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Zehn

Nachdenklich ging Toppe auf das Präsidium zu.

Das Fenster der Kantine war weit geöffnet, und der leise Duft von Schweinebraten erinnerte ihn daran, dass er eigentlich hungrig war. Er sah auf die Uhr – fast eins – und dachte daran, sich eine kurze Pause zu gestatten. Wer wusste, wann sich die nächste Gelegenheit ergeben würde? Nicht schon wieder Käsebrötchen!

Die Kantine war so gut wie leer. Toppe ging mit seinem Tablett gleich durch zur Essensausgabe, wo Hilde Holtermann um die Ecke lugte.

«Ach, Helmut, Jung, kommst du heute tatsächlich mal zum Essen? Ist ja ordentlich was los bei euch oben. Ich hab’s in der Zeitung gelesen.»

«Was will man machen?» Toppe lächelte freundlich und warf einen Blick auf die dampfenden Töpfe.

«Schweinebraten mit Erbsen und Möhrkes», pries sie an. «Und Kaffee willst du sicher auch.»

Sie redete gemütlich vor sich hin, während sie ihm eine extra große Portion auffüllte. Eine Frau Anfang sechzig, rund, rosig und durch nichts aus der Ruhe zu bringen. An Toppe hatte sie einen Narren gefressen.

«Nu’ ess mal ordentlich, Jung. Wer weiß, wann du das nächste Mal was kriegst.»

Unauffällig schob sie ihm ein zweites Schälchen Karamellpudding aufs Tablett. «Zucker ist gut für die Nerven», flüsterte sie verschwörerisch.

Toppe nickte dankend und trug sein Tablett zu einem Fenstertisch. Von hier aus konnte er den Parkplatz sehen und das Hauptgebäude des Präsidiums. Eine hässliche Pappschachtel, weiß, grau und krähend blau, Anfang der Sechziger gebaut, sah es so wackelig aus, als könnte der nächste Sturm es mühelos zum Einsturz bringen.

Wolken waren aufgezogen, und nichts erinnerte mehr an das sanfte Spätsommerlicht des Morgens. Der Himmel hing grau und tief über der Stadt. Es würde wohl bald wieder regnen.

Was für ein miserabler Sommer.

Er sah Ackermann aus der Tür kommen und klopfte gegen die Scheibe, aber der hörte und sah ihn nicht, sondern ging zu seinem Auto. Er musste den Obduktionsbericht abgeliefert haben.

Toppe schob sich den letzten Löffel Pudding in den Mund und beeilte sich, nach oben zu kommen. Er war gespannt, ob der Bericht etwas Neues brachte.


Breitenegger war so vertieft in seine Lektüre, dass er gar nicht hochschaute.

«Der Obduktionsbericht?», fragte Toppe.

Breitenegger nahm die Pfeife aus dem Mund und wies mit dem Stiel auf Toppes Platz. «Drei Durchschläge. Einen habe ich dir schon hingelegt.»

Eine Weile lasen sie schweigend, dann lehnte Breitenegger sich zurück. Ein paar neue Aspekte brachte der Bericht schon. Die Schläge waren dem Opfer eindeutig erst beigebracht worden, als dieses schon tot gewesen war und in dem Sack gesteckt hatte. Alle Schläge, bis auf den einen, der Landmann das Genick gebrochen und unmittelbar zum Tod geführt hatte. Sofort danach hatte der Täter dem Opfer den Sack übergezogen und noch neunmal zugeschlagen. Nichts wies darauf hin, dass Landmann sich gegen den ersten Angriff gewehrt hatte. Man konnte also davon ausgehen, dass der Schlag ins Genick überraschend erfolgt war. Bei der Tatwaffe handelte es sich um eine rostige Eisenstange, deren Durchmesser durchaus auf ein Brecheisen hinweisen konnte. Es waren ausnahmslos kraftvolle Hiebe gewesen. Das Opfer hatte gestanden, als es zum ersten Mal getroffen wurde, es gab Hinweise auf einen Sturz. Aus der Art des Genickbruchs und der Wunde im Nacken ließen sich Rückschlüsse auf den Schlagwinkel ziehen, und man konnte annehmen, dass Täter und Opfer etwa die gleiche Körpergröße hatten, ungefähr 1 m 75.

«Es kann also durchaus ein Einzeltäter gewesen sein», unterbrach Toppe Breitenegger in seinen Gedanken.

«Du willst deine Mopedjungs ausschließen? Kein Problem, der ED hat weit und breit keine Mopedspuren gefunden.»

«Das muss nichts heißen.»

«Stimmt.»

Toppe suchte seine Taschen vergeblich nach Zigaretten ab. Schließlich fand er eine Schachtel in der Schreibtischlade – nur noch eine drin. Er musste dringend noch welche kaufen heute.

«Komische Marke, die du da rauchst», bemerkte Breitenegger.

Toppe nickte versonnen. «Mein Opa hat mir das Rauchen beigebracht, als ich fünfzehn war. Wäre männlich, hat er gesagt. Ich bin dann einfach bei der Marke geblieben.»

Aber Breitenegger war mit seinen Gedanken schon wieder woanders. «Ich habe hier van Appeldorns Liste. Ich könnte die Jungs von der Mopedgang ja mal einbestellen. Wenn von euch keiner Zeit hat, übernehme ich deren Vernehmung. Und vielleicht schickst du Ackermann zu diesem Billardcafé und zum Baggerloch. Das liegt doch quasi vor dessen Haustür.»

«Gute Idee», sagte Toppe, rieb sich den Nacken und überlegte. War tatsächlich Rache das Tatmotiv? Es sah doch eher so aus, als wollte der Täter sie das glauben machen.

Dann erzählte er Breitenegger von den Gesprächen mit Suerick und dem Psychologen.

Breitenegger kratzte sorgfältig seine Pfeife aus. «Ganz schön mager. Habt ihr die beiden gefragt, ob die was mit ‹Che› anfangen können?»

«Dazu sind wir gar nicht gekommen, aber ich fahre gleich noch mal mit dem ED hin wegen der Schuhabdrücke.»

Breitenegger hatte sich lange mit Landmanns Kalender beschäftigt und dann mit Frau Landmann telefoniert. Ihr war mittlerweile eingefallen, dass ihr Mann donnerstags immer in Moyland Tennis gespielt hatte. Mit wem, wusste sie allerdings nicht.

«Den Tennisclub in Moyland soll Norbert übernehmen», entschied Toppe. «Vielleicht gibt es dort ja einen B. S. oder einen Che.»

«Das war auch mein Gedanke. Übrigens, die Gerichtsakten, die du mitgebracht hast, geben überhaupt nichts her. Ich habe deswegen etliche Telefonate geführt. Die Berichte darüber habe ich hier.»

«Ich guck sie mir gleich an.»

«Che könnte wirklich ein Name sein», redete Breitenegger weiter. «Die anderen Abkürzungen sind ziemlich normal. Die meisten kann man mit etwas gesundem Menschenverstand entschlüsseln. Wenn man nur etwas mehr über diesen Landmann wüsste …» Er hatte seine Pfeife frisch gestopft und zündete sie an.

Bevor sie weitere Spekulationen anstellen konnten, kam Ackermann herein. Er konnte ihre Annahme vom frühen Morgen bestätigen. Udo Welbers besaß tatsächlich Gallus-Schuhe, die zu den Schuhspuren passten, und auch die Reifenabdrücke vom Auto seiner Freundin stimmten mit den Reifenspuren neben Landmanns Saab überein.

Ackermann saß schon an der Schreibmaschine, um seinen Bericht zu tippen, als auch van Appeldorn endlich zurückkam, zusammen mit Dr. Stein.

«Noch fünf Minuten, meine Herren», sagte der Staatsanwalt und legte einige Papiere auf Breiteneggers Platz.

Toppe sah ihn verständnislos an.

«Pressekonferenz, Herr Toppe. Es ist gleich drei.»

Toppe stöhnte, die PK hatte er völlig vergessen.

«Na, nun kommen Sie mal.» Stein klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken. «Der WDR ist auch schon da. Vielleicht kann Ihre Familie Sie heute Abend in der ‹Aktuellen Stunde› bewundern.»

Toppe folgte dem Staatsanwalt mit mürrisch zusammengezogenen Augenbrauen.

Van Appeldorn hielt ihn zurück. «Soll ich mitkommen, Helmut?»

«Das wäre prima.»

Früher waren Pressekonferenzen ruhig, fast langweilig gewesen. Erst seit der WDR die Lokalstation eingeführt hatte und sich zunehmend für die Region interessierte, waren sie ein bisschen lebendiger geworden.

Heute ging es alles andere als langweilig zu, denn diesmal war auch die überregionale Presse vertreten. Schließlich gab es nicht jeden Tag einen derart mysteriösen Mord. Besonders unangenehm fiel ein junger Reporter des Blattes auf, auf dessen Konto gestern die blutrünstigste Schlagzeile gegangen war. Es war schon beinahe albern, wie sehr er dem Klischee des sensationslüsternen Schreiberlings entsprach und ihnen die dämlichsten Fragen um die Ohren knallte, mit der Geschwindigkeit eines Schnellfeuergewehrs. Manchmal hatten sie Mühe, vernünftig zu antworten. Aber der Staatsanwalt verlor keinen Augenblick die Übersicht – man hatte das Gefühl, dass er das ganze Spektakel genoss. Unter Hinweis auf wichtige Ermittlungsarbeiten beendete er um 15 Uhr 30 die Veranstaltung.

Toppe fand, dass auch er sich wacker geschlagen hatte. Auf dem Weg zum Büro bekam er endlich die Gelegenheit, van Appeldorn zu fragen, was denn nun mit Suerick war.

«Heiße Geschichte», sagte van Appeldorn, «aber das soll der Stein erzählen.»

Der Staatsanwalt und van Appeldorn hatten anhand der Gerichtsakten schließlich doch ein relativ klares Bild von Suerick erstellen können: Geboren 1963 in Viersen, Vater unbekannt, Mutter Alkoholikerin. Seine Kindheit und Jugend waren erschütternd, aber nicht ungewöhnlich. Alle hier kannten solche Lebensläufe, wurden oft damit konfrontiert. Dennoch konnte Toppe nicht behaupten, dass es ihn kaltließ. 1982 hatte Suerick ein Mädchen kennengelernt und sich mit ihr zusammen eine Wohnung genommen. Eine Weile war alles rosig gewesen, Suerick hatte sogar Arbeit gefunden. Dann war es dem Mädchen, das Suerick «meine Göttin» nannte, wohl langweilig geworden, und sie hatte sich einer Clique angeschlossen, mit der sie gern und oft Streifzüge durch die Discos in der Umgebung unternahm.

Suerick begleitete sie nie, dennoch lebten sie weiter zusammen. Als das Mädchen Karneval 1984 mit ihrer Clique nach Köln gefahren und erst drei Tage später wieder in die gemeinsame Wohnung zurückgekehrt war, hatte Suerick sie mit vierzehn Messerstichen getötet.

«Mein Gott!», entfuhr es Breitenegger.

Toppe sah nur stumm auf seine Hände.

Es klopfte, und Berns steckte seinen kahlen Schädel zur Tür herein. «Sie wollten doch mit, Toppe. Wir wollen jetzt los.»

«Komme.» Toppe stand auf. «Günther, verteil mal das Weitere. Wenn wir uns nicht mehr sehen, Besprechung wieder morgen früh um acht.» Damit verließ er den Raum.


Reimann erwartete sie schon in seinem Büro. Er war gleichbleibend freundlich. Suerick komme sofort, sagte er, er sei noch unter der Dusche.

Berns und van Gemmern schauten sich in Suericks Zimmer dessen Schuhe an, während Toppe bei Reimann wartete. Sie unterhielten sich mehr oder weniger über das Wetter.

Endlich kam Suerick, die Haare noch feucht vom Duschen. Er wirkte jetzt sehr ruhig.

«Ist denn noch was?», fragte er Toppe direkt.

«Ja, eine Frage hätte ich noch. Sagt Ihnen das etwas: Che?»

«Che? Was soll das denn sein?»

Toppe drehte sich zu Reimann um. «Und Ihnen?»

«Nun ja, ich kenne Che Guevara. Aber den meinen Sie wohl nicht, oder?» Er grinste.

«Wenn ich das wüsste … Hier heißt dann wohl niemand so?»

«Wenn, dann habe ich das jedenfalls noch nicht gehört», verneinte Reimann bestimmt.

Suerick zuckte die Achseln.

«Guten Tag.» Van Gemmern gesellte sich zu ihnen. «Sie sind sicher Herr Suerick. Ich bräuchte noch einen Abdruck von den Schuhen, die Sie gerade tragen. Sollen wir das gleich hier erledigen?»

«Kein Problem.» Suerick setzte sich.

Van Gemmern hockte sich hin und warf Toppe einen schwer zu deutenden Blick zu. Sein Mundwinkel zuckte. Dann nahm er die Abdrücke.

Toppe lief ein kleiner Schauer über den Rücken. Er kannte das, konnte es aber nicht erklären. Eine Art plötzliche Anspannung. Oft bedeutete es, dass er in einem Fall endlich das richtige Fadenende erwischt hatte.

«Was ist denn?», fragte er van Gemmern, als sie zum Wagen zurückgingen.

«Suerick trägt Adimed-Schuhe.»