Vierundwanzig
Am Montag zündete Günther Breitenegger sorgfältig seine Pfeife an und las noch einmal das letzte Schriftstück, bevor er sich endgültig von dem Fall Landmann verabschiedete.
Tonbandprotokoll der Vernehmung von:
Dr. Peter Hermans, geb. 4. September 1943
wohnhaft: Kämpstraße 37 in Kleve-Donsbrüggen
durch: Hauptkommissar Toppe (zeitw. Kommissar van Appeldorn)
am 11. September 1988
Beginn: 21 Uhr 30
Ende: 22 Uhr 45
T: Sind Sie sicher, dass Sie wirklich keinen Anwalt wollen?
H: Ja.
T: Möchten Sie einen Kaffee?
H: Nein.
T: Das Gespräch kann aber länger dauern.
H: Warum? Ich habe Ihnen gesagt, dass ich Landmann getötet habe. Das muss doch reichen.
T: Nein, das reicht leider nicht. Wir brauchen den genauen Tathergang und Ihre Gründe für die Tat.
Pause
T: Herr Hermans?
H: Ich möchte mit Ihnen allein sprechen.
T: Norbert?
v. A: Ich warte im Büro.
T: Herr Hermans, warum haben Sie Landmann getötet?
Pause
T: Herr Hermans?
H: Ich möchte nicht darüber sprechen.
T: Katja ist ein schönes Mädchen, nicht wahr?
Pause
H: Ja.
T: Wann hat das begonnen mit Ihnen beiden?
H: Im April.
T: Wie ist es dazu gekommen?
H: (lacht) Wie es eben dazu kommt. Sie hat nicht lockergelassen, und irgendwann hatte ich wohl einen schwachen Tag.
T: Sie haben mit ihr geschlafen?
H: Ja.
T: Wie oft?
Pause
T: Wie oft, Herr Hermans? Regelmäßig?
H: Nein, nicht regelmäßig. Oft. Ich habe nicht gezählt.
T: Sie haben Kondome benutzt.
H: Haben Sie mit Katja gesprochen?
T: Nein.
H: Ich will nicht, dass Sie mit ihr reden.
T: Das wird sich wohl leider nicht vermeiden lassen. Die Kondome lagen übrigens in Ihrem Schreibtisch.
H: Ach ja, natürlich. Noch ein Fehler. (lacht)
T: Wo haben Sie mit ihr geschlafen?
H: Im Wald.
T: Wo?
H: Zuerst immer am Treppkesweg, später dann haben wir jedes Mal eine andere Stelle gesucht.
T: Wie haben Sie sich verabredet?
H: Zettel.
T: In der Schule?
H: Ja.
T: Wusste Ihre Frau davon?
H: Nein.
T: Und in den Ferien? Wie haben Sie sich da verabredet?
H: Wir haben telefoniert. Meine Familie war ja in der Toskana.
T: Haben Sie sich in den Ferien häufiger getroffen als sonst?
H: Ja.
T: Wie oft?
H: Jeden Tag.
T: Warum haben Sie später den Treffpunkt immer geändert?
H: Man hat uns beobachtet.
T: Wer hat Sie beobachtet?
H: Das wissen Sie doch.
T: Herr Hermans, ich möchte, dass Sie es mir erzählen. Ich möchte mir ein Bild davon machen, was passiert ist.
Pause
T: Möchten Sie doch einen Kaffee?
H: Ich möchte einen Schnaps.
T: Gut.
Unterbrechung
T: Wer hat Sie beobachtet?
H: Arno Landmann.
T: Wie konnte das passieren?
H: Ich habe es gar nicht gemerkt. Er muss beim Joggen vom Trimmpfad abgebogen sein, und dabei hat er uns wohl entdeckt. Das war im Juli. Er rief mich an und sagte, er habe etwas mit mir zu besprechen und er wolle mich im Café Coenders treffen.
T: Haben Sie ihn nicht gefragt, worum es ging?
H: Ich wollte ihn gar nicht treffen und habe abgewinkt, aber er sagte (lacht): Es ist in deinem ureigenen Interesse, Che.
T: Und?
H: Wir haben uns getroffen. Arno hat nicht lange drum herumgeredet und sofort gesagt, dass er mich beobachtet hätte. Er wisse, dass ich ein Verhältnis mit einer Schülerin habe, noch dazu mit einer Minderjährigen. Er sagte, so etwas sei moralisch nicht zu verantworten und er dulde es nicht. Er sei entsetzt darüber, dass gerade ich mich so wenig unter Kontrolle habe, aber er gäbe mir eine Chance, die Geschichte sofort zu beenden. Dann wolle er davon absehen, die Sache an die Öffentlichkeit zu bringen.
T: Was haben Sie ihm geantwortet?
H: Nicht viel. Er hatte ja recht.
T: Er hatte recht?
H: Ja, natürlich. Das habe ich ihm auch gesagt. Und dass ich die Sache selbstverständlich sofort beenden würde.
T: Haben Sie die Sache beendet?
H: Ich habe es versucht.
T: Aber?
H: Aber es hat nicht geklappt.
T: Haben Sie Katja etwas gesagt?
H: Nichts von Arno, nur dass ich die Sache beenden wollte.
T: Und? Wo haben Sie es ihr erzählt? Wie hat sie reagiert?
H: Wir waren für denselben Tag verabredet. Ich habe ihr sofort gesagt, dass nun endgültig Schluss sein müsse mit uns. Es war übrigens nicht das erste Mal, dass ich ihr das sagte.
T: Wie hat sie reagiert?
H: Wie immer. Sie sagte, sie wolle mich behalten, wenigstens ein bisschen. Dann …
T: Ja?
H: Dann hat sie sich ausgezogen.
T: Und Sie haben wieder mit ihr geschlafen?
H: Ja.
T: Haben Sie sich danach weiter getroffen?
H: Ja.
T: Und Landmann hat sie wieder beobachtet?
H: Das muss wohl so gewesen sein.
T: Sie wissen es nicht?
H: Nein, nicht sicher. Ich weiß nicht, wann und wo. Aber er hat uns gesehen. Ich habe gesagt: Beweise es! Aber er meinte nur, das brauche er doch gar nicht.
T: Hat er sie wieder angerufen?
H: Ja, er hat mich mittags angerufen, wie ich es Ihnen erzählt habe. Und er hat mich zum Parkplatz am Trimmpfad in Schneppenbaum bestellt.
T: Was hat er genau gesagt?
H: Nur, dass ich kommen soll.
T: Was ist dann passiert?
H: Ich bin hingefahren. Er hat im Auto auf mich gewartet. Er war kühl und klar wie immer. Er hat vorgeschlagen, gemeinsam ein Stück zu laufen. Was hätte ich machen sollen?
T: Sie sind mit ihm gelaufen?
H: Ja, aber es hat angefangen zu regnen, und wir sind nur in einem kleinen Bogen an Welbers’ Haus vorbei wieder in Richtung Parkplatz gelaufen.
T: Haben Sie sich währenddessen unterhalten?
H: Wenig. Er hat dann vorgeschlagen, sich in dem Schuppen unterzustellen. Die Tür stand offen, und bei Welbers war alles dunkel.
T: Das haben Sie registriert?
H: Ja, natürlich.
T: Waren Sie aufgeregt?
H: Nein, gar nicht. Ich habe ihm zugehört. Er hat keinen Zweifel an seinen Absichten gelassen. Während wir gelaufen sind, hatte er mir noch einmal den moralischen Aspekt erläutert.
T: War Landmann erregt?
H: Nein, wie ich gesagt habe, er war kühl und klar wie immer. Er hat alles sehr logisch begründet. Und er hat mir erzählt, dass Katja die beste Freundin seiner Tochter wäre. Er hat sogar gemeint, er wisse durchaus, dass Katja über gewisse körperliche Vorzüge verfüge … verfüge, was für ein Wort! Aber gerade das sei ein Grund, sich ganz besonders streng zu kontrollieren.
T: Hat Landmann Ihnen gedroht?
H: Gedroht? Nein, so kann man es nicht ausdrücken. Als wir im Schuppen waren, sagte er, er habe mir nun seinen Standpunkt zur Genüge erläutert. Er hielte es für fair, mich über seine nächsten Schritte aufzuklären, damit ich meine Reaktion durchdenken könne. Er habe mir eine Chance gegeben, die ich leider nicht genutzt hätte. Wörtlich sagte er: Ich habe dich für intelligenter gehalten, Che.
T: Und?
H: Er könne es nicht verantworten, dass so einer wie ich weiterhin diesen Beruf ausübte.
T: Meine Güte …
H: Und da ich offensichtlich zu schwach sei zu handeln, sei er gezwungen, mir die Entscheidung abzunehmen. Er hat mir die Schritte aufgezählt, die er als Nächstes tun wollte: Er wollte mit meinem Chef sprechen, dann mit Katjas Eltern und dafür sorgen, dass Anzeige gegen mich erstattet wurde.
T: Was haben Sie dazu gesagt?
H: Ich habe ihn gefragt, ob er nicht wenigstens auf die Anzeige verzichten könne. Aber das verneinte er entschieden. Er sagte, das hielte er für Heuchelei. So etwas müsse bis zur letzten Konsequenz durchgezogen werden, auch wenn es einem schwerfiele.
Pause
T: Und dann?
H: Dann sagte er: Ich werde morgen einen Termin mit deinem Chef machen. Richte dich also darauf ein.
T: Und was haben Sie dazu gesagt?
H: Nichts.
T: Was ist dann passiert?
H: Dann habe ich das Brecheisen genommen und zugeschlagen. Ich hatte keine Wahl.
T: Sie hatten keine Wahl?
H: Nein.
T: Warum hatten Sie keine Wahl?
H: Mein Gott! Ich will diese Direktorenstelle haben. Es ist meine letzte Chance. (lacht) Es war meine letzte Chance, sollte ich wohl sagen … Arno hätte es getan, daran besteht kein Zweifel. Er hätte mich angezeigt, und ich wäre strafversetzt worden. Was hätte ich denn tun können? Noch einmal von vorn anfangen? In meinem Alter? Nein. Möglicherweise hätte man mir auch nur einen Verweis erteilt, schließlich habe ich sie nicht vergewaltigt, und sie ist schon siebzehn. Aber eine Beförderung wäre für immer ausgeschlossen gewesen. Und damit hätte ich weiterleben sollen? Nein. Und … Herr Toppe, ich liebe meine Frau, meine Kinder, ich liebe meine Familie, ich liebe sie wirklich. Wie hätte ich meiner Frau jemals wieder in die Augen sehen können? Was hätten meine Kinder von ihrem Vater gedacht, und was hätten sie sich anhören müssen? Nein, ich hatte keine Wahl.
T: Ich möchte, dass Sie mir die Tat ganz genau beschreiben, Herr Hermans. Jeden einzelnen Schritt.
H: Muss das wirklich sein?
T: Ja, das muss sein. Sollen wir eine Pause machen?
H: Bitte.
Unterbrechung
T: Gut, machen wir weiter.
H: Als Arno sagte, ich sei offensichtlich zu schwach, habe ich das Brecheisen entdeckt. Es stand neben der Tür an die Wand gelehnt. Ich habe gar nichts dabei gedacht, ich habe es einfach nur registriert. Und als er sagte, ich solle mich darauf einrichten, dass er mit meinem Chef spricht, da habe ich das Eisen genommen und es ihm mit ganzer Kraft auf den Kopf geschlagen. Arno hat nichts gemerkt. Er ist sofort zu Boden gestürzt. Sein Schädel war offen, und es war alles voller Blut …
T: Was haben Sie dann gemacht?
H: Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, ich habe einfach nur dagestanden. Ich weiß nicht, wie lange. Ich habe immer nur gedacht: Du hattest keine Wahl, du hattest einfach keine andere Wahl. Dann habe ich die Säcke gesehen und gedacht: Jetzt bring es auch zu Ende. Verstehen Sie, es musste sich doch jetzt wenigstens alles so ändern, dass ich wieder eine Wahl habe. Und ich dachte immer nur: Behalte einen klaren Kopf, Peter, handele. Da habe ich ihm einen der Säcke über den Kopf gezogen und ihn so zugerichtet, dass es so aussehen musste, als hätte jemand Arno in blinder Wut getötet, ein Racheakt. Ich habe mich hinterher oft gefragt, was ich in dem Moment empfunden habe. Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich wieder in meinem Auto saß und dachte: Du hast getan, was du konntest.
T: Haben Sie die Brechstange mitgenommen?
H: Ja, sie war voller Blut. Ich habe sie in meinen Pullover gewickelt und vor dem Beifahrersitz auf den Boden gelegt. Dann bin ich nach Griethausen an den Altrhein gefahren.
T: Nach Griethausen? So weit? Warum?
H: Ich weiß nicht. Ich habe es mir nicht überlegt. Vielleicht, weil man früher immer alles, was man loswerden wollte … ich hatte einfach keine andere Idee. Ich bin direkt dorthin gefahren bis mitten auf die Brücke und habe das Brecheisen ins Wasser geworfen.
T: Hatten Sie keine Angst, dass Sie jemand beobachten könnte?
H: Nein, es regnete in Strömen, und es war mittlerweile fast dunkel. Nein, ich hatte keine Angst. Die ganze Zeit nicht.
T: Was haben Sie dann gemacht?
H: Ich bin nach Hause gefahren. Es war kein Problem, ich war ja allein. Als ich in der Halle stand, fiel mein Blick auf meine Hose und die Schuhe. Sie waren voller Blut. Auch der Pullover. Ich habe mich ausgezogen und geduscht. Dann habe ich meine Kleider in die Waschmaschine gesteckt und 90 Grad eingestellt. Ich wusste, dass sie das ruinieren würde. So hatte ich einen Grund, sie später in die Mülltonne zu werfen. (lacht) Strohwitwer machen so etwas ja manchmal, nicht wahr? Die Wäsche ruinieren, weil sie zu blöd sind. Nur die Schuhe. Zuerst habe ich versucht, sie abzuwaschen, aber das ging nicht. Dann fiel mir auch wieder ein, dass ich mal gelesen hatte, dass man auch abgewaschenes Blut nachweisen kann. Die Schuhe mussten also weg. Ich wusste, dass meine Fußabdrücke am Tatort zu finden waren. Sie waren der einzige Hinweis auf mich. Ich war sicher, dass ich keine Fingerabdrücke hinterlassen hatte.
T: Und dann sind Sie auf die Idee gekommen, die Schuhe zu vergraben.
H: Ja, der Lavendel stand noch in einem Kistchen hinter dem Haus. Ich hatte ihn eigentlich nachmittags pflanzen wollen. Aber nach Arnos Anruf war ich zu unruhig.
T: Und da haben Sie zum ersten Mal daran gedacht, ihn zu töten.
H: Ach, Herr Toppe, ich habe diesen Gedanken nie gefasst. Es entstand aus der Situation und der Tatsache, dass ich keine andere Wahl hatte. Nach dem Telefonat wusste ich noch nicht, wie ernst er es meinte.
T: Sie haben also den Lavendel gepflanzt.
H: Ja, ich habe ein Loch gegraben, die Schuhe hineingeworfen und den Lavendel obenauf gepflanzt. Ich war mir ganz sicher, dass das völlig unauffällig …
T: Haben Sie Katja danach noch einmal getroffen?
H: Nein.
T: Nein? Hat sie nicht versucht, Sie zu treffen?
H: Nein. Sie hat mich angerufen, in derselben Nacht, gegen ein Uhr, als ihre Eltern schliefen. Und ich habe ihr gesagt, dass es endgültig vorbei war mit uns. Ich könne nicht mehr. Sie …
T: Ja?
H: Sie sagte: Vielleicht, wenn das Baby erst da ist. Und ich sagte: Nie mehr. Dann habe ich aufgelegt.
T: Und seitdem hat sie nicht wieder versucht, Kontakt zu Ihnen aufzunehmen?
H: Doch, aber es macht mir nichts mehr aus … Herr Toppe, ich bin sehr müde.
T: Gut, machen wir Schluss für heute.
Geschlossen: Helmut Toppe (HK)
Persönlich gelesen und genehmigt:
Dr. Peter Hermans