen hat. Und ich habe zwei davon. Ein Kind wegzuorganisieren mag ja noch funktionieren, aber was ist mit Leuten wie mir? Außerdem konntest du zwei Tage freinehmen. Das war wieder klar. Die feine Frau Mahler bekommt alles in den Arsch gesteckt, während ich in die Röhre gucke. Meine Woche war der totale Horror, wenn du es genau wissen willst!«

Inzwischen ist sie kurz vorm Durchdrehen. Sie glüht vor Wut, und ihr ganzer Körper ist in Bewegung. All ihr Zorn über den Erzieherstreik entlädt sich hier in meinem Büro. Das ist geradezu grotesk.

»Rebecca«, versuche ich es mit Psychologenstimme. Wozu habe ich unzählige Verkaufsschulungen absolviert, in denen mir ein hohes Maß an Empathie bescheinigt wurde? »Ich verstehe dich doch. Ich bin auf deiner Seite, halloho? Erde an Rebecca!« Ich lächle, aber ich beiße auf Granit. Dann eben nicht. Blöde Kuh. »Bewerte bitte das Interview nicht über. Ich wollte damit nur sagen, dass manche Situationen auf den ersten Blick völlig ausweglos erscheinen und sich möglicherweise doch als gar nicht extrem schlimm erweisen. Bei mir war das der Fall. Dass es bei dir nicht so war, tut mir ehrlich leid.«

»Spar dir dein Gesülze, Victoria. Vornerum tust du immer lieb und nett, und hintenrum bist du eine richtig falsche Schlange.«

»Wie bitte? Du verwechselst mich, oder? Was genau ist dein Problem mit mir?«

Jetzt schwillt auch mir der Kamm. Was bildet die sich ein?

»Du bist das Problem, Victoria Mahler. Du hast einen schweren Fehler begangen, als du auf dicke Hose gemacht hast. Die Frau, die alles schafft, haha, ich lach mich tot! Du wirst dein Gepose bitter bereuen. Ich wünsche dir schon mal viel Spaß in deiner neuen Abteilung. Ich habe mit ein paar Leuten von dort gesprochen und ihnen erzählt, wie du drauf bist. Damit sie vorgewarnt sind. Was kommt als Nächstes? Willst du noch unser Chef werden oder was? Das kannst du knicken!«

Mir steht der Mund offen. Dazu fällt mir nichts mehr ein. Hat Rebecca Maier mir etwa gerade mit Mobbing gedroht? Ich glaube, das ist bereits Mobbing. In meinem Kopf wirbeln die Gedanken durcheinander, und ich habe einfach keine Idee, was ich sagen könnte, um meine Kollegin zu beruhigen. Alles, was ich bisher sagte, machte es nur noch schlimmer. Sie rauscht aus meinem Büro und knallt die Tür zu. Ratlos bleibe ich zurück und fange an zu heulen. Scheiße, was mache ich denn nun? Diese blöde Kuh wird mir womöglich wegen eines dämlichen Radiointerviews die gesamte Karriere versauen.

Ich muss mit meinem Chef sprechen, es geht nicht anders. Wehret den Anfängen; wer weiß, was Rebecca noch aus dem Hut zaubert, um mich fertigzumachen. Per interner Firmenkurznachricht schreibe ich einige Zeilen an ihn.

Hallo Herr Stürzenberg, könnte ich heute mit Ihnen sprechen, dauert ca. 15 min? Es gibt interne Kommunikationsprobleme, die ich nicht allein regeln kann. Kann auch nach Ihrem Termin bei der Stadtverwaltung sein. Ich bleibe länger. Danke, Gruß V. Mahler

So etwas mache ich sehr selten, und das weiß mein Noch-Chef. Seine Antwort erfolgt schnell.

17:30 in meinem Büro. S.

Oje. Aber wenigstens nimmt er sich bereits heute Zeit und verschiebt es nicht auf einen späteren Zeitpunkt. Ich würde sonst heute Nacht kein Auge zubekommen vor lauter Angst um meinen neuen Job. Ich rufe in der Kita an und lasse Doro ausrichten, dass ich Luis erst viel später als sonst, nämlich nach dem Abendessen, abholen kann. Das schlechte Gewissen meinem Kind gegenüber ist vergleichbar mit dem Zeitdruck, den ich jetzt wegen des Zahnarztes habe. Ich greife nach dem Werbemittelutensilienkoffer und renne gestresst zu meinem Auto.