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Vicky
Eines Tages bringe ich ihn um. Wieso habe ausgerechnet ich mir den verantwortungslosesten Menschen weit und breit ausgesucht, um mit ihm ein Kind in die Welt zu setzen? Das Dumme ist: Ich kann Thomas nicht komplett verteufeln, weil er mir das größte Geschenk meines Lebens gemacht hat, nämlich meinen Sohn. Nach unserer Trennung hatte ich manchmal Angst davor, es würden sich äußerliche oder charakterliche Merkmale bei Luis zeigen, die denen seines Vaters ähneln. Könnte ich ihn dann noch ebenso doll lieben? Aber ja, das geht glücklicherweise. Luis hat offensichtlich nur die positiven Dinge von Thomas geerbt.
Die süßen Grübchen und das dicke blonde Haar. Sein ansteckendes Lachen und die positive Grundeinstellung. Und wenn er schmollt, dauert das nie sehr lange – genau wie bei Thomas, mit dem ich mich nicht richtig streiten konnte. Lag allerdings vielleicht auch daran, dass er sich ständig verpisst hat, sobald es brenzlig wurde. Damals fand ich es reizvoll und locker, wie Thomas in den Tag hinein lebte und sich um nichts sorgte.
»Baby, ich kümmere mich darum, zerbrich du dir nicht dein hübsches Köpfchen, lass mich mal machen.«
Das war einer seiner Standardsätze, und ich platzte fast vor Stolz auf meinen coolen Surferboy. Dass er gar nicht locker, sondern stinkfaul war, begriff ich leider zu spät. Da hatte er unser gemeinsames Konto bereits in die Miesen manövriert, weil Casinobesuche und Affären ins Geld gehen.
Ich lasse mich erschöpft in meinen Riesensessel, den ich auf den Balkon geschoben habe, fallen, lege das Telefon zur Seite und schaue in den Sternenhimmel. Eben habe ich Thomas so angeschrien, dass vermutlich alle im Haus was davon hatten. Mein Ex will tatsächlich für ein halbes Jahr die Unterhaltszahlungen einstellen, weil er vorhat, einige Monate unbezahlten Urlaub zu nehmen und per Motorrad mit Rocky durch Südamerika zu gurken. Ich glaub, ich spinne! Wir brauchen das Geld, und es steht Luis zu. Außerdem – kümmert es ihn gar nicht, von seinem Sohn schrecklich vermisst zu werden? Wie erklärt man einem Kind, dass sein Vater ein egoistisches Schwein ist? Ich hasse ihn dafür, dass er in Kauf nimmt, meinem Schatz wehzutun, und ich werde nächste Woche vorsichtshalber meine Anwältin anrufen. Wer weiß, auf welche bescheuerten Ideen er noch kommt?
Simon ist bestimmt anders, der würde alles für Tilda tun. Ups. Habe ich das wirklich gerade gedacht? Jetzt projiziere ich meine unerfüllten Wünsche schon in den Typen unter mir; das geht eigentlich gar nicht. Keine Ahnung, warum Glorias Warnungen mir auf einmal lächerlich und unglaubwürdig erscheinen, aber kann ein böser Mensch wirklich so etwas Süßes wie Tilda hinbekommen? Andererseits hat Thomas auch Luis hinbekommen. Hm. Trotzdem … Irgendetwas an Simon lässt Grund zur Hoffnung, er könne vielleicht doch anders als diese ganzen Vollpfosten sein.
Ich gehe zurück in meine Wohnung und spähe durch die angelehnte Tür ins Kinderzimmer, wo die Kleinen tief und fest schlafen. Tilda liegt mit einem riesigen Hundekuscheltier in Luis’ Bett und streckt dabei alle viere von sich. Ihre langen Haare bedecken das Kissen. Simon wird später vor Eifersucht platzen, wenn sein Liebling von den Jungs belagert wird. Noch gehört ihr Herz offensichtlich meinem Sohn, der im Schlafsack auf seiner Isomatte direkt vorm Bett liegt.
»Papa sagt: Echte Männer brauchen keine Matratzen«, hatte Luis mich wissen lassen, als ich ihm eine Luftmatratze aufpusten wollte. Die Idee, zusammen in einem Bett zu schlafen, hatten beide dermaßen absurd gefunden, dass ich es bei einem Vorschlag beließ.
»In einem Bett? Mit einem Mädchen? Ich bin doch nicht schwul!«, meinte Luis.
Das sah Tilda genauso: »Wir sind nicht schwul. Ich schlafe in seinem Bett und er … woanders.«
Ich verzichtete darauf, ihnen die Bedeutung des Wortes »schwul« zu erklären. Eigentlich kann man nur hoffen, dass mein Sohn so ritterlich bleibt. Und Tilda wird den Herren der Schöpfung schon zeigen, wo es langgeht.
Leise schließe ich die Kinderzimmertür und hoffe, dass die Kinder mich morgen früh bis um acht schlafen lassen. Über diesen absurden Wunsch muss ich selbst den Kopf schütteln.
»Vicky! Vicky!«
»Hä? Oh, Tilda, ist alles in Ordnung?«, frage ich und richte mich im Bett auf.
Immerhin ist es bereits hell draußen, das ist ein gutes Zeichen. Ein Blick auf meinen Wecker verrät: 5:30 Uhr. Doch kein gutes Zeichen.
»Luis schnarcht«, erklärt Tilda, deren Aufmerksamkeit aber längst bei meinem Schmuck auf der Kommode liegt.
»Das ist ja doof. Hast du ihn schon angestupst, damit er mit dem Schnarchen aufhört?«
Man kann nicht früh genug damit anfangen, sich den Mann an seiner Seite zu erziehen.
»Nein, natürlich nicht«, sagt sie. Fast habe ich den Eindruck, als rolle sie ein wenig mit den Augen. Das hat sie von ihrem Vater, diese Tendenz zur leichten Überheblichkeit. »Wenn ich ihn anstupse, wird er ja wach. Du, Vicky, wie viele Ketten hast du eigentlich?«
Vom Bett aus beobachte ich ihren ehrfürchtigen Blick, während sie meinen Schmuck vorsichtig durch ihre Finger gleiten lässt.
»Weiß ich gar nicht. Vielleicht … hm, dreißig? Hör mal, Mäuschen, wir können die ja nachher in Ruhe zählen. Dann zeige ich dir auch meine Ohrringe und die Armbänder. Aber jetzt ist es zu früh. Wollen wir noch ein bisschen schlafen?«
»Ich kann nicht mehr schlafen. Luis schnarcht. Du, Vicky, wie viele Ringe hast du? Ich habe drei. Einen mit einem Marienkäfer, der ist voll für Babys. Und einen von Mama und noch einen, aber ich glaube, der ist hässlich. Ich finde Schmuck voll schön. Wenn ich groß bin, will ich so viel Schmuck haben wie du. Meine Mama hat weniger, dafür hat sie mehr Schminke.«
Na toll. Tilda ist hellwach. Während der kleine Mann nebenan schnarcht, führen wir hier Frauengespräche – ich habe nicht gewusst, dass die klassische Rollenverteilung bereits im Vorschulalter zu erkennen ist. Ich geb’s auf und schwinge mich aus dem Bett.
»Komm her, meine Süße«, fordere ich sie auf, schiebe einen Korbsessel an die Kommode und ziehe sie auf meinen Schoß. Sie kuschelt sich bereitwillig ein und lässt sich von mir jedes einzelne Schmuckstück erklären.
»Das hier ist ein echter Smaragdring von meiner Oma«, erzähle ich und stecke ihn Tilda auf den Daumen. Sie kichert.
»Viel zu groß für mich, aber sehr kostvoll«, lautet ihr Urteil.
»Stimmt, der ist viel wert, besonders ideell. Weißt du, was ein ideeller Wert ist?«
»Ja, natürlich«, sagt sie. Natürlich. Sie ist eine kleine Klugscheißerin, genau wie ihr Vater. Aber ich habe sie jetzt schon schrecklich lieb und weiß genau, warum Luis so begeistert von ihr ist. Eigentlich könnte ich sie ein bisschen über ihren Vater ausquetschen. Schließlich hat er das offenbar auch bei Luis über mich gemacht.
»Du, Tilda, dein Papa …«
»Hm?«, murmelt sie und legt dabei ein Armband nach dem anderen um, was sie jeweils mit gespitzten Lippen und Kennerblick ohne Worte kommentiert.
»Dein Papa, also, hat der eigentlich eine Freundin?«
»Du meinst, ob der verknallt ist in eine?«
»Ja, zum Beispiel. Oder vielleicht hat er ja nur manchmal Besuch von einer netten Frau?«
»Wieso das denn? Er hat doch mich«, sagt Tilda, und ich finde, dass sie recht hat. Sie sieht mit meiner filigranen Roségoldkette am Hals ganz bezaubernd aus. Da braucht Simon weiß Gott niemand anderen neben seiner kleinen Prinzessin.
»Na ja, ich dachte nur …« Schäbig, ein kleines Kind auszufragen. So was gehört sich absolut nicht. Das ist unehrenhaft und heimtückisch.
»Papa hatte mal eine Freundin, aber die fand ich doof. Die Frauen kichern immer alle bescheuert. Hahahahaha. So. Und dann machen sie mit den Händen die Haare nach hinten, voll affettiert.«
»Affektiert meinst du.«
»Du bist eine Verbesserin, sagt Luis, und Papa sagt das auch.«
»Sagt er das? Was sagt er denn noch über mich, dein Papa?«
»Nix. Ich wecke jetzt Luis, damit wir frühstücken können.«
Tilda hüpft von meinem Schoß und rennt ins Kinderzimmer. Sie muss sich darum kümmern, den Faulpelz endlich aus den Federn zu bekommen. Ich verstehe das.
Knete geht immer. Nach sechs Stunden Nonstop-Bespaßung inklusive Waffelbacken, gemeinsamer Putzaktion – was natürlich darin endete, dass ich alles und die Kinder nichts machten – und einem pädagogisch wertvollen Bilderrätselspiel habe ich die beiden an den Küchentisch verfrachtet und ihnen die Knetkiste hingestellt.
»Stück mal ’n Rück«, sagt Luis zu Tilda, die das sehr witzig findet und kichert, während er sie mit vollem Körpereinsatz auf der Bank zur Seite schiebt. Sie lässt sich das widerstandslos gefallen und scheint es sogar zu genießen.
»Ich möchte nicht, dass du so mit Tilda sprichst«, versuche ich, meinem Sohn das Machogehabe frühzeitig abzugewöhnen. Andererseits muss ich zugeben: Irgendwie ist es niedlich. Wie weit darf ein Junge Junge sein, und ab wann ist er ein Weichei?
»So spreche ich mit jedem«, informiert mich Luis.
Mir fällt dazu leider nichts mehr ein, und ich gebe meine politisch korrekte Vorbildfunktion vorerst auf.
»Jetzt knetet ihr ein Stündchen und lasst mich bitte ein bisschen arbeiten«, lüge ich.
Dabei will ich gar nicht arbeiten, sondern im Internet surfen. Ich brauche dringend ein Paar neue Schuhe. Vielleicht auch zwei. Der Sommerschlussverkauf hat bereits begonnen, dabei hat der Sommer gerade erst angefangen. Nudefarbene Pumps oder Sandalen, das ist hier die Frage … Mit dem Laptop auf dem Schoß hocke ich auf dem Balkon und schwelge im Schuhparadies, als mein Handy klingelt. Mein Chef. Oh!
»Victoria Mahler, hallo Herr Stürzenberg.«
»Guten Tag, Frau Mahler, ich hoffe, ich störe Sie nicht.«
»Nein, nein, überhaupt nicht. Ich wollte mich ohnehin dafür bedanken, dass ich spontan freibekommen habe. Dieser fürchterliche Kita-Streik …«
»Ja, ja, keine Ursache. Weswegen ich anrufe: Die Geschäftsleitung und der Aufsichtsrat sind der Meinung, Ihre Teilnahme am Seminar sei ganz ordentlich gewesen.«
Ganz ordentlich. Schon klar. Mein Chef kann einen wirklich wunderbar motivieren. Ich versuche, ruhig zu bleiben und mich auf die positive Kernaussage seines Anrufs zu konzentrieren. Die jetzt hoffentlich gleich kommt.
»Soll heißen?«, entfährt es mir so unzickig wie möglich.
»Sie müssten sich für nächste Woche bitte zwei oder drei Zeitfenster offen halten, um Platz für Personalgespräche zu lassen. Ich denke, es sieht recht verheißungsvoll aus mit der anvisierten Stelle, Frau Mahler. Aber ich habe nichts gesagt, nicht wahr?«
»Juchhu! Danke! Danke, Herr Stürzenberg. Oh wow, das ist ja toll, hach, super, ich bin total versessen auf den neuen Job. Ich werde Sie nicht enttäuschen, Ehrenwort«, juble ich ins Telefon.
Selbst wenn er etwas anderes behauptet, weiß ich genau: Ich habe die Zusage so gut wie in der Tasche. Mein Chef würde sich nie im Leben zu einer derartigen Aussage hinreißen lassen, sofern es nicht im Hintergrund bereits klare Hinweise darauf gäbe, dass ich bald aufsteige.
»Ja, nun beruhigen Sie sich mal wieder, sonst gibt es noch eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wegen Kreislaufstörungen.«
»Nie im Leben. Vielen Dank für Ihren Anruf, Herr Stürzenberg.«
»Auf Wiederhören. Und denken Sie an die korrekte Protokollierung Ihrer Arbeitszeiterfassung.«
Aber natürlich, Chef, sehr gerne sogar. Heute ist mein Glückstag!