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Achtzehn

Bei der Teambesprechung am Freitagmorgen waren sie endlich wieder einmal vollzählig.

«Lassen Sie uns doch noch einmal die Fakten zusammenfassen», schlug der Staatsanwalt vor.

«Fakten!», schnaubte Toppe. «Da haben wir endlich diesen ominösen Che gefunden, und der nimmt uns allen Wind aus den Segeln mit seinen Erklärungen. Derselbe Mann hat seine Adimed-Schuhe nicht mehr. Übrigens der Einzige bis jetzt, dessen Abdrücke wir nicht nehmen konnten. Wie sollen wir dem beikommen? Verdammt! Norbert, gib mir mal das Telefonbuch rüber.»

Van Appeldorn schob ihm das Buch über den Schreibtisch.

«Wie viele Geschäfte in Kleve verkaufen Adimed-Schuhe?», fragte Toppe ihn.

«Ich würde es erst mal bei den beiden Sanitätshäusern versuchen, Himmelberg und Jaspers.»

«Nur zwei? Dann brauche ich nicht zu telefonieren, da fahre ich direkt hin.»

Van Gemmern meldete sich zu Wort: «Wir haben alle Abdrücke der Schuhe ausgewertet, die Sie uns bis jetzt hereingebracht haben. Es waren siebzehn Paare, und alle sind negativ.»

«Ja», antwortete Toppe nur. «Und ihr beide macht heute weiter?», fragte er van Appeldorn.

«Sicher, mit ein bisschen Glück können wir die bis heute Abend durchhaben, was, Ackermann?»

«Klar, Norbert, klar», nickte Ackermann zuversichtlich.

Dr. Stein erhob sich. «Und Sie bleiben bei diesem Lehrer am Ball, Herr Toppe. Das sieht mir recht vielversprechend aus, obwohl man sich natürlich täuschen kann. Halten Sie mich auf dem Laufenden, ja? Ich muss jetzt weg.»

Toppe versprach, ihn heute Abend noch anzurufen.

Auch van Gemmern machte sich wieder auf den Weg.

«Tschüss, bis bald», rief er von der Tür her.

«Tschüss», entgegnete Toppe verblüfft. Was war denn in den gefahren? So freundlich war der doch sonst nicht.

Aber ein Blick in Astrid Steendijks strahlendes Gesicht zeigte ihm, dass van Gemmerns Gruß gar nicht an seine Adresse gegangen war.

«Und was soll ich nun tun?», fragte sie schnell. Sie hatte die ganze Zeit nur zugehört.

«Sind Sie denn schon mit den Akten durch?», staunte Toppe, während er sich schon seine Jacke anzog.

«Ja, ich habe sie jetzt alle einmal gelesen.»

«Vielleicht haben Sie Lust, mit mir zu den Sanitätsgeschäften zu fahren?»

«Ja, gern», sagte sie und nahm ihre Schultertasche von der Stuhllehne.

Sie gingen hinunter zum Parkplatz.

«Wollen wir Ihren Wagen nehmen? Sie kennen sich bestimmt besser aus als ich. Sie sind doch aus Kleve, oder?»

«Ja, ich bin hier geboren. Gut, nehmen wir mein Auto.»

Sie ging auf einen funkelnagelneuen weißen Peugoet 205 GRD zu. Auf der Heckscheibe leuchtete ein Greenpeace-Regenbogen.

«Alle Achtung», bemerkte Toppe, «schicker Wagen. Neu?»

«Ja», nickte sie, und Toppe registrierte verwirrt, dass sie errötete, aber er hakte nicht weiter nach.

«Wohin fahren wir denn zuerst?», wollte er wissen, während er sich anschnallte.

«Himmelberg liegt mitten in der Stadt, da kann man so schlecht parken. Sollen wir zuerst zu Jaspers fahren?»

«Nur zu.»

Jaspers erwies sich als Glückstreffer.

Die Frau des Inhabers wusste noch gut, dass sie neulich erst ein Paar Adimed-1-Schuhe verkauft hatte. Und sie konnte sich ziemlich genau an den Kunden erinnern, denn er hatte zunächst lange Adimed-2-Schuhe anprobiert. Außerdem war es einfach ungewöhnlich, dass jemand ohne Rezept kam, um diese Schuhe zu kaufen.

«Können Sie den Mann beschreiben?», fragte Toppe.

«Kann ich. Er war so um die vierzig rum und ’n bissken kleiner wie Sie. Und er hatte so ’n kurzen Haarschnitt, sah irgendwie so aus wie …»

«Ja?», ermunterte Toppe sie. «Sagen Sie es ruhig.»

«Na, so wie KZ.»

Toppe nickte. «Und an welchem Tag war das genau?», wollte er wissen.

«Da müsst ich ma’ ebkes nachgucken. Einen Augenblick, bitte.»

Sie verließ den Verkaufsraum durch einen Veloursvorhang von unbestimmter Farbe.

«Das war am 19. August», rief sie, noch bevor sie wieder hinter dem Vorhang auftauchte.

«Aha.» Toppe warf Astrid einen zufriedenen Blick zu. «Dann vielen Dank, Frau Jaspers.»

«Oh, nix zu danken. Ich bin froh, wenn ich Sie helfen konnte.»

Toppe schluckte schwer und verabschiedete sich schnell.

«Manchmal muss man einfach mal Glück haben! Wir können gleich zurückfahren, Frau Steendijk.»

«Herr Toppe?»

«Ja.»

«Wollen Sie nicht lieber Astrid sagen? Frau Steendijk klingt so abgehoben.»

Toppe zögerte. Aber warum nicht? Schließlich konnte er fast ihr Vater sein.

«Okay, Astrid, dann fahren Sie uns mal wieder nach Kellen.»


Auf der Fahrt sprach Toppe kein Wort.

Landmann hatte stark geblutet. Es konnte durchaus sein, dass Blutspritzer auf der Kleidung des Täters zu finden waren, oder? Auf der Kleidung und an den Schuhen. Selbst abgewaschenes Blut konnte man nachweisen, und Hermans war nicht dumm, ganz im Gegenteil.

Konnten das wirklich alles nur Zufälle sein? Die Eintragung «Che» in Landmanns Kalender. Die neuen Schuhe direkt nach dem Mord.

Astrid unterbrach ihn nicht ein einziges Mal in seinen Gedanken.


«Gibt’s was Neues?», fragte er Breitenegger.

«Nein, nichts für dich.»

«Was soll das denn heißen?»

«Na ja, für mich schon. Franz-Josef ist gebissen worden.»

«Schlimm?»

«Weiß ich noch nicht», antwortete Breitenegger bedrückt.

Astrid Steendijk schaute verwirrt von einem zum anderen.

«Franz-Josef ist sein Dackel», erklärte Toppe.

«Ach so, ich dachte schon, ich hätte etwas übersehen. Soll ich uns mal was zum Trinken holen?»

«Ja, das täte mir jetzt gut», antwortete Breitenegger. «Für mich bitte einen Kaffee.»

«Für mich auch, und zwei Käsebrötchen», fügte Toppe hinzu.

Als sie gegangen war, setzte Toppe sich auf seinen Lieblingsplatz, die Fensterbank.

«Weißt du, wann Hermans seine neuen Schuhe gekauft hat, Günther? Am 19. August.»

Breitenegger stieß einen Pfiff aus.

«Ja, genau das denke ich auch. Nur weißt du, selbst wenn er wirklich der Täter ist, wir haben überhaupt keine Beweise, keine Tatwaffe, keine Zeugen, nichts. Nicht einmal ein Motiv. Ich weiß wirklich nicht, wie ich da jetzt weiterkommen soll.»

Breitenegger stopfte seine Pfeife. «Ich habe mir das Band noch ein paarmal angehört. Es gibt tatsächlich keinerlei Beweise dafür, dass nicht alles so stimmt, wie er’s sagt. Mal abgesehen davon, dass ich nicht verstehe, warum Landmann am 14. Juli ‹Che› in seinen Kalender eingetragen hat, wenn er nicht mit ihm verabredet war. Im ganzen Kalender gibt es ansonsten keine Hinweise darauf, dass Landmann den auch als so eine Art Tagebuch benutzt hat. Alles andere sind nur Termine, fast alle mit genauer Uhrzeit.»

«Ja, ich weiß. Pass auf, ich glaube, ich fahre mal zu diesem Café Coenders. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber vielleicht erinnert sich ja doch jemand an die beiden Herren am 14. Juli.»

«Falls sie überhaupt in dem Café gewesen sind.»

Toppe seufzte.

«Wäre ein Foto nicht hilfreich?», fragte Breitenegger.

«Wäre hilfreich, aber wo soll ich eins hernehmen?»

Breitenegger reichte ihm die neue RP. «Nicht berauschend», meinte er, «aber besser als nichts, oder?»

Auf der ersten Seite des Lokalteils prangte ein dreispaltiges Foto der Leute von der Theater-AG mit der Ankündigung der Aufführung am 11. September. Hermans stand am linken Bildrand, deutlich zu erkennen.

Toppe nickte anerkennend. «Danke, Günther. Dann fahre ich erst mal zur Zeitung und hole mir das Originalfoto. Bis später.»

Er eilte auf den Flur hinaus und entging nur knapp einem Zusammenstoß mit Astrid.

«Wollen Sie Ihren Kaffee nicht mehr und die Brötchen?»

«Später», rief Toppe und war schon auf der Treppe.

«Was ist denn so eilig?», fragte sie Breitenegger.

Er erzählte es ihr, während er den lauwarmen Kaffee schlürfte.

«Eine eigene Kaffeemaschine hier wäre gar nicht schlecht», überlegte er. «Was trinken Sie denn da?»

«Pfefferminztee. Kaffee ist viel zu ungesund.»

«Wieso, haben Sie Probleme mit dem Kreislauf?»

«Nein, gar nicht, aber man muss sich ja nicht unnötig solche Gifte zuführen», antwortete sie und zündete sich die Zigarette an, die sie gerade gedreht hatte.

Mit ein wenig Mühe verkniff sich Breitenegger das Lachen.


Obwohl es erst elf Uhr war, war das Café bis auf den letzten Platz besetzt. Zum größten Teil von Holländern, die ihre Wochenendeinkäufe erledigt hatten. Die Serviererinnen hatten alle Hände voll zu tun, und es dauerte eine ganze Weile, bis Toppe mit ihnen reden konnte. Er hatte kein Glück, keine konnte sich an die beiden Männer erinnern. Das war nicht weiter verwunderlich, die Frauen hatten schlicht keine Zeit, sich die Gesichter der Kunden anzusehen.


Im Büro waren Breitenegger, van Gemmern und Astrid in ein lebhaftes Gespräch vertieft.

«Doch echt, das hilft gegen Ameisen», sagte Astrid gerade. «Es gibt da noch eine ganze Menge solcher Tricks. Diese ganzen chemischen Keulen sind total überflüssig.»

«Ist heute Gartentag oder so was?», fragte Toppe mokant. «Ach», stellte er dann fest, «Sie haben sich die Zettel noch einmal angeguckt.»

«Genau, und dieser hier muss von jemandem sein, der Ahnung hat und einigermaßen umweltbewusst ist.»

Sie tippte mit dem Finger auf den Zettel: «Lavendel gegen Ameisen.»

Toppe hatte nie wieder einen Blick darauf geworfen, aber jetzt sprangen ihm die Buchstaben geradezu ins Gesicht.

«Wartet mal», bemerkte er heiser und nahm den Zettel mit zu seinem Schreibtisch.

«Wo hatte ich das noch?» Er öffnete eine Schublade nach der anderen und suchte.

«Hier ist es ja!» Er nahm das Skript des Theaterstücks heraus und schlug es auf.

Die Regieanweisungen, Hermans’ Handschrift – Lavendel gegen Ameisen.

«Mein Gott, das könnte tatsächlich stimmen!»

Keiner hatte etwas gesagt, alle starrten ihn an.

«Herr van Gemmern, kommen Sie doch mal.»

Was hatte der hier eigentlich zu suchen?

«Was glauben Sie, ist das nicht dieselbe Handschrift?»

Van Gemmern beugte sich über Toppes Schulter.

«Doch, das könnte gut sein. Ja, hier das große A und die Unterlängen. Sieht wirklich so aus. Soll ich ein graphologisches Gutachten machen lassen?»

«Was ist denn das?», fragten Astrid und Breitenegger wie aus einem Mund und beugten sich von der anderen Seite her über den Schreibtisch.

«Das ist das Skript von dem Theaterstück, das Hermans mit seinen Schülern aufführt, ‹Tango› von Mrozek. Und das hier sind die Regieanweisungen, die Hermans dazugeschrieben hat.»

«Das gibt’s doch gar nicht!», rief Astrid aufgeregt.

«Nicht schlecht, Helmut.» Breitenegger grunzte beifällig. «Wenn das wirklich stimmt, dann haben wir ihn.»

«Van Gemmern, sitzt der Graphologe beim LKA?», fragte Toppe.

«Ja, aber wenn es so eilig ist, fahre ich selbst hin. Mit den Schuhen kommt Paul auch allein klar.»

«Das wäre gut. Wie lange wird es wohl dauern?»

«Mit etwas Glück so um die drei Stunden. Ich rufe mal an und sage denen, dass ich auf dem Weg zu ihnen bin.»

«Kann ich mitfahren, Herr Toppe? Ich war noch nie bei so etwas dabei», fragte Astrid beiläufig.

«Wenn Sie Lust haben. Obwohl, sehr aufregend wird das sicherlich nicht.»

«Sag das nicht, Helmut, sag das nicht», warf Breitenegger ein, und seine Augen glitzerten schelmisch.

Toppe nahm ihn gar nicht wahr.

«Wenn das stimmt, dann lade ich den heute noch vor. Heute noch, und wenn’s mitten in der Nacht ist», murmelte er vor sich hin. «Und ich bin gespannt, wie er mir das erklären will.»