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Sechs

«Die Nachbarschaft ist hier sowieso nicht gut», sagte Frau Landmann. «Nebenan, Herr Rheinfeld mit seinem Naturgarten. Sie müssen wissen, unser Garten war das Hobby meines Mannes. Er konnte sich dort wunderbar entspannen.»

Sie hatte offensichtlich keine Probleme mehr mit der Vergangenheitsform.

«Aber immer dieser Unkrautsamen von Rheinfeld. Das heißt, Unkraut darf man ja heute gar nicht mehr sagen, Wildkräuter sind das. Außerdem tummeln sich dort die Maulwürfe. Sie müssten sich mal unseren Rasen ansehen. Mein Mann hat ganze Nächte draußen verbracht und darauf gewartet, einen zu erwischen. Der Erfolg war gleich null.»

«Gab es mit dem Nachbarn Streit deswegen?», fragte Toppe.

«Ständig, aber in letzter Zeit lief das alles nur noch über unseren Anwalt. Ich habe mich auch nicht viel darum gekümmert. Möchten Sie noch einen Kaffee?»

Toppe nickte. Schon als er vor einer halben Stunde angekommen war, hatte sie einen gefassten Eindruck gemacht. Sie trug eine dunkelbraune Hose und eine matt glänzende, lange, etwas hellere Bluse. Um die Schultern hatte sie ein buntbedrucktes Seidentuch geschlungen. Ihr Haar hatte sie hochgesteckt, und wenn sie geweint hatte, so hatte sie die Spuren geschickt überschminkt. Nichts erinnerte mehr an ihren gestrigen Zusammenbruch. Es fiel Toppe schwer, die beiden Eindrücke zusammenzubringen.

Sie saßen im Wohnraum am Esstisch, Toppe an der Stirnseite, Frau Landmann links von ihm, rechts saß Sabine. Das Mädchen hatte kurze rote Locken, ein sympathisches, ungeschminktes Gesicht und war noch ein wenig pummelig. Sie trug Jeans und ein dunkelblaues Sweatshirt. Selbst Toppe konnte erkennen, dass beides teuer war. Bis jetzt hatte sie noch nichts gesagt, saß nur still und aufmerksam da und nippte an einem Glas Milch.

Toppe wunderte sich, dass keine der beiden bisher wissen wollte, was eigentlich genau passiert war.

Frau Landmann schien dieses Gespräch wie eine Pflichtaufgabe zu behandeln. Er fragte, sie antwortete. Gegenfragen stellte sie nicht.

«Und die Nachbarn an der anderen Seite?», fragte Toppe.

«Das können Sie sich doch wohl vorstellen», antwortete Frau Landmann kühl. «Seit es diese Mopedgruppe gibt, ist hier der Teufel los.»

«Wie lange gibt es die denn schon?»

«Ach, seit drei Jahren ungefähr. Kurz nachdem die Blocks fertig waren.»

«Die Blocks sind erst vor drei Jahren gebaut worden?» Toppe mochte es nicht glauben.

«Ja, natürlich, oder denken Sie, wir hätten sonst das Haus hier gekauft? Mein Mann hatte die Zusicherung der Stadt, dass dieses Grundstück dort unbebaut bleiben würde. Es hat einen langen Rechtsstreit gegeben, den mein Mann leider verloren hat. Man kennt das ja: Letzten Endes sitzt die Stadt immer am längeren Hebel.»

Nach kurzem Zögern wandte Toppe sich an Sabine. «Kennen Sie die Jungen von der Mopedgruppe?»

«Ich?» Sie errötete leicht. «Kennen nicht. Nur so vom Sehen. Die düsen ja dauernd um mich herum, wenn sie mich entdecken, und machen mich an. Ich bin immer froh, wenn die nicht da sind.»

«Mein Mann hat sich oft beschwert», begann Frau Landmann wieder. «Aber das hat ja keinen Sinn bei diesen Leuten, mit denen ist einfach nicht zu reden. Zwei- oder dreimal hat er die Polizei hingeschickt wegen ruhestörenden Lärms. Aber Sie wissen bestimmt selbst, wie so etwas läuft. Geändert hat das jedenfalls nichts. Na ja, und vor drei Wochen hat mein Mann dann schließlich Anzeige erstattet. Und seitdem ist es erst richtig schlimm geworden.»

Sie verlor tatsächlich ein wenig die Beherrschung. «Wollen Sie es einmal sehen?», fragte sie. «Sabine, lass doch mal die Läden runter.»

«Kommen Sie.» Frau Landmann stand auf.

Toppe schaute verwirrt von einer zur anderen. Sabine schmunzelte. Sie schien Sinn für Komik zu haben. «Schauen Sie sich das an», rief Frau Landmann und ging zur Haustür hinaus. Toppe folgte ihr und begriff endlich, was sie gemeint hatte. Auf die Rollläden hatte jemand von außen mit schwarzer und roter Farbe Unflätigkeiten gesprüht.

«Wichser» las er und «Nazisau». «Fuck» stand dort neben einschlägigen Symbolen.

Er schwieg.

«Na ja», meinte Frau Landmann und ging wieder hinein. «Außerdem klingelt fast jede Nacht zwei-, dreimal das Telefon, und niemand ist dran. Lauter unangenehme Dinge eben.»

Als sie ins Wohnzimmer zurückkamen, hatte Sabine die Läden schon wieder hochgezogen.

«Und zweimal haben sie uns in den Briefkasten gepisst», sagte sie.

«Sabine!» Frau Landmann warf Toppe einen entschuldigenden Blick zu.

«Stimmt doch aber, oder?» Sabine grinste. Sie setzte sich nicht wieder. «Ich muss los zur Probe.»

Frau Landmann schaute auf ihre Armbanduhr. «Jetzt schon?»

«Probe?», fragte Toppe.

«Ja, an unserer Schule gibt es eine Theater-AG. Wir proben auch in den Ferien, samstags immer ab elf, Ende offen.»

Toppe lächelte versonnen. «Schülertheater», sagte er. «Hab ich auch mal gemacht. Und? Welches Stück spielt ihr?»

«Eins von Mrozek, ‹Tango›. Kennen Sie das?»

«Mrozek kenne ich, aber ‹Tango›? Nein, ich glaube, nicht. Mrozek hat mir immer gefallen. Aber der ist doch ziemlich schwierig. Ihr müsst ganz schön gut sein.»

«Ja, wir sind gar nicht so schlecht, glaube ich.»

«Und Sie? Haben Sie viel Text?»

«Ja, schon. Ich spiele die Mutter. Im Oktober ist die Aufführung. Wollen Sie nicht kommen? Es steht dann noch in der Zeitung, wann genau.»

«Bestimmt», sagte Toppe und meinte es auch.

«Wenn Sie Lust haben, können Sie auch ruhig mal zur Probe kommen. Da sind immer Zuschauer.» Sie hatte rote Wangen bekommen.

«Wenn ich es schaffe, komme ich bestimmt. Sebus-Schule?»

«Ja, genau.»

Er hatte nicht übel Lust, den Fall Fall sein zu lassen und einfach mitzugehen. Aber das war natürlich unmöglich.

Als Sabine türenschlagend das Haus verlassen hatte, wendete er sich wieder Frau Landmann zu. «Ihr Mann hatte also Ärger mit diesen Motorradleuten?»

Er merkte sofort, dass es eine miserable Frage war, und ärgerte sich über seine Unkonzentriertheit.

Die Antwort war dementsprechend dünn. «Ja.» Sie schaute wieder auf ihre Uhr.

«Hatte Ihr Mann ein Arbeitszimmer oder einen anderen Platz, an dem er persönliche Dinge aufbewahrte?»

«Ja, ein Arbeitszimmer. Wollen Sie es sehen?»

«Bitte.»

Sie führte ihn in einen Raum, der zur Straße hin lag. Es war das klassische Arbeitszimmer eines erfolgreichen Mannes. An drei Wänden Bücherregale bis unter die Decke, an der Fensterseite ein wuchtiger Eichenschreibtisch mit einem dunklen Ledersessel davor.

«Ich würde mich gern eine Weile umsehen.»

Frau Landmann verstand sofort. «Ich muss noch einige Telefongespräche führen. Darf ich Sie einen Moment allein lassen?»

Er antwortete mit einer ähnlich leeren Floskel und fing an, sich im Raum umzusehen. Die Bücher waren sorgfältig sortiert. Hauptsächlich Fachliteratur und ausgesuchte, ledergebundene Klassiker, viele Philosophen. Toppe entdeckte eine sehr teure Goethe-Gesamtausgabe, viel Thomas Mann, Schopenhauer und Nietzsche. Kein Kant, kein Schiller.

Nichtraucher, stellte er fest, als er eine Zigarette angezündet hatte und keinen Aschenbecher fand. Er öffnete das Fenster und warf die angerauchte Zigarette in den Vorgarten.

Auf dem Schreibtisch war alles rechtwinklig ausgerichtet. Eine Schreibunterlage aus grünem Leder, dazu passend ein Tintenlöscher und eine Stiftablage. Links von der Unterlage ein Tischkalender.

Toppe setzte sich auf die Sesselkante und nahm den Kalender in die Hand. Unter vielen Daten gab es Eintragungen, Termine, allerdings nur in Kürzeln. Gespannt schlug er den 18. August auf und fand die Eintragungen «Che» mit einem Fragezeichen und «B. S. wg. Do».

Er ertappte sich dabei, dass er die Luft anhielt. «B. S.» und «Che». Sofort dachte er an Che Guevara, aber angesichts der konservativen Ausstattung des Arbeitszimmers und der peniblen Ordnung hier erschien ihm diese Assoziation unpassend.

Langsam blätterte er im Kalender zurück. Das «B. S.» tauchte häufiger auf. Das zweite «Che» hätte er beinahe übersehen. Es war klein und ging fast unter in der Fülle der Termine an diesem Tag, dem 14. Juli.

Toppe beschloss, den Kalender mitzunehmen, um ihn näher zu untersuchen, und öffnete die mittlere Schublade. Dort fand er einen Stapel weißes Papier, DIN A4, mit einem blassblauen, verschlungenen Monogramm in der rechten oberen Ecke – AFL – und einen Packen Rechnungen von der Klever ARAL-Tankstelle, mit einer großen Büroklammer zusammengehalten. Das war schon alles.

Im linken Fach standen unbeschriftete Ordner. Er zog wahllos einen heraus und fand Gerichtsakten. Offensichtlich hatte Landmann auch zu Hause gearbeitet. Er nahm die Ordner an sich, auch sie bedurften einer näheren Untersuchung. Vielleicht konnte van Appeldorn sich damit beschäftigen, schließlich hatte der mal drei Semester Jura studiert.

Im rechten Fach lagen, nach Jahrgängen sortiert, Vorlesungsverzeichnisse der Uni Bonn aus den sechziger Jahren, alle in Folie eingebunden. Obenauf ein dunkelrotes Fotoalbum. Toppe betrachtete die Bilder auf den ersten Seiten. Sie schienen alle aus Landmanns Unizeit zu stammen. Offenbar hatte er einer Verbindung angehört. Zahlreiche Fotos zeigten ihn, mal allein, mal mit Brüdern, im Wichs, mit Kappe und gefülltem Bierkrug. Lauter blondglatte Jungsgesichter, tiefernst und wichtig.

Toppe blätterte weiter. Alle Fotos hatten das gleiche Thema: Jungmänner unter sich, auf Maifahrt, unter Sommerbäumen, im Lokal. «Durch jede Kneipe geht ein Zug von Homosexualität», ging es ihm unwillkürlich durch den Kopf. Er legte das Album zurück, nahm den Kalender und die Akten und verließ den Raum.

Im Flur traf er auf Frau Landmann, die immer noch telefonierte. «Ja, Mutter, ja. Ich rufe dich an, sobald ich Bescheid weiß. Natürlich, Mutter. Bis später.» Damit legte sie auf und schaute ihn fragend an.

«Frau Landmann, ich habe diesen Kalender gefunden, in dem Ihr Mann sich offensichtlich Termine und Verabredungen notiert hat.»

Sie nickte. Er schlug den Kalender beim 18. August auf. «Leider finde ich nur Abkürzungen. Sagen die Ihnen etwas?»

Sie sah auf das Blatt und schüttelte langsam den Kopf. «‹B. S.› ist vielleicht ein Name, aber ‹Che›? Nein, ich habe keine Idee. ‹Wg. Do› heißt sicher ‹wegen Donnerstag›. Das hat er immer so abgekürzt. Aber wissen Sie, ich habe noch nie in diesen Kalender geschaut. Das Arbeitszimmer war das Reich meines Mannes, und er hatte es nicht so gern …» Sie führte den Satz nicht zu Ende, sondern zuckte die Achseln. «Ich weiß wirklich nichts damit anzufangen.»

«Gut, aber vielleicht denken Sie noch einmal in Ruhe darüber nach. Wenn Ihnen doch noch etwas einfällt, können Sie mich anrufen, ja?»

Sie nickte.

«Ich möchte den Kalender und diese Ordner gern mitnehmen. Ist Ihnen das recht?»

«Ja, natürlich, Herr Toppe, wenn Ihnen das hilft.» Sie blieb abwartend neben dem Telefon stehen.

«Tja», sagte Toppe, «im Moment wäre das alles. Ich melde mich bald wieder bei Ihnen.»

Sie ging an ihm vorbei zur Tür, öffnete sie und reichte ihm ihre kühle und trockene Hand.

Wir haben nichts miteinander zu tun, dachte Toppe und ging.

Er setzte sich in seinen Wagen und zündete sich seine letzte Eckstein an. Am besten nahm er diese Motorradsache gleich in Angriff, aber auf keinen Fall allein. Er erinnerte sich, dass es gleich neben der Grundschule eine Telefonzelle gab.

«Hallo», meldete sich van Appeldorns Freundin.

Er konnte es nicht leiden, wenn Leute am Telefon ihren Namen nicht nannten, und war entsprechend kurz angebunden. «Toppe hier. Kann ich Norbert sprechen?»

«Nein, der ist noch beim Fußball. Aber das Spiel ist längst aus. Vielleicht versuchen Sie es mal im Vereinslokal Wanders.»

«Ja, danke. Auf Wiedersehen.»

Er kam nicht gut aus mit van Appeldorns Freundin. Warum das so war, wusste er eigentlich gar nicht so genau. Marion war geschieden, hatte eine siebenjährige Tochter und lebte schon seit ein paar Jahren mit seinem Kollegen zusammen. Toppe fand sie ein wenig forsch, und ihm war in ihrer Nähe immer etwas unbehaglich, dabei sah sie sehr gut aus. Wie ausgerechnet van Appeldorn mit ihrem großen Engagement in Frauenfragen klarkam, war ihm schleierhaft.

«Norbert? Hier ist Helmut.» Er hatte ihn tatsächlich in der Kneipe erreicht. «Ich bin noch in der Annabergstraße. Kannst du kommen?»

«Was? Jetzt?»

Toppe fasste die Situation kurz zusammen, und van Appeldorn machte keinen Hehl daraus, dass ihm der Sinn nicht nach Arbeit stand, ließ sich dann aber doch breitschlagen.


Sie trafen sich vor den Wohnblocks.

«Meine Güte, hast du eine Fahne», knurrte Toppe vorwurfsvoll. «Wie viele Biere hattest du denn schon?»

«Nicht genug», antwortete van Appeldorn und schloss sorgfältig sein Auto ab.

Toppe sagte nichts mehr. Einen angetrunkenen van Appeldorn hatte er immer noch lieber an seiner Seite als die meisten anderen Kollegen in stocknüchternem Zustand.

«Übrigens, Landmann muss seinen Mörder gekannt haben», bemerkte van Appeldorn beiläufig.

Toppe war nicht überrascht. «Ja», bestätigte er, «oder die Mörder.»

Die Häuser wirkten wie ausgestorben. Nicht einmal Kinder waren zu sehen oder zu hören.

«Hängen alle vor der Glotze», vermutete van Appeldorn.

Toppe ging schnell auf die erste Haustür zu und legte seinen Finger auf die Klingel. Es dauerte eine Weile, dann hörte man schlurfende Schritte. Die dicke Frau aus dem Fenster öffnete die Tür. Ein unangenehmer Geruch schlug ihnen entgegen. Es war eine Mischung aus Urin, abgestandenem Putzwasser, ranzigem Öl und kaltem Rauch. Die Frau trug einen schmuddelig weißen, gesteppten Morgenrock, ihre nackten Füße steckten in Frotteelatschen. Sie hatte dicke, gelbe Hornhaut an den Zehen.

«Wat is’?», blaffte sie.

Van Appeldorn schob sich an Toppe vorbei. «Polizei», sagte er laut. «Wir wollen jemanden von der Mopedgang sprechen.»

Die Frau lachte aggressiv. «Gang? Wat is’ dat denn? Meinste unsern Heinz?»

«Weiß ich nicht», antwortete van Appeldorn. «Hat Heinz ein Moped?»

«Dat will ich meinen! ’ne Kreidler. Teuer genucht, dat Ding.»

«Und wo steckt Heinz?»

Sie glotzte ihn an und brüllte ihm dann mitten ins Gesicht: «Heinz! Kommes effkes hier!»

Zuerst tat sich nichts, aber dann öffnete sich im Hintergrund eine Tür, und ein Junge erschien. Er konnte nicht viel älter als sechzehn sein und trug eine schwarze Kunstlederhose und ein schwarzes T-Shirt.

«Bullen», schnaubte er, als er zur Tür kam. «Wat is’?»

«Gehörst du zu der Mopedgang?», fragte van Appeldorn und trat einen Schritt vor.

«Wüsstete wohl gern, wa?» Er grinste aufsässig.

Toppe schob van Appeldorn beiseite. «Ja, das wüssten wir gern», sagte er bestimmt. «Und jetzt passen Sie mal gut auf. Das hier ist überhaupt nicht komisch. Wir ermitteln in einem Mordfall. Ihr Nachbar, Herr Landmann, ist umgebracht worden. Wir haben Hinweise darauf, dass Ihre Mopedgruppe Ärger mit ihm hatte. Und …» Er machte eine kleine Pause. «Und innerhalb von zwanzig Minuten möchte ich Ihre komplette Truppe hier haben.» Für seine Verhältnisse war er sehr laut geworden.

Heinz riss die Augen auf. «Mordfall? Dat gibbet doch wohl nich’! In zwanzig Minuten? So kannste doch nich’ kommen, Mann. Ich muss doch ers’ ma’ gucken, wer da is’.»

Kopfschüttelnd verschwand er im Haus.

«Mord?», keifte die weißgesteppte Mutter. «Mein Heinz? Ihr habt doch ’n Bälleken!»

«Lass uns draußen warten», bemerkte van Appeldorn. «Hier stinkt’s.»

Sie warteten schweigend neben dem kümmerlichen Bäumchen zwischen den Häusern.

Endlich tat sich etwas. Heinz eilte mit finsterem Blick zum Nachbarblock und verschwand.

In den Türen erschienen Jugendliche, alle ähnlich gekleidet, schwarze Kunstlederhosen, schwarze T-Shirts oder Hemden. Sie blieben in gebührender Entfernung stehen. Keiner sagte etwas.

Kurz darauf erschien Heinz wieder. Im Schlepptau eines großen, dünnen Jungen, der sich von den anderen dadurch unterschied, dass er ein rotes T-Shirt trug und breite schwarze Lederarmbänder. Er schien älter zu sein als die anderen, Anfang zwanzig etwa. Sein dunkles Haar hatte er nach oben gekämmt, und er trug eine verspiegelte Sonnenbrille.

Zielstrebig kam er auf Toppe zu.

«Tach. Wat is’ los?»

«Wer sind Sie?», wollte Toppe wissen.

«Wer bist du denn?»

«Ich bin Hauptkommissar Toppe von der Mordkommission. Und das ist mein Kollege van Appeldorn.»

«Mordkommission? Stark! Und?»

«Wer sind Sie?», fragte Toppe wieder.

«Ich bin Ecki.»

«Ecki, und wie weiter?»

«Na, Ecki eben. Das reicht.» Er stemmte die Arme in die Seiten und blickte Toppe herausfordernd an.

«So, mein Junge, jetzt pass mal auf.» Van Appeldorn packte ihn fest am Oberarm. «Damit du gleich weißt, wo es langgeht. Mord. Bist hier der Obermacker, wie? Dann kapierst du ja vielleicht ein bisschen schneller als die anderen Pfeifen hier. Ich sag es noch mal: Mord. Da hörst du am besten auf, hier dumm rumzulabern. Faxenmacher wie dich haben wir besonders gern.»

«Ist ja gut, Mann.» Ecki schüttelte van Appeldorns Hand ab. «Komm wieder runter. Ich hab es ja gerafft. Mach doch nich’ so ’n Larry, Alter.»

Dann kümmerte er sich nicht weiter um van Appeldorn, sondern sprach Toppe an: «Was haben wir denn damit zu tun, Chef?»

Die Jungen rückten näher, standen nun im Kreis um sie herum

«Das weiß ich noch nicht. Wir haben Herrn Landmann gefunden. Er ist erschlagen worden. Wir wissen, dass Sie eine Menge Ärger mit ihm hatten und dass Sie ihn bedroht haben.»

Es war ein etwas gewagter Schuss ins Blaue, aber seine Sorge war unbegründet. Ecki startete wie eine Rakete.

«Der Richter? Der alte Sack. Erschlagen? Arme Sau. Aber verdient hat er das, was Jungs?»

Keiner antwortete ihm, alle sahen zu Boden.

«Jetzt aber mal halblang, Chef», redete Ecki weiter. «Mord! Damit haben wir nix am Hut. Der war ein Arschloch, echt. Der hat uns angeschissen, und da haben wir ihm mal gezeigt, wo’s langgeht. Aber Mord? Nee, Chef, das ist nicht unsere Kragenweite.»

«So, nicht eure Kragenweite?», schnauzte van Appeldorn. «Ich möchte die Namen von euch allen, jetzt sofort. Du da hinten fängst an. Aber ein bisschen plötzlich.»

Toppe mochte den Ton nicht, er mochte die ganze Situation nicht. Gut, es war die alte Strategie, die bewährte Taktik «guter Bulle, böser Bulle». Er war der Ruhige, Verständnisvolle, van Appeldorn gab den Berserker. Es funktionierte gut, fast blind mittlerweile, hatte auch meist den gewünschten Erfolg, aber er fühlte sich nie wohl dabei.

«Sag mal, bist du hier der Boss, oder was?», sprach Ecki ihn wieder an. «Kannst du deinen Bello nicht zurückpfeifen?»

Toppe unterdrückte ein Grinsen. «Wo waren Sie vorgestern zwischen 18 und 23 Uhr?»

«Was, vorgestern? Warte mal. Also bis fünf so waren wir am Baggerloch in Kranenburg, und dann sind wir alle zu Max.»

«Max?»

«Das Billardcafé an der Königsallee.»

«Sie alle?»

«Logo, wir und die Perlen.»

«Ihre Freundinnen?»

«Ihre Freundinnen», echote Ecki mit spitzem Mund. «Klar, Chef, mit unseren Freundinnen.»

«Kennen Sie Sabine Landmann?»

«Kalte Tussi. Nee, kenn ich nicht.»

«Wie haben Sie Herrn Landmann denn gezeigt, wo es langgeht?»

«Was?»

«Na, was haben Sie gemacht, und warum?»

«Ja, Mann, der Arsch. Hetzt uns glatt die Bullen auf den Hals. Und die haben uns erst mal die Öfen stillgelegt, ist ja klar. Und da haben wir uns gesagt, so ’n bisschen Rache tät dem wohl mal ganz gut.»

«Und wie sah die Rache aus?»

Ecki grinste breit. «Was man so macht. ’n bisschen Graffiti, Luft aus den Reifen und, Mann, das Übliche eben. Kennst du dich nicht aus?»

Toppe antwortete nicht.

«Aber an die Wäsche sind wir dem nicht gegangen, ej. So was ist nicht unser Ding.»

Van Appeldorn kam mit seinem Block in der Hand. «Die anderen habe ich. Jetzt fehlt mir nur noch dein Name, du Oberkomiker.»

Ecki nahm Haltung an. «Eckard Gellings», salutierte er.

«Na siehst du, es geht doch.»

Ecki lief rot an. «Ich weiß, wo du wohnst, ej. Starstürmer, was? Und deine Alte kenn ich auch.»

Van Appeldorn lächelte ihn freundlich an. «Ich bin ganz sicher, ihr hört noch von uns.» Damit drehte er sich um und ging mit schnellen Schritten zum Auto.

Toppe folgte ihm. «Auf Wiedersehen.»

Nur Ecki antwortete. «Wiedersehn, Chef.»

«Na, hat doch wieder mal wunderbar geklappt», freute sich van Appeldorn, als er in sein Auto stieg. «Und? Was glaubst du?»

Toppe schüttelte den Kopf. «Bei denen ist nichts zu holen.»

«Seh ich genauso. Tschüss dann, bis Montag.»


Toppe war noch am Bau vorbeigefahren. Nicht, dass ihm der Sinn danach gestanden hätte, aber er konnte schlecht seinen Schwiegervater kostenlos für sich arbeiten lassen, ohne sich wenigstens einmal blicken zu lassen. Im Nachhinein wünschte er sich, er hätte es nicht getan, denn man hatte ihm wieder einmal nur bewiesen, wie überflüssig er auf der Baustelle war.

Er schloss die Haustür auf und trat in den Hausflur. Wie immer öffnete sich die Wohnungstür im Erdgeschoss, und Frau Funke steckte ihren grauen Kopf heraus.

«Ach, Herr Toppe, gut, dass ich Sie treffe. Der Christian hat gestern wieder so mit der Türe geknallt. Ich bin fast vom Sofa gefallen.» Sie schaute ihm mit ihren kleinen Augen frech ins Gesicht.

«Ich kümmere mich darum, Frau Funke», sagte Toppe und ging an ihr vorbei die Treppe hinauf.

Gabi hatte ihn wohl gehört und öffnete die Tür. Sie trug nur einen Slip und ein T-Shirt

«Du bist schon da? Ich wollte gerade duschen.»

«Ich habe Hunger.» Er legte die Akten und den Kalender auf den Telefontisch.

«Wie immer.» Sie schmunzelte. «Warte, ich mach dir schnell was.»

«Wo sind die Jungs?»

«Drüben, auf dem Bolzplatz.»

Sie gingen in die Küche. Er warf seine Jacke auf einen Stuhl und wusch sich die Hände im Spülbecken. Gabi fing an, in der Pfanne zu rühren, die schon auf dem Herd gestanden hatte.

Er umfasste sie von hinten.

«Hee!» Sie drehte sich um, den Küchenfreund in der Hand. «Was ist los?»

«Ich weiß nicht genau», murmelte er, den Mund an ihrem Hals. «Haben die Jungs einen Schlüssel?» Er legte die Hände auf ihren Po.

«Ja», antwortete sie und küsste ihn.

«Scheiße.»

Damit setzte er sich an den Küchentisch.

«Wir sind heute Abend bei Sofia und Arend eingeladen, das hast du wahrscheinlich vergessen.»

«Ja, hab ich.»

«Dachte ich mir. Arend hat neuen Wein, und wir sollen ihn probieren kommen.»

Toppe brummte zufrieden. Heute war es ihm ganz egal, welchen Wein es gab, Hauptsache genug.